overton-magazin.de, vom 3. September 2025 116 Kommentare


Kremlin.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons


Deutschland wird sich entscheiden müssen: Entweder ein Bündnis mit den BRICS oder ein „Weiter so“ als Frontkämpfer der NATO.

Johann Wolfgang von Goethe stellte angesichts des Sieges der französischen Revolutionstruppen über die Reaktionäre der Koalition bei der Kanonade von Valmy am 20. September 1792 fest:

„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“

Nicht mehr, aber auch nicht weniger muss von diesen Tagen in Peking gesagt werden. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs in China im Rahmen der Shanghai-Kooperationsorganisation im Sommer 2025 markiert einen Wendepunkt in den internationalen Beziehungen. Während der Westen sich im Niedergang befindet – gefangen in Stellvertreter- und Wirtschaftskriegen, um den Absturz der US-Hegemonie zumindest zu bremsen –, bildet das Treffen der Staaten des eurasischen Doppelkontinents eine attraktive Alternative zum westlichen Kolonialmodell.

Ein Bündnis gegenseitiger Sicherheit

Ganz wie Zauberlehrlinge schmiedeten die USA und ihre europäischen NATO-Verbündeten ein Bündnis Chinas, Russlands und Indiens für eine multipolare Welt. Sowohl die jüngsten Zollattacken Trumps auf die BRICS-Staaten – allen voran auf Indien – als auch die deutsche Außenpolitik, die auf eine deutsch-japanische Rüstungszusammenarbeit setzt, die sich gegen China richtet, waren unfreiwillige Treiber dieser Entwicklung. Washington und Berlin dürfen also mit Fug und Recht als Geburtshelfer des eurasischen Bündnisses gelten – bei gleichzeitigem Niedergang eines Euro-Atlantizismus‘ im Rahmen der NATO, der sich seit 1945 als einzig gültige weltpolitische Alternative und seit 1990 als weltpolitischer Sieger mit den USA als „einzig verbliebener Weltmacht“ präsentiert hatte.

Und während die NATO durch Überspannung ihrer Kräfte – da sie es mit Russland und China zugleich aufzunehmen gedenkt – ihre eigene Existenz infrage stellt und die europäischen NATO-Verbündeten in den Status willfähriger Vasallen herabsinken, die gewillt sind, ihre eigenen Ökonomien zum Erhalt der US-Hegemonie zu opfern, entsteht in Eurasien ein Bündnis gegenseitiger Sicherheit, das zugleich Institutionen aufbaut, die sich finanzpolitisch als Alternative zu den vom Westen dominierten Institutionen wie Weltbank und IWF präsentieren.

Der Westen verliert 

Wie konnte es so weit kommen, dass der Westen derart an Attraktivität eingebüßt hat? Ein Schlüssel zum Verständnis des Niedergangs ist sicherlich die eklatante Verweigerung, die neuen Realitäten des globalen Südens anzuerkennen – gepaart mit einer kolonialen Haltung, die man meinte, gerade auch durch die Wirtschaftskriege zum Ausdruck bringen zu müssen.

 

In Indien etwa fühlte man sich zu Recht in die Zeit des britischen Empires zurückversetzt, in der andere dem Subkontinent vorzuschreiben glaubten, mit wem er Handel treiben darf – und mit wem nicht. Durch den Versuch, Indien einem kolonialen Kommando zu unterwerfen, haben die USA das Land in das gegnerische Lager getrieben.

Europas Vasallentreue führt in die Selbstzerstörung

Die EU aber ist, was die Beschleunigung des Niedergangs angeht, so etwas wie eine Avantgarde. Unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) agiert die EU als Wurmfortsatz einer Weltmacht und lässt sich auch bei den Handelskriegen in die erste Reihe schieben. Zugleich träumt die EU-Kommission vom EU-Truppeneinsatz im Osten.

Während die USA gegenüber China weiterhin zögern, den Handelskonflikt vollständig eskalieren zu lassen – zu groß scheinen die potenziellen Folgeschäden in den USA zu sein –, riskiert die EU mit Sekundärsanktionen gegen China, den wirtschaftlichen Austausch mit ihrem größten Handelspartner zu minimieren.

Was Russland angeht, jagt ein EU-Sanktionspaket das nächste – zum eigenen massiven Schaden. Indem Europa unfähig und unwillig ist, einen Interessenausgleich mit Russland zu suchen, ergibt sich das „Kap Asiens“ einer furchtlosen Eskalationsstrategie, die auf eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe zusteuert – und sonnt sich darin, Bauernopfer der USA auf dem eurasischen Schachbrett sein zu können.

Am Ende wird sich Europa – bei Strafe des eigenen Untergangs – entscheiden müssen: zwischen einer Emanzipation von den USA, die Europa lediglich als „Brückenkopf“ auf dem Doppelkontinent betrachten, verbunden mit einem Bündnis mit den BRICS, oder einem „Weiter so“ als Frontkämpfer der NATO – sich wiegend in der Illusion, einen Krieg gegen die Atommacht Russland gewinnen zu können, während man folgenlos immer mehr eigene Ressourcen ins Feuer wirft, bis Sozialstaat und wirtschaftliche Prosperität auf dem Altar der „Kriegstüchtigkeit“ geopfert sind.


Sevim DagdelenSevim Dagdelen war von 2005 bis 2025 Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Politikerin ist außenpolitische Sprecherin der Gruppe „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) und war Obfrau im Auswärtigen Ausschuss. Die Abgeordnete war Mitglied in der Parlamentariergruppe USA, in der Deutsch-Chinesischen sowie Deutsch-Indischen Parlamentariergruppe. Sevim Dagdelen war viele Jahre Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO, in der Abgeordnete aus den Mitgliedsländern des Militärpakts über sicherheits- und verteidigungspolitische Themen beraten.
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