Baerbocks Israel-Engagement beim IStGH
aus e-mail von Doris Pumphrey, 29. Juli 2024, 14:30 Uhr
Berliner Zeitung 29. Juli 2024
*Baerbocks Israel-Engagement beim Strafgerichtshof in Den Haag:
Wladimir Putin freut es
*Das Auswärtige Amt pocht mit Blick auf Russland und dessen
Ukraine-Invasion aufs Völkerrecht. Für Israel sollen aber andere Regeln
gelten. Eine Analyse.
Von Klaus Bachmannn
Am 12. Mai kam die Nachricht, wo genau die vier Geiseln gefangen
gehalten wurden – in zwei Wohnblocks im Flüchtlingslager von Nuseirat
die nur 800 Meter voneinander entfernt waren. Fast drei Wochen lang
versuchten israelische Undercover-Ermittler, verkleidet als Flüchtlinge
und in perfektem Arabisch mit Gaza-Akzent, die Information zu
verifizieren sowie die Zahl der Bewacher der Geiseln herauszufinden.
Anfang Juni hatten sie die Bestätigung. Der Inlandsgeheimdienst Shin-Bet
und die israelische Armeeführung arbeiteten nun einen streng geheimen
Rettungsplan aus.
Am 12. Juni wurden die Undercover-Agenten bis auf vier Beobachter
abgezogen. Nun tauchte ein kleiner Konvoi in Nuseirat auf, zwei
Lastwagen, die vorgaben, Umzugsgut zu transportieren, in Wirklichkeit
aber 28 Elitesoldaten versteckt hatten, die bei der Ankunft gleichzeitig
beide Gebäude über die Treppen und die Balkone stürmten.
Die eine Geisel wurde nach einem kurzen Feuergefecht befreit, ohne dass
es auf der israelischen Seite Verluste gab. Die Entführer überlebten den
Angriff nicht. In der anderen Wohnung erwartete die Befreier eine
heftige Überraschung: Neben den drei Geiseln befanden sich darin 30
schwer bewaffnete Hamas-Kämpfer, die sofort das Feuer eröffneten und
sogar über Granatwerfer verfügten.
Die drei Geiseln überlebten, einer der Befreier starb. Was mit den
Geiselnehmern geschah, dürfte nur noch rudimentär ermittelbar sein.
Konfrontiert mit so heftigem Widerstand, forderten die israelischen
Soldaten Luftunterstützung an. Aus Panzern, von Drohnen und
Kampfflugzeugen aus legte die israelische Armee den Markt von Nuseirat
in Trümmer.
Am Ende wurde das Gebäude, in dem sich die drei Geiseln befunden hatten,
dem Erdboden gleichgemacht. Nach Angaben der Hamas starben dabei 274
Palästinenser, 698 wurden verletzt, nach israelischen Angaben lag die
Zahl der Todesopfer unter 100. Den Geiseln geschah nichts, sie wurden
aus den Gebäuden eskortiert, an den Strand von Gaza gefahren und dort
per Helikopter evakuiert. Die gesamte Aktion um den Markt herum wurde
mit Livekameras an das israelische Sicherheitskabinett übertragen. Ob
sich das Ganze wirklich so abgespielt hat, weiß ich nicht. Aber das ist
die Version, die das israelische Militär an die Jewish Chronicle
<https://www.thejc.com/news/israel/the-inside-story-of-israels-dramatic-gaza-hostage-rescue-e2t1d8qu>
durchstach.
*Was zu Hause schlau ist, kann international ein Kriegsverbrecher sein
*Die immense Differenz zwischen vier befreiten Geiseln und mindestens
knapp einer Hundertschaft palästinensischer Toter sorgte weltweit für
Aufsehen und Empörung. Weit weniger Aufmerksamkeit erregte ein anderes
Detail, über das die offiziöse Version der Ereignisse schweigt. Zeugen
berichteten CNN
<https://edition.cnn.com/2024/06/10/middleeast/inside-israels-hostage-rescue-intl-dst/index.html>,
das israelische Kommando sei als Hamas-Einheit verkleidet gewesen, in
ziviler Kleidung und mit Hamas-Kennzeichen, um die Entführer zu überraschen.
Daran ist eigentlich nichts auszusetzen: Bei Entführungen hat das Leben
der Geiseln Vorrang. Wenn also die Möglichkeit besteht, in Verkleidung
in die Nähe der Entführer zu kommen, können sich Polizisten verkleiden.
Wenn es dabei einmal Aufregung gibt, dann meist deshalb, weil die
Polizei eine solche Chance nicht genutzt hat, wie 1988 beim Gladbecker
Geiseldrama
als die Geiselnehmer praktisch jeden an sich heranließen, der keine
Uniform trug. Geiselnehmer so zu überwältigen oder sogar zu erschießen,
ist in den meisten Ländern im Rahmen der Nothilfe zulässig – und mit
Sicherheit kein Kriegsverbrechen.
Genau der Vorwurf wurde aber sofort laut, nachdem die israelische
Regierung die Details über die Geiselbefreiung bekannt gemacht hatte.
„Perfide“ sei das gewesen, sagte etwa der frühere Chef von Human Rights
Watch, Kenneth Roth <https://x.com/KenRoth/status/1801315268271988782>.
Das klingt nach Empörung, doch dahinter steckt etwas anderes – und genau
deshalb hat die israelische Regierung bisher auch keinerlei Material
freigegeben, mit dem man den CNN-Verdacht überprüfen könnte.
Was bei einer Polizeiaktion im Inland unbedenklich ist, wird in einem
bewaffneten Konflikt nämlich zum Kriegsverbrechen. So verbietet bereits
die Haager Landkriegsordnung von 1907
meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen
Volkes oder Heeres und den Missbrauch der Uniform des Feindes“. Nun hat
Israel die Haager Landkriegsordnung nie ratifiziert, aber sie gilt unter
Juristen inzwischen als Gewohnheitsrecht, das auch von Staaten, die sie
nicht ratifiziert haben, eingehalten werden muss. Das sah übrigens auch
der Oberste Gerichtshof Israels
<https://www.hrw.org/reports/2001/israel/hebron6-04.htm#P294_47507> so.
Die Haager Konvention wurde allerdings ausgearbeitet, um Krieg zwischen
Staaten zu regeln. Damit sie – und nicht nationales Strafrecht –
angewendet werden kann, muss es also erst einmal einen bewaffneten
Konflikt zwischen Staaten geben.
*Kann Israel überhaupt Krieg gegen die Hamas führen?
*Nun gibt es im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2024 mit Sicherheit
einen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Nur ist die
Hamas weder ein Staat noch eine Nation, sondern, im Sinne der Haager
Landkriegsordnung, allenfalls eine Miliz mit eigener Hierarchie, eigenen
Emblemen, die zumindest manchmal ihre Waffen offen trägt, die
Landkriegsordnung aber nur ausnahmsweise einhält, was allein schon ihre
Neigung zeigt, Zivilisten zu ermorden und als Geiseln zu nehmen. Nur
entlässt die Tatsache, dass ein militärischer Akteur sich nicht an die
Regeln hält, seinen Gegner nicht aus der Pflicht, sich daran zu halten.
Die Haager Landkriegsordnung regelt allerdings auch die Lage nach einem
Krieg, wenn ein Teil des feindlichen Landes besetzt ist. Sie wäre also
auf den Gazastreifen anwendbar, wenn Israel diesen besetzt hielte. Ob
Israel das nach dem Abzug seiner Militärposten und Siedler vor fast 20
Jahren noch tut, war bisher strittig. Unter Völkerrechtlern gibt es
diesbezüglich zwei Schulen; die eine findet, von Besatzung könne man nur
reden, wenn der Besatzer in dem entsprechenden Gebiet auch Soldaten und
militärische Einheiten stationiere. Das fand zum Beispiel der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in einem Urteil
zu Berg-Karabach.
<https://www.ejiltalk.org/european-court-decides-that-israel-is-not-occupying-gaza/>
Ganz anders der Internationale Gerichtshof in Den Haag: Er entschied
diese Streitfrage in seinem jüngsten Gutachten zur israelischen
Besatzungspolitik ganz anders. Es sei nicht notwendig, dass Israel im
Gazastreifen Militärposten unterhalte, um als Besatzer zu gelten. Es
genüge, dass Israel den Streifen „effektiv kontrolliere“, sich Zugang
verschaffen und ihn abriegeln könne, sowie Infrastruktur und Versorgung
kontrolliere. Dass Israel das schon sehr lange tue, ändere an seinen
Pflichten als Besatzer nichts und beeinträchtige auch das Recht der
Palästinenser auf Selbstbestimmung nicht.
Dieser zweite Aspekt hat in den letzten Tagen eine Menge Aufregung
ausgelöst, obwohl er angesichts der bisherigen Rechtsprechung und der
Tatsache, dass die palästinensische Autonomie inzwischen
Uno-Beobachterstatus ist und internationalen Verträgen beitreten kann,
nichts Neues enthält. Neu und bahnbrechend ist der erste Teil, denn
damit fallen eine Menge Maßnahmen, mit denen Israel im Gazastreifen
vorgeht, unter das Völkerrecht und das Völkerstrafrecht. Das gilt nicht
nur für das Befreien von Geiseln durch verkleidete Kommandos, sondern
auch für das Vorführen gefangener Hamas-Kämpfer im israelischen Fernsehen.
Findet im Gazastreifen eine Polizeiaktion gegen Terroristen statt, ist
das eine Angelegenheit Israels. Falls den Hamas-Kämpfern Auftritte im
Fernsehen nicht gefallen, können sie dagegen klagen und bekommen
Schadenersatz, die Fernsehstation bekommt eine Strafe. Sind die
Hamas-Kämpfer dagegen Gegner in einer bewaffneten Auseinandersetzung,
steht ihnen der Schutz der Genfer Konvention zu, die es untersagt,
Kriegsgefangene zu erniedrigen. Israel selbst hat vorsichtigerweise nie
präzisiert, ob es den Gazastreifen als feindlichen Staat und die Hamas
als Kriegsgegner ansieht.
Regierungsmitglieder haben der Hamas zwar den Krieg erklärt, setzen im
Gazastreifen die Armee (und nicht nur die Polizei) ein, erklären ihre
Gegner aber nicht zu Kombattanten, sondern zu Terroristen. Dabei
verkündet die israelische Armee, sie halte alle „Gesetze über bewaffnete
Konflikte“ ein, lässt aber offen, ob Hamas-Kämpfer nach der Genfer
Konvention behandelt werden. Mit dem IGH-Gutachten ist das jetzt
geklärt: Der Gazastreifen ist von Israel besetzt, und vieles, was sonst
vielleicht ein kleinerer Rechtsverstoß unter der Zuständigkeit der
israelischen Justiz wäre, ist jetzt plötzlich zum Kriegsverbrechen
geworden, das vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und von
Gerichten außerhalb Israels geahndet werden kann.
*Das ist gar kein rechtsverbindliches Urteil, aber …
*Kaum war klar, dass der IGH mit seinem Gutachten im Auftrag der
Uno-Generalversammlung in allen Punkten gegen Israel entschieden hat,
kamen die üblichen Reaktionen von der israelischen Regierung. Darin war
von allem Möglichen die Rede, von Antisemitismus bis zu „historischen
Rechten“, die Israel in Palästina habe und die ihm niemand nehmen könne,
die aber völkerrechtlich irrelevant sind. Und es kam, auch hierzulande,
das Argument, das Gutachten sei kein Urteil und nicht „bindend.“
Das stimmt formaljuristisch. Die politischen Auswirkungen werden
allerdings dramatischer sein als bei manchen „bindenden Urteilen“ des
IGH, an die sich danach keiner gehalten hat. Das liegt daran, dass
internationale Gerichtshöfe und nationale Gerichte die Angewohnheit
haben, sich wie eine eingespielte Fußballmannschaft Bälle schnell und
präzise gegenseitig zuzuspielen, wodurch die gegnerischen Spieler gar
nicht erst an den Ball kommen. Natürlich wird Israel wegen dieses
Urteils jetzt nicht seine Armee aus dem Gazastreifen abziehen und die
Besatzung der Palästinensergebiete beenden. Nicht wegen dieses
Gutachtens, aber vielleicht, weil sehr viele andere, von Israel
vollkommen unabhängige Regierungen und Institutionen ihre Politik
gegenüber Israel und den Palästinensern ändern.
*Was das IGH-Gutachten politisch und strafrechtlich ändert
*Da ist zum einen der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), dessen
Chefankläger Karim Khan Haftbefehle gegen den israelischen
Premierminister Benjamin Netanjahu, dessen Verteidigungsminister Joaw
Galant und gegen drei Hamas-Führer beantragt hat. Alle werden der
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt.
Nun hat der IGH aber nicht nur festgestellt, dass Israel in den gesamten
Palästinensergebieten (Gaza, Westjordanland und Ost-Jerusalem)
Besatzungsmacht ist, die gegen ihre Pflichten verstößt, die besetzte
Bevölkerung vertreibt und enteignet (beides verstößt gegen die Haager
Landkriegsordnung), sondern sie auch auf eine Weise diskriminiert, die
die Tatbestandsmerkmale der Apartheid erfüllt. Das wiederum ist
Straftatbestand eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, den Khan
bisher noch nicht auf dem Radar hatte. Mit anderen Worten: Man darf nun
damit rechnen, dass Khan noch mehr israelische Politiker anklagen wird.
Der Druck auf die IStGH-Richter, über Khans bisherige Anträge zu
entscheiden, ist damit ebenfalls gestiegen. Und das war wohl auch
dringend nötig, denn beim IStGH gingen in den letzten Wochen seltsame
Dinge vor.
*Prozesse verschleppen, bevor sie begonnen haben
*Normalerweise beantragt der Chefankläger beim IStGH einen Haftbefehl,
eine Kammer aus drei Richtern prüft ihn, und wenn sie ihn absegnet,
schickt ihn der Verwaltungschef des Gerichts hinaus in die Welt. Der
Verdächtige stellt sich dann entweder selbst oder wird verhaftet und
kann anschließend vorbringen, ob er den IStGH für zuständig hält und ob
er auf schuldig oder unschuldig plädieren möchte.
Die Zuständigkeitsfrage ist im Fall Gaza etwas kompliziert, denn Israel
ist dem IStGH nie beigetreten. Die Frage der Zuständigkeit haben die
Richter aber schon vor Jahren positiv entschieden: Weil die
Palästinensische Autonomiebehörde das IStGH-Statut ratifizierte, fallen
alle dortigen Kriegsverbrecher und alle Kriegsverbrechen, die auf ihrem
Gebiet begangen werden, unter die Zuständigkeit des IStGH. Alle, das
heißt diejenigen, die die Hamas begangen hat, die eventuell die
Autonomiebehörde in Ramallah begeht und die Verbrechen eines jeden
anderen, der sich dort aufhält, wie zum Beispiel die israelische Armee.
Während die drei Richter also Khans Anträge prüften, zauberten zwei
Regierungen wie Zirkusclowns zwei Häschen aus ihren Hüten. Das erste
lieferte die Regierung von Großbritannien, damals noch unter Rishi
Sunak. Sie beantragte, als „Freund des Gerichts“ zu der Frage gehört zu
werden, ob der IStGH überhaupt für den Gazastreifen zuständig sei –
obwohl das Gericht das ja längst entschieden hatte.
Daraufhin zauberte auch die deutsche Bundesregierung ein eigenes Häschen
aus dem Hut und wollte vorbringen, dass Israel die von Khan
aufgelisteten Verbrechen selbst aufklären könne. Dann nämlich müsste der
IStGH warten, bis die israelische Justiz Netanjahu und Galant vor
Gericht stellt – und zwar wegen genau der Vorwürfe, die Khan erhebt.
Bisher hat sie das nicht getan
Das britische und deutsche Vorpreschen in Den Haag war eine nette Geste
an die Adresse Israels, denn es ersparte es der Regierung Netanjahu,
sich direkt an das Gericht wenden zu müssen, das Netanjahu und seine
Minister ja schon mit einer Menge Schimpfwörter belegt haben und das von
Israel nicht anerkannt wird.
Aber es hat das Potenzial, die Entscheidung über die Haftbefehle auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Denn nun melden sich plötzlich
jede Menge Regierungsvertreter, von Spanien über Norwegen, Argentinien
und Ungarn, Nichtregierungsorganisationen und Akademiker, die alle etwas
zu diesen Fragen sagen wollen, obwohl das Gericht sie längst entschieden
hat. Verbieten kann ihnen das Gericht das nicht – was es Deutschland und
Großbritannien erlaubte, muss anderen Staaten ebenfalls erlaubt sein,
egal ob sie für oder gegen Israel in die Bresche springen. Stand dieser
Woche sind schon 70 solcher
Stellungnahmen aufgelaufen. Unangenehme Nebenwirkung: Bevor die Richter
dazu Stellung nehmen, muss sich auch Khan dazu äußern. Und bis dieser
internationale Juristen-Frühschoppen beendet ist, gibt es erst einmal
keine Haftbefehle – nicht gegen Netanjahu und Galant, aber auch nicht
gegen die Hamas-Führung. Die Richter haben mit ihrer Zulassung der
britischen und deutschen Stellungnahme noch vor dem Ausstellen eines
Haftbefehls eine Büchse der Pandora geöffnet, die zukünftig jeder
Regierung die Möglichkeit gibt, das Gericht mit einer Flut von
Stellungnahmen zu paralysieren.
Die deutsche Stellungnahme (die so geheim
<https://lieber.westpoint.edu/pro-israel-lawfare-symbolism-or-genuine-legal-concern/>
ist, dass die Botschaft in Den Haag nicht einmal bestätigen wollte, dass
es sie gibt) ist dabei unfreiwillig komisch: Das AA argumentiert darin,
bei einem andauernden bewaffneten Konflikt müsse man das Ende abwarten,
um feststellen zu können, ob die Beteiligten ihre Verbrechen selbst
juristisch aufarbeiten können und wollen. Das müsste dann ja auch für
den Haftbefehl gegen Wladimir Putin gelten. Auch der seit vielen Jahren
bestehende Haftbefehl gegen den sudanesischen Diktator Omar Al-Bashir
wäre dann erst einmal hinfällig, denn im Sudan ist ja wieder Krieg
ausgebrochen.
*Ist die regelbasierte Ordnung plötzlich antisemitisch?
*Aber der IGH ist mit seinem Gutachten nicht nur dem IStGH zu Hilfe
gekommen, sondern auch der Justiz auf nationaler Ebene – überall auf der
Welt, wo sie einigermaßen unabhängig ist. Überall dort müssen Richter
nun nicht mehr selbst ermitteln und entscheiden, ob Israel in den
Palästinensergebieten Besatzer und ob diese Besatzung rechtmäßig ist,
sondern können dafür das Gutachten heranziehen. Das erleichtert
nationale Prozesse gegen israelische Politiker und Militärs auch auf der
mittleren Ebene ungemein. Wäre ich Kommandeur einer israelischen Einheit
oder Direktor im Verteidigungsministerium – ich würde auf Auslandsreisen
in Staaten mit einer unabhängigen Justiz von nun an verzichten.
Der IGH hat sich mit seinem Gutachten auch in die deutsche Innenpolitik
eingemischt. Der IGH-Vorwurf, Israel verstoße mit seiner
Besatzungspolitik in allen Palästinensergebieten gegen das Verbot der
Rassendiskriminierung, müsse seine Besatzung beenden (weil sie
völkerrechtlich einer Annexion gleichkomme) und an die Palästinenser
Reparationen zahlen, stellt, positiv formuliert, alle diejenigen vor
eine intellektuelle Herausforderung, die bisher solche Behauptungen
„antisemitisch“
fanden. Und es ist Wasser auf die Mühlen derer, die Israel mit
Sanktionen belegen und boykottieren wollen.
Denn der IGH hat es zu einer allgemeinen Pflicht der Staatengemeinschaft
erklärt, die Fakten, die Israel in den besetzten Gebieten schafft, nicht
anzuerkennen. Wem bei dieser Passage der Hut hochgeht, der sollte einen
Moment innehalten. IGH-Gutachten sind keine Urteile, sie zwingen
niemanden dazu, etwas Bestimmtes zu tun. Aber sie stellen allgemeine
Grundsätze auf, die dann auch von anderen Gerichten in anderen
Weltgegenden angewendet werden. Wenn die Dauer einer Besatzung keinen
Einfluss auf deren Rechtmäßigkeit hat und die Staatengemeinschaft die
Pflicht hat, Annexionen nicht anzuerkennen, dann gilt das nicht nur für
die Palästinensergebiete, sondern auch für die Krim und alle diejenigen
ukrainischen Gebiete, die Russland vor kurzem erst annektiert hat. Das
illustriert auch das Dilemma, in dem die Bundesregierung nun steckt: Die
gleiche regelbasierte Ordnung, die im Fall Israel plötzlich mit
angeblich antisemitischen Begriffen hantiert, fördert im Fall Ukraine
unsere Interessen und entspricht vollkommen unseren Moralvorstellungen.
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.