GeopolitikWenn Deutschland keine Führungsmacht sein kann – taugt es als Mittelmacht?
Die Fähigkeit Deutschlands, über die eigene Wirtschaftsmacht Einfluss auf die Weltordnung zu nehmen, nimmt ab. Dabei wäre insbesondere ein Kanal der geopolitischen Einflussnahme wie zugeschnitten auf die Bundesrepublik.
Bild: Christine Roy via Unsplash
Viele Beobachter aus Wissenschaft und Politik konstatieren, dass Deutschland zunehmend seine Gestaltungsfähigkeit insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent verliert. Zu plan- und strategielos sei das Verhalten der politischen Eliten, um der Interessenspolitik insbesondere der erweiterten BRICS-Länder etwas entgegenhalten zu können. Es fehle an einer realistischen Selbsteinschätzung Deutschlands im internationalen Kontext, an einer offenen internen Debatte, an politischen und wirtschaftlichen Konzepten und an der Bereitschaft, den eigenen Bedeutungsverlust zur Kenntnis zu nehmen. Entsprechend orientierungslos nicht nur das aktuelle Auftreten der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik, sondern auch der wirtschaftlichen Leistung auf dem afrikanischen Kontinent.
Dabei drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt einen wesentlichen Unterschied machen würde, wenn in Deutschland plötzlich über Nacht Dialogbereitschaft, Selbsterkenntnis und Wille auf der politischen Entscheidungsebene vorhanden wären. Das betrifft nicht nur das Wirken in Afrika. Die Frage ist: Gibt es kurz- und mittelfristige Spielräume, einen signifikanten Einfluss auf die globale Ordnung zu nehmen? Wie steht es um die militärische und wirtschaftliche Macht Deutschlands, und welche Wirkung kann von einem wertegeleiteten Dialog ausgehen?
Auf der Ebene von militärischer „hard power“ ist das Thema schnell beendet. Es war für große Teile vor allem der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte im internationalen Austausch verständlich, nicht auf militärische Stärke zu setzen. Das fällt dem Land heute etwas auf die Füße. Die Zeitenwende, die Bundeskanzler Scholz angekündigt hat, und die Äußerungen des aktuellen Bundesverteidigungsministers Pistorius verschweigen nicht, dass es noch eine lange Zeit dauern wird, bis die deutschen Streitkräfte präpariert sind für das „great power play“ in der Welt. In absehbarer Perspektive reicht es weder für eine ernsthafte Verteidigung des Landes noch für mehr als eine rein symbolische Präsenz in den Konfliktregionen der Welt. Gegenwärtig müssen die NATO-Staaten für die militärische Schwäche Deutschlands in die Bresche springen, vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich.
Zum Glück werden die zentralen Parameter der Weltordnung nicht allein militärisch entschieden. Wichtiger noch sind Themen, die auf leiseren Sohlen kommen: vor allem die Regulierungen des Cyberspace, der Finanzmärkte und der Unternehmensführung. Wer auf der Weltbühne mitgestalten will – ob in Afrika oder dem Rest der Welt – muss auf diesen Feldern an der Spitze der Bewegung agieren. Zum Thema Cybersecurity kann die Lösung nur auf europäischer Ebene liegen, und hier gibt es einige Fortschritte zu verzeichnen.
Wie Wirtschaftsgeschichte neu geschrieben wird
Mit Blick auf die Fähigkeit, über die eigene Wirtschaftsmacht Einfluss auf die Weltordnung zu nehmen, fällt die Tendenz weniger positiv aus. Dabei spielt nicht allein die noch immer beachtliche Höhe des Bruttoinlandsprodukts eine Rolle. Entscheidend ist hier auch die Kompetenz, über wirtschafts- und finanzpolitische Instrumente die eigene strategisch relevante Industrie zu fördern und technische und regulative Normsetzungen auf den globalen Märkten zu beeinflussen. Über viele Jahre hinweg waren diese Gestaltungsfähigkeiten ein Markenzeichen Deutschlands, heute muss eher ein Fragezeichen dahinter gestellt werden.
Auch wenn es nicht der einzige Indikator für Wirtschaftsmacht ist: Der schwindende Einfluss auf die globalen Investitionsströme ist von hoher Relevanz und zeigt, wie sehr Deutschland einer aktuellen Entwicklung hinterherläuft. Wie es anders gehen kann, machen uns nicht nur die großen Führungsmächte USA und China vor, sondern auch Mittelmächte wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Singapur, Katar oder Korea. Jedes dieser Länder nutzt seinen akkumulierten Reichtum für eine strategische Positionierung im geopolitischen Raum. Ein besonders wichtiger Hebel geht über staatliche Investmentfonds, die zwar wie normale Akteure auf globalen Märkten erscheinen, aber in erster Linie den nationalen Interessen bzw. den Interessen der politischen Führung dienen.
China ist in dieser Hinsicht wieder einmal der entscheidende Innovator. Statt Überschüsse in der Handelsbilanz als bloße Währungsreserven zu horten, wurden diese Reserven schleichend und außerhalb der Fachszene erstaunlich unbemerkt in strategische Investmentfonds überführt. Ende 2022 hat China über 2.800 Milliarden Dollar in staatlichen Investmentfonds verfügt – das sind ungefähr sechs komplette Jahresetats des deutschen Bundeshaushalts. Hinzu kommen Währungsreserven in Höhe von etwa 3.200 Milliarden Euro, die bei Bedarf zumindest partiell in Investmentfonds konvertiert werden können. Was zeichnet diese Fonds aus?
- Sie sind staatlich entstanden, staatlich kapitalisiert, personell über staatliche Kanäle kontrolliert und dienen der staatlichen bzw. der parteilichen Agenda.
- Sie sind nicht (oder nur zu einem kleinen Teil) durch den Besitz an natürlichen Rohstoffen (anders als etwa im Fall des Staatsfonds in Norwegen) oder standardisierten Investitions- und Konsumgütern abgesichert. Es ist eher als ein Risikoeinsatz zu verstehen, mit dem China die Mitgestaltung der künftigen Weltordnung sicherstellen will.
- Sie verfolgen zwei Ziele: erstens die strategisch relevante heimische Industrie zu fördern und zugleich zu schützen, sowie zweitens die Einflussnahme auf internationale Märkte zu beschleunigen, indem Unternehmensaufkäufe oder Unternehmensbeteiligungen kapitalisiert werden und neue globale Institutionen wie die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), der Silk Road Fund zur Finanzierung der Belt and Road Initiative (BRI) oder die Ent-Dollarisierung der Weltwirtschaft ermöglicht werden.
Man kann durchaus sagen, dass mit diesen Investmentfonds Wirtschaftsgeschichte neu geschrieben wird. Neu an diesen Fonds ist nämlich, dass sie ihre Einflussnahme in Afrika und anderen Regionen nicht über direkte staatliche Interventionen oder staatlichen Protektionismus ausüben, sondern über Unternehmensbeteiligungen und equity rights, die vollständig im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung stattfinden. Chinas Fonds verändern die Anreizstrukturen für Investitionen auf globalen Märkten. Sie sind „market makers and market shapers“, ganz ohne militärischen Zwang. Keine europäische – und ganz bestimmt keine deutsche – Industriepolitik kann hier auch nur annähernd mithalten.
Dabei wäre dieser Kanal der geopolitischen Einflussnahme wie zugeschnitten auf Deutschland. Kein Land hat über seinen Handel mehr von der europäischen Währungsunion profitiert und hätte die Chance gehabt, seine Bilanzüberschüsse strategisch einzusetzen. Dennoch muss man in der Liste der weltweit größten Staatsfonds bis auf Platz 41 gehen, bevor der einzige deutsche Kandidat auftaucht. Dabei handelt es sich um den „Fonds zur Finanzierung kerntechnischer Entsorgung“ (Kenfo), also eine zweckgebundene Rücklage, die nicht für strategische Zwecke vorgesehen ist. Versuche und Ankündigungen zum Aufbau strategischer Fonds gab es durchaus. So etwa die vom damaligen Wirtschaftsminister Altmaier verkündete „KI-Strategie“ (32 Milliarden Euro) oder die Initiative zur Förderung von Sprunginnovationen. Nur ist außer der Gründung von Arbeitsgruppen seither nicht viel passiert – und zur systematischen Platzierung deutscher Interessen wäre sie von vornherein zu schwach ausgestattet gewesen.
Staatliche Investmentfonds sind eine wichtige Option für Mittelmächte, die (wie Deutschland) keine bedeutenden Einnahmen aus natürlichen Ressourcen aufweisen. Singapur zum Beispiel hat es geschafft, Fonds aufzubauen und sie strategisch einzusetzen. Das läuft etwas anders als in China, aber das Prinzip ist ähnlich: Erhöhe die Einflussnahme durch eine Investitionsstrategie. Wer in Asien Geschäft machen will, kommt an Singapur schwer vorbei. Zugleich agiert das kleine Land je nach Eigeninteressen mal auf der Seite Chinas, mal auf der Seite der USA. Singapur ist eine Mittelmacht mit eigenen Interessen, die die großen Führungsmächte in Konfliktfällen auch moderieren und damit die schlimmsten Szenarien verhindern kann. Deutschland hat ein solches Profil als Mittelmacht bislang nicht gezeigt.
Der erhobene Zeigefinger allein überzeugt niemanden
Vor diesem Hintergrund wirkt die deutsche außenpolitische Haltung durch das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium wie aus der Zeit gefallen. Eine wertegeleitete Politik kann man mit guten Gründen vertreten, aber sie ist hilflos, wenn sie nicht durch konkrete Angebote an militärischen oder wirtschaftlichen Investitionen unterfüttert wird. Der erhobene Zeigefinger allein kann niemanden überzeugen. Mit etwas Glück trifft man bei den vielen Auslandsreisen auf Partner, die das einfach ignorieren. In anderen Fällen führt es zu Zerwürfnissen mit den Ländern des globalen Südens, die zunehmend die kalte Schulter zeigen. Deutschland hat von sich aus in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) die Kooperation mit einigen Ländern aufgekündigt, weil nach eigenem Verständnis die Werte nicht stimmen (wie in Niger). Oder man wird einfach herausgeworfen (wie in der Sahel-Zone). Eine traurige Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Deutschland über seine weltweiten Büros des EZ-Vorfelds von Ministerien einen Sonderstatus, Netzwerke und viel Vertrauen aufgebaut hat.
Deutschland möchte sich gerne als Führungskraft verstehen, aber es scheitert bereits an wesentlichen Kriterien einer Mittelmacht. Die genannten staatlichen Investmentfonds sind nur ein Beispiel dafür, wie weit man davon entfernt ist, die Neuordnung der Welt mitgestalten zu können – weder in Afrika noch in Asien oder Lateinamerika. Die von vielen Wissenschaftlern konstatierte politische Bewegungslosigkeit ist tatsächlich alarmierend. Die Bundesregierung tut sich schwer damit, dass die multilateralen Bretton Woods-Einrichtungen der Nachkriegszeit (Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Welthandelsorganisation usw.) grundlegend an die neue Realität angepasst werden müssen. Und dass ohne eine moderne, geopolitisch ausgerichtete Industriepolitik im Verbund mit den europäischen Nachbarländern der gegenwärtige Wohlstand nicht aufrecht zu erhalten ist.
Zum Autor:
Thomas Bonschab ist Gründer und Managing Director des Thinktank TiNC International. Zudem betreibt er gemeinsam mit Robert Kappel den Blog Weltneuvermessung, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.
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