Führungsnation im Krieg Bundeswehr fordert Stärkung der „Einsatzbereitschaft“ der Truppe und des „Einsatzwillens“ der Soldaten. Berlin vergibt erste Mittel aus dem 100-Milliarden-Euro-Militärprogramm.
german-foreign-policy.com, 17. November 2022
BERLIN (Eigener Bericht) – Die Bundeswehr soll sich auf Angriffe „ohne Vorwarnung“ und „mit großer, gegebenenfalls sogar existenzieller Schadenswirkung“ vorbereiten und dabei in Europa als „Führungsnation“ auftreten. Dies fordert laut einem Bericht der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, in einem Grundsatzpapier von Ende September. Demnach müsse nicht nur die „Fähigkeit zu sichtbarer und glaubwürdiger Abschreckung“ deutlich verstärkt werden, sondern auch die „Einsatzbereitschaft“ der Truppe sowie der „Einsatzwille“ der deutschen Soldaten. Auf eine schnelle Aufrüstung dringt auch Heeresinspekteur Alfons Mais, der im Februar erklärt hatte, die Bundeswehr stehe „mehr oder weniger blank da“; Mais zufolge kommt die Beschaffung von Kriegsgerät nicht rasch genug voran. Dabei hat der Haushaltsausschuss des Bundestags soeben erst den neuen Militäretat beschlossen und die Freigabe der ersten Summen aus dem 100-Milliarden-Euro-Militärprogramm vorbereitet, das Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar angekündigt hat. Auch die EU stellt neue Gelder für kurzfristige Aufrüstungsmaßnahmen bereit. Die deutsche Rüstungsindustrie meldet erhebliche Umsatz- und Gewinnsprünge.
Zitat: „Einsatzbereitschaft und Einsatzwille“
„Krieg in Europa ist wieder Realität“, heißt es in einem Grundsatzpapier der Bundeswehr („Operative Leitlinien für die Streitkräfte“), das Generalinspekteur Eberhard Zorn laut einem Bericht Ende September abgesegnet hat.[1] Demnach werde die „rund drei Jahrzehnte andauernde Fokussierung“ der Truppe auf Auslandseinsätze der „aktuellen Lage mit ihren systemgefährdenden Überraschungen nicht mehr gerecht“; stattdessen werde in Zukunft „die Bündnisverteidigung ... das militärische Handeln Deutschlands dominieren“. „Angriffe auf Deutschland“ könnten dabei „potenziell ohne Vorwarnung und mit großer, gegebenenfalls sogar existenzieller, Schadenswirkung erfolgen“, heißt es weiter in dem Bundeswehrpapier; die Bundesrepublik müsse sich daher auf „einen aufgezwungenen Krieg“ vorbereiten. Von zentraler Bedeutung sei jetzt die „Fähigkeit zu sichtbarer und glaubwürdiger Abschreckung“. Deren „Rückgrat“ aber bildeten „einsatzbereite, an einem hochintensiven Szenario ausgerichtete und ausgebildete Streitkräfte“, die in kürzester Zeit an der NATO-Ostflanke eingesetzt werden könnten. In Europa werde die Bundesrepublik wegen ihrer geografischen Lage und ihrer potenziellen militärischen Bedeutung als „Führungsnation“ eingestuft; der „Erwartungshaltung der Alliierten“ müsse die Bundeswehr nun auch „hinsichtlich der Einsatzbereitschaft und des dazugehörigen Einsatzwillens“ entsprechen.
Schneller rüsten
Eine rasche Stärkung der Kampfkraft der Bundeswehr hat in der vergangenen Woche auch Heeresinspekteur Alfons Mais gefordert. Mais hatte am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine mit der Äußerung Schlagzeilen gemacht, die deutschen Streitkräfte stünden „mehr oder weniger blank da“; er hatte damals explizit geurteilt: „Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert“.[2] Drei Tage später kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz das 100-Milliarden-Euro-Militärprogramm für die Aufrüstung der Bundeswehr an („Sondervermögen“). Mais urteilt nun, seither habe sich „vor allem in den Köpfen“ viel bewegt: „Es wird sachlicher und tiefer über alles diskutiert, was die innere und äußere Sicherheit betrifft.“[3] Zugleich sei allerdings „die materielle Einsatzbereitschaft des Heeres nicht größer als am 24. Februar“; genaugenommen sei sogar, was die militärische Ausrüstung angehe, „weniger da als vor Kriegsbeginn“ – man habe schließlich „Material aus den Beständen des Heeres an die Ukraine abgegeben“. Es werde noch dauern, „bis wir dieses Material ersetzt bekommen“. Der Heeresinspekteur mahnt zur Eile bei der Aufrüstung der Bundeswehr: „Es macht jetzt einen Riesenunterschied, ob wir Material 2025, 2026 oder erst 2029 bekommen.“
Schützenpanzer, Fregatten, Kampfjets
Drastisch erhöhte Mittel stellt der deutsche Militäretat für das kommende Jahr bereit, der Ende vergangener Woche vom Haushaltsausschuss des Bundestages beschlossen wurde und nun in der nächsten Woche vom Parlament offiziell verabschiedet werden soll. Demnach stehen im kommenden Jahr rund 50,1 Milliarden Euro aus dem regulären Etat zuzüglich 8,4 Milliarden Euro aus dem 100 Milliarden Euro schweren Sonderprogramm zur Verfügung. Aus den regulären Mitteln beschafft werden sollen unter anderem Großraumtransporter vom Typ A400M, weitere Eurofighter sowie Flottendienstboote der Klasse 424; für den Erwerb von Munition hat der Haushaltsausschuss das Budget eigens um eine weitere Milliarde Euro aufgestockt. Aus dem 100-Milliarden-Programm will Berlin im nächsten Jahr Mittel für Schützenpanzer vom Typ Puma, für Fregatten vom Typ F126, für schwere Transporthubschrauber CH-47 („Chinook“) sowie für neue Kampfflugzeuge vom Typ F-35 entnehmen.[4] Die F-35 sollen unter anderem für die sogenannte nukleare Teilhabe genutzt werden und im Kriegsfall bei Bedarf die US-Atombomben, die in Büchel (Eifel) gelagert sind, zum Einsatzort transportieren sowie sie dort abwerfen. Die Atombomben werden laut jüngsten Berichten noch in diesem Jahr durch ihre modernisierte Variante B61-12 ersetzt werden (german-foreign-policy.com berichtete [5]).
Zusätzliche EU-Mittel
Weitere Zusatzmittel stellt nun auch die EU-Kommission bereit; sie wird dazu ein neues Instrument schaffen, das mit voller Bezeichnung „Instrument zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung“ (EDIRPA) heißt.[6] Ziel ist es vor allem, kurzfristige Beschaffungsmaßnahmen zu fördern, um Lücken zu füllen, die durch Waffenlieferungen an die Ukraine entstanden sind oder denen mit Blick auf die Hochrüstung gegen Russland herausragende Bedeutung beigemessen wird. Alleine für den Zeitraum bis 2024 ist eine halbe Milliarde Euro vorgesehen. Dabei geht es bei EDIRPA ausdrücklich darum, Beschaffungen bei europäischen und nicht bei US-amerikanischen Waffenschmieden zu finanzieren; die Kommission will damit vermeiden, dass es zu einer Beschaffungswelle bei US-Konzernen kommt, deren Produkte nicht selten umfassender in Kriegen erprobt wurden als Rüstungsgüter der europäischen Konkurrenz. Gefördert werden dementsprechend Beschaffungsmaßnahmen bei europäischen Rüstungsunternehmen. Ein weiteres Programm, das ausdrücklich langfristige Beschaffungsvorhaben bedient („Programm für Europäische Verteidigungsinvestitionen“, EDIP), ist in Vorbereitung.
Mehr Munition
Schon jetzt meldet die deutsche Rüstungsindustrie große Umsatz- und Gewinnsprünge. So teilte der Rüstungskonzern Rheinmetall in der vergangenen Woche mit, der Firmenumsatz sei im dritten Quartal 2022 um 12,5 Prozent auf 1,4 Milliarden Euro gestiegen; zugleich sei der Nettoquartalsgewinn um neun Millionen Euro auf 86 Millionen Euro gewachsen.[7] Weil vor allem die Nachfrage nach Munition zunimmt, die im Ukraine-Krieg verschossen wird, wird Rheinmetall nun den spanischen Rüstungskonzern Expal Systems übernehmen, der mit einem Jahresumsatz von gut 400 Millionen Euro zu den größten Munitionsproduzenten in Europa gehört.[8] Bei Rheinmetall heißt es, man selbst könne zur Zeit rund 80.000 Artilleriegranaten im Jahr herstellen; Expal schaffe 250.000 bis 300.000 Stück. Mit der Übernahme soll auch sichergestellt werden, dass der Bundeswehr in künftigen Kriegen nicht die Munition ausgeht.
[1] Matthias Gebauer, Marina Kormbaki: Vorbereitung auf „aufgezwungenen Krieg“ – Bundeswehr soll deutlich kampfkräftiger werden. spiegel.de 14.11.2022.
[2] Christoph Rieke: Heeresinspekteur kritisiert deutsche Verteidigungspolitik. tagesspiegel.de 24.02.2022.
[3] Mike Szymanski: „Wir haben einen riesigen Aufholbedarf“. Süddeutsche Zeitung 11.02.2022.
[4] Haushaltsausschuss beschließt Verteidigungsetat und Plan zum Sondervermögen 2023. bmvg.de 11.11.2022.
[5] S. dazu Zum Erstschlag bereit.
[6] EU will 500 Millionen EUR für kurzfristige Rüstungsbeschaffungen bereitstellen. esut.de 14.11.2022.
[7] Munitionsbestellungen kurbeln Rheinmetall-Geschäft an. sueddeutsche.de 10.11.2022.
[8] Martin Murphy, Larissa Holzki, Arno Schütze: Rheinmetall kauft Munitionsfirma – mehr Gepard-Munition für die Ukraine. handelsblatt.com 14.11.2022.
Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9084