Ukraine-Krieg: Ein Autor, der beide Seiten der Front besucht
berliner-zeitung.de, vom 07.01.2024, 19:45 Uhr
Der ehemaliger NDR-Journalist Patrik Baab war in der Ukraine auf beiden Seiten der Front. Sein Bericht wurde ein Bestseller. Eine Rezension von Michael Andrick
Besonders schwer sind die Kämpfe derzeit im ostukrainischen Gebiet Donezk (Bild)
Ein frustrierter Ex-KGB-Spion mit gekränkten Weltmachtambitionen will
die alte Sowjetunion zurückerobern und beginnt deshalb unprovoziert
einen Krieg gegen die Ukraine – so ungefähr lautete die Sicht des
Öffentlich-Rechtlichen. Die Gegen-Erzählung lautet: In der Ukraine
herrscht seit 2014 Krieg; das Land wurde von der Nato zur Arena eines
Stellvertreterkriegs der USA mit Russland aufgerüstet. Diese Position
wird von etlichen Alternativmedien vertreten.
Der ehemalige NDR-Redakteur Patrik Baab machte sich im September 2021
und dann noch einmal im September 2022 auf den Weg, um sich auf
monatelangen Reisen selbst ein Bild zu machen, was vor Ort in der
Ukraine und in Russland eigentlich geschieht. Berichte von
„Sitzredakteuren“ bergen laut Baab das Risiko, das wirkliche Geschehen,
mit dessen Hilfe sich viele „Narrative“ als allzu simple, parteiische
Fantasiegebilde entlarven lassen, nicht angemessen zu erfassen.
Den Narrativkampf der Journalisten, die sich mit der Frage beschäftigen,
ob jemand ein „Putin-Freund“ oder doch ein „Nato-Krieger“ sei,
boykottieren wir an dieser Stelle. Blicken wir stattdessen mit Baab auf
zwei in Deutschland selten beachtete Themenkomplexe dieses Konflikts:
auf den „Euromaidan“ 2013/14 als Ausgangspunkt des heutigen Krieges und
auf die physische Realität einer satellitengestützten und humanitär
skrupellosen Kriegsführung.
// Fünf Milliarden Dollar investiert --
Baab berichtet in großer Detailfülle davon, wie die Vertreibung des
pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch 2014 vor sich ging. Er
schildert, wie die USA (laut der Unterstaatssekretärin Victoria Nuland)
über mehr als zehn Jahre rund fünf Milliarden US-Dollar in die Ukraine
„investierten“. Ziel sei es laut Baab gewesen, mit Hilfe von
Nichtregierungsorganisationen (NGO) und einer Koalition von Oligarchen
und ihren Strohmännern in Regierung und Parlament einen Regime Change
hin zu einer westlichen, auf EU- und Nato-Beitritt ausgerichteten
Regierung zu erreichen.
Dieses Vorhaben, so betont Baab, habe ganz der Linie der unter dem
jüngeren US-Präsidenten Bush dominanten „Neokonservativen“ entsprochen.
Die hätten trotz des Aufstiegs Chinas und der BRICS-Staaten unbeirrt an
einer US-geführten Weltordnung festgehalten. Maßgeblich sei das Dogma
der „vollständigen und allseitigen Dominanz“ (engl. full spectrum
dominance) gewesen und dementsprechend die Eingliederung der Ukraine in
das westliche Bündnis wirtschaftlich und militärstrategisch
wünschenswert. Die Bedeutung des Landes für die Nahrungsmittelproduktion
und als Plattform gegen Russland, so legt es Baab anhand offizieller
US-Dokumente und Äußerungen von US-Militärs dar, sei der tiefere Grund
des Regime-Change-Projekts in der Ukraine gewesen.
Zu den Maidan-Demonstrationen trägt er zahlreiche O-Töne aus selbst
geführten Gesprächen bei. Es entsteht das Bild einer anfangs teils
spontanen Unmutsbekundung, vor allem aus dem Westen des Landes,
ausgelöst durch Janukowitschs Zögern, das EU-Assoziierungsabkommen zu
unterzeichnen. „Die Empörung war echt“, so Baab, keineswegs sei „der
ganze Maidan gekauft“ gewesen.
Durch die Teilnahme bezahlter Demonstranten habe der Maidan dann aber
seinen Charakter verändert. Baab zitiert den Schriftsteller Denis
Simonenko, dessen Freunde im Glauben an einen „Volksaufstand“ im Winter
2013/14 nach Kiew gekommen waren: „Dort machte sich Ernüchterung breit.
Denn sie haben erlebt, dass ihnen Geld angeboten wurde, dass unter den
Demonstranten Thermo-Unterwäsche verteilt wurde, Winterkleidung, dicke
Socken, Schuhe mit Heizplatten, damit sie nicht frieren. Das hat eine
Menge Geld gekostet.“
// Nationalisten im Schulterschluss mit Neokonservativen --
Nur wenige der Demonstranten und dann zumeist solche, die aus Lwiw in
der Westukraine kamen, hätten zur Revolution aufgerufen. Noch einmal
Denis Simonenko: „Diese Proteste waren gekauft. Es richtete sich gegen
Russland, und man ließ sich das ganze richtig viel Geld kosten.“
Um ihr meist im westlichen Ausland geparktes Vermögen durch die
politischen Zeitläufte zu retten, hätten die ukrainischen Oligarchen
sich den mutmaßlichen neuen Machthabern gern angedient. Diese Sicht
stützt Baab mit Aussagen der deutschen Pro-Ukraine-Lobbyistin Ina
Kirsch, die offen darüber spricht, dass etwa George Soros nahestehende
Organisationen den Maidan-Demonstranten für zwei Wochen Präsenz den
Gegenwert mehrerer Monatslöhne bezahlt hätten.
Seine These, dass es den „ethnisch-ukrainischen Nationalisten“ 2014
gelang, „in enger Kooperation mit den Neokonservativen in Washington und
der Nato einen Staatsstreich zu organisieren“, legt Baab mit Zitaten von
Parlamentsabgeordneten nahe, wonach der Kiewer US-Botschafter Geoffrey
Pyatt eine „TechCamp“ genannte Serie von Ausbildungskursen für
pro-westliche Aktivisten organisiert habe. Bis zum November 2013 habe es
Schulungen zur politisch-organisatorischen Nutzung des Internets
gegeben; am 21. November begann dann der „Euromaidan“, begleitet von
professionell anmutender Internet- und Medienarbeit.
Baab schildert ausführlich, wie die Menschen im Donbass schon vor dem
russischen Angriff den Krieg kennengelernt hätten: Die Kiewer
Regierungstruppen hätten im Bürgerkrieg gegen die Luhansker und Donezker
Separatisten „die Zivilbevölkerung beschossen, das Wasser abgedreht, die
Straßen vermint, Pensionen und Gehälter nicht mehr ausgezahlt,
Bankdienstleistungen gestoppt“. Nach OECD-Angaben intensivierte sich in
den Wochen vor dem russischen Einmarsch der Beschuss dieser Regionen
massiv. Die Zahl der zivilen Opfer sei auf über 14.000 seit Beginn des
Konflikts gestiegen.
Einheimische versammeln sich, um frisches Wasser zu erhalten, das von
der russischen Armee in der russisch kontrollierten Region verteilt
wird. (Alexei Alexandrov/AP) (Bild)
// Unsägliches Leid der Zivilbevölkerung --
Aus Baabs Beobachtungen und Begegnungen schlägt dem Leser das unsägliche
Leid der Zivilbevölkerung ebenso entgegen wie die kaltblütige
Skrupellosigkeit der Uniformierten. Die wochenlange Einkesselung unter
erratischem Beschuss und die katastrophalen hygienischen Zustände werden
bedrückend lebendig.
Am Beispiel des Kampfs um Mariupol schildert er bis ins Detail, wie
Militärs „auf beiden Seiten (…) tausende Opfer unter der
Zivilbevölkerung bewusst in Kauf“ nehmen und Massaker planmäßig „zu
Propagandazwecken“ ausnutzen. So wurden Wohnhäuser von Soldaten besetzt,
um die Kampfhandlungen dorthin zu lenken und zivile Bewohner als lebende
Schutzschilde zu missbrauchen.
Wer nach solchen Schilderungen die Floskeln der Kriegsparteien von
„Menschenrechten und regelbasierter Ordnung“ oder von „Spezialoperation“
und „Entnazifizierung“ noch gelassen ertragen kann, wird spätestens
durch Baabs Beschreibung der Waffen dieses Krieges und ihrer Wirkung auf
Mensch und Umwelt nachdenklich.
Er berichtet: „Die Russen setzten im Häuserkampf neben Artillerie und
Bombardements aus der Luft auch TOS-Raketenwerfer ein.“ Im Zielgebiet
verteilen einschlagende Raketen „einen explosiven Film in der Luft, der
gezündet wird. Das Ergebnis ist ein riesiger Feuerball, und danach eine
massive Druckwelle. (…) Im Flammenbereich werden alle Menschen
ausgelöscht. Weiter entfernt erleiden Opfer schwerste Verletzungen,
innere Organe reißen.“
// „Die Öffentlichkeit hat kein umfassendes Bild“ --
Die Ukraine benutzt US-amerikanische, GPS-gesteuerte HIMARS-Raketen.
Diese Waffe „erzeugt beim Einschlag im Umkreis von 25 Metern eine
Temperatur von 1400 Grad Celsius. Im Umkreis von 50 Metern gibt es kaum
eine Überlebenschance; wer sich dort aufhält, verglüht.“ Die Zielfindung
für diese Raketen wird durch die Nato unterstützt, die nach Baabs
Recherchen ihrerseits seit vielen Jahren Soldaten in der Ukraine
ausbilden soll.
Das Bild des Krieges, das sich ergibt, wenn wie bei Baab eigene
Augenzeugenschaft und leibliche Erfahrung der Kriegssituation, Gespräche
mit Betroffenen auf beiden Seiten und historische Details zu ihrem Recht
kommen, hat wenig mit der Berichterstattung in den großen deutschen
Medien gemein. Schon um dieses Kontrastes willen lohnt sich die Lektüre
von „Auf beiden Seiten der Front“. Wie immer man Baabs Einschätzungen
und Bewertungen beurteilt – in zwei Punkten wird der Leser dem
kriegserfahrenen Politikwissenschaftler zustimmen: „Die Öffentlichkeit
hat kein umfassendes Bild“ und „bürgerliche Sofa-Krieger und
Salon-Bellizisten“ bekommen viel mehr Sendezeit als orts- und
geschichtskundige Journalisten.
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Weitere Eindrücke - Der Journalist Patrik Baab im O-Ton:
https://overton-magazin.de/dialog/europa-wurde-zum-hinterhof-der-usa/
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.