Aus e-mail von Clemens Ronnerfeldt, vom 1. Oktober 2025, 20:04 Uhr
Liebe Friedensinteressierte,
beiliegend sende ich Artikel zu den
Kriegen in der Ukraine und in Westasien -
sowie zum Thema Militarisierung.
Auch heute möchte ich wieder einmal
darauf hinweisen, dass ich nicht mit
allen Aussagen übereinstimme, die
Artikel aber für relevant halte.
Besonders hinweisen möchte ich heute
auf die Rede von Präsident Gabriel Boric (17).
1. Ukraine-Krieg im Liveticker
2. n tv: Reisners Blick auf die Front - "Ukraine zielt erfolgreich auf Russlands Achillesferse"
3. Tagesspiegel: Kreml spricht von „unverantwortlicher“ Aussage: Selenskyj droht russischer Führung mit Angriff auf Moskau
4. Berl. Morgenpost: Reichweite, Einsatz, Ziel - Tomahawks für die Ukraine? Der Marschflugkörper im Steckbrief
5. Berl. Z.: Angriff auf die Gehirne
6. Der Spiegel: Trumps Ankündigung - Das sind die 20 Punkte des Friedensplans für Gaza
7. SZ: Krieg in Gaza: Es ist bitter, aber: Deutschland sollte sich Sanktionen gegen Israel anschließen
8. taz: Michael Barenboim über Kulturboykott. - „Es geht um Mitschuld“
9. Commondreams: "Tief unamerikanisch": Trump sagt den Generalen, dass sie US-Städte als militärische „Ausbildungsplätze“ nutzen sollen
10. Commondreams: Die Reden von P. Hegseth und D. Trump im Original
11. Die Zeit: Wenn mehr als 800 Generäle und Admirale reglos bleiben
12. Tagesspiegel: Stadt und Bundesstaat wehren sich: Portland und Oregon verklagen Trump wegen Militäreinsatz
13. ZDF: Angesichts russischer Bedrohung: Merz: "Wir sind nicht mehr im Frieden"
14. Der Spiegel: Drohnen über Europa - CDU-Politiker Kiesewetter will Spannungsfall ausrufen lassen
15. BR24: Kriegsszenario in den Alpen: Bundeswehr probt den Ernstfall
16. IPG: Cool bleiben - Europas militärische Antwort auf Putins Luftprovokationen zeigt:
Die Verteidigung steht. Also wäre mehr Gelassenheit durchaus angesagt.
17. YouTube: 80. Generalversammlung der Vereinten Nationen: Rede von Präsident Gabriel Boris (Chile)
18. Nie-wieder-Krieg: Bundesweite Demonstration am 3. Oktober 2025 in Berlin und in Stuttgart
19. Friedenskooperative: 80 Jahre nach Hiroshima: NATO-Atomkriegsmanöver 2025 stoppen! 11. Oktober 2025
20. Friedensdekade: Vom 9. bis 19. November 2025
——
1. Ukraine-Krieg im Liveticker
https://www.n-tv.de/politik/17-59-G7-Staaten-vor-Einigung-Schaerfere-Sanktionen-fuer-Russland-mehr-Hilfe-fuer-die-Ukraine--article23143824.html
01.10.2025
Ukraine-Krieg im Liveticker
17:59 G7-Staaten vor Einigung: Schärfere Sanktionen für Russland, mehr Hilfe für die Ukraine
Die G7-Staaten stehen kurz vor einer Einigung über eine deutliche
Verschärfung der Sanktionen gegen Russland, da dieses nicht bereit
ist, seinen Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Die Finanzminister der
G7 werden voraussichtlich am heutigen Mittwoch eine gemeinsame
Erklärung veröffentlichen, in der insbesondere weitere Druckmaßnahmen
gegen Russland und die Unterstützung für die Ukraine angesprochen
werden, berichtet Bloomberg.
"Wir sind uns einig, dass wir gemeinsam handeln müssen, und glauben,
dass es jetzt an der Zeit ist, die Maßnahmen deutlich und koordiniert
zu verschärfen, um die Widerstandsfähigkeit der Ukraine zu stärken und
die Fähigkeit Russlands, Krieg gegen die Ukraine zu führen,
entscheidend zu beeinträchtigen", zitiert Bloomberg aus dem Entwurf
der Erklärung. (…)
(…)
13:19 Dänische Regierungschefin: Befinden uns in "gefährlichster Situation seit Ende des Zweiten Weltkriegs“
Angesichts von Ukraine-Krieg, Drohnenalarm und Luftraumverletzungen
durch Russland sieht Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen
Ähnlichkeiten zur Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
"Wenn ich darauf schaue, was Europa in der Zwischenkriegszeit geprägt
hat, dann sehe ich leider einige Parallelen zu der Zeit, in der wir
gerade leben, nicht zuletzt im Hinblick auf die Destabilisierung und
Instabilität unserer Gesellschaft", sagte Frederiksen bei einem
informellen EU-Gipfel in Kopenhagen. (…)
22:02 "Wir müssen regeln": Trump fordert erneut Selenskyj-Putin-Treffen
US-Präsident Donald Trump schlägt erneut vor, dass Selenskyj und Putin
sich zu einem Gipfeltreffen treffen sollen, um den Krieg in der
Ukraine "ein für alle Mal zu regeln". Er betont, man müsse über
Frieden sprechen und den Konflikt beenden, auch wenn es dafür
Zugeständnisse brauche. Der Vorschlag stößt international auf Skepsis:
Kritiker warnen vor legitimatorischem Charakter und vor Bedingungen,
die die Ukraine schwächen könnten.
——
2. n tv: Reisners Blick auf die Front - "Ukraine zielt erfolgreich auf Russlands Achillesferse"
https://www.n-tv.de/politik/Russlands-Sommeroffensive-ist-gescheitert-article26064007.html?utm_source=firefox-newtab-de-de
Politik
Reisners Blick auf die Front
"Ukraine zielt erfolgreich auf Russlands Achillesferse"
29.09.2025, 18:32 Uhr
Wirkt sich der Jahreszeitenwechsel schon erkennbar auf das
Kampfgeschehen am Boden aus?
In den letzten zehn Tagen hat die russische Sommeroffensive ihren
Kulminationspunkt erreicht. Der operative Durchbruch ist den
russischen Streitkräften dabei nicht gelungen, trotz signifikanter
Geländegewinne. Auch diese Sommeroffensive Russlands ist gescheitert.
An mehreren Orten entlang der Front haben die Russen die Situation
jedoch weiter zu ihren Gunsten verbessern können.
(…)
Mit eigenen Waffen greift die Ukraine bereits unablässig auf
russischem Territorium an. Hat das inzwischen erkennbare Auswirkungen
auf die russischen Kapazitäten zur Kriegsführung?
Zum ersten Mal seit langer Zeit können wir messbare Ergebnisse der
ukrainischen Luftkampagne gegen Russland beobachten. Nach Schätzungen
unterschiedlichster Experten stehen bis zu 25 Prozent der
Erdölproduktionskapazität nicht zur Verfügung.
Die Ukraine zielt erfolgreich auf Russlands Achillesferse: Die
Deviseneinnahmen durch Erdölverkäufe ins Ausland sind das
Schmiermittel der russischen Kriegsindustrie. Das Auftreten mutmaßlich
russischer Drohnen über Skandinavien, dem Baltikum bis runter nach
Rumänien ist ein Zeichen dafür, dass der ukrainische Druck wirkt.
Die russische Seite versucht, davon abzulenken, durch ihr Einwirken
tief in den Nato-Raum. Nebenher binden die Drohnen aber auch
Flugabwehr, die die Nato-Staaten dann womöglich nicht der Ukraine zur
Verfügung stellen.
Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de
——
3. Tagesspiegel: Kreml spricht von „unverantwortlicher“ Aussage: Selenskyj droht russischer Führung mit Angriff auf Moskau
https://www.tagesspiegel.de/internationales/sie-mussen-wissen-wo-ihre-bombenkeller-sind-selenskyj-droht-putin-mit-angriff-auf-den-kreml--wie-realistisch-ist-das-14386121.html?utm_source=firefox-newtab-de-de
Update
Kreml spricht von „unverantwortlicher“ Aussage:
Selenskyj droht russischer Führung mit Angriff auf Moskau
Der ukrainische Präsident droht mit direkten Attacken auf den Kreml.
Moskau reagiert scharf. Aber wie realistisch wäre ein ukrainischer
Angriff überhaupt?
Von Tobias Mayer Stand: 26.09.2025, 14:38 Uhr
Bisher hat sich die Ukraine hauptsächlich im eigenen Land gegen die
russische Invasion gewehrt, dazu kamen Angriffe auf Militärstandorte
und die fossile Produktion in Russland. Nun jedoch verändert der
ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Ton. Für den Fall einer
Fortsetzung des russischen Angriffskrieges hat er mit Attacken auf den
Kreml gedroht.
Es soll keine Angriffe auf zivile Ziele geben
Dabei hofft Selenskyj auf die Lieferung von nicht näher bezeichneten
Waffen mit großer Reichweite aus den USA. Gleichzeitig schloss er aber
Angriffe auf zivile Ziele aus. „Wir sind keine Terroristen“, sagte der
Ukrainer. Er hatte sich schon in der Vergangenheit in seinem Amtssitz
auch vor einem Gemälde, das den Kreml in Flammen zeigt, demonstrativ
fotografieren lassen.
Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 greift Russland auch die
Zivilbevölkerung in der Ukraine aus der Luft mit Drohnen und Raketen
an. Bei ukrainischen Gegenangriffen auf russische Infrastruktur hat es
auch zivile Opfer gegeben, allerdings deutlich weniger.
Kreml-Sprecher nennt Drohung „unverantwortlich“
Moskau hat Selenskyjs Drohung als „unverantwortlich“ zurückgewiesen.
Der ukrainische Präsident stoße im Zuge seiner „verzweifelten
Bemühungen“ ständig Drohungen aus, „was ziemlich unverantwortlich
ist“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Freitag bei einer
Pressekonferenz in Moskau. Russland hatte Anfang September bei seinen
bisher schwersten Luftangriffen auf die Ukraine zum ersten Mal den
Regierungssitz in der Hauptstadt Kiew attackiert.
Auch Medwedew keilt zurück
Vor Peskow meldete sich bereits der frühere Kremlchef Dmitri Medwedew
zu Wort. Er warnte Selenskyj scharf und drohte mit einem Schlag gegen
Kiew. „Was der Freak wissen muss, ist, dass Russland Waffen anwenden
kann, gegen die kein Bomben-Bunker Schutz bietet. Die Amerikaner
sollten das auch im Hinterkopf behalten“, schrieb Medwedew auf X mit
Blick auf Selenskyjs Bitten, die USA mögen solche Waffen zur Verfügung
stellen.
Medwedew fällt immer wieder mit extremen Drohungen oder Beleidigungen
auf, er gehört zu den bekanntesten Scharfmachern des Moskauer Regimes.
Wie realistisch ist es, dass die Ukraine den Kreml angreift? Aus
politischer Sicht erscheint eine Attacke wenig sinnvoll, birgt sie
doch die Eskalationsgefahr eines massiven russischen Gegenschlags.
Schaut man auf das Waffenarsenal der Ukraine, zeichnet sich die
Fähigkeit zu so einem weit reichenden Angriff jedoch mehr und mehr ab
– auch ohne Unterstützung der USA.
Welche Waffen könnte die Ukraine auf den Kreml feuern?
Im Mai 2023 explodierten zwei Drohnen über dem Gelände des Moskauer
Kreml, dem Sitz des russischen Präsidenten. Kiew stritt damals jedoch
eine Beteiligung ab. Inzwischen verfügt das ukrainische Militär nach
Aussage von Selenskyj über Kampfdrohnen, die bis zu 3.000 Kilometer
weit fliegen.
Der Kreml ist nur gut 450 Kilometer von der ukrainischen Grenze
entfernt. Damit ist er auch in Reichweite bestimmter Raketen und
Marschflugkörper, die deutlich mehr Schaden anrichten können als
Drohnen.
Die Ukraine hat die Entwicklung eigener ballistischer Raketen
angekündigt und sie baut bereits „Mini-Marschflugkörper“ namens Ruta
und Peklo, die nach Angaben des Waffenexperten Fabian Hoffmann
Distanzen von 500 bis 800 Kilometern überbrücken können.
Außerdem hat Kiew jüngst einen Marschflugkörper namens „Flamingo“
vorgestellt, der bis zu 3000 Kilometer weit fliegt. Er ist zwar nicht
so präzise wie der deutsche Taurus, den die Ukraine bisher offenbar
nicht bekommen hat, die Zerstörungskraft des Flamingos ist jedoch auch
groß.
Darüber hinaus wurde die Ukraine von ihren Verbündeten mit weit
reichenden Marschflugkörpern beliefert. Wie viele davon noch im
Arsenal sind, ist nicht bekannt. Ohnehin ist bei den Modellen aus
Frankreich und dem Vereinigten Königreich fraglich, ob sie den Kreml
erreichen könnten, auch weil beim Start von Kampfflugzeugen aus ein
Sicherheitsabstand zur russischen Flugabwehr beachtet werden müsste.
Sowieso hängt es von der russischen Abwehr ab, ob die Ukraine den
Kreml treffen könnte. Sie dürfte rund um den Moskauer Regierungssitz
sehr gut sein. (mit dpa/AFP)
————
4. Berl. Morgenpost: Reichweite, Einsatz, Ziel - Tomahawks für die Ukraine? Der Marschflugkörper im Steckbrief
https://www.morgenpost.de/politik/article406773504/tomahawk-marschflugkoerper-kosten-rakete-reichweite.html
Reichweite, Einsatz, Ziel
Tomahawks für die Ukraine? Der Marschflugkörper im Steckbrief
Berlin. Die USA erwägen, Marschflugkörper vom Typ Tomahawk an die
Ukraine zu liefern. Was kann die Waffe wirklich? Wichtige Infos zur Rakete.
Von Christian Kerl, Korrespondent
29.09.2025, 15:49 Uhr
Kommen bald Tomahawk-Marschflugkörper in der Ukraine zum Einsatz? Laut
Berichten US-amerikanischer Medien erwägt die US-Regierung, diese
Langstreckenwaffen an Kiew zu liefern. Mit einer Reichweite von bis zu
2.500 Kilometern könnten damit auch Ziele tief in Russland getroffen
werden – darunter auch die Hauptstadt Moskau.
Die Tomahawks, auch Cruise Missiles genannt, zählen zu den
amerikanischen Erstschlagswaffen, die in zahlreichen Konflikten
eingesetzt werden. Sie sind eine Art unbemanntes Einweg-Flugzeug, das
mit einem sehr modernen Navigationssystem in niedriger Höhe (30 bis 90
Meter) fliegen und seine Richtung unterwegs ändern kann. Auch
Hindernissen weichen die Tomahawks aus. Wegen dieser Eigenschaften
sind sie nur schwer für die Flugabwehr des beschossenen Landes zu
erkennen. (…)
Ab 2026: Stationierung in Deutschland geplant
In Deutschland sollen ab 2026 US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk
stationiert werden, das hatten 2024 die US-Regierung und die
Bundesregierung am Rande des Nato-Gipfels in Washington
bekanntgegeben. Damit befänden sich erstmals seit dem Kalten Krieg
wieder amerikanische Langstreckenwaffen auf deutschem Boden.
Werden Tomahawks hierzulande stationiert – im Gespräch war der
US-Truppenstandort Grafenwöhr in Bayern – bräuchten sie bis Moskau
mehr als zwei Stunden Flugzeit.
——
siehe auch:
https://www.cbsnews.com/news/jdvance-trump-zelenskyy-ukraine-russia-us/
JD Vance sagt, dass die USA den Verkauf von Tomahawk-Raketen an die Ukraine "sehen"
Von Emmet Lyon
29. September 2025 / 07:52 EDT / CBS News
Das Weiße Haus wägt den Antrag der Ukraine auf Langstreckenraketen
Tomahawk ab, um das Land gegen russische Streitkräfte zu verteidigen,
sagte Vizepräsident JD Vance am Sonntag.
"Wir schauen uns sicherlich eine Reihe von Anfragen der Europäer an.
Und eines der Dinge, die ich wirklich über die Politik des Präsidenten
in der Ukraine und Russlands gearbeitet habe, ist, dass es die
Europäer gezwungen hat, in großem Stil aufzutreten. Es ist etwas, was
der Präsident zur endgültigen Entscheidung treffen wird", sagte Vance
am "Fox News Sunday“.
(…)
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow deutete am Montag an, dass sich die USA
direkt in den Krieg zwischen Russland und der Ukraine einmischten.
"Moskau hat Washingtons Aussagen über mögliche Tomahawk-Lieferungen in
die Ukraine gehört und analysiert sie sorgfältig", sagte Peskow auf
einer Pressekonferenz. "Es ist wichtig zu verstehen, wer die
Tomahawk-Raketen vom ukrainischen Territorium aus leiten und
abschießen wird - die Amerikaner oder die Ukrainer selbst.“ (…)
——
5. Berl. Z.: Angriff auf die Gehirne
https://epaper.berliner-zeitung.de/article/56ac7d828312f77e4782444bc14a43d894897dd0f55c286e346ce3ad9bbcbe89
Mittwoch, 1. Oktober 2025, Berliner Zeitung
Angriff auf die Gehirne
Drohnen über Polen: Die bisher heftigste Attacke auf ein Nato-Land kam
gar nicht aus der Luft. Es ging vor allem um Propaganda
Klaus Bachmann
Russische MIG-31, die zwölf Minuten lang den estnischen Luftraum
unsicher machen, mit ausgeschaltetem Transponder und ohne auf Signale
zu reagieren, unbekannte zivile Drohnen, die für Stunden die Flughäfen
in Kopenhagen und Oslo lahmlegen, und schließlich ein Angriff mit
ungefähr 20 militärischen Drohnen auf Polen in der Nacht zum 10.
September. Niemand weiß, was das alles bedeuten soll. Ist das ein
Angriff auf Nato-Mitglieder? Wie soll man darauf reagieren?
Verunsicherung überall – und wie immer, wenn Menschen verunsichert
sind, verlangen sie radikale, autoritäre Maßnahmen: draufhauen,
bestrafen, abschießen. Seither wird darüber diskutiert, ob man, wie
die Türkei im November 2015, russische Kampfjets bei Verletzungen des
Luftraums einfach abschießen sollte.
Natürlich könnte man die Einsatzregeln für Nato-Abfangjäger
entsprechend ändern, diese Änderung der russischen Regierung
kommunizieren und dann danach handeln. Die Frage ist nur: Ist die
Sache es wert? Dabei geht es gar nicht nur um die mögliche russische
Reaktion und darum, dass Russland damals einen Wirtschaftskrieg gegen
die Türkei begann, an dessen Ende sich Erdogan bei Putin
entschuldigte.
Als die Sowjetunion 1962 eine amerikanische U-2 über Kuba abschießen
ließ, war das riskant, aber rational: Die U-2 drohte die Standorte der
sowjetischen, auf die USA gerichteten Raketen auf Kuba zu entdecken.
Beide Seiten vertuschten den Vorfall, weil sie eine Eskalation
verhindern wollten, aber auch, weil jede Seite erkannte, dass die
andere so handeln musste, wie sie gehandelt hatte.
Die Frage heute ist: Welchen Vorteil Russlands würde das Abschießen
einer MIG-31 über Estland zunichte machen? Was erfährt Russland durch
einen solchen Überflug, was es nicht genauso gut (oder besser)
mithilfe von Satellitenaufklärung herausfinden kann? Nichts, außer
Details über den Entscheidungsprozess und die Reaktionszeit seiner
Gegner.
Enormes Risiko
Hinzu kommt: Gegen die anderen Bedrohungen und Provokationen kann man
gar nicht zurückschlagen. Wer zivile Drohnen über einem Flughafen
abschießt, fühlt sich vielleicht besser und bekommt eine Menge
Beifall, aber er geht ein enormes Risiko ein. Eine Drohne für ein paar
Tausend Euro, die auf ein Flughafengelände fällt, verursacht dort
unter Umständen einen Millionenschaden.
Man sollte nicht vergessen: Solche Aktionen heißen Provokationen, weil
sie etwas provozieren wollen. Der Gegner soll sich durch eine
übertriebene, emotionale Reaktion selbst ins Unrecht setzen. Die
Debatte zeigt: Das funktioniert bestens.
Nichts demonstriert das besser als der bisher größte Angriff auf ein
Nato-Mitgliedsland, der bisher auch die meisten Rätsel aufgibt – das
Eindringen von circa 20 Drohnen in den polnischen Luftraum in der
Nacht zum 10. September. Wollte Russland damit die Nato-Luftabwehr
testen? War das Ganze ein Unfall, ausgelöst von unvorsichtigen
Teilnehmern des Zapad-Manövers in Belarus? Wurden die Drohnen von der
ukrainischen Flugabwehr absichtlich nach Polen gelenkt, um so den
Kriegseintritt der Nato zu provozieren?
Eine genaue Analyse des Ablaufs zeigt: Ja, das war tatsächlich ein
gezielter russischer Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland. Nur kam er
überhaupt nicht aus der Luft, und er begann auch nicht am Abend des
9. September. Gerade Deutschland kann eine Menge aus diesem Vorfall
lernen, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht betroffen ist.
Die ganze Geschichte beginnt eigentlich viele Monate früher, mit dem
Aufstieg zweier explizit antiukrainischer Parteien, deren Kandidaten
bei den polnischen Präsidentschaftswahlen mehr als 20 Prozent der
Stimmen holen und von den anderen Kandidaten deshalb eifrig hofiert
werden. Noch im Wahlkampf verkündet selbst der liberale
Spitzenkandidat, der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski,
er werde den nach Polen geflohenen Ukrainern das Kindergeld wieder
wegnehmen, wenn sie keiner geregelten Arbeit nachgingen.
Man erkennt da gewisse Parallelen zu Unionsforderungen in der
Bundesrepublik, muss dabei aber berücksichtigen, dass prozentual viel
mehr Ukrainer in Polen in Arbeit sind als in Deutschland und solche
Kürzungen deshalb weit weniger Menschen betreffen.
Das Entscheidende ist etwas anderes: Die Regierenden benennen damit
einen Sündenbock für die enorme Staatsverschuldung und die
Einschränkungen bei Sozialleistungen, die durch die Erhöhung der
Verteidigungsausgaben notwendig werden. Seither läuft an der Weichsel
eine Art Wettlauf unter den Parteien, wer heftiger auf die etwa eine
Million in Polen lebenden Ukrainer einschlägt – obwohl der
Dienstleistungssektor ohne sie zusammenbrechen würde.
Als bei einem Konzert eines belarussischen Rappers im Warschauer
Nationalstadion einige Teilnehmer etwas über die Stränge schlugen und
eine kleine Gruppe nationalistische ukrainische Symbole schwenkte,
griffen die Behörden durch. Premier Donald Tusk höchstpersönlich
kündigte Deportationen an, und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden
63 Belarussen und Ukrainer sofort abgeschoben. Tusk nannte das Ganze
eine russische Provokation; man kann sich aber fragen, ob er damit
nicht genau einer solchen aufgesessen ist.
Etwa seit dem Jahr 2023 verschlechtert sich das Verhältnis der Polen
zu Ukrainern und der Ukraine rapide. Von der anfänglichen
Ukraine-Begeisterung des Frühjahrs 2022 ist so gut wie nichts mehr
übrig geblieben. Das hat auch Folgen für die Haltung der Polen zum
Krieg: Schon Ende vergangenen Jahres gab es mehr Befragte, die für
einen schnellen Frieden mit territorialen Konzessionen waren, als
solche, die die Ukraine weiterhin bedingungslos unterstützen wollten.
Paradoxer Nebeneffekt: Je weniger Flüchtlinge nach Polen kommen, desto
heftiger sind die Polen gegen ihre Aufnahme. Die regierungsamtlich
verbreitete Ausländerfeindlichkeit bereitete den Boden für eine der
größten und erfolgreichsten russischen Propagandakampagnen der
vergangenen Jahre. Putin musste nur noch ernten, was Polens
Regierungen gesät hatten.
Am späten Abend des 9. September um 23.30 flog die erste Drohne in den
polnischen Luftraum. Bis 6.37 Uhr kamen dann noch ungefähr 19 weitere.
Wie viele und welche Drohnen genau wohin geflogen sind, ist bis heute
nicht bekannt gegeben worden. Einige hätten den polnischen Luftraum
wieder verlassen, heißt es, andere seien abgestürzt. Kampfflugzeuge,
die in Polen im Rahmen des Nato- Air-Policing stationiert sind,
stiegen auf und schossen mehrere Drohnen ab.
General Wieslaw Kukula, der Chef des Generalstabs, erklärte auf einem
rechtslastigen Internetsender, man habe bewusst nicht alle
abgeschossen, sondern nur diejenigen, die eine Gefahr darstellten.
Seither ist in Polen nichts mehr, wie es war.
Die Regierung beantragte Beratungen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags,
die Nato beorderte zusätzliche Flugzeuge zum Air Policing nach Polen,
vor dem UN-Sicherheitsrat präsentierte der polnische Botschafter
Bilder eines während des Drohneneinfalls zerstörten Hauses in
Ostpolen. Die Massenmedien diskutieren über die Einrichtung von
Luftschutzkellern, Gemeinden lassen sich in Zivilschutz trainieren,
und einfache Bürger kaufen sich Evakuierungsrucksäcke. Ein Land
bemerkt, dass es seit drei Jahren im Krieg ist.
In der allgemeinen Panik werden aber wichtige Details übersehen. Auf
die Drohnenattacke angesprochen sagte Kremlsprecher Dmitry Peskov,
sonst nie um eine Antwort verlegen, erst einmal gar nichts: „Wir
wollen das nicht kommentieren. Das liegt in der Kompetenz des
Verteidigungsministeriums.“
Offenbar war auch der Kreml überrascht. Das Verteidigungsministerium
dementierte, Polen mit Drohnen angegriffen zu haben, und bot Warschau
sogar Konsultationen darüber an. Das war ungewöhnlich konziliant. Noch
am 10. September erklärte der russische Geschäftsträger in Warschau,
Russland habe mit den Drohnen nichts zu tun, „die stammen aus der
Ukraine“. Das war kein Ausrutscher.
Noch während des Anflugs der Drohnen begann eine umfangreiche
Propagandaaktion, die darauf abzielte, die Ukraine anzuprangern. Die
Grundthese: Die Drohnen seien nur deshalb nach Polen geflogen, weil
sie von der ukrainischen Flugabwehr so umgelenkt worden seien.
Auf Facebook, X, Instagram und TikTok tauchten gleichlautende
Sprechblasen auf anonymen Konten auf, die danach von zahlreichen
echten Social-Media-Nutzern eifrig weiterverbreitet wurden, bis sie
bei Influencern mit Zehn- und Hunderttausenden von Followern landeten.
Aus dem Strom wurde noch in der Nacht des 10. September ein Tsunami.
Er war so groß, dass er schon lange vor dem Abflug der ersten Drohne
geplant sein musste.
Michał Fedorowicz, Vorsitzender des Warschauer Instituts für Internet-
und Soziale-Medien-Forschung, hat 200.000 Social-Media-Posts zu der
Drohnenattacke ausgewertet. Das Ergebnis: 38 Prozent davon machten die
Ukraine verantwortlich, 15 Prozent die polnische Regierung, 8 Prozent
die Medien und 5 Prozent die Nato beziehungsweise „den Westen“.
Nur 34 Prozent sahen die Schuld bei Russland. Der entscheidende Punkt
dabei: Viele der Konten, die die Lawine losgetreten hätten, seien
„ukrainische oder ukrainisch aussehende Konten gewesen“. Das habe bei
den authentischen Nutzern den Eindruck bestätigt, das Ganze sei eine
„False Flag“-Operation der Ukraine gewesen.
Inzwischen haben polnische Militärs bekannt gegeben, von ukrainischen
und belarussischen Stellen vor anfliegenden Drohnen gewarnt worden zu
sein, was der These, hinter allem stecke die Ukraine, den Wind aus den
Segeln nimmt.
Der private Warschauer Nachrichtendienst OKO Press hat die Inhalte
untersucht. Sein Fazit: Polen wurde doppelt angegriffen, aus der Luft
und im Internet. Besonders eifrig dabei waren rechte und
rechtsradikale Politiker, die sich als Lautsprecher für russische
Propagandaklischees betätigten, weil sie zu ihrer antiukrainischen
Haltung passten.
Den Verdacht, die Ukraine stecke hinter den Drohnen, konnte die
Regierung einigermaßen entkräften. Aber durch ihre zögerliche und
verspätete Reaktion sind Medien und Militärs jetzt im
Verteidigungsmodus. Sie müssen es jetzt mit einer populär gewordenen
Verschwörungstheorie aufnehmen, die auf weit verbreiteten,
antiukrainischen Vorurteilen aufbauen kann – sowie auf schlechte
Beispiele, die eine frühere Regierung selbst geliefert hat.
Im November 2022 starben etwa in dem ostpolnischen Dorf Przewodów zwei
Personen, als Teile einer S-300-Luftabwehrrakete auf einen Bauernhof
fielen. Was zuerst ebenfalls wie eine russische Attacke aussah, erwies
sich als misslungener Versuch der ukrainischen Armee, einen russischen
Angriff abzuwehren. Dabei fielen Teil eines ukrainischen Geschosses
auf den Bauernhof, was die damalige Regierung Morawiecki nur ungern
zugab.
Jetzt beging die Regierung einen ähnlichen Fehler: Die Trümmer auf dem
Foto, das ihr Botschafter bei der Uno herumzeigte, gingen nicht auf
eine russische Drohne, sondern auf das fehlgeleitete Geschoss einer
norwegischen oder niederländischen F-35 zurück, die zur
Drohnenbekämpfung eingesetzt war, berichteten die Medien. Inzwischen
gibt es auch Berichte, wonach eine polnische F-16 dafür verantwortlich
sein soll. Auch da weiß man nichts Genaues, die Behörden schweigen.
Indiskretionen der Ermittler
Das Geschoss zerstörte das Dach eines Gehöfts, ohne zu explodieren.
Auch das weiß man nur durch Indiskretionen der Ermittlungsbehörden.
Inzwischen hat sich der Konsultativrat für Internationale
Desinformationsresilienz beim Außenminister zu Wort gemeldet und
forderte in schönstem Bürokraten-Polnisch die Bevölkerung auf,
russischer Desinformation keinen Glauben zu schenken. Aber auf die
Fragen, die die Öffentlichkeit umtreiben, gibt auch der Rat keine
Antwort: Was da in den polnischen Luftraum flog, wie viel davon von
wem abgeschossen wurde, was dabei kaputt ging.
Das ist der Teil der ganzen Geschichte, der auch die Bundesrepublik
betrifft. Eingelullt in die amtliche Versicherung, wonach Deutschland
(wie Polen ja auch) „keine Kriegspartei“ sei, hat sie darauf
verzichtet, eine effektive Krisenkommunikation aufzubauen, mit der
solche Propaganda-Tsunamis entschärft werden können, bevor sie ihre
Wirkung entfalten.
Dabei hätte man auch in Deutschland spätestens seit der Lachnummer mit
den abgehörten Militärs, die im März 2024 über Taurus-Einsätze
spekulierten, gewarnt sein müssen.
In Polen gibt es inzwischen wenigstens ansatzweise einen
Krisenkommunikationskanal: Das Regierungszentrum für Sicherheit warnt
per SMS vor Überschwemmung, Unwetter und Drohnen. Aber dieser Service
eignet sich genauso wenig zur Propagandaabwehr im Internet wie die
deutschen Alarm-Apps.
Wenn eine der russischen Drohnen, die über Polen herunterfiel,
tatsächlich bis Deutschland weitergeflogen wäre, wie manche derer
behaupten, die die russischen Propagandamatrizen weiterverbreiten,
wären Bundesrepublik und Landesregierungen genauso überrascht worden
wie die polnische Regierung.
Und vermutlich hätten wir dann jetzt auch eine Debatte über
Drohnenschutzschirme, Flugabwehr und Gebäudeschäden, die die
Bevölkerung noch weiter verunsichert. Dabei können wir die wirklichen
Schäden, die so etwas anrichtet, mit Internet-Analytik und
Meinungsumfragen viel besser messen.
Der eigentliche Angriff vom 10. September auf Polen, der kam nicht aus
der Luft, sondern still und leise über Smartphones und Laptops, er
ging direkt in die Gehirne ihrer Besitzer. Er fand auch nicht statt,
um von verirrten Drohnen abzulenken, im Gegenteil: Die Drohnen waren
dazu da, die längst angelaufene Propagandakampagne glaubwürdiger zu
machen.
——
https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Bachmann
Klaus Bachmann (* 12. Dezember 1963 in Bruchsal) ist ein deutscher
Journalist, Historiker und Politikwissenschaftler. Er veröffentlichte
Bücher über deutsch-polnische und ukrainisch-polnische Beziehungen
sowie Transitional Justice und ist Professor für politische
Wissenschaften an der privaten Uniwersytet SWPS (Universität für
Sozial- und Geisteswissenschaften) in Warschau. (…)
Klaus Bachmann studierte osteuropäische Geschichte und slawische
Sprachen an den Universitäten in Heidelberg, Wienund Krakau. Er zog
1988 nach Polen und wurde Korrespondent der deutschen taz sowie der
österreichischen Presse und des Falter.
1989 erhielt er den Status eines Auslandskorrespondenten in Polen,
seit 1992 ebenfalls in Kiew, Minsk und Wilna. Ab Mitte der 1990er
Jahre schrieb er für den Tagesspiegel, die Stuttgarter Zeitung, die
Hannoversche Allgemeine Zeitung und in Polen für die Rzeczpospolita,
die Polityka und den Tygodnik Powszechny.
Im Jahr 2000 promovierte er an der Universität Warschau über den
polnisch-ukrainischen Konflikt in Galizien in den Jahren 1907 bis 1914. (…)
———
6. Der Spiegel: Trumps Ankündigung - Das sind die 20 Punkte des Friedensplans für Gaza
https://www.spiegel.de/ausland/israel-gaza-krieg-die-20-punkte-des-friedensplans-von-donald-trump-a-888750ba-918d-49e4-acb7-fbfec3720fc3?utm_source=firefox-newtab-de-de
Trumps Ankündigung
Das sind die 20 Punkte des Friedensplans für Gaza
Eine »deradikalisierte Sonderwirtschaftszone«, die Israel weder
besetzt noch annektiert: So soll der Gazastreifen nach Vorstellung von
Donald Trump aussehen. Die Punkte des Friedensplans des US-Präsidenten
im Überblick.
30.09.2025, 08.21 Uhr
Bei einem Treffen mit Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu hat
US-Präsident Donald Trump einen umfassenden Friedensplan zur
Beendigung des Krieges in Gaza vorgestellt. Er sieht unter anderem
einen Rückzug der israelischen Armee, die Freilassung aller von der
Hamas festgehaltenen Geiseln und die Errichtung einer
»Sonderwirtschaftszone« vor, die zunächst von palästinensischen
Technokraten regiert werden soll.
(Warum der Plan zwar viele Fragen offenlässt und trotzdem ein
ernsthafter Versuch ist, den Krieg zu beenden, lesen Sie hier.)
Das sind die 20 Punkte, die das Weiße Haus veröffentlicht hat, im Wortlaut:
Gaza wird eine deradikalisierte, terrorfreie Zone werden, die keine
Bedrohung für ihre Nachbarn darstellt.
Gaza wird zum Wohle seiner Bevölkerung wiederaufgebaut, die bereits
mehr als genug gelitten hat.
Wenn beide Seiten diesem Vorschlag zustimmen, wird der Krieg sofort
beendet. Die israelischen Streitkräfte ziehen sich bis zu einer
vereinbarten Linie zurück, um die Freilassung von Geiseln
vorzubereiten. Während dieser Zeit werden alle militärischen
Operationen, einschließlich Luft- und Artilleriebeschuss, eingestellt,
und die Kampflinien bleiben eingefroren, bis die Bedingungen für einen
vollständigen, schrittweisen Rückzug erfüllt sind.
Innerhalb von 72 Stunden nach Israels öffentlicher Annahme dieses
Abkommens werden alle Geiseln – lebend und verstorben – zurückgeführt.
Sobald alle Geiseln freigelassen sind, wird Israel 250 zu lebenslanger
Haft Verurteilte sowie 1700 nach dem 7. Oktober 2023 inhaftierte
Palästinenser freilassen, darunter alle Frauen und Kinder, die in
diesem Zusammenhang festgenommen wurden. Für jede übergebene
israelische Geisel werden die Überreste von 15 verstorbenen
Palästinensern freigegeben.
Sobald alle Geiseln freigelassen sind, erhalten Hamas-Mitglieder, die
sich zur friedlichen Koexistenz verpflichten und ihre Waffen abgeben,
Amnestie. Hamas-Mitglieder, die Gaza verlassen möchten, erhalten
sicheren Durchgang in aufnehmende Länder.
Nach Annahme des Abkommens wird sofort umfassende Hilfe in den
Gazastreifen geschickt. Diese wird mindestens den Umfang der im
Abkommen vom 19. Januar 2025 vereinbarten humanitären Hilfe umfassen,
einschließlich der Sanierung von Infrastruktur (Wasser, Strom,
Abwasser), Krankenhäusern und Bäckereien sowie der Bereitstellung von
Geräten zur Beseitigung von Trümmern und zur Öffnung von Straßen.
Der Eintritt von Hilfslieferungen und deren Verteilung erfolgen ohne
Behinderung der Konfliktparteien über die Vereinten Nationen, den
Roten Halbmond und andere internationale Organisationen, die in keiner
Weise mit einer der beiden Parteien verbunden sind. Die Öffnung des
Grenzübergangs Rafah in beide Richtungen unterliegt demselben
Mechanismus, der im Abkommen vom 19. Januar 2025 umgesetzt wurde.
Gaza wird unter der vorübergehenden Übergangsverwaltung eines
technokratischen, unpolitischen palästinensischen Komitees regiert,
das für die täglichen öffentlichen Dienste und Gemeinden für die
Bevölkerung in Gaza verantwortlich ist. Dieses Komitee wird aus
qualifizierten Palästinensern und internationalen Experten bestehen
und von einer neuen internationalen Übergangsbehörde, dem »Board of
Peace«, überwacht, die von Präsident Donald J. Trump geleitet wird.
Weitere Mitglieder, darunter der ehemalige britische Premierminister
Tony Blair, werden noch bekannt gegeben. Dieses Komitee wird den
Rahmen setzen und die Finanzierung für den Wiederaufbau von Gaza
verwalten, bis die Palästinensische Autonomiebehörde ihr
Reformprogramm, wie in verschiedenen Vorschlägen dargelegt –
einschließlich des Friedensplans von Präsident Trump im Jahr 2020 und
des saudisch-französischen Vorschlags –, abgeschlossen hat und in der
Lage ist, die Kontrolle über Gaza sicher und effektiv wieder zu übernehmen.
Dieses Komitee wird sich an den besten internationalen
Standards orientieren, um eine moderne und effiziente Verwaltung zu
schaffen, die der Bevölkerung von Gaza dient und förderlich für die
Anziehung von Investitionen ist.
Ein wirtschaftlicher Entwicklungsplan von Trump zum Wiederaufbau und
zur Belebung Gazas wird durch die Einberufung eines Expertengremiums
erstellt, das an der Entstehung einiger florierender moderner
Vorzeigestädte im Nahen Osten mitgewirkt hat. Viele durchdachte
Investitionsvorschläge und spannende Entwicklungsprojekte, die von
wohlmeinenden internationalen Gruppen erarbeitet wurden, werden
geprüft, um Sicherheits- und Regierungsrahmen zu integrieren, die
diese Investitionen erleichtern und Arbeitsplätze, Chancen und
Hoffnung für die Zukunft Gazas schaffen.
Eine Sonderwirtschaftszone wird eingerichtet, mit bevorzugten Zoll-
und Zugangssätzen, die mit den teilnehmenden Ländern ausgehandelt
werden.
Niemand wird gezwungen, Gaza zu verlassen, und diejenigen, die gehen
möchten, können dies frei tun und auch frei zurückkehren. Wir (das
Weiße Haus, Anm. d. Red.) werden die Menschen ermutigen, zu bleiben,
und ihnen die Möglichkeit bieten, ein besseres Gaza aufzubauen.
Die Hamas und andere Kampfgruppen stimmen zu, keinerlei Rolle in der
Verwaltung Gazas zu übernehmen– weder direkt noch indirekt oder in
irgendeiner anderen Form. Sämtliche militärische, terroristische und
offensive Infrastruktur, einschließlich Tunnel und
Waffenproduktionsanlagen, wird zerstört und nicht wieder aufgebaut.
Es wird einen Prozess der Entmilitarisierung Gazas unter der Aufsicht
unabhängiger Beobachter geben, der die dauerhafte Unbrauchbarmachung
von Waffen durch ein vereinbartes Abrüstungsverfahren umfasst,
unterstützt durch ein international finanziertes Rückkauf- und
Wiedereingliederungsprogramm, das vollständig von den unabhängigen
Beobachtern überprüft wird. Das Neue Gaza wird sich voll und ganz dem
Aufbau einer prosperierenden Wirtschaft und dem friedlichen
Zusammenleben mit seinen Nachbarn widmen.
Regionale Partner werden garantieren, dass die Hamas und die
Kampfgruppen ihre Verpflichtungen einhalten und dass das Neue Gaza
keine Bedrohung für seine Nachbarn oder seine eigene Bevölkerung
darstellt.
Die Vereinigten Staaten werden mit arabischen und internationalen
Partnern zusammenarbeiten, um eine temporäre Internationale
Stabilisierungstruppe (»International Stabilization Force« – ISF) zu
entwickeln, die sofort in Gaza eingesetzt wird. Die ISF wird
überprüfte palästinensische Polizeikräfte ausbilden und unterstützen
sowie mit Jordanien und Ägypten beraten, die über umfangreiche
Erfahrung in diesem Bereich verfügen. Diese Truppe wird die
langfristige Lösung für die innere Sicherheit sein. Die ISF wird mit
Israel und Ägypten zusammenarbeiten, um die Grenzgebiete zu sichern,
gemeinsam mit neu ausgebildeten palästinensischen Polizeikräften.
Es ist entscheidend, die Einfuhr von Munition nach Gaza zu verhindern und
gleichzeitig den schnellen und sicheren Warenfluss zu ermöglichen, um
Gaza wieder aufzubauen und zu revitalisieren. Ein Mechanismus zur
Konfliktvermeidung wird von den Parteien vereinbart.
Israel wird Gaza weder besetzen noch annektieren. Während die ISF
Kontrolle und Stabilität herstellt, wird sich die israelische Armee
(im Wortlaut des Weißen Hauses: IDF, Anm. d. Red.) gemäß vereinbarten
Standards, Meilensteinen und Zeitplänen zurückziehen, die zwischen
IDF, ISF, den Garantiemächten und den Vereinigten Staaten abgestimmt
werden. Ziel ist ein sicheres Gaza, das keine Bedrohung mehr für
Israel, Ägypten oder deren Bürger darstellt. Praktisch wird die IDF
das von ihr besetzte Gebiet im Gazastreifen schrittweise an die ISF
übergeben, entsprechend einer Vereinbarung mit der Übergangsbehörde,
bis sie sich vollständig aus Gaza zurückgezogen hat – abgesehen von
einer Sicherheitspräsenz entlang der Perimeter, die bestehen bleibt,
bis Gaza ausreichend gegen eine erneute terroristische Bedrohung
gesichert ist.
Falls die Hamas diesen Vorschlag verzögert oder ablehnt, werden die
oben genannten Maßnahmen, einschließlich der ausgeweiteten
Hilfsoperation, in den terrorfreien Gebieten umgesetzt, die von der
IDF an die ISF übergeben wurden.
Ein interreligiöser Dialogprozess wird auf den Werten von Toleranz und
friedlichem Zusammenleben aufgebaut, um die Denkweisen und Narrative
von Palästinensern und Israelis zu verändern, indem die Vorteile
hervorgehoben werden, die aus Frieden entstehen können.
Während der Wiederaufbau Gazas voranschreitet und das Reformprogramm
der Palästinensischen Autonomiebehörde gewissenhaft umgesetzt wird,
könnten endlich die Voraussetzungen für einen glaubwürdigen Weg zur
palästinensischen Selbstbestimmung und Staatlichkeit geschaffen
werden, die wir als das Ziel des palästinensischen Volkes anerkennen.
Die Vereinigten Staaten werden einen Dialog zwischen Israel und den
Palästinensern einleiten, um einen politischen Horizont für ein
friedliches und wohlhabendes Zusammenleben zu vereinbaren.
————
7. SZ: Krieg in Gaza: Es ist bitter, aber: Deutschland sollte sich Sanktionen gegen Israel anschließen
https://www.sueddeutsche.de/meinung/israel-krieg-gaza-sanktionen-deutschland-kommentar-li.3316632?reduced=true
Krieg in Gaza: Es ist bitter, aber: Deutschland sollte sich Sanktionen gegen Israel anschließen
Kommentar von Bernd Dörries
25. September 2025, 15:03 Uhr
Die Bundesrepublik hat lange darauf gehofft, die Regierung Netanjahu
werde sich schon noch mäßigen. Viele zu lange. Es ist also höchste
Zeit, einen neuen Weg zu gehen.
Wenn die Palästinenser heute in Gaza um Essen anstehen, dann meist
nicht mehr bei den Vereinten Nationen oder dem Roten Halbmond. Sondern
bei der Gaza Humanitarian Foundation. Der Name klingt human, aber die
Foundation beschäftigt Mitglieder eines faschistoiden
US-amerikanischen Rockerklubs als „Sicherheitskräfte“, die während des
Ramadans Schweine grillen.
Fast jeden Tag werden Palästinenser getötet, nur weil sie um Hilfe
anstehen. Erschossen von israelischen Soldaten oder Rockern, wer weiß
das schon. Das Grauen ist Normalität geworden. Aufmerksamkeit schafft
höchstens noch mehr Grauen. Und auch daran mangelt es ja nicht. Ein
Chirurg der Universität Oxford erzählte kürzlich, dass Teenagern von
israelischen Soldaten gezielt in die Hoden geschossen worden sei, als
eine Art Zielübung.
Gaza sei derzeit die „Hölle auf Erden“, schwante es selbst dem
Bundesaußenminister Johann Wadephul am Dienstag. Wer dieses
Höllenfeuer veranstaltet, blieb dagegen unklar, als sei es eine Art
Naturgewalt, der durch nichts beizukommen sei. Schon gar nicht durch
Sanktionen oder die Anerkennung eines Staates Palästinas.
Fast zwei Jahre lang tobt der Krieg nun in Gaza. Was als berechtigte
Verteidigung nach dem Terror der Hamas begann, hat sich zu einem
endlosen Grauen entwickelt. Gaza wird in einer Reihe stehen mit
Ruanda, Darfur, Srebrenica und dem Schicksal der Rohingya. Und es geht
ja immer weiter. Gerade hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den
Sturm auf Gaza-Stadt befohlen, Hunderttausende Palästinenser wurden
vertrieben, ohne zu wissen wohin, um die „letzte Bastion“ der Hamas zu
stürmen.
Der Premier träumt von einem Großisrael
Im März 2024 war Rafah die „letzte Bastion“, bald wird es eine andere
sein; Netanjahu will den ewigen Krieg, um sich an der Macht zu halten.
Er hat sich zu der Idee von Großisrael bekannt, dem Traum der
Extremisten, vom Nil bis an den Euphrat. Netanjahu träumt ihn auch. In
Deutschland macht man sich immer noch die Mühe, seine Regierung nur
als „in Teilen rechtsextrem“ zu bezeichnen. Als sei die Mindestmenge
an Gräueltaten noch nicht erreicht, um als ein gesicherter Extremist
zu gelten.
Zuerst wehrte sich die Bundesregierung gegen einen Waffenstopp und
Sanktionen. Durch den Beistand habe man ja noch Einfluss auf Netanjahu
und bewahre Israel vor der Isolation.
Jetzt aber merkt man in Berlin: Das Hoffen auf Mäßigung war reine
Fantasie. Netanjahu will die Isolation, er will ein Fort errichten im
Nahen Osten, ein „Super-Sparta“, wie er selbst sagte, das seine
Nachbarn bombardiert, wann es will, das militärisch und wirtschaftlich
unabhängig ist. Sparta ging letztlich an seiner Hybris zugrunde.
Deutschland hat sich zu lange um eine klare Sprache, um Konsequenzen
herumgedrückt
Wie bringt man Netanjahu ab von diesem Weg, der einmal in einer
ähnlichen Richtung enden könnte? Jetzt ist Israel stark, es
bombardiert an einem Tag Syrien, Jemen, Libanon, Gaza und das
Westjordanland. Nach Bedarf noch Iran und Katar dazu. So könnte es für
Netanjahu ewig weitergehen. Jeder weiß es. Konsequenzen gibt es keine.
Weil sie ja auch die israelische Bevölkerung treffen würden, mit der
man sich ja solidarisch zeigen will, so heißt es nun oft in Berlin.
So, als würden Netanjahus Regierungen nicht seit Jahrzehnten immer
wieder gewählt.
Lange hat sich Deutschland um eine klare Sprache gegenüber der
israelischen Regierung gedrückt. Noch länger um wirkliche
Konsequenzen. Das war einerseits viel zu lange, Deutschland braucht
auf lange Sicht niemanden mehr über Menschenrechte und Moral zu
belehren. Andererseits war es vor dem Hintergrund der Geschichte
vielleicht nicht anders möglich. Zumindest nicht politisch
durchsetzbar. Vielleicht bringen Sanktionen Netanjahu auch nicht zum
Umdenken. Die vergangenen zwei Jahre haben aber gezeigt, dass alles
andere auch nicht funktionierte.
Worauf des ankommt, ist: Dieser Krieg muss enden
„Ja, aber die Hamas ...“, heißt es an dieser Stelle dann oft. Die
Hamas hat vor Kurzem zumindest genau den Forderungen zugestimmt, die
Netanjahu selbst so lange zur Bedingung eines Waffenstillstands
gemacht hatte. Netanjahu aber will lieber Krieg. Er macht nicht nur
eine Friedenslösung auf Dauer unmöglich, bereitet die Vertreibung der
Palästinenser vor. Er will auch den ganzen Nahen Osten umgestalten,
was in einem Desaster enden könnte.
Deshalb muss es nun mehr Sanktionen geben. Gegen Mitglieder der
israelischen Regierung. Gegen Produkte aus den völkerrechtswidrig
besetzten Gebieten. Die EU-Kommissionen hat viele Vorschläge gemacht.
Deutschland muss sich jetzt anschließen. Es ist bitter, so etwas zu
fordern. Aber es geht jetzt darum, Leben zu retten.
Spricht man in diesen Tagen mit Menschen in Gaza-Stadt, dann ist es
ihnen völlig egal, ob Deutschland Palästina anerkennt oder nicht. Ob
sie in einem Genozid oder „nur“ in einem Massaker sterben. Das sind im
wahrsten Sinne Nebenkriegsschauplätze. Das, worauf es ankommt, ist:
Dieser Krieg muss enden. Ob dabei Sanktionen helfen, weiß die Welt
nur, wenn sie es probiert hat. Alles andere jedenfalls hat nicht
funktioniert.
—————————————
8. taz: Michael Barenboim über Kulturboykott - „Es geht um Mitschuld“
https://taz.de/Michael-Barenboim-ueber-Kulturboykott/!6112501/
Michael Barenboim über Kulturboykott
„Es geht um Mitschuld“
Der Musiker Michael Barenboim wirft Israel einen Genozid vor und ruft
zur Gaza-Demo auf. Ein Gespräch über Verantwortung, Schweigen – und
rote Linien in der Kunst.
27.9.2025 11:29 Uhr
Interview von Daniel Bax
taz: Herr Barenboim, der israelische Dirigent Lahav Shani wurde jüngst
von einem Musikfestival im belgischen Gent ausgeladen. Ihm wurde
vorgeworfen, seine Haltung zur israelischen Regierung sei unklar. Wie
bewerten Sie das als Musikerkollege?
Michael Barenboim: Ich habe mir die jeweiligen Statements angeschaut.
Das sollte man immer tun. Das Festival hat die Absage damit begründet,
dass sich Shani in seiner Funktion als Chef des Israel Philharmonic
Orchestra nicht oder nicht genügend von der israelischen Regierung
distanziert hat. Das ist so etwas wie ein Staatsorchester, auch wenn
es formal eine gemeinnützige Organisation ist – es repräsentiert
Israel und bekommt auch staatliche Zuschüsse.
Im Interview: Michael Barenboim Der Violinist und Bratschist Michael
Barenboim lebt seit 1992 in Berlin. Er ist Konzertmeister des von
seinem Vater Daniel Barenboim mitgegründeten West-Eastern Divan
Orchestra.
Lahav Shani hat darauf geantwortet, er trete für Versöhnung zwischen
„beiden Seiten“ ein. Er hat in seinem Statement die Seite, die in Gaza
gerade vor ihrer Auslöschung steht, die Palästinenser, aber mit keinem
Wort erwähnt. Das ist eine vertane Chance, denn damit hat er dem
Festival alle Argumente für seine Ausladung geliefert. Das ist sehr
schade. Denn er ist ein fantastischer Musiker – ich habe früher auch
schon mit ihm gespielt. Aber darum geht es hier nicht.
taz: Worum geht es denn? Bundeskanzler Friedrich Merz,
Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und andere sprechen bei der
Ausladung von Antisemitismus.
Barenboim: Entweder, sie haben alle das Statement des Festivals nicht
gelesen, oder sie haben es absichtlich missverstanden. Da steht ja
ganz deutlich, dass das nichts mit seiner jüdischen Identität zu tun
hat. Das hätte auch seinen Vorgänger beim Israel Philharmonic
Orchestra treffen können, Zubin Mehta – der ist nicht jüdisch. Das
heißt, es hat mit Antisemitismus nichts zu tun, sondern mit dem
Vorwurf der Mitschuld am Genozid.
taz: Sie sprechen von Genozid, andere aber bezweifeln, dass Israels
Regierung in Gaza einen Völkermord begeht.
Barenboim: Mein Eindruck ist, dass darüber unter Experten,
Menschenrechtsorganisationen und neuerdings auch im
UN-Menschenrechtsrat weitgehend Konsens herrscht. Die deutsche Politik
leugnet das, weil sie eine Mitschuld trägt. Aber ansonsten, glaube
ich, ist das – jedenfalls außerhalb Deutschlands – nicht mehr
umstritten.
taz: Einen Kulturboykott halten Sie in dieser Situation für das
richtige Mittel?
Barenboim: Die Frage ist immer: Was erreiche ich damit? Das Ziel beim
Kulturboyott ist, einem Staat, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit
oder einen Völkermord begeht, die Legitimität zu entziehen. Hätten wir
in den 1990er Jahren ein Ensemble aus Ruanda empfangen, welches das
Regime der Hutus repräsentiert hätte? Oder ein Orchester, dessen
Dirigent sich nicht vom Völkermord von Srebrenica distanziert hätte?
Ich glaube nicht. Es gibt ja heute noch Leute, die den Genozid an den
Bosniaken leugnen.
taz: Sie meinen Leute wie den Schriftsteller Peter Handke, der sogar
den Literaturnobelpreis erhalten hat.
Barenboim: Das finde ich total krass. Ich meine, Völkermord ist der
Versuch, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche
auszulöschen. Das haben wir doch alle gelernt. Die Leugnung des
Völkermords trägt zu dieser Auslöschung bei.
taz: Russlands und Israels Vorgehen lassen sich nicht direkt
vergleichen. Doch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben
die Münchner Philharmoniker dem russischen Dirigenten Waleri Gergijew
wegen dessen Putin-Nähe die Zusammenarbeit aufgekündigt. Zu Recht?
Barenboim: Die Münchner Philharmoniker haben ihren Schritt mit dem
Argument begründet, dass sich Gergijew auf Nachfrage nicht von dem
Regime in Russland distanziert hat. Das ist in der Tat das gleiche
Argument wie das des Festivals in Gent – insofern kann man nicht das
eine gut finden und das andere schlecht. Ich finde aber, ein
Kulturboykott macht nur Sinn, wenn er sich gegen Institutionen
richtet. Das trifft dann natürlich Individuen. Aber so ist das Leben:
Jeder trifft seine Entscheidungen und trägt seine Verantwortung. Man
muss ja nicht für Israel beim ESC antreten, zum Beispiel. Deswegen
sollte die Frage sein: Repräsentiert eine Person die Institution eines
Landes? Bei Gergijew kann man argumentieren, dass durch seine Leitung
des Mariinsky Theaters in Sankt Petersburg eine institutionelle
Verbindung besteht, ähnlich wie bei Lahav Shani und dem Israeli
Philharmonic Orchestra. Aber Individuen als Individuen zu boykottieren
finde ich ein bisschen albern.