aus e-mail von Willi Rester, 14. Juli 2025, 21:56 Uhr
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Deutsches Selbstverständnis: Ist das Völkerrecht auf einmal eine Zumutung?
Artikel von Mark Siemons
In den letzten Wochen wurde nicht nur der Nahe Osten erschüttert. Es
waren auch Wochen, in denen ein Eckpfeiler des westlichen und
insbesondere deutschen Selbstverständnisses ins Wanken geriet: die
Identifikation mit dem Völkerrecht. Dass das Völkerrecht verletzt, dass
sein Gewaltverbot übertreten wird, ist nichts Neues. Seitdem sich die
Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg vor achtzig Jahren auf
ihre Charta verständigt hatten, ist das immer wieder geschehen, leider
nicht nur vonseiten autoritärer, nichtwestlicher Staaten. Neu ist, dass
in offiziellen westlichen Stellungnahmen zu solchen Übertretungen das
Völkerrecht gar keine Rolle mehr spielt.
Als die G 7 am 17. Juni eine Erklärung zum Angriff Israels auf den Iran
veröffentlichten, wurde die UN-Charta als ein Kriterium für die
Beurteilung der komplexen Lage nicht einmal erwähnt. Hervorgehoben wurde
nur, dass Israel das Recht zur Selbstverteidigung habe, dass Zivilisten
geschützt werden sollten, dass Iran die Hauptquelle für regionale
Instabilität und Terror sei und dass man immer schon gesagt habe, dass
Iran niemals Nuklearwaffen haben könne. Offensichtlich ist das keine
vollständige Darstellung der rechtlichen Konstellation. Ausgespart wurde
das Verbot von Angriffskriegen, das die UN-Charta ausspricht und dabei
als Ausnahme nur Präventivschläge zur Abwehr eines unmittelbar
bevorstehenden Angriffs gelten lässt.
Tatsächlich stellt die Bedrohung durch das iranische Atomprogramm, auf
die Israel reagierte, das Völkerrecht vor ein Dilemma: Das Recht auf
Selbstverteidigung könnte sich im Extremfall als irreal erweisen, wenn
es nicht an die Schnelligkeit und Totalität aktueller, etwa nuklearer
Angriffstechniken angepasst wird. Das würde dafür sprechen, das
Verständnis von unmittelbar bevorstehender Angriffsgefahr zu
modifizieren. Doch eine Ausweitung der Berechtigung präemptiver
Angriffe könnte andererseits das Recht selbst aushöhlen, da sie auch den
Spielraum für Manipulationen erweitern würde. Die Lenker der führenden
westlich dominierten Industrienationen allerdings gingen auf das Dilemma
nicht ein. Sie lösten das Problem, indem sie es verschwiegen – so als
spielte das Völkerrecht, das eben noch ihr zentrales Argument gegen
Putins Angriffskrieg war, plötzlich keine Rolle mehr.
In den Äußerungen der einzelnen europäischen Staatschefs verflüchtigte
sich sein normativer Anspruch noch mehr. Frankreichs Präsident Macron
nannte die Luftschläge legitim, auch wenn ihnen, so seine maximal
abstrakte Wortwahl, ein „gesetzlicher Rahmen“ ermangele. In eine
Beziehung setzte er die beiden Teile dieser Aussage nicht. Er wendete
damit die Unterscheidung zwischen legal, legitim und strategisch
nützlich an, die der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala der
„außenpolitischen Elite“ nahelegte, um „weltpolitikfähig“ zu werden.
Bundeskanzler Merz trieb diese Relativierung auf die Spitze, indem er
sich den unterdessen berühmt gewordenen Ausdruck „Drecksarbeit“ zu eigen
machte. Das mutmaßlich völkerrechtswidrige Verhalten, mit dem man sich
dieser Metapher zufolge nun also die Hände schmutzig macht, bekam da
angesichts seiner behaupteten Unvermeidlichkeit nachgerade etwas
Heroisches. Die Äußerung stieß auf viel Kritik, doch sie war nur die
besonders unverhohlene Artikulation eines Stimmungsumschwungs – genauer:
eines Plausibilitätswechsels, der die westliche und insbesondere
deutsche Politik auch sonst ergriffen zu haben scheint.
Was diesen Wandel vor allem kennzeichnet, ist der Gestus der
Selbstverständlichkeit, mit dem alle Kritik daran zurückgewiesen wird –
so als würden jene, die noch immer rechtliche Bedenken äußern, sich
weigern, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen. Das
Offensichtliche, das ist erst mal Israels Bedrohung, die es, mit welchen
Mitteln auch immer, abzuwehren gelte. Und, allgemeiner gesprochen, sind
es die kriegerischen Bedrohungen des Westens in der ganzen Welt, zumal
durch Russland, die die militärische Selbstbehauptung zur vorrangigen,
alle anderen Erwägungen zurückstellenden Aufgabe zu machen scheinen.
Anders als früher geben sich die potentiellen Feinde eben nicht mehr mit
dem Status quo zufrieden, ob es sich nun um die ehemals sowjetischen
Gebiete, um Taiwan oder den Nahen Osten handelt, während die USA unter
Donald Trump es offenlassen, ob sie überhaupt weiter als Schutzmacht
agieren wollen – und im Übrigen mit den Drohungen gegenüber Kanada und
Grönland ihrerseits klarmachen, dass das Recht für sie keine zu
berücksichtigende Größe darstellt. Der Westen übt erkennbar keine
Hegemonie mehr über die Welt aus.
Nur der Elfenbeinturm ist noch regelbasiert
Für die Intellektuellen, die dem Umschwung sekundieren, ist der Fall
daher klar: „Der Völkerrechts-Vorwurf ist aus dem Elfenbeinturm“, so der
Islamwissenschaftler Guido Steinberg. Und der Politikwissenschaftler
Herfried Münkler sagte dem „Handelsblatt“, wir erlebten gerade den
„Übergang von einer regelbasierten in eine machtbasierte Ordnung“. Es
gebe heute eben keine Macht mehr, die den Regeln Geltung verschaffen
könnte: „Solange es keinen Hüter gibt, spielt das Völkerrecht in der
realen Politik praktisch keine Rolle. Es ist ins Feuilleton verbannt.“
Die Tageszeitung „Die Welt“, die mit dem Feuilleton jedenfalls nicht
verwechselt werden will, wählte die Überschrift: „Schluss mit der
deutschen Fencheltee-Diplomatie!“. Der Artikel machte sich über
Politiker lustig, die vor kriegerischen Eskalationen warnen und
Verhandlungen anmahnen.
Das ist der Hintergrund, vor dem etwa Verteidigungsminister Pistorius,
nach der Rechtmäßigkeit des amerikanischen Angriffs auf den Iran
befragt, in der Talkshow von Caren Miosga sagte: „Ich würde sagen: drei
Juristen, vier Meinungen“. Und etwas später: „Wir reden über eine
internationale regelbasierte Ordnung, die überall unter Druck steht.
Wenn die Autokratien der Welt permanent diese Ordnung infrage stellen,
dann ist ja die Frage: Wie gehen wir damit um?“
Soll das heißen, dass das Völkerrecht für den Westen nur eine Art
Überbau in Zeiten war, in denen er sowieso das Heft in der Hand hatte?
Dass der Westen also, wenn es wirkliche Bedrohungen und
Interessengegensätze gibt, selbstverständlich so wie seine Feinde
handeln muss, denen das Recht egal ist? So zugespitzt meinte es der
Verteidigungsminister vermutlich nicht. In der Regierung würde wohl
niemand die Bedeutung des Rechts prinzipiell in Zweifel ziehen. Und doch
lässt die Art und Weise, wie Pistorius und viele andere in diesen Tagen
das Völkerrecht als nicht verlässliche, im Zweifel zu vernachlässigende
Größe erscheinen lassen, diese Deutung zu.
Die militärische Führungsmacht
Gerade noch sah Deutschland seine Rolle in der multipolaren Welt vor
allem als Moderator, eingebunden in europäische und andere
multilaterale Institutionen. Noch 2018 schrieb die Bundesrepublik in
ihre Bewerbung für den Weltsicherheitsrat: „Als global vernetztes Land
setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der
Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.“
Wie sehr sich die Akzente verschoben haben, macht der beschwörende
Tonfall deutlich, in dem der Bundespräsident heute ein solches
Selbstverständnis als etwas nur Wünschenswertes anmahnt: „Gerade wir
sollten die Völkerrechtsordnung zum Teil unserer eigenen Identität
erklären.“
Die Identität hat heute offenkundig einen anderen Schwerpunkt. Friedrich
Merz will Deutschland als eine militärische Führungsmacht eines auf
seine Interessen bedachten Westens installieren. Bezeichnend für den
Stimmungsumschwung ist, dass CDU-Fraktionschef Jens Spahn die Zeit für
reif sieht, für einen „eigenständigen europäischen nuklearen
Schutzschirm“ unter deutscher Führung zu plädieren: „Wer nicht nuklear
abschrecken kann, wird zum Spielball der Weltpolitik“. Dass Deutschland
damit gegen den von ihm unterschriebenen Atomwaffensperrvertrag
verstoßen würde, schien ihm angesichts dieser machtpolitischen Erwägung
so irrelevant zu sein, dass er es noch nicht einmal erwähnte.
Mehr und mehr sieht es so aus, als würden rechtliche Vorbehalte als
Zumutung betrachtet, die man um der öffentlichen Korrektheit willen
duldet, aber angesichts der Bedrohungslage nicht wirklich ernst nimmt.
„Von einem politisch geeinten Volk verlangen, dass es nur aus einem
gerechten Grunde Krieg führe, ist nämlich etwas ganz
Selbstverständliches, wenn es heißt, dass nur gegen einen wirklichen
Feind Krieg geführt werden soll; oder aber es versteckt sich dahinter
das politische Bestreben, die Verfügung über das ius belli in andere
Hände zu spielen und Gerechtigkeitsnormen zu finden, über deren Inhalt
und Anwendung im Einzelfall nicht der Staat selbst entscheidet, sondern
irgendein anderer Dritter, der auf solche Weise bestimmt, wer der Feind
ist.“ Hört sich das nicht ganz plausibel, realistisch, der aktuellen
Lage angemessen an? Es stammt aber aus dem Jahr 1932, aus der Schrift
„Der Begriff des Politischen“ von Carl Schmitt, der die Politik aus den
Fängen des Rechts lösen und stattdessen aus dem Gegensatz von Freund und
Feind herleiten wollte.
Rückfall in eine frühere Ära
Dabei geben solche Sätze in Wirklichkeit doch nur einen sehr veralteten
Status quo wieder: den einer Zeit, in der man mit etwas schlechtem
Willen noch annehmen konnte, Kriege seien nationale Privatsachen und
könnten nicht die ganze Welt in den Abgrund stürzen. Diese Zeit ist
spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg vorüber, weshalb gleich danach, im
Juni 1945, sich die Vereinten Nationen bereitfanden, das erstmals 1928
im Kellog-Briand-Pakt proklamierte Gewaltverbot durch juristische Regeln
und Institutionen zu verankern. Diese Bestimmung entsprang also keinem
weltfremdem Theoretisieren, sondern, im Gegenteil, der macht- und
realpolitischen Erfahrung, was eine rücksichtslose Ausübung nationaler
Souveränität im Weltmaßstab anrichten kann. Es war der Blick nicht von
den Rechten einzelner Staaten, sondern vom Ganzen der Erde her, der
diese Interpretation des Völkerrechts auszeichnete und ihr ihre
Dringlichkeit verlieh. „Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen,
um uns in den Himmel zu führen, sondern um uns vor der Hölle zu retten“,
sagte 1954 Dag Hammarskjöld, der zweite Generalsekretär der UN.
Die Evidenz dieser Mahnung scheint verblasst zu sein. Hammarskjölds
Nachfolger Ban Ki-Moon, der ihn in einem Artikel für den „Economist“
zitiert, schreibt: „Heute scheint die Welt vergessen zu haben, was
erforderlich ist, damit Multilateralismus funktioniert – und warum“. Es
ist, als würde die Nachkriegszeit ein weiteres Mal zu Ende gehen.
In der aktuellen Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift „Foreign
Affairs“ schreiben jetzt auch Oona A. Hathaway und Scott J. Shapiro,
zwei Professoren der Yale Law School, angesichts Trumps Verachtung des
Völkerrechts von einem „Rückfall in eine frühere Ära“. Für die künftige
Erhaltung des Gewaltverbots setzen sie auf Staaten, „die anerkennen, wie
viel Gutes es ermöglicht hat, wie schwer es war, es zu etablieren und
wie viel Chaos entstehen würde, wenn es verschwände“. Was Deutschland
betrifft, muss man ergänzen: Es wäre extrem kurzsichtig, wenn eine
Bundesrepublik, die sich auf ihren neu erworbenen Realismus so viel
zugute hält, nicht auch das Völkerrecht und das Schmieden neuer
Bündnisse dafür ganz oben auf ihre machtpolitische Agenda setzte. Ein
Anfang wäre, den Anspruch dieses Rechts mit den möglicherweise
widerstreitenden Interessen des eigenen Lagers in eine Beziehung zu
setzen – ihn also auch dann nicht zu verleugnen, wenn er ungelegen kommt.
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unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.