deutschlandfunk.de, vom 25.11.2020, Erstsendung am 1. Mai 2019, Von Klaus Englert
Der Soziologe Max Weber reist 1904 nach Amerika und studiert die protestantischen Sekten und ihren wirtschaftlichen Erfolg. Seine Beobachtungen fasst er in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ zusammen. Die religiösen Hintergründe sind heute verblasst – aktuell sind Webers Thesen noch immer.
Zitat: Legendär sind die Amerikareisen deutschsprachiger Wissenschaftler um 1900. Viele glichen Missionierungsversuchen mit Hilfe des europäischen Geistes. Auch Sigmund Freud, der 1909 zusammen mit Carl Gustav Jung und Sándor Ferenczi zu Vorträgen in die Vereinigten Staaten geladen wurde, hatte die Einladung gerne angenommen. Der Wiener Psychoanalytiker war bestrebt, die von ihm begründete Psychoanalyse auch in der Neuen Welt zu verankern.
Ähnlich verhält es sich mit dem Nationalökonomen und Soziologen Max Weber. Er reist 1904 zu einem internationalen Kongress nach St. Louis, jener Stadt im Bundesstaat Missouri, die damals die Weltausstellung ausrichtet. Der Kongress in St. Louis soll am 21. September beginnen.
Auf den Spuren puritanischer Sekten in Amerika
Max Weber verlässt frühzeitig Heidelberg und macht sich am 20. August von Bremerhaven aus mit dem Passagierschiff „Bremen“ auf den Weg über den Atlantik, begleitet von seiner Frau Marianne und dem befreundeten Theologen Ernst Troeltsch. Zehn Tage später legen sie in New York an und steigen dort in die Dampflok der North Central Railway ein, die sie tief hinein in den amerikanischen Kontinent bringt.
Nach dreiwöchiger Zugreise erreichen sie St. Louis, wo Weber schließlich vor einem erlesenen deutschkundigen Fachpublikum in seiner Muttersprache über „Kapitalismus und Agrarverfassung“ referiert. Der Historiker Gangolf Hübinger erzählt, dass Weber keineswegs nur wegen des Vortrags ins weit entfernte St. Louis reist. Sein eigentliches Interesse gilt dem Einwanderungsland Amerika. Er will erforschen, wie sich die „protestantische Ethik“ der Immigranten auf den „Geist des Kapitalismus“ ausgewirkt hat:
„Die Reise war sehr wichtig. Weber hat ein fertiges Bild von Religion, Wirtschaftsgesinnung, Wirtschaftsethik, Sekten und Kirchen schon mitgebracht in die USA. Und er hat mit diesem Bild sich besonders intensiv die amerikanischen Sekten angeschaut. Er ist quer durch das Land gereist. Der Anlass war 1904 ein wissenschaftlicher Weltkongress in St. Louis. Weber hat im Anschluss seine große, dreimonatige Amerikareise durchgeführt und die hat ihn mit allen Sekten in Verbindung gebracht. Und er hat seine Thesen der puritanischen Sekten und ihrer besonderen Wirtschaftsgesinnung – er hat sie bestätigt gefunden“, so Gangolf Hübinger.
Bild/Foto: Professor Gangolf Hübinger lehrt an der Europa- Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) (Heide Fest)
Max Weber sucht besonders in den Staaten des Mittleren Westens die verschiedensten protestantischen Sekten auf, um ihre Gemeinsamkeiten herauszufinden: die Calvinisten und Pietisten, die Methodisten und Quäker.
Geheimes Band zwischen Glauben und wirtschaftlichem Erfolg
Nach der Rückkehr von der Amerikareise ruht sich der Heidelberger Privatdozent keineswegs aus. Bereits Ende 1904 publiziert er im „Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik“ die Ergebnisse seiner umfangreichen Forschungen. Die in zwei Teilen veröffentlichte Studie gilt seither als Meilenstein in der Geschichte der Soziologie. Ihr Name: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.
Weber glaubt, bei diesen Sekten das geheime Band zwischen religiösem Glauben und wirtschaftlichem Erfolg aufdecken zu können, jene Verbindung, die im europäischen Goldenen Zeitalter dazu führte, dass ausgerechnet die protestantischen Städte die reichsten wurden. Der Düsseldorfer Philosoph Dieter Birnbacher stützt Webers These:
„Wir wissen ja, dass in den Niederlanden im 17. Jahrhundert ein ganz erhebliches Zeitalter des Wohlstands und Aufblühens eingetreten war durch die Kolonisierung, durch den Handel, durch die Schifffahrt. Die ländlichen Gebiete von Belgien, die katholisch waren infolge der spanischen Herrschaft, die sind tatsächlich auch heute noch etwas rückständig gegenüber den protestantischen flämischen Gebieten.“
Ökonomische Kluft zwischen katholischen und protestantischen Gebieten
Die von Dieter Birnbacher festgestellte ökonomische Kluft zwischen katholischen und protestantischen Gebieten wurde alsbald nach der Reformation spürbar. Max Weber schreibt dazu:
Die Protestanten […] haben eine spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus gezeigt, welche bei den Katholiken […] nicht zu beobachten ist. […] Für die englischen, holländischen und amerikanischen Puritaner war das gerade Gegenteil von „Weltfreude“ charakteristisch. […] Der französische Protestantismus, hat den Charakter, der den calvinistischen Kirchen […] aufgeprägt wurde […] bis heute bewahrt. Er ist […] einer der wichtigsten Träger der gewerblichen und kapitalistischen Entwicklung Frankreichs.
(Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus? S. 23-25.)
Bevor Max Weber die Amerikareise antritt, hat er ausführlich die Lage der reformierten Gläubigen in Europa und in der Neuen Welt studiert.
Die Quelle ihres wirtschaftlichen Erfolgs kann er bei fast allen protestantischen Sekten in Amerika ausfindig machen: Es ist eine enge Verbindung zwischen intensiver Frömmigkeit und – wie Weber sagt – „virtuosem kapitalistischem Geschäftssinn“.
Gangolf Hübinger, der an der Viadrina Universität im brandenburgischen Frankfurt lehrt, geht dieser Verbindung auf den Grund: „Das Stichwort ist asketische Lebensführung: Dass es in der Tradition der calvinistischen europäischen Sekten und der Art wie sie sich vor allem in Holland, in England und dann exportiert in die USA entwickelt haben, wie sich dort eine bestimmte Art der asketischen Lebensführung, der religiösen Gesinnung, des wirtschaftlichen Verhaltens und einer bestimmten Berufsethik entwickelt haben. Das sind für ihn Merkmale, die findet er sowohl in Europa als auch in Amerika.“
Religion und Rationalität
Max Weber hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich in der Religionssoziologie neue Begriffe durchsetzten. Es sind Begriffe, die vor ihm selbst im theologischen Diskurs keinerlei Rolle spielten.
Deswegen überrascht es, dass plötzlich Weber über „Rationalität“ und „Zweckrationalität“ schreibt, die für das religiöse Leben der Protestanten einen derart zentralen Stellenwert einnehmen.
Dabei gilt der Glaube gemeinhin als etwas höchst Irrationales, etwas nicht mit der Vernunft Ebenbürtiges. Seit der Philosophie Platons ist der Glaube auf einer unteren geistigen Stufe angesiedelt.
Platon urteilt, er sei für den philosophischen Diskurs ungeeignet, weil er uns von der Wahrheit entfernt. Und selbst der protestantische Philosoph Søren Kierkegaard behauptete noch im 19. Jahrhundert: „Credo quia absurdum“, „ich glaube, weil es widersinnig ist.“ Kierkegaard hob immer wieder das Irrationale und Paradoxe des Glaubens hervor.
Mit dieser philosophischen Tradition ist die Rationalität der calvinistischen Religion schwerlich in Einklang zu bringen. Für die Calvinisten sind Innerlichkeit und Weltlichkeit, Glauben und wirtschaftliches Handeln eng verknüpft: Zweckrationales Handeln steht bei ihnen an oberster Stelle.
Asketisch und sparsam
„Was für den Nicht-Gläubigen irrational aussieht, ist für den Gläubigen hochrational: Er hält sich rational zu seinem Bedürfnis, von der Welt erlöst zu werden und das Heil zu erlangen. Dabei helfen ihm die Theologen, Prediger und Erbauungsbücher. Und im Streben nach Heil verhält er sich auf eine Weise rational, was für wirtschaftliches Verhalten interessant wird. Also er führt nie ein Leben nach ökonomischer Gesinnung, sondern immer nach religiösen Werten. Aber diese Art nach religiösen Werten zu leben, etwa das erworbene Geld nicht für Luxus auszugeben, für seine persönlichen Bedürfnisse, sondern asketisch sparsam zu leben, bedeutet, dass Geld anwächst und das wird investiert. So herum entsteht dann wirtschaftliches Verhalten, aber als unbeabsichtigte Folge des Erlösungsstrebens“, sagt Gangolf Hübinger.
Zweckrationales Handeln bei Calvinisten und Puritanern heißt: Religiöses und wirtschaftliches Handeln sind gleichermaßen vom Erfolgsstreben bestimmt, erläutert Hübinger weiter: „Puritaner wollen ablesen können am wirtschaftlichen Erfolg, auf welcher Stufe des Heils sie stehen. Während ein Katholik sich ganz anders verhält. Er tut gute Werke: Er spendet, er opfert, er gibt den Zehnten.“
Bild/Foto: Johannes Calvin (1509 bis 1564), Reformer und Begründer des Calvinismus. Stahlstich, ca. 1860. (imago / imagebroker)
Das wirtschaftliche Wohlergehen der Gläubigen speist sich aus ihrer protestantischen Gesinnung. Weber spricht in der Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ sogar vom „Leitmotiv des Kapitalismus“. Er schreibt unumwunden:
Das „summum bonum“ dieser Ethik lautet: der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens.
(Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 35.)
„Erfolg als Ausweiß göttlicher Erwählung“
Max Weber schließt aus dieser Beobachtung:
[…] Die alte behäbige und behagliche Lebenshaltung wich harter Nüchternheit, bei denen, die mitmachten und hochkamen, weil sie nicht verbrauchen, sondern erwerben wollten.
(Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 52.)
Dieter Birnbacher verdeutlicht, warum die Calvinisten so unerschütterlich an ihrem Erfolgsmodell festhalten und warum Weber deswegen von den „stahlharten puritanischen Kaufleuten“ spricht:
Bild/Foto: Professor Dieter Birnbacher (Dörthe Boxberg) „In diesem Punkt kann man sagen, ist der Calvinismus ganz besonders weltzugewandt, indem er keine Bedenken hat, wirtschaftlichen Erfolg anzustreben, der gewissermaßen geheiligt wird durch die Prädestinationslehre als ein Ausweis göttlicher Erwählung, während in vielen anderen Religionen der wirtschaftliche Erfolg eher mit Skepsis gesehen wird.“
Für den Calvinisten gibt es keine persönliche Hinwendung zum christlichen Glauben, keine hoffnungsvolle Vertiefung in die Heiligen Schrift. Er strebt kein Leben in und für den Glauben an, er sieht sich nicht als demütigen Sünder, der auf Gnade hoffen kann.
Schließlich weiß er nichts von einem höchsten religiösen Erlebnis, einer unio mystica mit Gott. Das ist der Glaubensweg des lutheranischen Christen, nicht aber des Calvinisten.
Glaube an Vorherbestimmung
Ganz im Gegenteil, für den Calvinisten ist der persönliche Lebensweg vorherbestimmt durch Gottes weisen Ratschluss. Und dieser Ratschluss ist durch den eigenen Willen nicht zu beeinflussen. Dazu Dieter Birnbacher:
„Das ist rational gesehen absurd. Entweder ich bin fatalistisch dazu gezwungen zu sagen, alles ist vorherbestimmt, was ich in meinem Leben erreiche – ich kann mich anstrengen oder nicht anstrengen –, oder ich gestehe zu, dass ich die Freiheit habe, mein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Und da ist die metaphysische Frage, ob Gott das vorhergesehen und vorausgefügt hat.“
Der Soziologe Dirk Kaesler, der vor einigen Jahren eine umfangreiche Max Weber-Biographie veröffentlicht hat, fügt hinzu, dass die Prädestinationslehre dem Gläubigen keinerlei Gewissheit gibt, keine Garantie, einmal die Früchte seines Erfolgs genießen zu können. Selbst wenn der „Unternehmer neuen Stils“ eine – wie Weber sagt – „unendlich viel intensivere Arbeitsleistung“ erbringt als frühere Unternehmergenerationen:
Zweifel ist nicht vorgesehen
Kaesler sagt: „Wer alles so etwas getan hat, hat alles andere als eine Garantie, dass er in den Himmel kommt. Es kann sogar sein, dass es sich nicht einmal gelohnt hat, ein solch asketisches, freudloses Leben geführt zu haben. Denn Max Weber betont, in Referenz auf den Calvinismus, dass diese Lebensführung vielleicht ein Hinweis darauf ist, dass es Gott mit mir so gut meint, dass ich in den Himmel komme – aber es ist nur ein Hinweis, es ist keine Garantie.‘“
Für den Calvinisten ist der Zweifel nicht vorgesehen. Denn wer zweifelt, der ist nicht fest in seinem Glauben verankert. Es fehlt ihm an Selbstgewißheit. Der, der zweifelt, rüttelt an seiner von Gott gegebenen Auserwähltheit. Das alles lässt den gläubigen Calvinisten an die „Anfechtungen des Teufels“ denken.
Von diesen „Anfechtungen des Teufels“ waren die puritanischen Sekten in Amerika offenbar geheilt. Und so trifft Max Weber während seiner Amerikareise, die ihn durch zehn Bundesstaaten führt, auf Protestanten, die in ihrer Religion nicht zweifeln und unerschütterlich an ihrer beruflichen Mission festhalten. Es waren Menschen, die in ihrem religiösen und beruflichen Handeln streng zweckorientiert sind. Und die sich unablässig einer systematischen Selbstkontrolle unterziehen. Dieter Birnbacher erläutert, wie sich diese Praxis auf andere Lebensbereiche auswirkt:
„Der Pietismus hat einen großen Einfluss gehabt auch auf die romantische Brief- und Tagebuchkultur. Also die Verinnerlichung, die Selbstprüfung, die Zurückwendung der eigenen Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühls- und Gemütszustände war von enormer Bedeutung für die deutsche Kultur und zeigt sich in vielen Briefromanen und romantischen Erzeugnissen der Literatur.“
Bild/Foto: Porträt des Soziologen und Nationalökonomen Max Weber (1864 – 1920) (imago / Leemage)
Max Weber, der gerne als mahnende Stimme in kriegerischen Zeiten und als Kritiker von demokratischen Defiziten im Kaiserreich auftritt, entdeckt in den Vereinigten Staaten eine Art urdemokratische Graswurzelbewegung. Sie ist damals ein Leitbild für die amerikanische Demokratie. Wenn Weber über diese kleinen Gemeinschaften spricht, scheint er den „Geist des Kapitalismus“, der aus ihnen entsprang, zu vergessen:
„Weber kommt ganz begeistert aus den USA zurück. Er hält sich in der Öffentlichkeit sehr zurück. Er ist ja Privatgelehrter. Er war ja schwer krank, psychosomatisch, er hat seinen Lehrstuhl aufgegeben. Aber er fängt wieder an, Vorträge zu halten und sich an Diskussionen zu beteiligen. Und er berichtet über seine amerikanischen Erfahrungen, wie diese Sekten demokratisch wirken. Sie sind ein freiheitliches Gefüge von Vereinigungen, leben nach ihren Prinzipien. Das Stichwort, das er gibt, ist: ‚Sie sind kein Sandhaufen.’ Sondern sie sind lebhafte, selbstbestimmte Gemeinschaften, die über ihre Lebensform frei bestimmen“, erzählt Gangolf Hübinger.
Eine ideelle Erklärung des Kapitalismus
Von seinen Amerika-Erfahrungen berichtet Weber auch in seinem legendären Gesprächszirkel, der regelmäßig im Salon des Heidelberger Wohnhauses stattfindet. Zu diesem jour fixe, der von Webers Frau Marianne organisiert wird, kommt nahezu die gesamte geistige Elite des Landes – Ernst Troeltsch, Karl Jaspers, Georg Simmel, Theodor Heuss, Georg Lukács und Ernst Bloch.
Den Marxisten unter den Zuhörern dürfte nicht entgangen sein, dass der Heidelberger Nationalökonom ein lebhaftes Interesse an Karl Marx bekundet. Das zeigt bereits der berühmte Titel „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.
Bild/Foto: Die Bibliothek der Universität Heidelberg (picture alliance / dpa / Ronald Wittek)
Weber will keineswegs Karl Marx überwinden, er denkt vielmehr, eine rein ökonomisch-materialistische Analyse des Kapitalismus sei unzureichend. Es fehle – so denkt er – eine ideelle Erklärung des Kapitalismus. Eine Aufdeckung der geistigen und religiösen Verhaltensweisen, die in die kapitalistische Wirtschaftsform führten. Dazu Hübinger:
„Weber wollte Marx positiv überwinden. Bei Karl Marx ist Religion ein Reflex, bedingt durch die Ökonomie. Und Weber erweitert die Fragestellung. Er fragt nicht nur, wie ist Religion durch die Ökonomie bedingt, sondern auch: Wie wird Religion für die Ökonomie relevant. Diese Methodik des Denkens, die ist bis heute faszinierend, die ist aktuell, die wird in der Forschung angewandt.“
„Zeitvergeudung ist die schwerste aller Sünden“
Die geistigen Grundlagen des Kapitalismus erscheinen dem Heidelberger Nationalökonomen als geradezu unüberwindlich: „Er hat den Kapitalismus als eine Schicksalsmacht der Moderne erklärt bis – eine berühmte Formulierung aus der ‚Protestantischen Ethik‘ –‚ ‚der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist’.“
Dieser geistige Antrieb ist ungebrochen, im mittlerweile globalen Kapitalismus besteht er auf unabsehbare Weise fort. Dieser Antrieb ist aber nur dann wirksam, wenn – wie Max Weber schreibt – der Gläubige beständig gegen die Gefahren kämpft, die seine sittsame Lebensführung bedrohen:
Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuss des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust. […] Und nur weil der Besitz die Gefahr dieses Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich. […] Nicht Muße und Genuss, sondern nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhmes. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden.
(Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 166-7.)
USA: Einfluss der Sekten noch beträchtlich
Die Religion der Calvinisten, Pietisten, Methodisten und Baptisten ist heute nicht mehr deutlich am ökonomischen Handeln ablesbar, da sich die Wirtschaftsprozesse zunehmend verselbständigt haben.
Global gesehen verläuft diese Entwicklung jedoch keineswegs einheitlich. Auf dem amerikanischen Kontinent, besonders in den Vereinigten Staaten und in Brasilien, ist der öffentliche Einfluss der Sekten noch beträchtlich.
In den europäischen Herkunftsländern ist davon nicht mehr viel zu spüren. Je mehr die religiösen Ursprünge und die protestantische Ethik verblassen, desto stärker und erfolgreicher entwickelt sich der Geist des Kapitalismus. Dazu Gangolf Hübinger:
„Die Londoner Bürger haben plötzlich gesehen, dass in diesen Sekten besonders rege und erfolgreich gewirtschaftet wird und das hat sich übertragen. Sie haben diese Lebensweise dann für sich übernommen, ohne religiös sein zu müssen. Und daraus ist dann die City of London und der Finanzkapitalismus entstanden.“
„Die Entzauberung der Welt“
Max Weber spricht in seinem Münchner Vortrag „Die Wissenschaft als Beruf“ von den „geheimnisvollen unberechenbaren Mächten“, die die Menschen früherer Zeiten in den Bann zogen. Von diesen magischen Mächten gelte es im techno-kapitalistischen Zeitalter Abschied zu nehmen. Diesen Prozess beschreibt er als die „Entzauberung der Welt“.
Friedrich Nietzsche sprach einige Jahre zuvor von der verdunkelten Welt, die uns das Ende des christlichen Mysterienkults hinterlassen hat. Das war die Botschaft des „tollen Menschen“, der den verblendeten Zeitgenossen am hellen Vormittag eine Laterne anzündete. Doch sie weigerten sich, zu sehen.
Die heutige Glasfiberwelt aus Datennetzen hat jeden Zauber verloren. Das einzig Mysteriöse hinter den glatten Benutzeroberflächen sind allenfalls die Algorithmen. Die digitalisierte Welt schickt sich an, selbst die letzten Restbestände des Religiösen zu säkularisieren.
Max Weber hätte die globale Digitalisierung von heute mit fatalistischer Faszination beobachtet – und sich dabei an seine eigene Diagnose erinnert: In einem rationalen Betriebskapitalismus lassen sich nur schwerlich die Sakramente feiern.
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- Max Weber Großer Intellektueller mit vielen kritischen Seiten
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