aus e-mail von Ingrid Rumpf, 11. Juli 2025, 10:52 Uhr
Liebe Nahost-Interssierte, nachdem ich zahlreiche, ausschließlich sehr
positive Rückmeldungen auf meinen Hinweis, sich aus meinem Verteiler
natürlich abmelden zu können, erhalten habe (allen ganz herzlichen Dank
dafür!), möchte ich Euch die ausgezeichnete Rede von Tsafir Cohen auf
der Gaza-Kundgebung am letzten Samstag in Heidlberg zukommen lassen:
*Rede von Tsafrir Cohen, Geschäftsführer, medico international bei der
Demonstration „Gaza: Massaker, Aushungern, Vertreibung stoppen!“,
Heidelberg, 5. Juli 2025*
Liebe Freundinnen und Freunde,
vielen Dank für die Möglichkeit, hier und heute gegen die Kriegs- und
Menschenrechtsverbrechen in Gaza zu sprechen.
*„Eines Tages werden immer alle schon dagegen gewesen sein“.*Das ist der
Titel eines Buches des kanadisch-ägyptischen Journalisten Omar El Akkad
über das Versagen der politischen und intellektuellen Eliten in
Nordamerika, Stellung gegen das Abschlachten der Palästinenserinnen und
Palästinenser in Gaza, ihre Vernichtung, ihr Aushungern, ihre
Vertreibung zu beziehen. Eine Beschreibung, die auf die deutschen und
europäischen Eliten ebenso zutrifft. Hinterher, so meint El Akkad,
werden sie dann so tun, als wären sie schon immer dagegen gewesen. Eine
Rechtfertigungsfigur, die wir aus dem deutschen Kontext ja kennen: Laut
jüngeren Umfragen glauben 54 Prozent der Deutschen, dass ihre
Angehörigen Opfer der Nationalsozialisten waren. Nur 18 Prozent
vermuten, ihre Angehörigen seien in Verbrechen verwickelt gewesen. Täter
waren immer die anderen.
Wir haben Omar El Akkad darum gebeten, diesen Buchtitel für ein Plakat
verwenden zu dürfen. Er hat uns das gerne erlaubt. Selten ist ein Plakat
von medico so häufig verlangt und in Buchhandlungen,
Veranstaltungsräumen, in Wohnzimmern und Amtsstuben aufgehängt worden.
Warum passt dieser Satz so gut zu der moralischen Befindlichkeit dieser
Tage? *“Eines Tages werden immer alle schon dagegen gewesen sein”.*
Ich verstehe diesen Satz so. Der Anspruch des Westens die Moral, ja die
Überlegenheit der eigenen Moral zu verkörpern, ist so hohl und leer wie
nie zuvor. Während des Kalten Krieges konnte der Westen noch von sich
behaupten wenigstens in seiner Kernzone die Freiheit verteidigt zu
haben, wenn auch auf Kosten vieler anderer Völker und Länder, die zum
Teil nachhaltig zerstört wurden. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der
historisch kurzen Ära westlicher Hegemonie gab es das
Versprechen, Demokratie und kapitalistischen Wohlstand global werden zu
lassen. Auch Völker- und Menschenrechte sollten eine andere Rolle
spielen. Dass dieses Versprechen immer den hegemonialen Interessen
untergeordnet war, ist bekannt. Ebenso die Millionen Toten, die es in
der Golfregion und an ressourcenreichen Regionen wie dem Kongo gekostet
hat. Aber man konnte doch wenigstens die Regierungen adressieren und die
Einhaltung des Völkerrechts reklamieren. Mit der israelischen Reaktion
auf den massenmörderischen Anschlag der Hamas am 7. Oktober ist jedoch
ein neuer Tiefpunkt der Unmenschlichkeit erreicht. Mit der offenen
Unterstützung dieses Vorgehens und den damit einhergehenden Bruch mit
dem Völkerrecht, den Menschenrechten, ja der Menschlichkeit müssen uns
fragen: Was können wir hierzulande überhaupt noch bei unseren
Regierungen anklagen, ohne dass es vollends ins Leere läuft? Der
ehemalige israelische Unterhändler bei den Osloer Friedensgesprächen,
Daniel Levy, sprach erst kürzlich vom “Ground Zero der
Unmenschlichkeit”. Ground Zero ist das, was übrigbleibt, wenn
bunkerbrechende Bomber alles bis in die tiefsten Tiefen hinein
zerstören, was vorher da war.
Vor unseren Augen, mit unserem Wissen, und in unserem Namen geschieht in
Gaza ein unerhörtes Verbrechen, für das sich kaum noch Worte oder
juristische Begriffe finden lassen. Während in Deutschland der immer
schalere Versuch unternommen wird, die Bezeichnung Völkermord als
antisemitisch zu denunzieren, haben sich die Gewalttaten vor Ort
tatsächlich in ein neues Maß gesteigert. Dass hungernde Menschen, die
wie Vieh zu den wenigen von der israelischen Armee
kontrollierten Essensausgaben dirigiert werden, gezielt beschossen und
erschossen werden *- wer denkt sich so etwas aus?* In der israelischen
Tageszeitung Haaretz berichteten israelische Soldaten vor wenigen
Tagen, dass sie explizit aufgefordert werden, schonungslos in die Menge
zu zielen. Die Essensausgabe als Todeszone. Jeden Morgen wachen wir nach
ausreichend Schlaf in unseren Betten auf und erfahren die neusten
Todeszahlen aus Gaza. Das sind die von letzter Woche:
Am Montag: 39 Tote
Am Dienstag: 79 Tote
Am Mittwoch: 79 Tote
Am Donnerstag: 103 Tote
Am Freitag: 72 Tote
Am Samstag: 81 Tote
Am Sonntag: 88 Tote.
Das ist der wöchentliche Todes-Stakkato aus Gaza.
Ein Arzt aus dem As-Schiffa Krankenhaus im Norden von Gaza berichtet
täglich von der Vernichtung des Gesundheitssystems: “Hier ist keine
Medizin mehr vorhanden weder für den Körper, noch für die Seele. Heute
haben wir letzten Rest Kochsalzlösung verloren. Salz und Wasser - das
elemantarste Werkzeug der Medizin. Ohne sie können wir die Kranken nicht
hydrieren, keine Wunden reinigen und sie über die Nacht bringen. Wir
haben Salz in unseren Tränen, aber nicht in unseren Kliniken.”
Ähnliches berichtet unser Kollege Bassam Zaqhout von unserer
medizinischen Partnerorganisation /Palestinian Medical Relief Society/
im Gaza-Streifen. Was ist schlimmer, fragt er sich: Die ständigen
Evakuierungsbefehle, die Bombardierungen der israelischen Armee, ein
Kilo Zucker für 60 Dollar, ein 14jähriger Junge, der darum bittet ihn
verbluten zu lassen, oder das Fehlen von Medikamenten. (Sie können das
ganze Gespräch auf der medico-Website nachlesen.) Wenn wir nichts tun
können, besteht unsere Pflicht in der täglichen Kenntnisnahme des
Geschehens. Deshalb erzähle ich es hier und weiß, dass Sie bereits alles
wissen.
Jetzt bestätigt sich auch, was wir doch in Wahrheit auch schon wussten,
was aber mit dem Zusatz Zahlen des „Hamas-Gesundheitsministeriums“ als
unglaubwürdige Propaganda abgetan wurde. Die Opferzahlen in Gaza liegen
jetzt weitaus höher als vom Gesundheitsministerium angegeben. Dieses
hatte sich nur auf Opferzahlen gestützt, deren Namen gesichert waren.
Eine unabhängige wissenschaftliche Forschung aus mehreren Ländern, die
mit einem unabhängigen Statistik-Institut in Gaza zusammenarbeitet,
kommt nun nach der weltweit angesehensten Medizin-Zeitschrift /The
Lancet /zum zweiten Mal zu dem Ergebnis, dass die Opferzahlen viel höher
sind. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 5. Januar 2025 beträgt
demnach die Zahl der direkten Kriegstoten etwa 75.200. Das von der
israelischen Regierung der “Terrorpropaganda” bezichtigte
Gesundheitsministerium spricht von 45.805 für denselben Zeitraum. 30
Prozent davon sind Kinder unter 18 Jahren. Indirekte Tote berechnet
diese Statistik mit 8.500, was anderen Experten viel zu niedrig
erscheint. “Wenn das alles einmal vorbei ist, dann braucht es ein
riesiges Projekt, sicher ein jahrzehntlang, um wirklich zu
rekonstruieren, was in Gaza alles geschehen ist”, sagt der Leiter des
Projekts. Allein in Anerkennung der Opfer wird eine solche
Rekonstruktion nötig sein. Aber was wir wissen, macht uns schon jetzt zu
Mitwisserinnen und Mitwissern. Wir kommen also um ein Stellungnehmen
nicht herum. (Danke Fabian Goldmann und Karim El Ghawari für die
Auflistung und die Übersetzung des Arztberichts).
Der Satz “alle werden hinterher immer schon dagegen gewesen sein”
verweist indirekt darauf. Er deutet an, dass viele glauben im Wissen
der aufgezählten Verbrechen, ihre moralische Integrität mit dem
vorläufigen Beschweigen der Verbrechen bewahren zu können. Einmal ist es
schließlich Deutschland gelungen sich von ungeheuerlichen Verbrechen
reinzuwaschen. Nicht für die Erinnerungskultur wird aber Deutschland
künftig gelobt werden, sondern für die erfolgreiche Wiedergutwerdung,
und dafür, dass es ihm gelungen ist, wie Thomas Mann einst sagte, sich
ein weißes Kleid der Unschuld überzuziehen.
Man könnte gar meinen, die Fähigkeit Wieder-gut-zu-werden sei ein
Kennzeichen des weißen Überlegenheitsdenken. Denn, das deutsche
Gedächtnistheater hat die Deutschen zu einem Hüter eines
Anti-Antisemitismus gemacht, in dem Antisemiten immer die anderen, im
Zweifel die Zugewanderten sind. Schon hier enthüllt sich, dass es nicht
in erster Linie um eine Beschäftigung mit antisemitischen Ressentiments
geht, die - wie es Ressentiments eigentümlich ist - im verdeckten
Agieren und überraschend zum Vorschein kommen. Es geht vor allen Dingen
darum, sich selbst frei davon zu definieren. Deshalb müssen Antisemiten
die anderen sein. Der deutsche Staat exerziert dies in geradezu
erstaunlicher Weise. Die /Jüdische Stimme für gerechten Frieden/ wird
vom Verfassungsschutz als extremistisch - in Klammern als
“antisemitisch” eingestuft. Jüdische Intellektuelle sollen oder dürfen
an deutschen Universitäten nicht sprechen, weil sie sich solidarisch mit
Palästina zeigen. Deutsche Palästinenserinnen und Palästinenser, die
größte palästinensische Gemeinde in Europa, sind qua Herkunft
verdächtig. Dort, wo verleumderische Antisemitismusvorwürfe nicht
greifen, setzt die Staatlichkeit auf Verfolgung und Unterdrückung der
Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.
“Hinterher werden alle schon immer dagegen gewesen sein.” Das verspätete
moralische Gutsein - dann, wenn es nichts mehr kostet, ist wertlos.
Jetzt gegen den Völkermord in Gaza zu sein, kostet trotz der
Offensichtlichkeit der Verbrechen immer noch Mut. Denn der aufkommende
Autoritarismus hierzulande hat sich mit der Waffe des sogenannten
antiisraelischen Antisemitismus bewaffnet, um seine Gegner einer
beispiellosen Schmutzkampagne zu unterwerfen. Wir kennen das aus
Deutschland. Hier ist erst anderthalb Jahre nach dem Beginn des
hemmungslosen Krieges gegen die gesamte Bevölkerung in Gaza gelungen,
Berlin eine Demonstration durchzuführen, die mehrere zehntausend
Teilnehmerinnen hatte. Da waren schon Hunderttausende in London, den
Niederlanden oder Paris mehrfach unterwegs.
*Es zählt*, egal, wie viele sich aufmachen ihren Protest öffentlich zu
machen, ein sofortiges Ende des Tötens, die Freilassung der israelischen
Geiseln wie der tausende palästinensischen Geiseln in israelischen
Gefängnissen zu fordern.
Es zählt, wenn sich Kultureinrichtungen weigern, postkoloniales Denken
zu verbannen, weil es jetzt in der deutschen Staatsräson als
antisemitisch gilt.
*Es zählt*, wenn Journalistinnen und Journalisten sich dem Konformismus
des medialen Mainstreams entgegenstellen und ihre dissidentische Stimme
hörbar machen.
Und: *Es zählt*, dass Ihr alle heute hier seid!
Ich mache mir keine Illusionen, dass wir etwas an der herrschenden
Politik hier und heute ändern können. Aber wer sich erinnert: Die
Proteste gegen den israelischen Gaza-Krieg begannen in New York, die
auch als größte jüdische Großstadt gilt. Sie schienen mit
administrativen und polizeilichen Maßnahmen gegen die Studierenden an
der Columbia-Universität und jetzt mit dem Sieg Trumps zum Erliegen
gekommen zu sein.
Nun aber hat Zohran Mamdani die Vorwahlen der Demokraten für die
Bürgermeisterschaftskandidatenin New York gewonnen, und das ganze
politische Establishment ist erschüttert. Der unterdrückte Protest erhob
sein Haupt erneut im Wahlkampf, in dem junge Leute durch die New Yorker
Stadtteile zogen, um für Zohran Mamdani zu werben. Er hat diesen
Vorwahlkampf vor allen Dingen unter jungen Leuten gewonnen und zwar
insbesondere deshalb, weil er eine furchtlose und der Wahrheit
verpflichtete unerschütterliche Haltung zu Gaza eingenommen hat.
So wichtig die Fragen nach Umverteilung des Reichtums weltweit und erst
recht in einer Stadt wie New York sind, hier geht es um viel mehr. Um
die Welt im Ganzen. Die Welt, die diese Verbrechen in Gaza zulässt, ist
eine ohne Rechte und Gerechtigkeit, eine Welt, machttrunkener,
narzisstischer Männer und auch Frauen, für die keine Regel mehr gilt.
Nur die eine: Es herrscht das Recht des Stärkeren.
Ich kann nicht glauben, sagte Daniel Levy, den ich schon eingangs
zitiert habe, dass Israel einen Ground Zero mit einem neuen Maßstab von
Unmenschlichkeit schafft und die Verantwortung trägt für die Zerstörung
der internationalen rechtlichen Architektur, die wesentlich nach dem
Holocaust entstand. Es müsse, so Levy, auch in Israel Menschen geben,
die daran arbeiten, das zu verhindern.
Wir bei medico wissen, dass es solche Menschen und Organisationen gibt.
Viele sind seit Jahren unsere Partner und sind, wie der Direktor der
israelischen /Ärzte für Menschenerechte /sagte, an dieser Aufgabe seit
dem 7. Oktober gewachsen. Es sind Organisationen, die das Zusammenleben
und Zusammenarbeiten von Juden und Palästinensern, den Einsatz für
Menschenrechte seit Jahren eingeübt haben. Und sich des Risikos auch für
sich selbst bewusst sind. *Dass sie weitermachen, dass sie ausharren,
dass sie öffentlich sprechen, solange, bis ein anderer Wind weht, ein
Wind, der Freiheit und Recht für alle bringt. Das ist ein Zeichen der
Zuversicht. Wir brauchen es in diesen düsteren Zeiten.*
Schönen Dank!
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.