tagesschau.de, vom Stand: 26.01.2023 17:00 Uhr, Von Markus Grill, NDR/WDR
Die bisherigen Corona-Impfstoff-Bestellungen haben 13,1 Milliarden Euro gekostet, das hat der Bund erstmals eingeräumt. BioNTech/Pfizer und Moderna hatten die Preise 2021 um rund 50 Prozent erhöht, wie aus Dokumenten hervorgeht, die NDR, WDR und SZ einsehen konnten.
Zitat: Im Jahr 2020 verhandelte die EU-Kommission mit verschiedenen Pharmakonzernen über die Lieferung von Corona-Impfstoffen. Die Verträge, die schließlich geschlossen wurden, sind geheim und bis heute sind nur bruchstückhaft Preise der Impfstoffe durchgesickert.
NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) liegt nun erstmals eine detaillierte Bestellübersicht der Bundesregierung für die einzelnen Impfstoffe vor, aus der die genauen Preise, Mengen und Bestelldaten hervorgehen. Das Gesundheitsministerium teilte erstmals auf Anfrage mit, dass bisher Impfstoff-Dosen im Wert von 13,1 Milliarden Euro bestellt wurden.
Massive Preisunterschiede
Am günstigsten war die Firma AstraZeneca, die ihren Impfstoff gemeinsam mit der Universität Oxford entwickelt hat - wobei die Uni darauf gedrungen hatte, den Impfstoff quasi zum Selbstkostenpreis abzugeben. Hier bestellte der Bund bereits am 27. August 2020 mehr als 56 Millionen Dosen zum Preis von rund 2,30 Euro pro Impfdosis.
Am meisten verlangte der US-Konzern Moderna, für den bei einer Bestellung im September 2021 knapp 30 Euro pro Impfdosis festgelegt wurde. Der Impfstoff von Johnson&Johnson kostet rund sieben Euro, bei Novavax beträgt der Preis für eine Dosis rund 18,20 Euro.
In der Pandemie Preise erhöht
Auffällig sind die Preissteigerungen der Firmen Pfizer/BioNTech und Moderna mitten in der Pandemie. So hat Deutschland im Dezember 2020 knapp 39 Millionen Impfdosen bei BioNTech zum Preis von rund 15,50 Euro pro Dosis bestellt. Neun Monate später, als die Regierung weitere 168 Millionen Impfdosen bestellte, kostete die Einzeldosis im Schnitt bereits rund 23,20 Euro - ein Anstieg um rund 50 Prozent.
Ähnlich war auch die Preispolitik der US-Firma Moderna. Hier bestellte die Bundesrepublik am 23. Dezember 2020 knapp 15 Millionen Impfdosen zum Preis von rund 19,50 Euro pro Dosis. Drei Monate später lagen die Kosten im Schnitt bereits bei rund 29,70 Euro pro Dosis - ebenfalls eine Preiserhöhung um rund 50 Prozent. Die Firma Moderna beantwortete Fragen zum Preis nicht, BioNTech teilte auf Anfrage lediglich mit: "Verlassen Sie sich nicht auf Informationen, die nicht nachgeprüft werden können (die Preisangaben können wir nicht nachvollziehen)".
Milliardengewinne bei BioNTech
BioNTech-Chef Ugur Sahin erklärte noch im Jahr 2020, dass "kein Unternehmen" mit dem Corona-Impfstoff "sich eine goldene Nase verdienen wird." Im Jahr darauf machte BioNTech allerdings einen Nettogewinn von 10,3 Milliarden Euro und in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 waren es weitere 7,1 Milliarden Euro.
Aus der Pharmabranche heißt es dazu, das Mainzer Unternehmen habe jahrelang mehr Geld ausgegeben als eingenommen, um neue Medikamente zu erforschen. Das sei nun der Lohn dafür. Und diesen Lohn wolle Firmenchef Sahin in der Erforschung neuer Medikamente stecken. Sahin gehe es nicht um persönliche Profite. Die Preissteigerungen lägen auch daran, dass Deutschland und die EU in den Verträgen teure Auflagen hineingeschrieben hätten. Das habe man sich einfach über einen höheren Preis absichern müssen.
Rendite finanziert Forschung
Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Pharmaunternehmen (vfa), sagt zwar, dass er nichts zu den Preisen sagen könne, weil die geheim seien und er sie nicht kenne, aber "die Renditen in der Pharmaindustrie müssen hoch sein, denn das Risiko in Forschung und Entwicklung ist extrem hoch". Wenn die Renditen nicht hoch seien, "würde keiner diese Aktien kaufen."
Steutel verweist darauf, dass sich der Preis für einen Impfstoff oder ein Medikament nicht nur an den Herstellungskosten und den Forschungs- und Entwicklungskosten orientieren, sondern auch daran, welchen "Wert" das Mittel "für die Gesellschaft" habe. "Schauen Sie, wir haben unser normales Leben wieder zurück. Und der Preis, den wir dafür zahlen, ist eigentlich äußerst gering."
Warum die Preiserhöhungen?
Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, hält Preise, die Moderna oder BioNTech für ihre Impfstoffe verlangt hätten, nicht grundsätzlich für anstößig, weil sie durchaus vergleichbar seien etwa mit Influenza-Impfstoffen. Was Ludwig aber stört, sind die Preissteigerungen mitten in der Pandemie. "Ich halte das eigentlich für unseriös, angesichts der wirtschaftlichen Umsätze hätte man bei dem alten Preis bleiben können." Es sei allerdings so, dass "wir die Impfstoffe brauchten" und "die Pharmakonzerne diese Preise eben durchsetzen konnten".
Aus dem Bundestag kommt dagegen deutliche Kritik an den Preissteigerungen. Der Arzt und Abgeordnete Stephan Pilsinger (CSU) sagt: "Wenn das so stimmt, dann bin ich der Meinung, dass das völlig ungerechtfertigt ist. Die Bundesregierung hätte sich auf solche Deals nicht einlassen sollen."
Details bleiben geheim
Die genauen Preise für die Impfstoffe liegen inzwischen in der so genannten Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestags. Addiert man die Bestellungen bis Dezember 2021, dem Ende der Amtszeit von Gesundheitsminister Jens Spahn, kommt man auf einen Wert von 10,05 Milliarden Euro. In der Amtszeit von Karl Lauterbach bis heute ist auch dieser Wert noch mal gestiegen. "Der Gesamtwert der Bestellungen beläuft sich auf ca. 13,1 Milliarden Euro brutto", wie das Ministerium gegenüber NDR, WDR und SZ bestätigt.
Selbst der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, der CDU-Politiker und ehemalige Chef des Kanzleramtes, Helge Braun, räumt ein, dass ihm "weder die individuellen Dosis-Preise der verschiedenen Impfstoffe bekannt sind noch die weiteren Vertragsklauseln." CSU-Gesundheitspolitiker Pilsinger fordert, dass die Bundesregierung "umgehend und sofort vollumfänglich alle Zahlen auf den Tisch legen sollte".
Forderungen nach Transparenz
Rolf Blaga, Leiter der Arbeitsgruppe Medizin und Gesundheit der Nicht-Regierungsorganisation Transparency International, kritisiert ebenfalls die Geheimniskrämerei rund um die Impfstoffverträge. "Die Öffentlichkeit muss darauf vertrauen können, dass die Steuergelder nicht verschwenderisch ausgegeben werden." Zumindest der Rechnungshof müsse vollen Zugang zu den Unterlagen bekommen, um sie zu prüfen, so Blaga. Verschiedene Gesundheits- und Haushaltspolitiker von SPD und Grüne wollten zu den Kosten für die Impfstoffe und der Frage der Transparenz keine Stellung nehmen.
Hunderte Millionen Dosen bestellt
Neben der Preispolitik und der Intransparenz der Verträge gerät auch die Menge der bestellten Impfstoffe zunehmend in die Kritik. Gegenüber NDR, WDR und SZ teilt das Ministerium nun mit, dass sich die Bundesregierung seit Beginn der Pandemie insgesamt zur Abnahme von 672 Millionen Impfstoff-Dosen verpflichtet habe. 556 Millionen Dosen davon wurden allein in der Amtszeit von Spahn bestellt.
Umgerechnet bedeutet das, dass für jeden Einwohner in Deutschland vom Säugling bis zum Greis gut acht Impfstoffdosen zur Verfügung stehen. Selbst Wolf Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission, der vom Nutzen der Corona-Impfung zutiefst überzeugt ist, hält diese Menge "für viel zu hoch". Acht Impfungen pro Person werde man "mit Sicherheit nicht benötigen".
Impfstoffe im Milliardenwert vor Vernichtung
Helge Braun, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, geht davon aus, dass Deutschland noch für das laufende Jahr 2023 Abnahmeverpflichtungen bei Corona-Impfstoffen im Wert von zwei Milliarden Euro habe. "Das ist absehbar viel zu viel, sodass mit der Vernichtung eines Großteils der Lieferung gerechnet werden müsste", sagt Braun. "Das ist aus meiner Sicht nicht nur hinsichtlich der Kosten furchtbar, sondern auch wegen des Ressourcenverbrauchs unethisch."
Der allergrößte Teil der Impfstoffe wurde in der Zeit der großen Koalition von Gesundheitsminister Jens Spahn bestellt. Der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach bemüht sich nach eigenen Angaben wie auch andere EU-Gesundheitsminister seit einigen Wochen darum, die Bestellungen bei den Herstellern deutlich zu reduzieren - allerdings ist das bisher nur für 11,3 Millionen Dosen gelungen. Könnte man die Impfstoffe aber nicht einfach an ärmere Länder spenden? Darum bemühe man sich "selbstverständlich" heißt es im Gesundheitsministerium. "Das globale Angebot an Covid-19-Impfdosen übersteigt allerdings derzeit bei weitem die Nachfrage."
Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 26. Januar 2023 um 17:00 Uhr.
Exklusiv 04.06.2021 - 18:00 Uhr Corona-Pandemie Kostenexplosion bei "Bürgertests"
28.06.2022 - 09:23 Uhr Kosten für Corona-Tests Krankenkassen fordern Ausgleich vom Staat Exklusiv 04.04.2022 - 18:00 Uhr Testcenter statt Schule Der achtmal teurere Coronatest 17.06.2021 - 01:17 Uhr Kritik des Bundesrechnungshofs Viel zu viele Schutzmasken gekauft
Info: https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/corona-impfstoff-kosten-101.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
Weiteres:
Treu und Glauben
de.wikipedia.org, abgerufen am 30. Januar 2023, 17 Uhr
Treu und Glauben bezeichnet das Sozialverhalten eines redlich und anständig handelnden Menschen, ohne den Begriff näher zu definieren.
Seinen historischen Ursprung hat der Grundsatz von Treu und Glauben in der bona fides im römischen Recht: Ein römischer Bürger hielt viel auf seine gute Treue; gemeint war damit zum Beispiel seine Zuverlässigkeit und Lauterkeit im Rechtsverkehr.
Auf den Grundsatz von Treu und Glauben wird bis heute häufig Bezug genommen. Ausgeprägt ist er in den Staaten unterschiedlich. Typisch ist ein Verweis wie etwa im deutschen Schuldrecht: Innerhalb eines Schuldverhältnisses ist der Schuldner nach § 242 BGB verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. In der Schweiz besitzt dieser Grundsatz sogar Verfassungsrang und ist dadurch von umfassenderer Wirkung.
Deutschland
Inhalt
Als Generalklausel ist der Grundsatz von Treu und Glauben abstrakt gefasst. Zur Konkretisierung sind Fallgruppen gebildet worden. Dazu gehört zum Beispiel das Verbot des Rechtsmissbrauchs, das Verbot des vertraglichen Insichwiderspruchs („venire contra factum proprium“) sowie der Dolo-agit-Grundsatz. Die Fallgruppen dienen vornehmlich dazu, diejenigen Sachverhalte aufzufangen, die nicht bereits von einer spezialgesetzlichen Konkretisierung des Grundsatzes erfasst werden. Solche finden sich in den §§ 243 ff. BGB, beispielsweise in der Verpflichtung, bei Gattungsschulden Waren mittlerer Art und Güte zu leisten. Besonders anschaulich ist der Zusammenhang zwischen dem Grundsatz von Treu und Glauben und § 241 Abs. 2 BGB, der klarstellt, dass die Parteien eines Vertrages nicht nur die im Vertrag vorgesehenen Pflichten erfüllen, sondern auch Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils nehmen müssen. Bevor § 241 Abs. 2 BGB im Jahre 2002 ins BGB aufgenommen wurde, wurde der Inhalt dieser Vorschrift allein aus Treu und Glauben abgeleitet (siehe positive Vertragsverletzung).
Anwendungsbereich
Prinzipiell ist Treu und Glauben nur innerhalb einer Vertragsbeziehung anwendbar. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des § 242 BGB. Außerhalb einer Vertragsbindung sind die Schranken für das Handeln des Einzelnen niedriger. Gemäß § 226 BGB ist nur solches Handeln unzulässig, das dazu dient, dem anderen zu schaden (Schikaneverbot). Aus § 826 BGB ergibt sich ferner, dass vorsätzlich sittenwidriges Handeln unzulässig ist. Diese Abgrenzung wird jedoch oft durchbrochen. In vielen Fällen wird der Grundsatz von Treu und Glauben von Lehre und Rechtsprechung auch außerhalb einer Vertragsbindung angewandt. Ein wichtiges Beispiel bildete bis zu ihrer Kodifizierung im BGB im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung die Figur der culpa in contrahendo. § 242 BGB[1], nach welchem der Schuldner verpflichtet ist, seine Leistung so zu erbringen, wie Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte es verlangen, wird auch als „Königsnorm“ des deutschen Vertragsrechts bezeichnet. Der Bundesgerichtshof hat in der Entscheidung BGHZ 2, 184, auch die Rechtsprechung mit einbezogen: „Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Zweck und Sinn. Diesen im Einzelfall der Rechtsanwendung nutzbar zu machen und danach unter Berücksichtigung von Treu und Glauben den Streitfall einer vernünftigen und billigen Lösung zuzuführen, ist die Aufgabe des Richters“.[2]
Kontroversen bestehen darüber, ob der Grundsatz auch im Öffentlichen Recht und dabei insbesondere im Verwaltungsverfahrens- und im Prozessrecht Anwendung findet.[3] So wird das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis als Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Gerichtsverfahrens von vielen aus Treu und Glauben abgeleitet. Zum Teil wird Treu und Glauben auch als elementares Gerechtigkeitsprinzip angesehen, das jede Rechtsordnung beherrscht und die Ausübung von Rechten sowie die Erfüllung von Pflichten in einer Weise verlangt, auf die die andere Seite vertrauen kann.[4]
Schweiz
In der Schweizer Rechtsordnung spielt Treu und Glauben eine vergleichbare Rolle, wenn sich auch die gesetzlichen Formulierungen z. T. unterscheiden. Siehe beispielsweise Art. 2 Abs. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches: „1) Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. 2) Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.“
In der Bundesverfassung definiert der Artikel 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns das Handlungsprinzip von Treu und Glauben als hohes Rechtsgut für öffentliche Stellen und private Rechtspersonen. Dieser Artikel ist Bestandteil des 1. Titels Allgemeine Bestimmungen und steht noch vor den Grundrechten (Art. 5). Nach der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts beinhaltet der aus Bundesverfassung abgeleitete Grundsatz von Treu und Glauben auch das Gebot redlichen, vertrauenswürdigen und rücksichtsvollen Verhaltens. Das schweizerische Bundesgericht hat daher Art 2 ZGB wegen der besonderen Leitfunktion auch als „Leitstern der Gesetzesanwendung“ (BGE 83 II 348 f) und als „Schranke aller Rechtsausübung“ (BGE 45 II 398) bezeichnet.
Diese Normierung wird in der Beziehung von staatlichen Organen zu allen Personen im Artikel 9 im Zusammenhang mit dem „Schutz vor Willkür“ erneut ausdrücklich bekräftigt (Art. 9).
Österreich
In Österreich war der Grundsatz Treu und Glauben bereits im ehemaligen Codex Theresianus kodifiziert und fand auf dem Umweg über das deutsche BGB (§ 242 BGB und § 157 BGB) wieder den Weg ins österreichische Recht.[5]
Der Begriff „Treu und Glauben“, der inhaltlich der im § 914 ABGB erwähnten Übung des redlichen Verkehrs entspricht, beherrscht ganz allgemein das bürgerliche Recht: Der rechtsgeschäftliche Verkehr darf nicht dazu missbraucht werden, einen anderen hineinzulegen, sondern soll sich ehrlich abspielen (HS 2398/69).[6]
Liechtenstein
Der Grundsatz von Treu und Glauben hat in Liechtenstein einen übergesetzlichen Rang als allgemeiner Rechtsgrundsatz.[7] Treu und Glauben umfasst dabei das gesamte Handeln im Rahmen des Rechts und hat, neben der ausdrücklichen Erwähnung auch in Art 2 PGR, als grundsätzlicher Rechtssatz und Basis der Rechtsgemeinschaft und Rechtsordnung auch Auswirkung auf alle zivilrechtlichen Bereiche und Normen, insbesondere auch das ABGB, wie umgekehrt zum Beispiel die „Gute-Sitten-Klausel“ in § 879 Abs. 1 ABGB auf das gesamte bürgerliche Recht (§ 1 ABGB) ausstrahlt. Aus der zwingenden Beachtung des „redlichen Verkehrs“ bei der Vertragsauslegung (§ 914 ABGB) wird dieser Grundsatz von Treu und Glauben ebenfalls ersichtlich.
Aus Art 2 Abs. 1 SR bzw. Art 2 PGR wird zum Beispiel abgeleitet:
- Auslegung und Regelungsgrenzen von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) (siehe auch § 914 ABGB);
- Ergänzung lückenhafter Verträge (BGE 115 II 488);
- Vertragliche Aufklärungs- und Informationspflichten (BGE 116 II 519 ff., 119 II 456 ff.);
- Culpa in contrahendo (BGE 116 II 431 ff.);
- Vertrauensprinzip in Verträgen (BGE 119 II 177 ff.; 123 III 18 ff, 165 ff.);
- Vertrauenshaftung (BGE 120 II 331 ff., 121 III 350 ff., 123 III 220 ff, 124 III 297 ff., 130 III 345 ff.);
- Anpassung von Verträgen an veränderte Umstände (Clausula rebus sic stantibus – BGE 120 II 155 ff., 129 III 618);
- Gebot schonender Rechtsausübung und Übermaßverbot (BGE 121 III 219 ff.).[8]
Dieser allgemeinen Rechtsgrundsatz entfaltet daher in Liechtenstein interlegistische Bindungswirkung.[9] Treu und Glauben sind im öffentlich-rechtlichen Bereich auch ein Aspekt des Gleichheitsgebotes (Willkürverbotes) und als solcher ein allgemeiner (in vielen Anwendungsbereichen ungeschriebener) Rechtsgrundsatz.[10] Der Verstoß gegen dieses Vertrauen ist im öffentlichen Bereich ein willkürliches Verhalten in der Regel der Behörde bzw. der Behördenorgane. Inwieweit der Vertrauensschutz auch für den Normunterworfenen und die Behörde gelten soll, ist jedoch in Liechtenstein noch nicht abschließend geklärt.
Niederlande
Treu und Glaube werden im niederländischen Recht als allgemeine Richtschnur bei der Auslegung von Gesetzen und Verträgen gesehen.[11] Art. 3:12 des niederländischen bürgerlichen Gesetzbuches (Burgerlijk Wetboek, BW) gibt eine Auslegungshilfe für den Begriff redelijkheid en billijkheid, der sich an verschiedenen Stellen im Gesetz findet und mit „Treu und Glauben“ oder „billigem Ermessen“ zu übersetzen ist (redelijkheid = 'vernünftig' oder 'angemessen').[11] Der Begriff ist auszulegen nach den allgemein anerkannten Rechtsprinzipien, der grundsätzlichen Rechtsstruktur in den Niederlanden und den relevanten sozialen und persönlichen Interessen, die an einer Situation beteiligt sind. Art. 6:248 BW macht redelijkheid en billijkheid zur zentralen Vorschrift für die Rechtsfolgen von Verträgen.
UN-Kaufrecht
Im UN-Kaufrecht ist die bona fides („guter Glaube“) als schützenswertes Rechtsgut in Artikel 7 Absatz 1 erwähnt: „Bei der Auslegung dieses Übereinkommens sind sein internationaler Charakter und die Notwendigkeit zu berücksichtigen, seine einheitliche Anwendung und die Wahrung des guten Glaubens im internationalen Handel zu fördern“. Dennoch ist umstritten, ob Verträge, die dem UN-Kaufrecht unterliegen, nach Treu und Glauben auszulegen sind.[12] Während der Entstehung des UN-Kaufrechts wurde die Aufnahme eines weiter gehenden Passus als Einfallstor für nationale Rechtsansichten und Quelle von Rechtsunsicherheit abgelehnt.[13]
Grundregeln des EU-Vertragsrechts
Der Begriff Treu und Glauben (engl. good faith, frz. bonne foi, „guter Glaube“) findet sich in Art. 2:101 der Acquis communautaire: Im vorvertraglichen Verkehr müssen Parteien nach Treu und Glauben handeln.[14] Auch Art. 2.1 des Entwurfs zu einem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht sieht vor, dass die Parteien sich bei ihrer Zusammenarbeit vom Gebot von Treu und Glauben und vom Grundsatz des redlichen Geschäftsverkehrs leiten lassen sollen. Parteien, die sich hieran nicht halten, können ihnen eigentlich zustehende Rechte verlieren, oder schadensersatzpflichtig werden (Art. 2.2). Diese Regelungen sind vertraglich nicht abbedingbar (Art. 2.3).
Siehe auch
Literatur
- Konrad Schneider: Treu und Glauben im Rechte der Schuldverhältnisse des Bürgerlichen Gesetzbuches. Beck, München 1902.
- Konrad Schneider: Treu und Glauben im Civilprozesse und der Streit über die Prozessleitung. Ein Beitrag zur Beantwortung der Prozessleitungsfrage. Beck, München 1903.
- Konrad Schneider: Zur Verständigung über den Begriff von Treu und Glauben. In: Archiv für bürgerliches Recht. Bd. 25, 1905, ISSN 0174-8467, S. 269–315.
- Rudolf Henle: Treu und Glauben im Rechtsverkehr. Vortrag, gehalten am 6. November 1911 zu Bonn im Zyklus der wissenschaftlichen Vorträge des Gustav-Adolf-Frauenvereins. Vahlen, Berlin 1912.
- Franz Wieacker: Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart. 193/194, ISSN 0340-7012). Mohr, Tübingen 1956.
- Gottfried Baumgärtel: Treu und Glauben, gute Sitten und Schikaneverbot im Erkenntnisverfahren. In: Zeitschrift für Zivilprozeß. Bd. 69, 1956, S. 89–131.
- Hans-Wolfgang Strätz: Treu und Glauben. 1: Beiträge und Materialien zur Entwicklung von „Treu und Glauben“ in deutschen Privatrechtsquellen vom 13. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft. NF 15). Schöningh, Paderborn 1974, ISBN 3-506-73315-X.
- Ernst Zeller: Treu und Glauben und Rechtsmißbrauchsverbot. Prinzipiengehalt und Konkretisierung von Art. 2 ZGB. Schulthess – Polygraphischer Verlag, Zürich 1981, ISBN 3-7255-2135-2 (Zugleich: Zürich, Universität, Dissertation, 1981).
- Bernhard Pfister: Die neuere Rechtsprechung zu Treu und Glauben im Zivilprozeß (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 2: Rechtswissenschaft. 2341). Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 1998, ISBN 3-631-31810-3 (Zugleich: Regensburg, Universität, Dissertation, 1996/1997).
- Antonius Opilio: Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht. Band 1: Art. 1 bis Art. 264. Gesetzesstand: Januar 2009. Edition Europa, Dornbirn 2009, ISBN 978-3-901924-23-1 (google books link).
- Bawar Bammarny: Treu und Glauben und UN-Kaufrecht (CISG). Eine rechtsvergleichende Untersuchung mit Schwerpunkt auf dem islamischen Rechtskreis (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 2: Rechtswissenschaft. 5173). Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2011, ISBN 978-3-631-61470-9 (Zugleich: Heidelberg, Universität, Dissertation, 2010).
- Bernd Rüthers: Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus. 7., unveränderte, um ein neues Nachwort erweiterte Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2012, ISBN 978-3-16-152058-7.
Einzelnachweise
- Acquis Group: of the Acquis Principles (German, Chapter 1-8) Text of the Acquis Principles, amtliche Übersetzung ins Deutsche, Kap. 1–8, November 2007.
Ähnlich auch in Art 6:2 Burgerlijk Wetboek (Niederlande), Art 1134 Code Civil (Frankreich); Art 1337 Codice Civile (Italien). Art 8 EU-Grundrechtecharta und diverse Sekundärrechtsakte (z. B.: Richtlinie 86/653/EWG; Richtlinie 93/13/EWG; Richtlinie 95/46/EG und in der Rsp des EuGH, z. B.: Rs 159/02; 237/02; 82/03 und andere). Absatz und Anmerkungen zitiert nach Antonius Opilio, Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht, Band I, EDITION EUROPA Verlag, 2009; Art 2 SR – Rz 2. Dafür das Bundesverwaltungsgericht (NJW 1974, 2247) und die herrschende Meinung, dagegen z. B. Tiedemann, in: BeckOK VwVfG, 28. Edition Stand: 1. Juli 2015, § 36 Rn. 49.1: Im Verhältnis zum Staat gelte nur das Rechtsstaatsprinzip VG Köln, Urteil vom 10. Mai 2019 – 6 K 693/17 –, nrwe.de. Zivilrecht: Grundriss und Einführung in das Rechtsdenken, Kapitel 11 (PDF; 2,1 MB), Univ.-Prof. Dr. Heinz Barta, Universität Innsbruck, 2004 OGH: Rechtssatznummer RS0017859, 7. Oktober 1974 Antonius Opilio, Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht, Band I, EDITION EUROPA Verlag, 2009; Art 2 SR – Rz 2. Aufzählung weitgehend nach Antonius Opilio, Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht, Band I, EDITION EUROPA Verlag, 2009; Art 2 SR – Rz 3. Antonius Opilio, Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht, Band I, EDITION EUROPA Verlag, 2009; Art 2 SR – Rz 4. Antonius Opilio, Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht, Band I, EDITION EUROPA Verlag, 2009; Art 2 SR – Rz 8. Mincke/Heutger, Einführung in das niederländische Recht, 2. Aufl. 2021, Rn. 88 Dagegen: Schlechtriem/Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 30. Schlechtriem/Schroeter, Internationales UN-Kaufrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 101.
Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Treu_und_Glauben
Weiteres:
Transparenzprinzip (AGB-Recht)
de.wikipedia.org, abgerufen 30. Januar 2023, 17:20 Uhr
Zur Navigation springen Zur Suche springen Das im deutschen Recht in § 307 Absatz 1 Satz 2 BGB niedergelegte Transparenzprinzip fordert von demjenigen, der allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) in einem Vertrag einbringt (AGB-Verwender), dass er diese so formuliert, dass sich für den Vertragspartner seine Rechte und Pflichten klar aus den AGB ergeben. Es ist eine der zentralen Regelungen des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Wird gegen das Transparenzprinzip verstoßen, sind die AGB insoweit unwirksam.
Transparenzprinzip und Inhaltskontrolle
Das Transparenzprinzip ist neben der unangemessenen Benachteiligung eines der zwei Maßstäbe der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle im Rahmen der AGB-rechtlichen Generalklausel des § 307 BGB. Maßstab für die Beurteilung, ob eine Vertragsklausel klar und verständlich und damit transparent ist, soll sein, ob die entsprechende Vertragsbestimmung von einem aufmerksamen und sorgfältigen Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr verstanden werden kann.
Es werden vor allem drei Fälle von Intransparenz von vertraglichen Klauseln genannt[1]:
- Unklarheit über das Preis-Leistungs-Verhältnis
- Der AGB-Verwender behält sich Gestaltungsmöglichkeiten für die Vertragsentwicklung vor und schafft damit für den Vertragspartner unüberschaubare Risiken.
- Der Verwender der AGB legt seinen Vertragsbeziehungen eine fehlerhafte und/oder undurchsichtige Rechtsauffassung zugrunde.
Geschichte des § 307 Absatz 1 Satz 2 BGB
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kannte bereits vor der Kodifizierung des AGB-Rechts eine Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen anhand des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB). 1976 wurde, um den Verbraucherschutz gerade bei vorformulierten Standardverträgen mit dem berühmten "Kleingedrucktem" weiter zu verbessern, das Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz)[2] erlassen. Es trat am 1. April 1977 in Kraft.
Die europäische Richtlinie 93/13/EWG[3] (Klausel-Richtlinie) legt in Art. 5 fest, dass Klauseln in Verträgen mit Verbrauchern klar und bestimmt sein sollten. Diese Richtlinien-Vorgabe hielt man in Deutschland zunächst mit dem bereits vorhandenen AGB-Gesetz umgesetzt. Im bis zum 31. Dezember 2001 geltenden AGB-Gesetz war das Transparenzprinzip jedoch nicht ausdrücklich geregelt, vielmehr wurde es von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aus den damaligen § 3, § 5 und § 9 AGB-Gesetz (heute § 305c, 307 Abs. 1 und Abs. 2 BGB) abgeleitet. Der Europäische Gerichtshof entschied 2001 allerdings in einem Verfahren gegen die Niederlande[4], dass es einer ausdrücklichen Regelung zum Transparenzprinzip bedürfe. Im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung und der damit verbundenen Aufnahme des AGB-Rechts in das BGB wurde daher der heutige § 307 Absatz 1 Satz 2 BGB eingefügt.
Siehe auch
Quellen
- EuGH, Urteil vom 10. Mai 2001 – Rs. C-144/99 (Kommission/Niederlande), Slg. I. 2001, 3541 = NJW 2001, 2244
Literatur
Helmut Heinrichs in: Palandt § 307 Randnummer 320 ff. Gesetz vom 9. Dezember 1976 (BGBl. I 1976, S. 3317) Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen
Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Transparenzprinzip_(AGB-Recht)
Weiteres:
Überraschungsverbot
de.wikipedia.org, abgerufen am 30. Januar 2023, 17:25 Uhr
Dieser Artikel befasst sich mit dem Verbot überraschender Klauseln in privatrechtlichen Verträgen; zu dem im Prozessrecht verankerten Verbot von Überraschungsentscheidungen, siehe dort.
Das Überraschungsverbot (auch Überrumpelungsverbot) ist ein Ausfluss aus dem Vertrauensprinzip, welches sich z. B. auch im Grundsatz von Treu und Glauben wiederfindet.[1]
Definition
Da nur das Unerwartete überraschen kann, müssen zum Erreichen der Überraschung subjektive Erwartungen z. B. einer Vertragspartei enttäuscht werden. Erwartungen stützen sich immer auf Informationen.
Voraussetzung, um von einer Überraschung zu sprechen ist, dass
- die überrumpelte Partei von der anderen Partei oder Dritten in deren Auftrag (objektives Element)
- Informationen vorenthalten werden, oder
- gezielt falsche Informationen gegeben werden, oder
- mit Informationen überflutet werden, so dass sie nicht mehr in der Lage ist, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, und die Informationen nicht rechtzeitig bearbeiten und auswerten kann, und
- dass die Partei auf die Informationen vertraut und auch vertrauen darf (subjektives Element).
Im Bereich der Rechtsgeschäfte bedeutet Überraschung einer Partei auch, dass diese dies als Überrumpelung oder Übertölpelung empfindet und Rechtsnachteile entstehen. Dies kann z. B. auch durch Unerfahrenheit entstehen. Die Überraschung einer Partei durch eine andere kann daher unter Umständen als unzulässig angesehen werden (siehe z. B. § 3 dAGBG (aufgehoben) bzw. nun § 305c dBGB[2]) und zur rückwirkenden Vertragsauflösung führen oder zumindest werden solche „Überraschungsklauseln“ nicht Vertragsbestandteil (siehe z. B. § 306 BGB).[3] Es gilt grundsätzlich und gerade zwischen Vertragsparteien die Einhaltung von „Treu und Glauben“ (siehe z. B. § 242 BGB, Art 2 Abs. 1 chZGB oder Art 2 FL-SR bzw. Art 2 FL-PGR) und/oder das Verbot von sittenwidrigen Handlungen (siehe z. B. § 879 öABGB oder § 879 FL-ABGB, explizite Verankerung des Verbots überraschender Klauseln in § 1031 Abs. 5 Satz 3 der dZPO).
Das Überraschungsverbot ist die Grundlage für das Verbot von Überraschungsentscheidungen bei Rechtsverfahren. Eng mit dem Überraschungsverbot verbunden ist das Transparenzgebot (siehe z. B. § 307 dBGB).
Literatur
Einzelnachweise
- Siehe auch Christian Spruß in Die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen im deutschen Recht unter besonderer Berücksichtigung des europäischen Rechts und des UN-Kaufrechts. S. 289 ff.
Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten!
Kategorien:
Siehe auch Antonius Opilio: Arbeitskommentar zum liechtensteinischen Sachenrecht. Band I, Edition Europa, 2009, Art 2 SR–Rz 2.Martin Schwab: AGB-Recht: Tipps und Taktik. Hüthig Jehle Rehm, Heidelberg / München / Landsberg / Berlin 2007, S. 86, books.google.com
Info: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberraschungsverbot