seniora.org, 24. September 2025, Redaktion
Rainer Mausfelds neues Buch mit einer Rezension von René Burkhard Zittlau

Rainer Mausfeld ist Professor an der Universität Kiel und hatte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung inne. Im Westend Verlag erschien zuletzt Hybris und Nemesis (2023).
„Und es geht, im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent, um den planmäßig und beharrlich vorangetriebenen Übergang zu neuartigen Formen totalitärer Herrschaft.“
Eine Rezension von René Burkhard Zittlau Sanktionen wie im Mittelalter – oder: Die staatliche Angst vor der Wahrheit Wir leben in einer Zeit, in der der deutsche Staatsbürger türkischer Abstammung Hüseyin Doğru, Chefredakteur des Portals Red Media, von der deutschen Regierung unter Missbrauch des Rates der Europäischen Union für die Nutzung seines verfassungsmäßigen Rechts auf freie Meinungsäußerung umfassendst sanktioniert wird: Kontosperrung, Anstellungs- sowie Ein- und Ausreiseverbot in den gesamten EU-Raum. Die Begründung: Seine Berichterstattung über Pro-Palästina-Proteste in Deutschland sät angeblich „unter seinem überwiegend deutschen Zielpublikum ethnische, politische und religiöse Zwietracht“ und bedroht und untergräbt damit „die Stabilität und Sicherheit in der Union sowie mehrerer ihrer Mitgliedstaaten“. Seine Berichterstattung über angeblich gewaltsame Pro-Palästina-Proteste würde die „Handlungen der Regierung der Russischen Föderation“ unterstützen, „indem er gewaltsame Demonstrationen indirekt unterstützt und erleichtert und koordinierte Informationsmanipulation betreibt“.
Nachlesbar bei den Nachdenkseiten.
Die Welt von Heute
Abstruse regierungsamtliche Handlungen wie diese stellen das Resultat eines Demokratie- und Politikverständnisses dar, dem Rainer Mausfeld in seinem neuesten Buch „Hegemonie oder Untergang – die letzte Krise des Westens“ in einer Weise auf den Grund geht, dass man angesichts des Vorgehens der deutschen Regierung gegen Hüseyin Doğru um die Existenz des Autoren fürchten muss. Hüseyin Doğru wurde für die Information über die Auswirkungen der aktuellen Politik geradezu mittelalterlich bestraft, sozusagen als Bote der Nachricht wie angeblich dereinst im alten Griechenland. Mausfeld hingegen seziert in seinem Buch die Handlungen und Worte der Herrschenden und macht ausgehend von diesen das dem zugrunde liegende Denken derjenigen transparent, die ihre beamteten Vollstrecker auf Menschen wie Hüseyin Doğru loslassen.

Rainer Mausfeld, Erste Auflage Oktober 2025, Westend Verlag, Neu-Isenburg ISBN: 978-3-98791-334-1
Das Skalpell des Soziologen
Rainer Mausfeld arbeitet wissenschaftlich genau, zitiert die Mächtigen und macht sie anhand ihrer eigenen Worte nackt. So nackt, dass man um das Wohlbefinden des Buchautoren fürchten muss, wenn die Existenz Hüseyin Doğrus allein für die pure Information zerstört wird.
Mausfeld schreibt:
„Und es geht, im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent, um den planmäßig und beharrlich vorangetriebenen Übergang zu neuartigen Formen totalitärer Herrschaft.“
Diesen Gedanken führt er wie folgt fort…:
„Es wäre jedoch nicht sinnvoll, die gegenwärtige gesellschaftliche Krise eine Krise der Demokratie zu nennen. Jedenfalls nicht im ursprünglichen Sinne der egalitären Leitidee von Demokratie als individueller und somit auch gesellschaftlicher Selbstbestimmung.“
… um dann das gegenwärtige von den Mächtigen zelebrierte System mit einer zwingenden Logik zu sezieren:
„Für die Organisationsform [Demokratie] des Staates beinhaltet diese zivilisatorische Leitidee eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine strikte vertikale Gewaltenteilung und eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität der gesellschaftlichen Basis. Da es Demokratie in diesem einzigen Sinn, der diese Bezeichnung verdient, in unserer Epoche nicht gibt, wäre die Behauptung ihrer Krise unsinnig. Die gegenwärtige schwere Krise des Westens kann also, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, keine Krise der Demokratie sein. Es gibt indessen gute Gründe anzunehmen, dass es sich um eine Krise handelt, deren Wurzeln gerade in der jahrhundertelangen Verhinderung von Demokratie zu finden sind. Mehr noch: Diese Krise und ihre lange Vorgeschichte lassen deutlicher erkennen, dass das westliche Denken auf einem Fundament von Ressentiments errichtet ist, das sich grundsätzlich nicht mit der Leitidee einer egalitären Demokratie vereinbaren lässt. Der Westen scheint seinem Wesen nach demokratieunfähig zu sein.“
Und Mausfeld wird noch deutlicher:
„Eine solche Diagnose scheint oberflächlich betrachtet im Widerspruch damit zu stehen, dass heute ›Demokratie‹ weithin als einzig legitime Herrschaftsform gilt. Dieser Widerspruch löst sich jedoch sofort auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Begriff ›Demokratie‹ eine Bedeutungsverschiebung erfahren hat, die ihn geradezu in das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt hat.“
Der folgende Gedanke - Mausfeld zitiert sich hier aus dem Jahre 2023 selbst - dürfte die Apologeten der Unfehlbarkeit der „Väter des Grundgesetzes“ in leichte Unruhe versetzen:
„Der Siegeszug der ›Demokratie‹ im Westen wurde, wie historische Studien im Detail nachweisen, überhaupt erst dadurch möglich, dass die »Väter der amerikanischen Verfassung« das Wort »Demokratie« seiner ursprünglichen Bedeutung beraubten und unter der neuen Bezeichnung »repräsentative Demokratie« ausdrücklich eine Form der Elitenherrschaft einführten.“
Er bezeichnet das als „Wortbetrug“, den die meisten gar nicht mehr als solchen wahrnehmen. Was die Mächtigen ihrerseits zu neuen Taten drängt:
„Vielmehr ist die Demokratiesimulation im »demokratischen Theaterstaat« so perfektioniert worden, dass sie dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geradezu als Realität von Demokratie erscheint. In der Gegenwart verzichtet nun der Westen immer offener auf eine demokratische Maske zugunsten autoritärer Herrschaftsformen.“
„Ihre tieferen Wurzeln hat diese Krise in grundlegenden inneren Widersprüchen des Westens.“
Die Ursachen dafür?
„Ihre tieferen Wurzeln hat diese Krise in grundlegenden inneren Widersprüchen des Westens.“
Die Widersprüche selbst innerhalb des Westens sind so massiv, dass sich seine Führer bewusst oder unbewusst um Kopf und Kragen reden:
„Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, betonte 2025 die Dramatik der Situation, mit der die gesamte westliche Zivilisation konfrontiert sei und erklärte, dass »der Westen, wie wir ihn kannten, nicht mehr existiert«. Wie man diese Behauptung versteht, wird selbstverständlich davon abhängen, wer mit diesem »wir« gemeint ist und auf welcher Seite des Gewehrlaufes man steht.“
Karl Marx hätte es nicht klarer auszudrücken vermocht.
Alle bisher angeführten Zitate stammen aus dem Vorwort des Werkes, das Mausfeld mit „Erschütterungen“ betitelt. Für so manchen Leser, der bisher mit Mausfeld und seiner Denkweise in Berührung kam, dürfte der Titel Programm sein. Um so mehr bei Kapitelüberschriften wie
„Die Lebensform des Westens ist parasitär und beruht auf der Ausbeutung ökonomisch schwächerer Staaten: einige elementare Fakten“
oder
„Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein“
oder
„Der Westen und seine Feinde. Bausteine westlicher Ideologie zur Verdeckung organisierter Gewalt“
Das letzte Kapitel ist überschrieben mit „Hat das emanzipatorische Projekt einer Zivilisierung von Gewalt heute noch eine Chance?“.
Darin beschreibt Mausfeld den Zustand der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart so:
„Heute bedeutet »Demokratie« in Wirklichkeit eine Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten, bei der zentrale Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind. Die für eine Machtkontrolle zentrale Gewaltenteilung ist weitgehend aufgehoben. Durch die systematisch betriebene Einführung unbestimmter Rechtsbegriffe, wie »öffentliche Sicherheit«, »Gefährder«, »Befürwortung von Gewalt« oder »Desinformation«, werden Gesetze zu leeren Hülsen, deren Füllung den Apparaten der Exekutive überlassen bleibt. Damit ist dem Rechtsstaat die Grundlage entzogen.“
Damit legt der Autor ein seit Jahren genutztes Mittel der Manipulation ganz nebenbei offen: das Framing, das Entleeren von bisher klar definierten Begrifflichkeiten, die Neudefinierung von deren teils völlig entgegengesetzten Inhalten sowie die Schaffung völlig neuer unbestimmter Begriffe, die ganz bewusst im Ungefähren angesiedelt werden: links, rechts, Antifaschismus, Antisemitismus, Demokratie, Hass oder Hetze, um nur einige wenige zu nennen.
Ereignisse aus der realen Politik bestätigen diesen traurigen Befund: Sei es das völlig rechtswidrige Eingreifen Merkels in die Landtagswahlen in Thüringen im Februar 2020 oder die Annullierung der Präsidentschaftswahlen in Rumänien im Herbst 2024, das rechtswidrige und jeder demokratischen Kontrolle entzogene Handeln einer Frau von der Leyen sowohl auf nationaler Ebene als z.B. Verteidigungsministerin als auch später beim Zuschanzen von Milliardenaufträgen per SMS während der Corona-Zeit, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Das Schlimmste, was einer Gesellschaft passieren kann, ist der Verlust des Glaubens an sich selbst, der Verlust des Glaubens an die eigene Geschichte, an die Kraft, Probleme lösen zu können. Ob der Westen es sich nun eingesteht oder nicht, das ist genau der Punkt, an dem der Westen insgesamt heute steht. Mausfeld beschreibt es so:
„Der Westen hat also die in der Zivilisationsgeschichte mühsam gewonnenen Institutionen für eine gewaltfreie Bewältigung von Konflikten korrumpiert und weitgehend in Instrumente zur Durchsetzung seiner hegemonialen Ansprüche verwandelt. Er war nie wirklich – es sei denn rein strategisch in Situationen einer Schwäche – an einem gewaltfreien Interessenausgleich interessiert.“
So bedrückend der Befund der gesellschaftlichen Zustände durch Mausfeld auch sein mag, er steht mit seiner Anamnese des Westens nicht allein.
Der französische Soziologe und Historiker Emmanuel Todd schlägt in dieselbe Kerbe. So äußerte er vor Kurzem, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs, die von einem Regimewechsel in Russland und im Iran besessen sind, höchstwahrscheinlich erreichen werden, dass sie selbst sehr bald abgelöst werden. Die Regime in Russland und im Iran sowie die Wirtschaft dieser Länder werden sich nur noch weiter festigen und neue Dynamik gewinnen.
Er schlägt außerdem vor, die Begriffe „Populisten”, „Rechtsextreme” und „Nationalisten” in Bezug auf diejenigen, die sich gegen die globalistischen Eliten stellen, nicht mehr zu verwenden und sie einfach als „Kräfte des Volkes” zu bezeichnen. „Volkskräfte” gegen die liberalen globalistischen Eliten.
Todd behauptet, dass der Versuch der Eliten, die Aggression des mit ihnen unzufriedenen Volkes gegen die Russen zu richten, völlig gescheitert ist. Dieses Thema funktioniert nicht, und je mehr sie versuchen, eine Welle der Russophobie zu schüren, desto mehr werden sie selbst gehasst.
Bemerkenswert auch seine folgende Äußerung: Grundsätzlich sei es beinahe unmöglich, die Briten zu einer Kundgebung zu versammeln. Wenn mehrere Millionen Briten dennoch gekommen sind, um gegen Starmer zu protestieren, dann ist Starmer am Ende. Und das Ende von Starmer ist gleichzeitig das Ende von Macron und Merz. Russland hingegen hat die Konfrontation mit den liberalen Eliten nur gutgetan.
Todd glaubt auch, dass die Ukraine nur noch wenig Zeit hat.
Emmanuell Todd äußert sich nicht einfach so. Seine Prognosen sind wohlüberlegt und seit nun schon Jahrzehnten von hoher Genauigkeit. Bereits im Jahre 1976 sagte er den Untergang der Sowjetunion voraus, und das anhand von statistischen Daten über die Kindersterblichkeit.
Versuch eines Ausblicks
Der Befund des Soziologen Mausfeld ist eindeutig. Die westliche Gesellschaft ist krank. Schwer krank. Sie leidet an der Abwesenheit von Demokratie und an der Zunahme von totalitären Tendenzen. Ob der Patient in der Lage ist, sich selbst zu heilen, werden die nächsten Wochen, Monate oder Jahre zeigen.
Die Menschheit insgesamt hat das Potential, auch sehr schwere Krisen zu überwinden. Auch darauf geht Mausfeld ein:
„Blicken wir auf die lange Zivilisationsgeschichte zurück, so können wir erkennen, dass unsere Epoche nicht die erste ist, in der die Organisation von Machtverhältnissen extrem ungünstige Bedingungen für emanzipatorische Bestrebungen bietet. Die Zivilisationsgeschichte zeigt uns, dass es immer wieder, wenn auch oft erst über lange Zeiträume, durch ein kollektives Lernen aus gesellschaftlichen Erfahrungen möglich war, Instrumente gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu entwickeln. Daraus müssen wir lernen und die Bedingungsfaktoren genau studieren, die dies in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation möglich gemacht oder verhindert haben.“
Allerdings gibt es ein großes ABER und die Menschheit hat möglicherweise nur einen Versuch:
„Was uns jedoch von allen vorhergehenden Epochen unterscheidet, sind vor allem zwei Aspekte. Erstens wurden in den vergangenen hundert Jahren die technologischen Mittel der Unterdrückung perfektioniert. Nie zuvor gab es einen so tiefgehenden Zugriff von Unterdrückungsmethoden auf unseren gesamten psychischen Apparat. Zweitens müssen wir heute in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne aktuelle Bedrohungen bewältigen, die in ihrem Ausmaß und ihrer Reichweite dergestalt sind, dass nach einer Zerstörung der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, ein kollektives Lernen aus dem Erlittenen wohl kaum mehr möglich sein wird. Denn diese Bedrohungen sind so groß, dass sie nur vor dem Eintreten der bedrohlichen Ereignisse bewältigt werden können. Darin unterscheidet sich unsere heutige Situation von allen vorhergehenden.“ (Hervorhebung durch RBZ)
Wir sehen unruhigen Zeiten entgegen. Analysen und Prognosen wie jene von Rainer Mausfeld und Emmanuel Todd, sollte die Gesellschaft die nötige Aufmerksamkeit widmen und sie ernst nehmen.
Ende der Rezension.
Eine weitere Rezension hebt folgende Passagen hervor:
[...] Abschließend skizziert Rainer Mausfeld in dem Abschnitt „Ressourcen emanzipatorischen Handelns, die kaum zu zerstören sind“ mögliche Perspektiven für einen nachhaltigen Widerstand, um den notwendigen ganzheitlichen Wandel herbeizuführen:(7) [Die folgenden Passagen verdanken wir Dr. Amir Mortasawi https://afsaneyebahar.com/2025/09/22/20704979/ ]
„Blicken wir auf die lange Zivilisationsgeschichte zurück, so können wir erkennen, dass unsere Epoche nicht die erste ist, in der die Organisation von Machtverhältnissen extrem ungünstige Bedingungen für emanzipatorische Bestrebungen bietet. Die Zivilisationsgeschichte zeigt uns, dass es immer wieder, wenn auch oft erst über lange Zeiträume, durch ein kollektives Lernen aus gesellschaftlichen Erfahrungen möglich war, Instrumente gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu entwickeln. Daraus müssen wir lernen und die Bedingungsfaktoren genau studieren, die dies in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation möglich gemacht oder verhindert haben.
Was uns jedoch von allen vorhergehenden Epochen unterscheidet, sind vor allem zwei Aspekte. Erstens wurden in den vergangenen hundert Jahren die technologischen Mittel der Unterdrückung perfektioniert. Nie zuvor gab es einen so tiefgehenden Zugriff von Unterdrückungsmethoden auf unseren gesamten psychischen Apparat. Zweitens müssen wir heute in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne aktuelle Bedrohungen bewältigen, die in ihrem Ausmaß und ihrer Reichweite dergestalt sind, dass nach einer Zerstörung der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, ein kollektives Lernen aus dem Erlittenen wohl kaum mehr möglich sein wird. Denn diese Bedrohungen sind so groß, dass sie nur vor dem Eintreten der bedrohlichen Ereignisse bewältigt werden können. Darin unterscheidet sich unsere heutige Situation von allen vorhergehenden. […]
[…] Aus der Geschichte können wir lernen, dass alle gesellschaftlichen zivilisatorischen Fortschritte nur in beharrlichen und oft verlustreichen sozialen Kämpfen errungen wurden. Diese emanzipatorischen Fortschritte mussten den Mächtigen stets abgetrotzt werden. Sie konnten nicht durch einen Dialog mit den Herrschenden errungen werden. Auch nicht mit einem Appell an das Licht der Vernunft, geschweige denn mit einem Appell an deren Mitgefühl.
Durch einen Blick auf die Geschichte können wir auch die in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen liegenden Ressourcen erkennen, die immer wieder – wenn auch zumeist erst nach langen Perioden des Stillstands oder eines Rückfalls – emanzipatorische Fortschritte ermöglicht haben. Zu diesen natürlichen Ressourcen unserer Beschaffenheit gehören die im Menschen angelegten moralischen Sensitivitäten, die Befähigung zu einem Andersdenken des Bestehenden sowie die Befähigung zu einer kollektiven Entwicklung gesellschaftlicher Normen. Wir verfügen also über eine reiche natürliche Ausstattung, die uns befähigt, Vorstellungen von einer menschenwürdigen Gesellschaft zu entwickeln und sie konkret werden zu lassen. […]
[…] Die Entscheidung, am emanzipatorischen Projekt der Aufklärung und damit an dem Ziel einer Schaffung einer menschenwürdigen Gesellschaft festzuhalten, führt auf einen gesellschaftlichen Weg, den zu beschreiten große affektive und intellektuelle Mühen bereitet. Ein solcher Weg kann nur gemeinschaftlich und solidarisch beschritten werden. Auch der unermessliche Schatz an Erfahrungen und Einsichten, die in der langen Tradition emanzipatorischer Bewegungen gewonnen wurden, kann nur in gemeinsamen Anstrengungen ausgewertet und für unser Handeln fruchtbar gemacht werden. Die großen emanzipatorischen Fortschritte, die trotz vielfacher Rückschläge in langen und mühevollen sozialen Kämpfen errungen wurden und tagtäglich in aller Welt errungen werden, sollten uns diese Anstrengungen als lohnend erscheinen lassen.
Wir profitieren heute von dem Mut, der Entschlossenheit und der Kraft derjenigen, die diese Kämpfe mit besonderem überpersönlichen Einsatz geführt haben. Oftmals gegen den Widerstand und die politische Apathie eines Großteils der Bevölkerung. Die zivilisatorischen Errungenschaften, auf die wir heute stolz sind, verdanken wir jenen, die diese sozialen Kämpfe geführt haben. Daraus ergibt sich eine Verpflichtung auch für unsere Gegenwart. Denn Geschichte wird von Menschen gemacht. Sie hängt wesentlich von menschlichen Entscheidungen ab. Auch der Umgang mit dem Problem der Gewalt in einer Gesellschaft oder zwischen Völkern hängt von menschlichen Entscheidungen ab.
Dies allein bietet Grund genug, Hoffnung zu haben, dass sich auch unter den gegenwärtig höchst ungünstigen Umständen Weiteres erreichen lässt, sofern diese Hoffnung mit einem klaren und entschlossenen emanzipatorischen Veränderungswillen sowie mit einer Bereitschaft zu kollektiven Anstrengungen Hand in Hand geht.“
Zum Autor:
Rainer Mausfeld, 1949 in Iserlohn geboren, ist emeritierter Professor an der Universität Kiel, wo er bis 2016 den Lehrstuhl für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung innehatte. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte umfassen die Wahrnehmungspsychologie, Kognitionswissenschaft sowie die Ideengeschichte der Naturwissenschaften. Seine gesellschaftspolitischen Arbeiten zeichnen sich durch eine thematische Vielfalt aus – von „weißer Folter“ über neoliberale Ideologie bis hin zur Transformation der Demokratie in einen autoritären Sicherheitsstaat sowie den psychologischen Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements.
Info: https://seniora.org/index.php?option=com_acym&ctrl=fronturl&task=click&urlid=287&userid=3998&mailid=2860
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.
unser weiterer Kommentar:
Zitat: Der folgende Gedanke - Mausfeld zitiert sich hier aus dem Jahre 2023 selbst - dürfte die Apologeten der Unfehlbarkeit der „Väter des Grundgesetzes“ in leichte Unruhe versetzen:
„Der Siegeszug der ›Demokratie‹ im Westen wurde, wie historische Studien im Detail nachweisen, überhaupt erst dadurch möglich, dass die »Väter der amerikanischen Verfassung« das Wort »Demokratie« seiner ursprünglichen Bedeutung beraubten und unter der neuen Bezeichnung »repräsentative Demokratie« ausdrücklich eine Form der Elitenherrschaft einführten.“
Er bezeichnet das als „Wortbetrug“, den die meisten gar nicht mehr als solchen wahrnehmen. Was die Mächtigen ihrerseits zu neuen Taten drängt:
„Vielmehr ist die Demokratiesimulation im »demokratischen Theaterstaat« so perfektioniert worden, dass sie dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geradezu als Realität von Demokratie erscheint. In der Gegenwart verzichtet nun der Westen immer offener auf eine demokratische Maske zugunsten autoritärer Herrschaftsformen.“
Zitatende
Das Vorhandensein des Phänomens "Repräsentative Demokratie" ermöglichte es bereits 1914 den sozialdemokratischen Reichstagabgeordneten, gegen den Willen der damaligen Bevölkerung, für die Kriegskredite zu stimmen.