aus e-mail von Doris Pumphrey, 14. November 2025, 18:51 Uhr
Berliner Zeitung 13.11.2025
<https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-wahrheit-ist-den-menschen-zumutbar-vom-langen-leben-der-propagandamaerchen-li.10004789>
*Die Wahrheit ist Deutschen und Türken zumutbar:
Märchen vom Marschallplan bis zu Gastarbeitern
*Die DDR „holte“ keine Mosambikaner und der Marshallplan brachte keine
Geschenke – Historische Legenden mit politischen Nutzen überleben zäh.
Einige Exempel aus Ost und West
Maritta Adam-Tkalec
Der Kanzler tat es jüngst gleich mehrfach, der Außenminister ebenfalls,
und der Bundespräsident hatte auch keine Scheu: das alte Märchen von den
türkischen Gastarbeitern wiederkäuen, die auf dringenden Wunsch der
Bundesrepublik ins Land gelockt worden seien und das deutsche
Wirtschaftswunder bewirkt hätten.
In Ankara sagte Friedrich Merz kürzlich, er würdige am 64. Jahrestag des
Bundesarbeitsabkommens die erfolgreichen Beiträge deutsch-türkischer
Familien; ohne sie wäre das deutsche Wirtschaftswunder nicht möglich
gewesen. So postete es dann auch die deutsche Botschafterin in der
Türkei Sibylle Katharina Sorg. Kurz zuvor hatte Johann Wadephul der
türkischen Zeitung Hürriyet gesagt, Frauen und Männer aus der Türkei
hätten in Deutschland das Wirtschaftswunder möglich gemacht.
Manche nennen die Aussage eine Lüge. Das ist übertrieben, denn
tatsächlich haben Hunderttausende Türken (1973 lebten 600.000 Türken in
Westdeutschland) zum Bruttosozialprodukt erheblich beigetragen und die
Sozialsysteme stabilisiert. Im August 1961 hatte ja der Mauerbau den bis
dahin wohltuenden Zustrom von qualifizierten Arbeitskräften aus der DDR
gestoppt. Wissenschaftler haben errechnet, dass ohne Zuwanderung bereits
1971 die Rentenbeiträge hätten erhöht werden müssen.
*Zuwanderung von Billiglöhnern als Innovationsbremse
*Die allermeisten der tüchtigen Türken erarbeiteten auch für sich selbst
ein besseres Leben. Man schaue nur die schmucken Dörfer in der Türkei
an, in denen ältere Türken in hübschen Häusern, errichtet mit ihrem in
Deutschland verdienten, gesparten Geld und ihrer Rente, einen angenehmen
Lebensabend verbringen. Das ist alles hochrespektabel, Deutschland hat
zu danken – und trotzdem muss man der Propagandalegende widersprechen.
Außenminister Johann Wadephul müsste nur in die in den Archiven des
eigenen Hauses lagernden Dokumente schauen, um klarzusehen:
Erstens: Es gab keine Anwerbung von türkischen Arbeitskräften. In dem
Abkommen vom 31. Oktober 1961, versteckt gedruckt im Bundesarbeitsblatt
des Bundesarbeitsministers, kommt das Wort Anwerbung kein einziges Mal
vor. Die Vereinbarung kam zustande durch den Austausch von Verbalnoten
zwischen den Regierungen der Bundesrepublik und der Türkei. Das Dokument
trägt den Titel „Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach
der Bundesrepublik Deutschland“.
Man wollte das Geschäft wilder Vermittlungsbüros unter Kontrolle bringen
und machte mit der türkischen Regierung einen Deal: Ihr nähert euch dem
Westen an, tretet der Nato bei, werdet so Teil des Ostwalls gegen die
Sowjetunion – im Gegenzug helfen wir euch bei der Stabilisierung im
Innern, indem wir die enorme Arbeitslosigkeit mildern. So ähnlich wurde
auch mit Italien, Griechenland und Spanien verfahren.
Zweitens: Das Wirtschaftswunder war bereits in vollem Gange, als die
Arbeitskräfte nach Deutschland kamen. Überwiegend gering qualifiziert,
erledigten sie einfache Arbeiten. Das war bequem, hemmte aber die
Innovationsfreude: Solange genügend preiswerte Arbeiter zur Verfügung
standen, wurden strukturschwache Bereiche der Wirtschaft langsamer
modernisiert, geschrumpft oder geschlossen. Die Arbeitsproduktivität in
der Bundesrepublik fiel im Vergleich zu den USA zurück.
Zugleich ermöglichte diese Zuwanderung zwischen 1960 und 1970 ca. 2,3
Millionen Deutschen den sozialen Aufstieg von Arbeiter- in
Angestelltenpositionen. Das besserte die Stimmung und die Lage in den
westdeutschen Landen. Schon damals fing offensichtlich an, was sich
heute so fatal auswirkt: Statt innovativ das wirtschaftlich, langfristig
Sinnvolle zu tun, überlagert politisches Kalkül das klare Denken und
führt immer weder zu strategischen Fehlleistungen.
*Kein Geldsegen vom Ami: Marshallplan als Kreditkonstrukt
*Drittens: Als einzige plausible Erklärung für das hartnäckige
Wiederholen faktenwidriger Narrative kann ins Feld geführt werden: Die
Migranten aus all den Ländern, die Menschen, die Familien, die Kinder –
sind nicht verantwortlich zu machen für die politischen Deals ihrer
Regierungen im Kalten Krieg. Ihnen gebührt Respekt. Doch auch ihnen ist
die Wahrheit zumutbar.
Das ist bei weitem nicht die einzige gesellschaftliche Erzählung, die so
lange wiederholt wird, bis sie niemand mehr anzweifelt oder anzuzweifeln
wagt und sich als (Schein-) Wahrheit etabliert. Ein Beispiel aus dem
Westen ist die Mär vom Marshallplan als Geldsegen vom Ami.
Tatsächlich handelte es sich um straff reglementierte Kredite: Mit dem
Geld mussten amerikanische Waren, vor allem lebenswichtige Dinge wie
Nahrungsmittel und Medikamente, gekauft werden. Die Einnahmen durch den
Verkauf auf den Märkten der 16 teilnehmenden Länder flossen in einen
Fonds, der wiederum Kredite für Investitionen in Infrastruktur möglich
machte. Zunächst für konsumtive Zwecke eingespeistes Geld wurde
produktiv. Die ursprüngliche Marshallplan-Summe musste getilgt werden,
Westdeutschland zahlte von den erhaltenen 1,4 Milliarden US-Dollar eine
Milliarde zurück, der Rest wurde erlassen.
Eine weitere zentrale Regel des Plans betraf den Zwang zur
Zusammenarbeit unter den beteiligten europäischen Ländern. Der im Falle
Westdeutschlands unter den Sonderbedingungen nichtsouveränen Agierens
erreichte Effekt trat ein: Die US-amerikanische Exportwirtschaft boomte,
Europa war als Exportmarkt für die USA gesichert. Die Bevölkerung der
teilnehmenden Länder bekam, was sie in der Nachkriegsnot brauchte. Der
Wiederaufbau kam in Gang. Der Westen stabilisierte sich gegen den
entstehenden Ostblock – was hatten sich die Amerikaner vor den in
Italien und Frankreich starken Kommunisten gefürchtet. Überall, wo
Marshallplangeld drin war, musste es auch draufstehen, bis jeder intus
hatte: Die Amerikaner helfen.
DDR-Bürger machen Urlaub in Tihany am Balaton. Mit dem Trabi gelangten
sie ans Schwarze Meer und weit in die Sowjetunion, mit dem Flugzeug nach
Kuba, mit dem Kreuzfahrtschiff über die Ostsee oder auch mal nach
Murmansk.www.imago-images.de
In der jüngeren Vergangenheit geistern viele Legenden aus der DDR im
Historienwald herum. Eine ist die vom eingesperrten Volk. Die Fakten:
Kein Volk war so intensiv touristisch unterwegs wie das zwischen Rügen
und dem Vogtland: Etwa 80 Prozent der DDR-Bürger über 14 Jahren
verreisten im Jahr 1989 mindestens einmal für mindestens fünf Tage,
deutlich mehr als Bundesbürger. Man durfte allerdings nicht in den
goldenen Westen. Obwohl: In den letzten Jahren der DDR stimmte auch das
nicht: Sechs Millionen Reisen von DDR-Bürgern in die BRD wurden 1988
registriert. Sechs Millionen! Die DDR hatte 17 Millionen Einwohner.
Auch die unter anderem von Angela Merkel erzählte Geschichte von den
bildungsgebremsten Pfarrerskindern wäre einmal eine objektive Prüfung
wert: Durchschnittlich elf Prozent aller Schüler eines Jahrgangs duften
um 1970 auf die zur Reifeprüfung führende Erweiterte Oberschule (EOS)
wechseln, in meiner Klasse (Jahrgang 56) waren wir zu dritt (von 30).
Fallen alle, die gern gewollt hätten, aber die Hauptkriterien nicht
erfüllten, nämlich Leistung und vorzugsweise Herkunft aus der
Arbeiterklasse, unter Christenunterdrückung? Im Westen lag die Abi-Quote
ähnlich niedrig, doch galt hier eine andere Sozialauswahl, nämlich Geld
und Status. Das Westsystem reproduzierte sich; die DDR wollte kleiner
Leute Kinder den Weg frei machen. Das führt im einen wie im anderen Fall
zu Ungerechtigkeiten.
Ein herausragendes Beispiel für mutwillige, politisch motivierte
Geschichtsverzerrung bieten die Arbeitskräfteabkommen, die die DDR (viel
später als die Bundesrepublik) schloss: mit Vietnam, Kuba, Angola und
– vor allem Mosambik. Die gängige Erzählung lautet: Die DDR wollte
dringend benötigte Arbeitskräfte. Das ist allerdings nur der kleinere
Teil der Geschichte.
Wie kam das Abkommen zustande? Mosambik setzte sich nach der
Unabhängigkeit im Juni 1975 zum Ziel, eine eigene Industrie aufzubauen –
quasi aus dem Nichts. Es fehlte aber nicht nur an Fabriken – es gab auch
keine Arbeiterschaft, also Menschen mit Basiswissen, die täglich zu
festen Arbeitszeiten, auch in Schichten, klar geregelten Arbeitsabläufen
zu folgen gewohnt waren. Die einzigen Erfahrungen brachten
Wanderarbeiter aus südafrikanischen Minen mit, wo sie in elenden
Verhältnissen schufteten. Die Analphabetenrate lag bei sage und schreibe
95 Prozent.
Die Bitte der regierenden Frelimo an die Genossen in der DDR lautete:
Helft uns, ein Proletariat aufzubauen – also Menschen das Leben mit und
in der Fabrik nahezubringen, ihnen grundlegende berufliche Fähigkeiten
und Fertigkeiten zu vermitteln. Die Grundvoraussetzung für die
Entsendung lautete: Grundschule 4. Klasse, also Lesen, Schreiben,
Rechnen – weit entfernt von normalen Voraussetzungen für eine
Berufsschule. Das hinzubekommen, wurde den Einsatzbetrieben in der DDR
übertragen. Dort wurden die jungen Leute vertragsgemäß in jeder Hinsicht
– Gehalt, Urlaub, Gesundheitsbetreuung, etc. – den Einheimischen
gleichgestellt.
Heute lautet eine Kritik am Umgang mit den Mosambikanern: Sie hätten gar
keine richtige Berufsausbildung bekommen. Ein (böswilliges?)
Missverstehen der Gegebenheiten. Trotz der geringen Ausgangsbildung
schafften es viele schlaue, fleißige, talentierte, aufstiegswillige
Mosambikaner zu echten Facharbeiterabschlüssen.
Derweil überzog Südafrika, flankiert vom freiheitlich-demokratischen
Westen, Mosambik mit Krieg, rüstete und stützte die Rebellenorganisation
Renamo – an gedeihliche Entwicklung, den Aufbau einer eigenen Industrie
war in Mosambik bald nicht mehr zu denken. Die Grundlagen der
Abmachungen mit der DDR gerieten ins Wanken – die Folgen sind bekannt:
Mosambik konnte seine Schulden nicht bezahlen.
Die DDR, selbst schwer an Devisenmangel leidend, nahm hin, dass
einbehaltene Gehaltsteile der jungen Leute, die später bei Heimkehr
ausgezahlt werden sollten, von der Regierung Mosambiks zur
Schuldenzahlung umfunktioniert wurden. Und die Heimkehrer fanden die
erhofften Industriejobs nicht vor. Eine dämonische Kausalkette, hinter
der die solidarische Grundhaltung beim Abschluss der Verträge
verschwand. Seit Jahren nutzen die immer gleichen Leute die Lüge von der
miserablen Behandlung der mosambikanischen Kolleginnen und Kollegen aus
einem einzigen Grund: der DDR Rassismus vorzuwerfen.
*Neuer Umbruch – besser ohne Märchen
*Die Migration der 50er- und 60er-Jahre in die Bundesrepublik endete mit
der „Modernisierungskrise von 1974/75“, ihr Auslöser lag in der Ölkrise
von 1973. Ein umfassender Strukturwandel setzte ein – begleitet von
sinkendem Wachstum, steigender Inflation, Massenarbeitslosigkeit,
gesellschaftlicher Unruhe, RAF-Terror. Zugleich zeigten sich Ergebnisse
der Brandtschen Entspannungs- und Demokratisierungspolitik.
Der Strukturwandel führte zur Abwanderung von Schwerindustrie und
Massenproduktion in Billiglohnländer. Technikeinsatz in der
Landwirtschaft reduzierte die Zahl der Beschäftigten, in der Industrie
erwies sich Ingenieurswissen als Weg zu konkurrenzfähigen
Spitzenprodukten als erfolgreich, der Dienstleistungssektor wuchs.
Kanzler Helmut Schmidt setzte auf Haushaltsdisziplin bei gleichzeitiger
Investitionsförderung, die zunehmende Kooperation in Europa eröffnete
neue Möglichkeiten.
Gegenwärtig steckt Deutschland in einer Modernisierungskrise, die um ein
Vielfaches komplexer ist als die damalige. Ohne sich von lieb gewordenen
Legenden zu verabschieden, den alten und neuen Wahrheiten ins Auge zu
blicken, wird sich der Ausweg schwerlich finden.
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.