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                                                   Kind in Gaza (Bild Rheinische Post)

globalbridge.ch, 09. November 2023 Von: in Allgemein, Militär, Politik

Liebes Kind, es ist nach Mitternacht. Ich fliege mit einer Geschwindigkeit von Hunderten Meilen pro Stunde durch die Nacht. Tausende Meter über dem Atlantischen Ozean. Ich reise nach Ägypten. Ich will dort zur Grenze nach Gaza, bei Rafah. Wegen Dir.

Du warst nie in einem Flugzeug. Du hast Gaza nie verlassen. Du kennst nur das dichte Gedränge in den Straßen und Gassen. Die Betonverschläge. Du kennst nur die Sicherheitsbarrieren und Zäune, die Gaza umgeben und an denen Soldaten entlang patrouillieren. Flugzeuge machen Dir Angst. Kampfjets. Kampfhubschrauber. Drohnen. Sie kreisen über Dir. Sie schießen Raketen ab, werfen Bomben. Ohrenbetäubende Explosionen. Die Erde bebt. Gebäude fallen zusammen. Die Toten. Die Schreie. Die dumpfen Hilferufe aus den Trümmern. Es hört nicht auf. Nacht und Tag. Gefangen unter Bergen von zertrümmertem Beton. Deine Spielkameraden. Deine Schulkameraden. Deine Nachbarn. In Sekunden verschwunden. Du siehst die kreideweißen Gesichter und Körperteile, die ausgegraben werden. Ich bin Reporter. Es gehört zu meinem Beruf, das zu sehen. Du bist ein Kind. Du solltest das nie sehen.

Der Geruch des Todes. Verwesende Körper unter zerbrochenem Beton. Du hältst den Atem an. Du bedeckst Deinen Mund mit einem Tuch. Du gehst schneller. Dein Viertel ist ein Friedhof geworden. Alles was so vertraut war gibt es nicht mehr. Du blickst ungläubig um Dich. Du fragst Dich, wo Du bist.

Du hast Angst. Eine Explosion nach der anderen. Du weinst. Du klammerst Dich an Deine Mutter oder an Deinen Vater. Du hältst Dir die Ohren zu. Du siehst das weiße Licht der Rakete und wartest auf die Explosion. Warum töten sie Kinder? Was haben sie getan? Warum kann Dich niemand beschützen? Wirst Du verletzt werden? Wirst Du ein Bein oder einen Arm verlieren? Wirst Du blind werden oder in einem Rollstuhl sitzen? Warum wurdest Du geboren? War es, um Schönes zu erleben? Oder war es, um das hier zu erleben? Wirst Du groß werden? Wirst Du glücklich? Wie wird es sein, ohne Deine Freunde? Wer wird als nächstes sterben? Deine Mutter? Dein Vater? Deine Brüder und Schwestern? Irgendjemand den Du kennst wird verletzt. Bald. Jemand den Du kennst wird sterben. Bald.

Nachts liegst Du im Dunkel auf dem kalten Zementboden. Die Telefone sind unterbrochen. Das Internet ist abgeschaltet. Du weißt nicht, was passiert. Es gibt Lichtblitze. Es gibt Wellen von Erschütterungen durch Explosionen. Es gibt Schreie. Es hört nicht auf.

Du wartest, wenn Dein Vater oder Deine Mutter auf der Suche nach Essen oder Wasser sind. Das schreckliche Gefühl im Magen. Werden sie zurückkommen? Wirst Du sie wiedersehen? Wird Dein kleines Zuhause das nächste sein? Werden die Bomben Dich finden. Sind dieses Deine letzten Momente auf dieser Welt?

Du trinkst salziges, schmutziges Wasser. Es macht Dich sehr krank. Dein Magen tut weh. Du hast Hunger. Die Bäckereien sind zerstört. Es gibt kein Brot. Du ißt einmal am Tag. Nudeln. Eine Gurke. Bald wird es wie ein Festmahl sein.

Du spielst nicht mit Deinem Fußball aus Lumpen. Du läßt Deinen Drachen nicht fliegen, der aus altem Zeitungspapier gebaut ist.

Du hast ausländische Reporter gesehen. Wir tragen Schutzwesten, auf denen das Wort „Presse“ steht. Wir haben Helme. Wir haben Kameras. Wir fahren in Jeeps. Wir tauchen immer nach der Bombardierung auf oder nach einer Schießerei. Wir sitzen lange bei Kaffee und reden mit den Erwachsenen. Dann verschwinden wir. Normalerweise interviewen wir keine Kinder. Aber ich habe Interviews mit Euch gemacht, als Ihr uns umringt habt. Es wurde gelacht. Gestikuliert. Ihr habt uns gebeten, Fotos von Euch zu machen.

Ich bin in Gaza von Kampfjets bombardiert worden. Ich wurde in anderen Kriegen bombardiert. Das war, bevor Du geboren wurdest. Ich hatte sehr große Angst. Ich träume immer noch davon. Wenn ich heute die Bilder aus Gaza sehe, kehren die Kriege mit großer Wucht wie Donner und Blitze zu mir zurück. Ich denke an Euch.

Alle von uns, die im Krieg waren, hassen den Krieg vor allem wegen dem, was er Kindern antut.

Ich habe versucht, Deine Geschichte zu schreiben. Ich habe versucht der Welt zu sagen, wenn man grausam zu Menschen ist, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr, Jahrzehnte lang, wenn man den Menschen ihre Freiheit und ihre Würde nimmt, wenn man sie erniedrigt und in einem Gefängnis unter freiem Himmel einsperrt, wenn man sie tötet als seien sie wilde Tiere, dann werden sie zornig. Sie tun anderen das an, was man ihnen angetan hat. Ich habe das immer wieder gesagt. Ich habe das sieben Jahre lang gesagt. Kaum jemand hat zugehört. Und jetzt dies.

Es gibt sehr mutige palästinensische Journalisten. 39 von ihnen wurden getötet, seit dieses Bombardement begann. Sie sind Helden. Auch die Ärzte und Krankenpfleger in Euren Krankenhäusern sind Helden. Auch die UN-Mitarbeiter. 89 von ihnen wurden getötet (*). Auch die Fahrer von Rettungswagen und das medizinische Personal. Auch Eure Mütter und Väter, die Euch vor den Bomben beschützen.

Aber wir sind nicht dort. Nicht dieses Mal. Man läßt uns nicht hinein, man sperrt uns aus.

Reporter aus aller Welt werden zum Grenzübergang Rafah gehen, weil wir diesem Abschlachten nicht zuschauen können, ohne etwas zu tun. Wir gehen, weil Hunderte Menschen jeden Tag sterben, darunter 160 Kinder. Wir gehen, weil dieser Völkermord aufhören muss. Wir gehen, weil wir Kinder haben. Kinder wie Du. Kostbar. Geliebt. Wir gehen, weil wir wollen, daß Du lebst.

Ich hoffe, dass wir uns eines Tages treffen können. Du wirst erwachsen sein. Ich werde ein alter Mann sein. Obwohl, ich bin für Dich schon heute sehr alt. In meinen Traum über Dich wirst Du frei und sicher und glücklich sein. Niemand wird versuchen, Dich zu töten. Du wirst in Flugzeugen reisen, die mit Menschen gefüllt sind, nicht mit Bomben. Du wirst nicht in einem Freiluftgefängnis gefangen sein. Du wirst die Welt sehen. Du wirst erwachsen werden und Kinder haben. Du wirst alt werden. Du wirst Dich an dieses Leid erinnern, aber Du wirst wissen, dass es bedeutet, anderen zu helfen, die leiden. Das ist meine Hoffnung. Dafür bete ich.

Wir haben dich im Stich gelassen. Das ist unsere furchtbare Schuld. Wir haben es versucht, aber wir haben nicht genug getan. Wir werden nach Rafah gehen. Viele von uns. Reporter. Wir werden vor der Grenze mit Gaza stehen und protestieren. Wir werden schreiben und filmen. Das ist, was wir tun. Nicht viel, aber etwas. Wir werden Deine Geschichte neu aufschreiben.

Vielleicht reicht es, um das Recht zu verdienen, Dich um Vergebung zu bitten.

*Am 9.11.2023 geben die Vereinten Nationen an, dass die Zahl der getöteten UN-Mitarbeiter in Gaza auf 92 gestiegen ist.

(Übersetzung Karin Leukefeld)


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