Der Journalist Patrik Baab war 2021 und 2022 auf beiden Seiten der Front
in der Ukraine. Darüber hat er ein Buch veröffentlicht, das kürzlich
auch auf Russisch erschien. Das hat er in Moskau vorgestellt und ist
danach erneut in die Ostukraine gereist. Im Interview mit Tilo Gräser
berichtet er davon.
Teil 1 – «Die Menschen fühlen sich befreit»
Patrik Baab bei einer Veranstaltung in Berlin im Juli 2024 (Foto: Tilo Gräser)
transition-news.org, vom Veröffentlicht am 31. Oktober 2024 von TG.
«Die Menschen fühlen sich befreit» – Patrik Baab über seine zweite Reise in die Ostukraine
Der Journalist Patrik Baab war 2021 und 2022 auf beiden Seiten der Front in der Ukraine. Darüber hat er ein Buch veröffentlicht, das kürzlich auch auf Russisch erschien. Das hat er in Moskau vorgestellt und ist danach erneut in die Ostukraine gereist. Im Interview mit Tilo Gräser berichtet er davon.
Transition News: Herr Baab, Sie waren kürzlich wieder im Donbass, der heute russischen Ostukraine, zum zweiten Mal. Warum fährt ein deutscher Journalist dorthin?
Patrik Baab: Ich war bereits vor zwei Jahren dort, im Herbst 2022. Ich habe die Reise unternommen, weil ich das Gefühl hatte, dass vieles von dem, was hier in der Presse gemeldet wird, so nicht stimmt. Dass die Presse lügt durch Weglassen. Was ich bei der ersten Reise und zuvor bei meiner Reise in die Westukraine erleben konnte, habe ich in dem Buch «Auf beiden Seiten der Front» beschrieben. Wie damals, habe ich auch jetzt wieder die Stimmung in Lugansk und Donezk als sehr prorussisch erlebt. Das hat neben manchen anderen Gründen einen zentralen Grund: Diese Menschen werden im Rahmen der sogenannten Antiterroroperation von der ukrainischen Armee und ukrainischen Milizen seit April 2014 beschossen und haben mehr als 14.000 Tote zu beklagen.
Und warum sind Sie ein zweites Mal dorthin gefahren?
Das zweite Mal bin ich hingefahren, um herauszufinden, wie die Menschen jetzt leben, was sich verändert hat. Der ursprüngliche Ansatz war, diejenigen noch einmal zu treffen, die Lehrer, die Rentner, die Arbeitnehmer, die ich bereits 2022 getroffen habe. Das hat teilweise geklappt und teilweise nicht. Es kamen aber neue Beobachtungen und neue Kontakte dazu, zu ukrainischen Oppositionellen, zu Politikern, die sehr früh an dem föderalistischen, separatistischen Prozess beteiligt waren, auch zu Kriegsopfern. Das Reiseprogramm haben wir monatelang vorbereitet. Ein wichtiger Grund gilt weiter: Ich ärgere mich nach wie vor über das, was hier in der Zeitung steht.
Was hat sich im Vergleich zu der Reise vor zwei Jahren verändert? Was ist gleichgeblieben?
Zwei Dinge haben sich vor allem verändert. Das eine betrifft den Krieg und die Kriegsführung. Das andere betrifft das Leben im Donbass.
Der Krieg ist seit 2022 noch viel gefährlicher geworden, durch den massiven Einsatz von Drohnen und weitreichenden Raketen. Diese Geschosse sind endphasengelenkt, zum Teil wird der Einsatz durch künstliche Intelligenz gesteuert, sie treffen sehr genau. Das heißt, man hat auch weitab der Front keine Ruhe; die Gefahr ist allgegenwärtig.
Wir waren mit einer ukrainischen Einheit unterwegs, die auf russischer Seite kämpft, und wir hatten zwei Mal Drohnen-Alarm und mussten sofort in den Unterstand. Wir haben in Saporoschje nachts gesehen, wie die abgeschossenen Drohnen wie Sternschnuppen herunterkommen. In sternenklaren Nächten kann man die Starlink-Satelliten vorbeifliegen sehen, wie kleine Sterne, die sich zu schnell bewegen. Man muss davon ausgehen, dass das gesamte Gebiet genau von Satelliten und Drohnen überwacht wird.
Der zweite Punkt betrifft das Leben der Menschen im Donbass. Es fällt auf, dass alle Hauptverkehrswege inzwischen vierspurig ausgebaut sind. Mariupol, eine Stadt, die vor zwei Jahren noch zu 80 Prozent zerstört war, befindet sich im Wiederaufbau. Die Russische Föderation investiert Milliarden allein in diese Stadt. Es werden ganze Straßenzüge neu gebaut, ganze Wohnviertel, Wohnraum für mehr als 40.000 Menschen. In den alten Chruschtschowki (Wohngebäude aus den 1960er Jahren – Anm. d. Red.) sind überall neue Fenster drin. Man sieht natürlich noch viel Zerstörung. Man sieht Häuser, die in den oberen Etagen noch die von Bomben und Raketen schwarzverbrannten Fensterhöhlen haben, während unten schon ein wokes Café für junge Leute eingerichtet wurde. Der Donbass ist heute eine Zuwanderungsregion. Insbesondere Menschen, die in der Baubranche tätig sind, können dort leicht einen gut bezahlten Job finden. Ich habe dort mit vielen jungen Leuten gesprochen.
Eine junge Frau, Angelina, sagte, sie komme aus Rostow am Don und wolle da nicht mehr leben. Sie habe in Mariupol einen Freund, einen Job, und könne bei der Oma wohnen. Besser gehe es gar nicht für sie. Ein junger Bauingenieur berichtet, er sei wegen des Krieges aus Mariupol nach Polen geflohen, aber er sei froh, wieder zurück zu sein. Er könne auf jeder Baustelle anfangen, um Geld zu verdienen. Dies alles kommt in Deutschland gar nicht an.
Man hat fast den Eindruck, die Russische Föderation möchte den Donbass zu einem Schaufenster nach Westen ausbauen. Dies ist eine doppelte Ansage. Nach innen: Wir tun was für euch, wir lassen euch nicht hängen, wir erhöhen die Renten, wir sorgen für Jobs, wir verbessern die Wohnverhältnisse. Aber es ist auch eine Ansage an die NATO: Wir sind gekommen, um zu bleiben. Wir stellen diese Region nicht mehr zur Disposition. Und das bedeutet, dass die Ukraine am Ende des Krieges geteilt wird – wenn wir nicht alle vorher in einem atomaren Inferno verglühen.
Wie sind Sie als Deutscher empfangen worden? Auch jetzt, beim zweiten Mal. Es wäre ja möglich, dass es da mindestens Wut auf die Deutschen gibt, wenn deutsche Panzer wieder rollen.
Deutsche Panzer rollen wieder im Donbass, aber es gibt keine Deutschenfeindlichkeit, während ja inzwischen in der Bundesrepublik der Russenhass wieder allgegenwärtig ist. Wenn ich Leute aufgesucht hab, stand sofort ein Tee oder ein Kuchen auf dem Tisch. Man sagte mir: Für das, was eure Regierung macht, kannst du ja nichts.
Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen im Donbass gehört werden wollen, während im Westen immer so getan wird, als bräuchte man diesen Menschen gar nicht zuzuhören, als müssten die vom Westen befreit werden. Ich habe dort nur Menschen getroffen, die sich von der Russischen Föderation befreit fühlen und das auch sagen. Das hat damit zu tun, dass man Minderheiten-Probleme nicht, wie es die Zentralregierung in Kiew gemacht hat, mit Bomben und Raketen lösen kann.
Aber es gibt eine zweite Ebene, das ist die administrative. Als deutscher Journalist wurde ich bei der Einreise mehrfach filtriert. Dieser Prozess dauerte jeweils drei bis vier Stunden: Pass und Mobiltelefon werden beschlagnahmt, dann langes Warten in einer Baracke bis zum Einzelverhör. Das ging schon am Flughafen in Moskau-Scheremetjewo los. Da fragte mich eine Zollbeamte bei der Vernehmung, warum ich in den Donbass wolle, das sei doch gefährlich. Sie wusste, dass ich ein Buch geschrieben habe und wollte, dass ich drei russische Autoren nenne, die sich mit der «Speziellen Militäroperation» befassen. Übernächtigt, wie ich war, habe ich in meinem Kopf gekramt und ihr ein paar Namen genannt. Damit war sie zufrieden.
Auch beim Übergang ins Kriegsgebiet wurden wir filtriert. Im Donbass gilt Kriegsrecht, der Offizier vor Ort entscheidet, ob er die seltenen Gäste aus Deutschland durchwinkt oder festnimmt. Nach vier Stunden Befragung konnten wir kurz vor Mitternacht den Grenzposten verlassen und gerieten in die Sperrstunde. Ab 22 Uhr darf man sich auf der Straße nur mit Sondergenehmigung bewegen. Wir haben versucht, per Autostopp weiter zu kommen. Nach einer dreiviertel Stunde hielt tatsächlich ein Wagen an. Ein privates Taxi brachte einen Soldaten vom Fronturlaub in Woronesch noch in dieser Nacht zu seiner Einheit zurück. Er hatte einen Militärausweis und eine Sondergenehmigung, und so kamen wir gleichsam als blinde Passagiere nach Lugansk. Bei westlichen Journalisten ist man sehr strikt. Die Prozedur ist schon nervig.
Im Westen heißt es: Russland besetzt Gebiete in der Ukraine. In russischen Medien heißt es: Wir befreien Gebiete und Ortschaften. Wie erleben die Menschen vor Ort in der Ostukraine, in den Gebieten, die jetzt zu Russland gehören, diese Situation?
Die Menschen, die ich getroffen habe, erleben die Situation als Befreiung durch die russische Armee. Ein stellvertretender Verwaltungsleiter von Melitopol sagte mir, etwa fünf Prozent der Menschen seien weggegangen, wobei er offen ließ, ob sie Richtung Westen oder Richtung Russische Föderation weggegangen sind. Aber heute sei seine Stadt Melitopol wieder eine Stadt der Zuwanderung, viele junge Leute kehrten zurück, weil sie da etwas entwickeln und aufbauen könnten. Man könnte sagen: Eine Art Aufbruchstimmung im Wilden Osten.
Die Renten wurden ans russische Niveau angepasst, also im Durchschnitt um das 1,5-Fache erhöht. Die alten Menschen haben plötzlich wieder Geld in der Tasche. Dadurch, dass viel Geld reingepumpt wird, finden junge Leute leicht einen Job. Große Schwierigkeiten gibt es nach meinem Eindruck weiter in den ländlichen Regionen, wo an vielen Häusern Dächer und Fenster noch repariert werden müssen. Abseits der Hauptverkehrsstraßen gibt es noch die Schlamm- und Sandwege. Aber die Menschen fühlen sich nach meinem Eindruck nicht besetzt, sondern befreit.
Dazu muss ich sagen: Ich konnte mich frei bewegen. Niemand hat mir ausgewählte Personen vor die Nase geschoben. Wenn ich recherchiere, gibt es immer eine offizielle Struktur. Da geht es um Visa, Akkreditierungen, offizielle Genehmigungen. Dahinter liegt bei mir immer eine inoffizielle Struktur. Ste besteht aus Informanten und lokalen Helfern die ich abseits der offiziellen Wege im Vorfeld anspreche. Mit dieser Struktur arbeite ich dann.
Wie leben die Menschen in der Ostukraine? Sie haben es bereits angedeutet, aber vielleicht lässt sich das noch mal kurz ausführen. Was ist dort von den Veränderungen zu spüren?
Der Alltag kehrt in die Städte zurück. Es ist ein wenig «wie vom Eise befreit». Ich war in Lugansk, da ist der Krieg gerade einmal 80 bis 100 Kilometer nach Westen abgerückt. Die jungen Leute sind mit ihren Autos unterwegs, mit lauter Musik. Man trifft sich auf öffentlichen Plätzen. Es ist, als ob es keinen Krieg gäbe. Man merkt die Sehnsucht der Menschen nach Frieden. Dies war auch so in Donezk. Vor zwei Jahren war kein Kind auf der Straße, die Plätze waren leer, eine Geisterstadt. Inzwischen sitzen wieder die Friseurinnen vor ihren Geschäften, und in der kundenfreien Zeit rauchen sie Zigaretten und sprechen die Passanten an. Das öffentliche Leben kehrt zurück. Man sehnt sich nach Normalität. Man sieht den Wiederaufbau und sieht gleichzeitig noch parallel auch die Zerstörungen. In Mariupol beispielsweise werden die großen Stahlwerke Iljitsch und Asow in der bisherigen Form nicht wieder aufgebaut. Die Industriegebiete sollen restrukturiert werden, was Jahre dauern wird. Asow soll ein Freizeit- und Technologiepark werden. Eine neue russische Marineakademie wurde am Rande des Asow-Geländes errichtet.
Sie waren auch wieder im Frontgebiet, haben auch militärische Einheiten besuchen können. Wer kämpft auf Seiten Russlands und der Ostukraine? Wer kämpft auf der anderen Seite? Und haben Sie Nordkoreaner gesehen?
Nein, ich habe keine Nordkoreaner gesehen. Nirgendwo. Russland ist ein Vielvölkerstaat, und das zeigt sich eben auch in den militärischen Kräften, die im Donbass kämpfen. Wir waren mit Tschetschenen unterwegs.
Wir waren auch mit ukrainischen Soldaten unterwegs, die übergelaufen sind und nun auf russischer Seite kämpfen. Ich habe mit einem Soldaten gesprochen, der in Kiew Geschichtswissenschaften studiert hat. Er sagte: Ich habe die Seiten gewechselt, weil wir im Frühjahr 2022 in Istanbul fast zu einem Friedensschluss gelangt waren. Und ich kämpfe nicht für die, die diesen Frieden verhindert haben.
Wir haben die «Hispaniola»-Miliz aufgesucht. Sie ist aus dem Fußballklub Mariupol entstanden. Das sind wirklich verwegene Burschen, die auf dem Motorrad Sturmangriffe gefahren haben. Sie waren in Bahmut im Einsatz waren und hatten dort hohe Verluste. Da wir östlich des Dnjepr unterwegs waren, kann ich allerdings nichts zu den Einheiten sagen, die auf ukrainischer Seite dort kämpfen.
Hatten Sie die Möglichkeit, ukrainische Kriegsgefangene zu sprechen?
Nein, die hatte ich nicht. Ich habe keine gesehen und habe aber auch nicht gezielt danach gesucht.
Quelle:
Transition News: «Medien und Lohnschreiber treiben uns in den Krieg» – Patrik Baab über die «Propaganda-Presse» - 30. Juli 2024
Transition News: «Wir wollten diesen Krieg nicht» - 12. Juni 2024
Transition-TV: Er hat auf beiden Seiten der Front recherchiert – Gespräch mit Patrik Baab über seine Erfahrungen - 31. Mai 2024
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Info: *https://transition-news.org/die-menschen-fuhlen-sich-befreit-patrik-baab-uber-seine-zweite-reise-in-die
Weiteres:
Teil 2 «Unter Tränen wünscht man sich Frieden»
Patrik Baab bei einer Veranstaltung im Dezember 2023 in Berlin; Bildquelle: Tilo Gräser
transition-news.org, Veröffentlicht am 1. November 2024 von TG.
«Unter Tränen wünscht man sich Frieden» – Patrik Baab über seine zweite Reise in die Ostukraine
Der Journalist Patrik Baab war 2021 und 2022 auf beiden Seiten der Front in der Ukraine. Darüber hat er ein Buch veröffentlicht, das kürzlich auch auf Russisch erschien. Dazu war er in Moskau und ist danach zum zweiten Mal in die Ostukraine gereist. Im Interview mit Tilo Gräser berichtet er davon.
Transition News: Sie haben im Buch über die erste Reise Fronterlebnisse wiedergegeben, auch ein Gespräch mit einem US-Amerikaner, der in Bahmut im Einsatz war und erzählt hat, dass es da für einen Kämpfer eine Überlebensfrist von nur vier Stunden gab. Der Schweizer Militärexperte Jacques Baud schreibt, die russischen Truppen würden so langsam vorgehen, weil sie versuchen, Verluste zu verringern. Ist das bei dem, was Sie gesehen und gehört haben, irgendwie spürbar gewesen? Gibt es da tatsächlich ein anderes Vorgehen? Oder stimmt das, was noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges erzählt wird: Die Russen schicken einfach alle vor und durch die Masse wird gewonnen? Patrik Baab: Das ist unterschiedlich. Es kommt auf den Frontabschnitt an und auf die Kriegsphase. In der ersten Phase des Krieges haben die Russen schwere Fehler gemacht, weil sie gedacht haben, wenn sie von Norden in linearer Formation auf Kiew zu marschieren, werden sie mit offenen Armen empfangen. Hier sind sie offensichtlich schlechten Informanten auf den Leim gegangen, die viel Geld dafür bekommen haben. Das haben Tausende von Soldaten mit ihrem Leben bezahlt. In Bachmut, im Umfeld von Pokrowsk oder in Wuhledar war klar, dass diese Städte nur im Häuserkampf erobert werden können. Das regierungskritische Portal Mediazona beziffert die Verluste in Bahmut allein bei den «Wagner»-Söldnern auf russischer Seite mit knapp 20.000 Mann. Insoweit stimmt es schon, was dieser US-amerikanische Söldner gesagt hat: Durchschnittliche Überlebenszeit vier Stunden im Häuserkampf. Da fliegen die Handgranaten um die Ecke, da schaut man nicht erst rein, wen man da trifft. Das ist auch bei Wuhledar so geschehen. Die Stadt ist völlig zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Da gab es auch schwere Verluste auf russischer Seite. Insgesamt versucht die russische Armee aber durch ein langsames Vorgehen die Verluste zu verringern. Doch man hat in dieser Landschaftsformation ein Problem, das auch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg in der Normandie hatten. Die Franzosen nennen das «Bocage». Das heißt, da ist ein Feld und dann kommt eine Baumreihe. Darin kann man sich verschanzen und darauf wird dann von den gegnerischen Truppen das Feuer gerichtet. Aber jeder, der angreift, muss erstmal über dieses freie Feld hinwegkommen. Und das führt zu hohen Verlusten.Die offiziellen Zahlen zu den russischen Verlusten sind geheim. Mediazona bezifferte die Verluste auf russischer Seite im September auf 100.000 bis 120.000 Mann. Aber meine Informanten sagen inzwischen, die Verluste seien höher. Auf ukrainischer Seite wurde die Zahl der Gefallenen im September auf mehr als eine halbe Million geschätzt.
Sie haben die jüngste Reise auch gemacht, um Menschen wieder zu treffen, die Sie vor zwei Jahren getroffen und gesprochen haben. Im kurzen Vorgespräch erwähnten Sie, dass manche davon nicht mehr leben. Wie war dieses Wiedersehen? Wie war das, auf Familien zu treffen, wo Sie jemanden kannten, mit dem Sie gesprochen haben und der im Krieg gefallen ist? Vor zwei Jahren hat uns ein Offizier der DNR-Miliz einen Tag lang in Donezk begleitet, Jewgenij Chazko. Er ist einen Monat später durch Himars-Beschuss ums Leben gekommen. Ich habe die Familie ausfindig gemacht und war mit seiner Schwiegermutter und seiner Tochter an seinem Grab. Die Tochter ist 20, sie sagte: «Ich lebe gerne in Donezk. Hier ist meine Zukunft. Das ist alles traurig, aber wir hoffen natürlich auf eine Zeit nach dem Krieg.» Und die Schwiegermutter sagte: «Mein Schwiegersohn ist gefallen. Ich bin 72, und wenn ich zehn Jahre jünger wäre, dann hätte ich auch die Waffe in die Hand genommen, denn dieser Krieg wurde uns aufgezwungen.» Diese Leute sagen: «Der Westen greift uns an, die Regierung in Kiew und die NATO, nicht die Russen. Die haben uns befreit.» Ich habe in Mariupol einen Rentner wiedergetroffen, mit dem ich damals ein Interview gemacht hatte. Ich wusste nicht, wie er heißt, aber ich habe über eine Bekannte, die nach Deutschland geflohen ist, und über ihren Sohn, der in der Nähe wohnt, diesen Mann ausfindig gemacht und habe ihn aufgesucht. Er sagte: «Bevor wir ein Interview führen, möchte ich mich bei Putin für die ‹Spezielle Militäroperation› bedanken.» Vor zwei Jahren war er ausgebombt und wohnte zeitweise im Keller. Und heute bedankte er sich bei Putin dafür, dass er wieder eine Wohnung hat, mit neuen Fenstern drin, dass er wieder einziehen konnte! Das versteht man in Deutschland nicht.Die westliche Presse ist psychologisch völlig blind, weil sie nicht berücksichtigt, was es bedeutet, acht Jahre lang unter Artilleriebeschuss zu leben. Und dann muss man eines sehen: In Mariupol waren große Teile des Asow-Regiments stationiert, und die haben seit 2014 die Bevölkerung drangsaliert. Slawik, dieser Rentner, berichtete, er sei 2016 von den Asow-Leuten zusammengeschlagen worden. In Mariupol ist nicht vergessen, wie der russischstämmigen Bevölkerung zugesetzt wurde. Das ist die Stimmung im Land.
Mariupol war einer der Höhepunkte der Autonomiebestrebungen 2014 und war von Asow für Kiew «zurückerobert» worden … Ja. Ein anderer Mann, den wir in einem «Tante Emma»-Laden in Schachtjorsk getroffen haben, hat uns ein zerschossenes Haus gezeigt und gesagt, er sei Stadtrat in Mariupol. Er berichtete: «Ich war dabei im Mai 2014, als ukrainische Schützenpanzer in unsere Barrikaden reingefahren sind und die Leute überfahren haben. So was vergisst man natürlich nicht.» Die Welle der Gewalt, die nach dem Putsch auf dem Maidan insbesondere durch die östlichen Landesteile rollte, die ist nicht vergessen. Nur im Westen sind diese Ereignisse nicht präsent. Hier herrscht fast vollständige Amnesie.
Patrik Baab bei einer Veranstaltung im Juli 2024 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)
Wir im Westen diskutieren beim Beobachten des Geschehens inzwischen immer intensiver über Lösungen für einen Frieden, über Verhandlungen und Waffenstillstand. Wie reden die Menschen in der Ostukraine darüber? Sehen sie eine Möglichkeit, dass es in absehbarer Zeit Frieden gibt, dass dieser Krieg endet?Unter Tränen wünscht man sich Frieden. Ich habe mit vielen gesprochen, die tränenüberströmt sagten: «Wir wollen Frieden, aber unter Frieden stellen wir uns etwas anderes vor.» Sie stellen sich vor, dass auch noch weitere Teile der Ostukraine, in denen russische Menschen leben, befreit werden. Sie sagen: «Wenn wir die Gebiete westlich des Dnjepr nicht befreien, werden wir weiter unter Beschuss liegen. Dann kann es keinen Frieden geben.»
Ich habe mit Menschen in Melitopol gesprochen, die sagen: «Das reicht noch nicht. Wir müssen weiter vorgehen und wir unterstützen die russische Armee.» Das ist die Stimmung. Das macht man sich hier in Deutschland nicht klar. Da hat die Art und Weise, wie die Ukraine seit 2014 Minderheitenpolitik gemacht hat, jede Möglichkeit einer Zusammenführung des Landes zerstört. Aber war dort so etwas wie Kriegsmüdigkeit zu spüren? Das ist sehr widersprüchlich. Die Bevölkerung sehnt sich nach Frieden. Sie hat den Krieg satt. Krieg ist eine Erfahrung, die im Donbass viel präsenter ist als hier in Deutschland. Man weiß, was Krieg heißt, aber man sagt: «Frieden gibt es nicht mit der Regierung in Kiew, sondern nur gegen sie. Das haben wir jetzt lange genug erlebt. Warum haben die uns beschossen?» Die Stimmung ist völlig anders, als man sich das hier vorstellt. Man muss diese Perspektive nicht teilen, aber man muss sie kennen und analysieren, damit man weiß, mit welchem Kräftefeld man es da zu tun hat. Es gibt ja im Prinzip zwei Varianten: Der Krieg geht lange weiter oder es gibt in absehbarer Zeit eine Lösung, weil miteinander gesprochen und verhandelt wird. Haben Sie das auf der Reise erleben können, Anzeichen für die eine oder die andere Variante? Ich habe meine Aufzeichnungen noch nicht ausgewertet. Dieser Prozess beginnt erst. Ich habe demnach meine Beobachtungen auch noch nicht abgeglichen mit dem Forschungsstand. Der Blick des Reporters reicht ja oft nicht sonderlich weit. Man muss immer im Blick behalten, was andere erlebt und herausgefunden haben. Wie wird es in der politikwissenschaftlichen und historischen Zunft eingeschätzt? Deswegen kann ich auf diese Frage keine klare Antwort geben. Was ist Ihre eigene Einschätzung aus dem Beobachten des Geschehens? Dieser Krieg wird noch lange weitergehen. Auch, wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, werden wir eine sehr unruhige Grenze erleben, viel unruhiger als jene zwischen Nord- und Südkorea. Denn dieser Krieg ist Teil einer weltweiten Auseinandersetzung um die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten in der Welt und um den Auf- und Ausbau einer multipolaren Welt. Auch die BRICS-Konferenz in Kasan ist ja ein Zeichen dafür, dass Russland keineswegs isoliert ist. Und da gibt es mehrere Konfliktherde. Die Ukraine ist ein Konfliktherd. Der Nahe Osten ist ein weiterer, der Kaukasus ein dritter, der zentralafrikanische Gürtel ein vierter. Dazu kommen die Spannungen in der Straße von Taiwan.Der Westen will nicht akzeptieren, dass sich auch das ökonomische Kräftefeld nach Zentral- und Südostasien verschiebt. Die Boomtowns heißen nicht Berlin oder London, sondern Singapur und Hongkong. Das ist eine Region, in der vier Milliarden Menschen leben und die allmählich ihre Wirtschaftskraft entfaltet. In diesem weltweiten Ringen ist die Ukraine ein Schauplatz. Man könnte zugespitzt sagen: Im Krieg in der Ukraine geht es um alles, nur nicht um die Ukraine.
Noch mal kurz zurück in die Ostukraine. Immer wieder gibt es ja Meldungen, dass es dort Anschläge gibt auf Politiker, auf Militärs und so weiter. Da werden gezielt zum Beispiel Bomben in Autos platziert. Was haben Sie von dieser ukrainischen Partisanenbewegung mitbekommen? Viel. Ich habe in meinem Buch «Auf beiden Seiten der Front» ja geschrieben, dass es speziell im Raum Melitopol und in Saporoschje eine aktive Partisanenbewegung gibt, die natürlich vom ukrainischen Geheimdienst ausgerüstet und gefördert wird. Das ist mir wieder begegnet.Ich traf in Moskau den stellvertretenden Verwaltungschef von Melitopol, in einer der Reha-Klinik. Er hat durch eine Autobombe ein Bein verloren und wurde 40-mal operiert. Der bestätigte: «Der ukrainische Geheimdienst ist sehr aktiv und es gibt eine aktive Partisanenbewegung, zu der leider auch russische Menschen gehören.» Er hat ganz offen drüber gesprochen. Das ist kein Gerücht. Die sind da sehr aktiv, die haben Sprengstofflager angelegt.
Ich habe ihn Tage später wiedergetroffen in Melitopol, da war er wieder in seiner alten Funktion, natürlich auf Krücken, konnte aber wieder Auto fahren. Er war nicht verbittert. Da sagte er: «Ich mache jetzt viel für die Versorgung der Bevölkerung mit Hilfsgütern, Lebensmitteln, Medikamenten, in der Hoffnung, dass wir dadurch auch zeigen können, wir tun etwas für die Menschen und dass die Menschen es dann ablehnen, an Anschlägen mitzuwirken.» Wird es über die zweite Reise in die Ostukraine ein neues Buch geben? Ja, ich möchte wieder ein Buch schreiben. Der Abgleich mit dem Forschungsstand, die Auswertung des Erlebten, das wird mich im kommenden Jahr beschäftigen. Der Verlag und ich, wir peilen den Herbst 2025 an. So was kostet Zeit. Die Schwierigkeit besteht auch darin, ein Sachbuch zu schreiben, das die wichtigen Informationen in eine Geschichte einbettet. So stehe ich vor zwei Hürden: Einerseits das erzählerische Element und andererseits der Versuch, die Fakten daran aufzuhängen, wie man ein Haus verputzt. Das ist eine doppelte Schwierigkeit. Schönen Dank. Wir sind gespannt auf das neue Buch.
Quelle:
Interview Teil 1: «Die Menschen fühlen sich befreit» – Patrik Baab über seine zweite Reise in die Ostukraine – Teil 1 - 31. Oktober 2024
Transition News: «Wir wollten diesen Krieg nicht» - 12. Juni 2024
Transition-TV: Er hat auf beiden Seiten der Front recherchiert – Gespräch mit Patrik Baab über seine Erfahrungen - 31. Mai 2024
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Kommentare
1. November, 09:52, von Klaus Neumann
"Die Welle der Gewalt, die nach dem Putsch auf dem Maidan insbesondere durch die östlichen Landesteile rollte, die ist nicht vergessen. Nur im Westen sind diese Ereignisse nicht präsent. Hier herrscht fast vollständige Amnesie." Nein. Amnesie ist das keine sondern böse Absicht. Auch der der Politik geichgeschalteten Presse und önffentlich-rechtichen Medien. Auch die Berichte OSZE von den Übergriffen der Zentralregierung auf die russische Bevölkerung im Dobass ab dem Maidan sind jederzeit von den deutschen Oberkriegstreibern in D Baerbock, Scholz, Pistorius und der schlimmsten unter allen, der Frau Doktor EU, verfügbar. https://www.youtube.com/watch?v=THrjeeIxsH8 Man will nichts davon wissen, weil man sonst die unbedingte US-Vasallenlinie in D und der EU verlassen müsste, die uns nicht nur ökonomisch an die Wand gefahren, sondern an den Rand des WWIII geführt hat. Der Kreml weiss, dass wir arme US-Schweine sind und, so Putin, das würde man im Falle eines nuklearen Schlagabtausches berücksichtigen, vor dem Biden vor wenigen Tagen offenbar nach einer russischen Note zu den von Selensky geforderten weitreichen NATO-Waffen zurückschreckte, weil man wisse, wo die Verursacher des ganzen sitzen würden, und die würde man nicht vergessen. Das U-Boot der Belgorodklasse mit seinen Poseidons und die Admiral Gorschkov mit den Zirkons lagern im Moment dauerhaft irgendwo im Atlantik vor der US - Westküste. Das hat wohl Herrn Biden und seinen Beratern bei der Entscheidung über die Freigabe von weit in die RF reichenden Waffen für Selensky sehr geholfen.
Info: https://transition-news.org/unter-tranen-wunscht-man-sich-frieden-patrik-baab-uber-seine-zweite-reise-in
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.