aus e-mail von Doris Pumphrey, 17. August, 8:17 Uhr
_DEUTSCHE WIRTSCHAFTSNACHRICHTEN 16.8.2022_
*Neue Weltordnung: Platzt die transatlantische Illusionsblase?*
https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/521362/Neue-Weltordnung-Platzt-die-transatlantische-Illusionsblase?src=rec-newsboxes
Dr. Josef Braml, Bestsellerautor und Berater weltweit führender Think
Tanks gibt im Interview mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten einen
tiefen Einblick in die sich wandelnden politischen Kräfteverhältnisse.
Moritz Enders
Dr. Josef Braml ist Generalsekretär der Deutschen Gruppe der
Trilateralen Kommission. In den letzten zwanzig Jahren war er Berater
weltweit führender Think Tanks wie dem Aspen Institute oder der
Brookings Institution sowie der Weltbank. Im US-Abgeordnetenhaus war er
als legislativer Berater tätig. Aktuelle Analysen veröffentlicht er
unter anderem auch über seinen Blog „usaexperte.com“. Im Interview mit
den DWN mahnt der Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen
Kommission und Autor des Spiegel-Bestsellers „Die Transatlantische
Illusion“ die EU-Länder zu mehr Geschlossenheit und Eigenständigkeit.
Andernfalls würden sie zwischen den USA und China zerrieben.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:* /Ist die „Transatlantische
Illusionsblase“ geplatzt?/
*Josef Braml: *Noch nicht, aber je früher sie platzt desto besser. Es
hilft niemandem, von einer transatlantischen Harmonie zu träumen, die es
längst nicht mehr gibt. Zu Zeiten des Kalten Krieges mit seinen klaren
Fronten und starren Bündnissystemen war das noch anders. Doch mit dem
Fall der Berliner Mauer sind die Dinge in Bewegung geraten. Die USA
richten ihr Augenmerk nun vermehrt auf China und betrachten das Reich
der Mitte inzwischen als größeren Rivalen als Russland. Um Russland
sollen sich, geht es nach den USA, die Europäer kümmern. Die sollen die
Russen in Schach halten, damit die USA ihre zunehmend knapper werdenden
Ressourcen nutzen können, um sich die Chinesen zur Brust zu nehmen. Es
geht also, wenn Sie so wollen, um Arbeitsteilung. Doch damit ist
zunächst und vor allem den – vermeintlichen – amerikanischen Interessen
gedient, keineswegs hingegen denen der EU. Die EU kann sich eine
Eskalation des Konfliktes mit Russland, und schon gar nicht mit China,
allein aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten. Folgen wir den
erratischen amerikanischen Vorgaben, ruinieren wir uns selbst. Es ist
also an der Zeit, dass die EU eine eigenständige Politik betreibt und
eigene Interessen verfolgt, um in der sich abzeichnenden multipolaren
Weltordnung ihren Platz einnehmen zu können. Tut sie dies nicht, wird
sie zwischen Washington und Peking zerrieben werden und könnte –
zumindest in ihrer jetzigen Form – nicht mehr lange überleben.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:* /Aber geht es bei den Konflikten mit
Russland und China nicht auch um die Verteidigung der „westlichen Werte“?/
*Josef Braml:* Nein. Es geht um Interessenpolitik. Die Wertediskussion
führen wir, weil wir unsere Interessen dahinter verstecken können. Auch
Europa wäre gut beraten, seine eigenen Interessen zu definieren – und
sie auch offen zu kommunizieren. Die Aufgabe der Diplomatie ist es dann,
die eigenen Interessen mit denjenigen von Konkurrenten oder Kontrahenten
auszubalancieren, ohne dass es zu Verwerfungen beziehungsweise zum Krieg
kommt. In Deutschland neigen wir in der Politik zum Moralisieren und
Romantisieren. Das verhindert einen nüchternen Blick auf das
Weltgeschehen. Wir verkennen, dass die USA ihre eigenen Interessen
rücksichtlos durchsetzen, und zwar gegen Feind und Freund. Mittlerweile
sollte deutlich geworden sein, dass die Interessen der EU und der USA
schon längst nicht mehr deckungsgleich sind. Ob wir es mögen oder nicht:
Die USA haben sich schon seit Längerem von Europa ab- und nach Asien
hingewendet. Und das erfordert eine eigenständige, von den USA
unabhängigere europäische Position.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:*/Aber im Ukraine-Krieg wird doch
wieder das transatlantische Bündnis beschworen?/
*Josef Braml:* Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkt
der Westen zwar geschlossen wie lange nicht. Doch zu glauben, die USA
würden unsere Interessen wie in der guten alten Zeit des Kalten Krieges
mit vertreten, ist die transatlantische Illusion. Denn die Weltmacht ist
heute innenpolitisch angeschlagen und wird sich außenpolitisch auf die
Auseinandersetzung mit China konzentrieren. Beide Entwicklungen – die
gravierenden inneren Probleme der Weltmacht USA und ihre damit
zusammenhängende außenpolitische Umorientierung – sollten den
Verantwortlichen in Deutschland und Europa gründlich zu denken geben.
Damit ist nicht gemeint, die NATO zu verlassen oder das transatlantische
Bündnis aufzukündigen. Beides wäre in der gegenwärtigen, seit Russlands
Ukraine-Invasion umso unsicheren Lage sicherheitspolitisches Harakiri.
Wohl aber geht es darum, den Weg in Richtung einer von den USA
unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas einzuschlagen, mit dem
langfristigen Ziel eines Bündnisses auf Augenhöhe. Das ist kein
einfacher Weg und auch kein kurzer. Und es ist auch nicht gesagt, dass
wir dafür genügend Zeit bekommen. Denn niemand kann wissen, wann in
Washington erneut jemand wie Trump im Weißen Haus sitzt.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten: */Halten Sie das Zerwürfnis zwischen
dem Westen und Russland für tragisch?/
*Josef Braml:* Es ist sehr bedauerlich, vor allem für die Ukraine, die
den sogenannten Preis für einen unnötigen Stellvertreterkrieg zwischen
den USA und Russland zu zahlen hat, der für geostrategisch geschulte
Köpfe vorhersehbar war. Bereits im Mai 1998, unmittelbar nachdem der
US-Senat die NATO-Erweiterung ratifiziert hatte, kritisierte der damals
94-jährige George Kennan die geostrategische Kurzsichtigkeit, den
„tragischen Fehler“, Russland damit in die Enge zu treiben und eine
künftige Auseinandersetzung zu provozieren. Russland würde, so Amerikas
renommiertester Russland-Experte und Architekt der erfolgreichen
Eindämmung der Sowjetunion, mit scharfsinniger Voraussicht „allmählich
ziemlich negativ reagieren“ und die USA mit einem strategischen Dilemma
konfrontieren: Die Vereinigten Staaten haben sich damit verpflichtet,
eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, obwohl sie laut Kennans
Einschätzung weder über die Mittel noch über die Absicht verfügen, dies
ernsthaft zu tun. Eine zu erwartende aggressive Reaktion Russlands
würden die Befürworter der NATO-Erweiterung dann wohlfeil als
Rechtfertigung für ihre kurzsichtige Entscheidung nehmen, die für die
Eskalation eigentlich den Ausschlag gab. Und genauso, wie Kennan es
vorhersagte, sollte es kommen. Aus guten Gründen durchkreuzten
seinerzeit Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident
Nicolas Sarkozy vorerst die Pläne des damaligen US-Präsidenten, auf dem
NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 auch noch Georgien und die Ukraine
in die NATO aufzunehmen: Diese Entscheidung hätte Russland bis aufs
Äußerste provoziert.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:* /Warum?/
*Josef Braml:* Die russische Führung betrachtet die post-sowjetischen
Staaten als Puffer gegen Sicherheitsbedrohungen von außen. Die an der
Grenze zur NATO liegenden Staaten bilden im strategischen Kalkül Moskaus
einen vorgelagerten Verteidigungsring. Hinzu kommt, dass im Falle eines
NATO-Beitritts Georgiens und der Ukraine inklusive der Krim und
Abchasiens das Schwarze Meer zu einem NATO-Meer würde. Dies erklärt
auch, warum sich Moskau die Kontrolle über die Krim und Abchasien
sicherte. Mit beiden Territorien besitzt der Kreml die Möglichkeit, der
NATO den Zugang zum Schwarzen Meer zu verwehren, ohne sie kann hingegen
die NATO Russland von den Meerengen am Bosporus abschneiden. Die
Sicherheitsinteressen Moskaus sind durch die NATO-Beitrittsperspektiven
für Georgien und die Ukraine also massiv betroffen. Deswegen versteht
den Konflikt auch nicht, wer die geostrategischen Implikationen
ausblendet und sich nur auf rein rechtliche Aspekte beschränkt. Und
einmal umgekehrt gefragt: Würde Washington die freie Bündniswahl
respektieren, wenn Mexiko ein Militärbündnis mit China schlösse? Möglich
ist das natürlich, aber die historischen Erfahrungen mit der
amerikanischen Lateinamerika-Politik legen das nicht unbedingt nahe.
Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch an die Kuba-Krise?
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten: */Wer sitzt heute am längeren Hebel?/
*Josef Braml:* In dem aktuellen Ukraine-Krieg wähnt sich Putin
militärisch am längeren Hebel. Denn die amerikanische Führungsmacht und
ihre NATO-Verbündeten sind erklärtermaßen nicht bereit, das Leben ihrer
Soldaten für die Ukraine zu riskieren. Während Kiews Schicksal die
Sicherheitsinteressen der USA nur peripher tangiert, ist und bleibt die
Ukraine wegen ihrer geografischen Lage an der unmittelbaren Grenze zu
Russland im „vitalen Interesse“ Moskaus. Dagegen sei es „nicht im besten
Interesse Amerikas“, mahnten die Herausgeber der New York Times schon
Mitte Mai dieses Jahres, sich in einen totalen Krieg mit Russland zu
stürzen, selbst wenn ein ausgehandelter Frieden die Ukraine zwingen
könnte, einige schwierige Entscheidungen zu treffen. Mangels Klarheit
bei der Benennung der beabsichtigten Ziele ihres Engagements in der
Ukraine, riskiere die US-Regierung nicht nur, das Interesse der
Amerikaner an der Unterstützung der Ukrainer zu verlieren – die
weiterhin unter dem Verlust von Menschenleben und Lebensgrundlagen
leiden –, sondern gefährde auch den langfristigen Frieden und die
Sicherheit auf dem europäischen Kontinent, lautete die vorausschauende
Warnung der New York Times. Deutschland und Europa sollten künftig
vielmehr eigene größere militärische und diplomatische Anstrengungen
unternehmen, um sich gegen Erpressungsversuche des russischen
Machthabers oder die Launen einer möglichen zweiten Amtszeit des
Putin-Bewunderers Donald Trump zu wappnen. Umso dringlicher ist es für
die Europäer, das „Sicherheitsdilemma“ vor allem im Verhältnis zum
Nachbarn Russland zu verringern. Es ist problematisch, diese Aufgabe an
die USA zu delegieren, da deren aktuelle Herausforderungen, ihre
Geschichte und Geografie andere geopolitische Interessen nahelegen.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten: */Erschwerend kommt hinzu, dass die EU
– und allen voran Deutschland – immer weniger Öl und Gas aus Russland
bezieht und sich damit einer billigen Energiequelle beraubt./
*Josef Braml:* Dass die EU mit dem Boykott russischer Kohlenwasserstoffe
ihre eigene Desindustrialisierung einläutet, halte ich für eine
übertriebene Einschätzung. Deutschland etwa benötigt im Verhältnis zu
seinen Konkurrenten in Amerika und Asien anteilig weniger Erdgas, um
Wirtschaftswachstum zu generieren. Das bedeutet, dass selbst wenn wir
Gas – ob Flüssig- oder Pipelinegas – zu höheren Preisen von anderen
Anbietern als von Russland beziehen, die Kosten für unsere Endprodukte
nicht völlig unkalkulierbar werden dürften. Dennoch ist die Situation
ernst und wir müssen alles daransetzen, die Frage der fossilen
Brennstoffe zu lösen. Was für Öl und Gas gilt, gilt übrigens auch für
Fragen der Digitalisierung, einer weiteren Schwachstelle der EU. Die EU
hat keine Online-Plattformen vorzuweisen, die mit denen in den USA
vergleichbar wären. Auch der Verlauf und Besitz von Unterwasserkabeln
sind Asse der Amerikaner – und inzwischen zu einem gewissen Umfang auch
der Chinesen – im geoökonomischen Wettbewerb, denn über sie können diese
Staaten auf Informations- und Finanzdaten ihrer Konkurrenten zugreifen.
Dabei wäre Unabhängigkeit im Technologiesektor der Kern unserer
Souveränität und Voraussetzung für „die Fähigkeit, autonom zu handeln“,
wie es der französische Präsident Emmanuel Macron ausgedrückt hat.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:* /Ein weiterer Krisenherd, der im
Schatten des Ukraine-Krieges etwas weniger Beachtung findet, ist der
Nahe Osten./
*Josef Braml: *Richtig. Dem Nahen Osten kommt im Ringen um eine neue
Weltordnung eine Schlüsselrolle zu. Die USA haben sich hier bereits
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Position gebracht, als sich
US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem saudischen König Ibn Saud an
Bord des Kreuzers USS Quincy getroffen hatte, der im Roten Meer vor
Anker gegangen war. Dort sicherten sich die Amerikaner den Zugang zu
erschwinglichen Energielieferungen und gewährten im Gegenzug
Sicherheitsgarantien für das Königreich. Nach dem Ende des
Bretton-Woods-Systems – also kurz gesagt der Goldkonvertibilität des
US-Dollars – ließen sich die Saudis darauf ein, dass ihr Erdöl
ausschließlich in US-Dollar fakturiert werden sollte. Da infolge dessen
Dollar auf der ganzen Welt nachgefragt wurden, schien die Rolle des
Dollars als Weltleitwährung auf lange Sicht zementiert zu sein. Doch
inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Seit dem letzten Irakkrieg der
USA im Jahr 2003 nimmt der amerikanische Einfluss im Nahen Osten
tendenziell ab. Die USA haben nicht mehr die Kraft, diese Region in
ihrem Sinne zu ordnen, weder im Irak noch in Syrien. Aber auch alte
Verbündete wie Ägypten und die Türkei gehen langsam auf Distanz. Mit dem
Iran liegen sie ohnehin über Kreuz. Gleichzeitig wächst der chinesische
Einfluss, was auch daran liegt, dass inzwischen der allergrößte Teil des
Erdölhandels über den Indischen Ozean abgewickelt wird. Ganze
Tankerflotten passieren die Straße von Malakka und bringen das schwarze
Gold nach China. Und nun gibt es Bemühungen, den US-Dollar bei
Ölgeschäften zu umgehen. Bereits im Jahr 2018 gab die chinesische
Regierung die ersten langfristigen Ölhandelsverträge in Petroyuans aus.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:* /Das Ende des Petro-Dollars?/
*Josef Braml:* Dieses Ende zeichnet sich ab, auch wenn der Weg dahin
noch ein ziemlich weiter sein dürfte. Allerdings sollte uns auch klar
sein, dass die aktuellen Sanktionen gegen Russland den Prozess einer
De-Dollarisierung der Weltwirtschaft beschleunigen werden. Damit wird
eine der wichtigsten Säulen der amerikanischen Macht unterspült. Für die
EU geht es jetzt darum, die Rolle des Euros – der ja anders als der
chinesische Yuan frei konvertibel ist – zu stärken, mit dem Ziel, ihn
neben dem Dollar als wichtigste Währung der Welt
<https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/521308/Gegen-den-Dollar-Tuerkei-bezahlt-Gas-kuenftig-in-Rubel>
zu etablieren. Will die EU als Machtzentrum neben den USA und China
Bestand haben, braucht sie mehr Unabhängigkeit von Öl- und Gasimporten,
digitale Souveränität und eine Währung, die ihre Wirtschafts- und
Innovationskraft international widerspiegelt.
*Deutsche Wirtschaftsnachrichten:* /Sie sind ein ausgewiesener USA-
Experte und sicherlich auch ein Freund Amerikas. Was meinen Sie, sollten
die USA tun?/
*Josef Braml: *Ich verdanke einen Gutteil meines persönlichen und
beruflichen Werdegangs der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft
zahlreicher Menschen in den USA. Durch ihre intellektuelle Redlichkeit
haben sie mir in den zurückliegenden 20 Jahren geholfen, die
grundlegenden Probleme der nicht mehr so Vereinigten Staaten von Amerika
zu verstehen – die eher früher als später auch Europa in Mitleidenschaft
ziehen werden. Die USA sind nach wie vor ein sehr potentes Land und
verfügen über ein ungeheures kreatives Potential. Wenn sie sich mit der
Vorstellung anfreunden, dass sie nicht mehr die ganze Welt dominieren
können – so wie es vielleicht vor zwanzig Jahren noch der Fall war – und
sich auf ihre eigene Entwicklung konzentrieren, können sie in einer
demnächst multilateralen Weltordnung immer der Primus inter pares sein.
Damit täten sie sich, denke ich, selbst den größten Gefallen. Die Länder
der EU hingegen müssen jetzt erwachsen werden und sich um ihre Belange –
und damit meine ich auch die der militärischen Sicherheit – selbst kümmern.