Nachrichten von Pressenza - 21.03.2022
Das Gute hat einen Sprung
pressenza.net, 20.03.22 - Andree Jochmann - Pressenza Muenchen
Mittlerweile spielt Corona ja nur noch als Inzidenz-Zahl eine Rolle. Es gibt ein völlig neues Thema…
Ein Essay von Andree Jochmann
Als ich in den sechziger Jahren in einem kleinen Ort im südlichen Osten der DDR aufwuchs, war es für mich sehr schwer, mich zu orientieren. Meine Eltern waren traumatisierte Kriegskinder und das herrschende System war doch recht hermetisch.
Meine politische Auseinandersetzung begann mit einem Mund voller lauwarmer Milch. Im Kindergarten hieß es nämlich, wir Kleinen müssten unsere Milch austrinken, denn die Kinder in Vietnam wären froh, wenn sie welche hätten. Ich wusste nicht, wo Vietnam war und warum dort die Kinder keine Milch hatten. Aber weil ich erst aufstehen durfte, wenn mein Plaste- (so hieß das damals) Becher leer war, nahm ich wenigstens den letzten Schluck in den Mund und spuckte ihn später draußen unauffällig ins Gebüsch. So rettete ich mir ein wenig Selbstbestimmung.
Etwas später sah ich dann DEFA-Indianerfilme. Ich verstand, dass da schöne Menschen in Einklang mit der Natur lebten und dann kamen böse, versoffene Halunken mit modernen Gewehren und schossen wahllos Indianer vom Pferd und ganze Herden von Büffeln tot. Ich war empört über diese Ungerechtigkeit. Und fasste den heimlichen Plan, wenn ich einmal groß wäre, würde ich zur Armee gehen, aber nur so tun, als ob ich da mitmache. Und dann wollte ich ein Maschinengewehr stehlen, mich damit auf ein Schiff schleichen, nach Amerika fahren und die Indianer retten, indem ich alle „Cowboys“ erschieße. Rattatatata.
1973 war wieder etwas mit Milch. Der gute Präsident Allende in Chile hatte dafür gesorgt, dass jedes Kind jeden Tag einen halben Liter Milch bekam. Vorher hatten die, genau wie die vietnamesischen Kinder, so etwas nicht gehabt. Dann kam aber ein böser, der hieß Pinochet. Der nahm den Kindern die Milch wieder weg und ließ Leute, die sich darüber beschwerten, von ganz hoch aus Flugzeugen ins Meer werfen. Ich war darüber sehr traurig. Inzwischen hatte ich lesen gelernt und einige meiner Kinderbücher handelten von der Sklaverei. Ich verstand, dass die Cowboys also zuerst ein riesiges Land geklaut hatten und dazu noch die Arbeitskraft von schwarzen Menschen, die für sie die Reichtümer dieses geklauten Landes zusammen scharren mussten, wenn sie nicht ausgepeitscht oder erschossen werden wollten. Mit geklautem Land und geklauter Arbeit waren die so reich, dass sie auf der ganzen Welt böse Dinge tun konnten. Flugzeuge nach Vietnam schicken oder den Pinochet in Chile anstiften.
Wir in unserer DDR hatten zum Glück den Sozialismus. Das Land gehörte allen und niemand musste für jemand anderes Reichtum arbeiten. Das einzige Problem waren immer die USA. Die wollten Krieg und gönnten uns den Sozialismus nicht. Deshalb dachte ich auch, als ich zur Armee ging, ich beschütze jetzt den Frieden. Ich machte sehr schnell die Erfahrung, dass es keine gute Armee gibt. Der Kompaniechef war ein Psychopath. Wenn er wütend wurde, schrie er Sachen, die hätte ich im Sozialismus nicht für möglich gehalten. Dabei wurde er ganz dunkelrot im Gesicht. Wirklich alle hatten Angst vor ihm. Im Februar 1981 musste meine Kompanie in den Wald, an die polnische Grenze. Es war bitter kalt. Immer zwei Soldaten bekamen einen Strohballen und zwei Zeltbahnen. Daraus sollte man sich etwas zum Schlafen bauen. Nach einer Woche Kälte und Drill wurde langsam klar, dass es darum ging, dass wir nach Polen marschieren sollten, um dort Konterrevolutionäre zu erschießen. Solidarnosc hießen die wohl.
Eine Woche lang heftig zu frieren verändert einen Menschen sehr.
Ich war mittlerweile in einem Zustand, dass ich dachte, wenn das passiert, erschieße ich erst diesen Kompaniechef und dann mich. Auf keinen Fall schieße ich auf junge polnische Männer, denen auch nur kalt ist, wie mir. Zum Glück wurde die Sache abgeblasen. In Moskau war wohl entschieden worden, die Sache anders zu handhaben.
Später war ich mal in einer Kaserne der Roten Armee. Ich bekam den Eindruck, das was ich in der einen Woche im Wald erlitten hatte, das hatte ein Sowjetsoldat jeden Tag.
Etwas später fand ich mich in Dresden bei der Erstürmung der Stasi- Zentrale. Jeder konnte sich etwas mitnehmen, eine Leninbüste oder ein Telefon. In den Dienstzimmern waren noch die erschrockenen Angestellten und beantworteten Fragen. Sie hätten einfach nur aufstehen und herumzulaufen brauchen, dann hätte man sie nicht erkannt, denn sie waren ja in Zivil. Aber sie saßen da und ließen sich ausfragen. Es waren wohl fast alle in der Küche beschäftigt gewesen oder als Fahrer… Ich kann mich noch erinnern, dass die mir leid taten, wie sie so anfingen zu ahnen, dass sie wohl auf die falsche Seite geraten waren.
Dann gab es ein paar schöne Jahre. Ich dachte, das mit dem Krieg wäre erledigt. Wieso dann die Serben plötzlich Konzentrationslager hatten und wir da in Belgrad die chinesische Botschaft und den Fernsehsender bombardieren mussten, habe ich nicht verstanden. Dann kam 9/11. Ich erinnere mich an eine Sendung im Fernsehen, wo Staatsführer ihre Statements abgaben. George Bush sagte, wer immer das war, bekommt es doppelt und dreifach zurück. Dann war Yasser Arafat zu sehen, der nicht sprechen konnte, weil er weinen musste.
Kurzzeitig war ich Gerhard-Schröder-Fan, weil der beim Irak-Krieg nicht mitmachen wollte. Unvergesslich Colin Powell vor der UNO mit einem Fläschchen – ja, was eigentlich? Kaffeeweißer? Die Bild-Zeitung wusste, dass Saddams Waffen uns alle in 20 Minuten töten können. Tony Blair hat es auch nochmal gesagt. Es gibt verschiedene Zahlen, aber man geht ungefähr von einer Million toten Irakern aus. Tony Blair wurde letztens von der Queen geadelt. George W. Bush geht es prima und Colin Powell bekam einen schönen Nachruf. Wie geht das? Wie leben solche Leute damit, eine Million Tote auf dem Gewissen zu haben? Und warum kommen die damit durch? Warum heißt es nicht auf Schritt und Tritt, wohin sie auch gehen: Da kommt ein Mörder?
Der Irrsinn ging so weiter. Die Afghanen kamen und haben Berlin besetzt. Sie fanden, unsere Scheidungsquote wäre viel zu hoch, wir hätten keine Kultur. Das kleine Libyen suchte sich eine Koalition der Willigen und bombardierte Norwegen. Muss man sich mal vorstellen. 6.000 Kilometer weit weg bombardieren die Norwegen. Was haben die dort zu suchen? Leider gab es keine Friedens- Demo gegen dieses Libyen. Jens Stoltenberg wurde gepfählt. Die letzte Demo, die ich gesehen habe, war wegen des Irak-Krieges.
Sowas hat man wahrscheinlich seitdem im Griff.
Und nun sind wir also im nächsten Krieg. Was ich höre ist wieder wie: Wer das war, kriegt es doppelt und dreifach zurück. Mir fehlt der weinende Arafat. Ich hab sie so satt, diese Geschichte vom bösen Mann und wenn der endlich tot ist, ist alles gut. Präsident Selenskyj hat sich bei Mark Zuckerberg bedankt, weil der es möglich gemacht hat, dass man auf Facebook jetzt doch „Hatespeech“ posten darf. Man darf zum Mord an Putin und Lukaschenko aufrufen und gegen russische Soldaten sagen, was man möchte.
Für mich ist das so ein Test. Wer schafft es, Mitgefühl zu haben mit den russischen Soldaten?
Ich hab gesehen, wie es denen geht.
Ich bin gegen Putins Krieg. Ich wäre dafür, dass die ganze Welt sagt, wir kaufen jetzt von mir aus kein russisches Gas mehr, bis die sich einkriegen. Frieren für den Frieden. Ich will dann aber auch kein Erdöl aus Saudi Arabien. Die führen Krieg in Jemen, 350.000 Tote, davon 70% unter 5 Jahren. Bis die damit aufhören. Bis sich die amerikanische Regierung entschuldigt hat für Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien (die klauen da immer noch das Öl) kaufen wir keine Iphones mehr und boykottieren Netflix. Sollen die doch ihre Amerika-gewinnt-immer-Filme selber glotzen.
Das soll jetzt kein „Whataboutism“ sein.
Ich wünsche mir, dass wir uns nicht ständig ablenken lassen. Das Problem mit der höchsten Priorität sind die Armeen und Waffen, allen voran die Atomwaffen. Dagegen ist doch selbst der Klimawandel harmlos. Was ist schlimmer, globale Erwärmung oder nuklearer Winter? Die ganze Menschheit läuft mit einer Pistole am Kopf herum, von der niemand weiß, ob oder wann die los geht. Sind wir bescheuert? Wir tun alle jeden Tag so, als wäre nichts. Oder als wäre alles gut, wenn Bin Laden, Saddam Hussein oder Wladimir Putin endlich tot sind. Wann schauen wir uns endlich mal das große Bild an und unternehmen etwas?
Meine Eltern waren traumatisierte Kriegskinder. Ich bin aufgewachsen in einer Art Knalltrauma. Heute sehe ich, man kann entweder fühlen oder agieren. Damals ging es nicht. Der Krieg war zu schlimm gewesen, das wollte niemand fühlen und das Agieren hieß: „Haben wir’s nicht schön? Man rennt herum, macht dies und das, klappert und kommt hoffentlich nicht zu sich. Wenn einem gar nichts mehr einfällt, kann man immer noch eine Garage bauen.
Was auf der Welt passiert, was in der Ukraine passiert, das ist Ausdruck des unbewussten Träumens von fast 8 Milliarden Menschen. Man geht entweder ins Gefühl oder in die Spaltung. Jeden Tag aufs neue hat man die Wahl. Und es ist nicht einfach. Spaltung ist viel leichter! Habe ich Mitgefühl mit den russischen Soldaten, den ukrainischen Kindern, mit Selenskyj, Putin und Joe Biden? Das Handeln von Menschen kann man verurteilen, aber alle gehören sie dazu. Alle.
Und wir sollten endlich anfangen, Probleme zu lösen, ohne uns gegenseitig umzubringen.
Wer innerlich jemanden ausschließt, schließt etwas von sich selbst aus.
Ich habe gestern selbst in diesen Abgrund geschaut. Ich hatte in den Medien verfolgt, dass aus vielen Ländern Männer unterwegs in die Ukraine sind, die dort mit kämpfen wollen. Vor allem war mir ein Foto aufgefallen, darauf waren Männer in Tarnuniformen zu sehen, gestrickte Sturmhauben über dem Kopf. So standen sie mit ihren Koffern am Flughafen. Nun kam die Meldung, dass russische Raketen in der Nähe der polnischen Grenze eine Unterkunft solcher Kriegstouristen zerstört haben. Ein russischer Politiker sagte: „Was haben sie gedacht? Dass sie auf Russen-Safari gehen?“ Es gab viele Tote und Verletzte und für einen Moment dachte ich: „Recht geschieht ihnen.“ Aber ein gewaltsamer Tod geschieht niemandem recht. Diese Männer hatten ihre Geschichte, die sie diese dumme Entscheidung treffen ließ. In diesem Moment hatte ich mich für die Spaltung entschieden. So schnell geht das. Es hat sich irgendwie befriedigend angefühlt, diese Männer blöd zu finden. Es war für einen Moment toll, dass sie tot waren.
Und dann fiel mir die Geschichte wieder ein, wie ich als kleiner Junge mal alle Cowboys erschießen wollte. Aus purem Gerechtigkeitsgefühl. Und ganz plötzlich hätte ich weinen können über die armen Kerle, die da jetzt irgendwo in der Ukraine im kalten Dreck liegen und tot sind.
Ach was, hätte können… ich habe geweint!
Jeder Krieg ist Krieg mit sich selbst und jeder Hass zumindest auch Selbsthass. Bestimmte kulturelle Entwicklungen haben uns von uns entfremdet, Konzepte wie Schuld oder eigene Unzulänglichkeit haben sich in die Menschheit als Ganzes eingefressen und werden in fast jeder Biografie reaktiviert. Weil wir etwas in uns nicht ertragen, in der Überzeugung, damit wären wir nicht liebenswert, verschieben wir es nach außen. Das ist dann der Feind. Weil wir aber nicht nur etwas los werden wollen, sondern uns auch nach „Richtigsein“ sehnen, findet auf der anderen Seite auch eine Identifikation mit etwas „Gutem“ statt. Es geht also nicht nur darum, uns in dem zu entdecken, was wir ablehnen. (Ich habe in mir den Kriegstouristen wieder finden können, der ich als kleiner Junge sein wollte. Und sofort waren mir die blöden Kerle mit ihrem Schicksal nahe.) Es geht auch darum zu hinterfragen, womit man sich identifiziert.
Auch das „Gute“ ist am Ende menschlich und hat irgendwo einen kleinen Sprung – und ist vielleicht gerade deshalb liebenswert.
Info: http://www.pressenza.net/?l=de&track=2022/03/das-gute-hat-einen-sprung/
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Krieg oder Frieden?
europeforpeace.eu über pressenza.net, 20.03.22 - Europe for Peace
Dieser Artikel ist auch auf Englisch, Spanisch, Italienisch, Griechisch verfügbar
Wir bedauern die militärische Aggression Russlands in der Ukraine, sind uns aber auch der vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Interessen bewusst, die den Weg für den Konflikt geebnet haben und ihn weiter vorantreiben.
Unsere Priorität ist es, den Krieg zu beenden, Menschenleben zu retten und eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden, deren Preis unweigerlich die Ärmsten und Schwächsten zahlen werden.
Wir wollen Frieden. Und Frieden erreicht man durch Dialog und Verhandlungen, nicht durch das Anheizen eines Konflikts mit Munitions- und Truppenlieferungen. Das menschliche Leben hat den höchsten Wert, und es gibt keinen geopolitischen oder wirtschaftlichen Grund, keinen angeblichen Krieg für die Freiheit, der über den Menschen gestellt werden kann.
Um die ukrainische Bevölkerung wirklich vor einer Katastrophe zu bewahren, müssen die Waffen niedergelegt werden. Aus diesem Grund verurteilen wir die Rücksichtslosigkeit all jener Institutionen, die den Konflikt durch Waffenlieferungen an die Ukraine anheizen: Europäische Regierungen, das Vereinigte Königreich, die Regierung der Vereinigten Staaten, die Europäische Union…
Wir appellieren an die Vereinten Nationen, ihre Rolle mit Überzeugung wahrzunehmen, um den Frieden und die globale Sicherheit zu wahren.
Wir bitten alle Regierungen inständig, diesen Krieg nicht mit Geld, Soldat:innen oder Waffen zu unterstützen, da er dadurch nur noch blutiger und langwieriger wird, was zu noch mehr Tod und Leid führen wird. Wir fordern nachdrücklich, dass nirgendwo auf der Welt Sanktionen verhängt werden, die das Leben der Menschen verschlechtern könnten.
Wir appellieren an die Europäische Union, den Frieden zu stärken – ein Ziel, das in den Römischen Verträgen festgeschrieben ist – und in diesem Konflikt eine neutrale Partei zu sein. Wir fordern sie auf, durch diplomatische Vermittlung und Gespräche die Forderungen und Anliegen beider Seiten zu berücksichtigen, um eine Einigung zu erzielen, die den Feindseligkeiten ein Ende setzen könnte.
Die Gefahr eines Atomkriegs droht uns allen. Er könnte sogar durch einen Unfall ausgelöst werden. Aus diesem Grund fordern wir alle Regierungen auf, den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen, der am 22. Januar 2021 in Kraft getreten ist, unverzüglich zu unterzeichnen.
Atomwaffen müssen jetzt außer Kraft gesetzt werden, bevor es zu spät ist.
Wir sind verärgert über all jene Führer:innen, die es trotz ihrer beträchtlichen wirtschaftlichen und technologischen Ressourcen nicht schaffen, eine gerechte und wirklich menschliche Gesellschaft zu schaffen.
Wir wollen uns nicht zum Erfüllungsgehilfen eines solchen Leichtsinns machen.
Übernehmen wir die Verantwortung für unsere Zukunft und appellieren wir an unsere höchsten Ziele, mit denen die Herzen aller Menschen verbunden sind, um diesen zerstörerischen Lauf der Dinge zu ändern.
Wir werden alle gewaltfreien Formen des Protests nutzen, um dieses Ziel zu erreichen. Krieg ist eine Katastrophe, lasst uns Frieden schaffen.
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Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
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