Berlin fordert vor EU-Sondergipfel mehr Geld für Waffen für Kiew. Ex-Google-Chef sieht nach Besuchen in der Ukraine Russland im Drohnenkrieg im Vorteil, rechnet mit massiver Vernichtung von Material und Soldaten.
german-foreign-policy.com, 30. Januar 2024
KIEW/BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Vor dem EU-Sondergipfel an diesem Donnerstag in Brüssel erhöht die Bundesregierung den Druck auf die anderen EU-Mitglieder, ihre Waffenlieferungen an die Ukraine erheblich aufzustocken. Deutschland werde allein in diesem Jahr mehr als sieben Milliarden Euro aufwenden, um damit Kriegsgerät für die ukrainischen Streitkräfte zu beschaffen, erklärte Scholz am Wochenende. Dies sei „viel“, und andere müssten nun „auch viel tun“. Ein Regierungssprecher erläutert, in der Ukraine erlebe man derzeit eine „Materialschlacht“, die „noch eine ganze Weile weitergehen“ werde. Ex-Google-Chef Eric Schmidt, der 2016 erstmals als eine Art Digitalisierungsberater für das Pentagon tätig war und seit September 2022 regelmäßig die Ukraine bereist, wo er sich auch mit Militärs austauscht, konstatiert in einem Fachbeitrag, die russischen Streitkräfte seien der Ukraine heute klar überlegen – nicht zuletzt dank ihrer Fähigkeiten im Drohnenkrieg. In der nächsten Zeit stehe beiden Seiten eine massive Aufrüstung mit Drohnen bevor, die in der Lage seien, in gewaltiger Zahl traditionelle Waffen wie etwa Kampfpanzer zu zerstören – die darin befindlichen Soldaten inklusive.
Zitat: IT-Experte im High-Tech-Krieg
Eric Schmidt hat vor allem beim Internetkonzern Google Karriere gemacht, bei dem er von 2001 bis 2011 als CEO (Chief Executive Officer), von 2011 bis 2015 als Executive Chairman tätig war, bevor er als Executive Chairman (2015 bis 2017) sowie als Technischer Berater (2017 bis 2020) beim Google-Mutterkonzern Alphabet wirkte. Seit 2016 arbeitet Schmidt in unterschiedlichen Positionen für das Pentagon bzw. für andere Organisationen, die sich um die Digitalisierung der US-Streitkräfte bzw. um die Sicherung der US-Dominanz in zentralen High-Tech-Branchen bemühen. So ist er Gründer (2021) und Vorsitzender des Special Competitive Studies Project (SCSP), einer Organisation, die nach Mitteln und Wegen zur Bewahrung der US-Technologievorherrschaft besonders gegenüber China sucht. Schmidt hat sich zuletzt auch intensiv mit dem Ukraine-Krieg befasst. Zum einen bietet dieser reichlich Möglichkeiten, Einblicke in die technologische Entwicklung der Kriegführung zu gewinnen, insbesondere mit Blick auf die russischen Fähigkeiten. Zum anderen greift Schmidt der Ukraine offenbar auch unter die Arme. So hat er am 29. September 2023 an einem Forum teilgenommen, das dem Neuaufbau der ukrainischen Rüstungsindustrie diente.[1] Zudem hat er sich mit Generalstabschef Walerij Saluschnyj über technologische Möglichkeiten der Drohnenabwehr ausgetauscht.[2]
Drohnen als Panzerkiller
Einige Überlegungen zum Ukraine-Krieg hat Schmidt in der vergangenen Woche in einem Beitrag für die US-Fachzeitschrift Foreign Affairs vorgelegt. Der Ex-Google-Chef, der angibt, seit September 2022 regelmäßig die Ukraine zu besuchen, konstatiert, ein zentraler Stellenwert komme im aktuellen Krieg Drohnen zu. Dies gehe nicht nur daraus hervor, dass die Ukraine mit Drohnen etwa russische Kriegsschiffe zerstört und Ziele weit im russischen Hinterland angegriffen habe. Ukrainische Kommandeure hätten ihm darüber hinaus übereinstimmend berichtet, dass Drohnen außerdem die wirksamste Waffe gegen Panzer seien: Sie stürzten sich von oben genau dort auf sie, wo die Panzer den schwächsten Schutz hätten. Drohnen seien auch hilfreicher als Artillerie, wenn man angreifende eigene Truppen unterstützen wolle.[3] In den ersten Kriegsmonaten seien die ukrainischen Streitkräfte den russischen in der Drohnenkriegführung deutlich überlegen gewesen; sie hätten kommerziell erhältliche Geräte kreativ genutzt, an ihren militärischen Bedarf angepasst und damit bemerkenswerte Erfolge erzielt, erklärt Schmidt. Erst ab Herbst 2022 sei es dem russischen Militär nach und nach gelungen, gleichzuziehen. Mit Hilfe der Aufklärungsdrohne Orlan-10 sowie der Kamikazedrohne Lancet zerstört es heute laut Schmidt alles – von Panzern über Kampfjets bis zur Artillerie.
Überlegene elektronische Kampfführung
Mittlerweile ist Russland laut Schmidt der Ukraine sogar deutlich überlegen. Zum einen verfügt es über erheblich bessere Fähigkeiten in elektronischer Kampfführung, die es ihm ermöglichen, die Steuerung ukrainischer Drohnen zu stören oder sie sogar von außen zu übernehmen.[4] Der Ex-Google-Chef berichtet, die ukrainischen Streitkräfte besäßen diese Fähigkeiten nur in eindeutig geringerem Maß. Hinzu komme, dass billige russische Drohnen oft nur mit teuren Flugabwehrsystemen aus westlicher Produktion abgeschossen werden könnten; das sei für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer ein ökonomischer Nachteil. Davon abgesehen sei Russlands elektronische Kampfführung auch erfolgreich im Kampf gegen westliche Waffensysteme allgemein; so ließen sich etwa US-Waffen oft recht einfach per GPS-Jamming unschädlich machen. Selbst im Fall der F-16-Kampfjets, die in diesem Jahr in der Ukraine eintreffen sollten, sei nicht auszuschließen, dass sie ohne weiteres mit russischen Flugabwehrraketen sowie mit elektronischer Kampfführung ausgeschaltet werden könnten. Kiew habe zwar angekündigt, dieses Jahr mehr als zwei Millionen Drohnen beschaffen zu wollen; Moskau werde jedoch mindestens ebensoviele erwerben. Beide Seiten würden damit wohl riesige Mengen feindlicher Kampfpanzer und anderer traditioneller Waffen zerstören können.
Größter Waffenlieferant in Europa
Solche Waffen stellt erneut die Bundesrepublik bereit. Wie das Verteidigungsministerium in der vergangenen Woche mitgeteilt hat, sollen in diesem Jahr unter anderem geliefert werden: „mehr als 80 Kampfpanzer Leopard 1A5, zusätzliche Schützenpanzer, weitere Pionierpanzer, weitere Brückenlegepanzer, 450 geschützte Fahrzeuge“ sowie „weitere Artilleriesysteme mit über 230.000 Schuss Munition“.[5] Darüber hinaus stellt das Ministerium Drohnen in nicht näher genannter Zahl und unbekannten Typs sowie „weitere Luftverteidigungssysteme IRIS-T SLM“ in Aussicht. Außerdem werden die ukrainischen Streitkräfte nun auch sechs Mehrzweckhubschrauber vom Typ Sea King Mk41 bekommen, die aus den Altbeständen der Bundeswehr entnommen werden sollen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius wird schließlich noch mit der Feststellung zitiert, Deutschland habe seit Kriegsbeginn Waffen und anderes militärisches Material im Wert von sechs Milliarden Euro geliefert, darunter allein Flugabwehrsysteme für mehr als 2,2 Milliarden Euro. In diesem Jahr würden nun die Gelder für militärische Lieferungen in die Ukraine „auf rund 7,5 Milliarden Euro fast verdoppelt“. Die Bundesrepublik sei damit „größter militärischer Unterstützer in Europa und weltweit zweitgrößter hinter den USA“, stellt das Verteidigungsministerium fest.[6]
Unter deutschem Druck
Vor dem EU-Sondergipfel am Donnerstag in Brüssel erhöht die Bundesregierung nun den Druck auch auf die anderen EU-Mitgliedstaaten, ihre Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte massiv in die Höhe zu schrauben. „Das ist eine Materialschlacht, die wir da im Augenblick erleben“, erklärte ein Regierungssprecher am gestrigen Montag, „und wir müssen davon ausgehen, dass das auch noch eine ganze Weile weitergehen wird.“[7] Deshalb habe Bundeskanzler Olaf Scholz in den vergangenen drei Wochen im persönlichen Gespräch sowie telefonisch bei diversen EU-Staats- und Regierungschefs darauf gedrungen, mehr Kriegsgerät zur Verfügung zu stellen. Mit Blick darauf, dass Berlin in diesem Jahr über sieben Milliarden Euro in Waffen für die Ukraine investieren will, erklärte Scholz: „Es muss unser Beitrag sein, viel zu tun. Aber es muss auch der Beitrag aller anderen sein, auch viel zu tun.“[8] Neue Zusagen unter deutschem Druck gelten auf dem EU-Sondergipfel als keinesfalls unwahrscheinlich.
[1] S. dazu Rüstungsknotenpunkt Ukraine.
[2] S. dazu Der Preis des Krieges.
[3], [4] Eric Schmidt: Ukraine Is Losing the Drone War. foreignaffairs.com 22.01.2024.
[5], [6] Deutschland liefert sechs Sea-King-Hubschrauber der Bundeswehr an die Ukraine. bmvg.de 24.01.2024.
[7] Regierungspressekonferenz vom 29. Januar 2024.
[8] Scholz fordert EU-Partner zu mehr Waffenhilfe auf. Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.01.2024.
Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9468
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.