Polizeigewalt in Deutschland: Die Polizei erschießt Menschen, die Mehrheit schweigt
Als die US-Polizei George Floyd tötete, gab es sogar in Deutschland Proteste. Nun sterben hier vier Menschen bei Polizeieinsätzen – und nichts geschieht. Das hat Gründe.
zeit.de, vom 24. September 2022, 18:40 Uhr, 714 Kommentare
Gegen Polizeibeamte aus mehreren Bundesländern wird ermittelt, nachdem bei Einsätzen Menschen starben. Doch große Protestaktionen bleiben bisher aus. Die Soziologin Vanessa E. Thompson und der Philosoph Daniel Loick haben das Buch "Abolitionismus" herausgegeben, das die Abschaffung von Gefängnissen und Polizei diskutiert. Im Gastbeitrag vergleichen sie die Situation in Deutschland mit der in den USA.
Innerhalb von
sechs Tagen sind im August in Deutschland vier Menschen bei Polizeieinsätzen
getötet worden: Am 2. August erschießt ein schwer bewaffnetes
Sondereinsatzkommando in Frankfurt
am Main den geflüchteten Amin F. aus Somalia in seinem Hotelzimmer, nachdem
er Sexarbeiterinnen bedroht
hatte. Am 3. August erschießen Beamte in Köln den Straßenmusiker Jouzef Berditchevski,
dessen Wohnung zwangsgeräumt werden sollte. Am 7. August stirbt ein 39-jähriger Mann
in Oer-Erkenschwick im Krankenhaus, der zuvor in seiner Wohnung
randaliert haben soll und während des anschließenden Polizeieinsatzes mit
Pfefferspray das Bewusstsein verlor. Am 8. August wird in Dortmund der 16-jährige geflüchtete Senegalese Mohamed Lamine
Dramé, der sich in einer psychischen Krise befand und suizidgefährdet war, mit
fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole der Polizei durchlöchert. All diese Fälle
sind unterschiedlich. Aber sie haben gemeinsam, dass alle diese Opfer von
Polizeigewalt gesellschaftlich marginalisierte Menschen waren: Arme, schwarze
Menschen, Migrant:innen und geflüchtete Personen.
Dass ein Mensch durch die Polizei getötet wird, ist
nur der Extremfall einer Diskriminierungserfahrung, die für marginalisierte
Menschen zum Alltag gehört. Diese Fälle verweisen, worauf
zivilgesellschaftliche Organisationen, migrantische und antirassistische
Kollektive auch in Deutschland schon lange hinweisen. Die Polizei bedeutet für
viele nicht Sicherheit und Schutz, sondern das exakte Gegenteil: Bedrohung,
Schikane, Gewalt, auch tödliche Gewalt. Gerade erst rügte der Europarat
Deutschland, weil es zu wenig gegen die rassistische Praxis des Racial
Profilings unternehme.
Die Gewalt dokumentiert auch das Video, das in der vergangenen Woche von einem Polizeieinsatz in Berlin
aufgetaucht ist, in der zwei Polizeibeamte aufgrund eines Bagatelldelikts eine
syrische Familie in ihrer eigenen Wohnung belästigen und bedrohen. Die Beamten
werfen den Familienvater vor den Augen seiner Frau und seiner drei vollkommen
verängstigten Kinder brutal zu Boden und drohen ihm mit dem Satz: "Das ist mein
Land und du bist hier Gast", die Frau beleidigen sie mit den Worten "Halt die
Fresse, ich bring dich ins Gefängnis". Diese Szene ist paradigmatisch dafür,
dass Polizeigewalt dem eigenen Leben nicht äußerlich bleibt, man kann sie nicht
einfach ablegen oder draußen lassen – sie dringt in den intimsten
Privatbereich vor.
Betroffeneninitiativen dokumentieren die langfristigen
psychischen sowie physischen Auswirkungen wie Depressionen und
Verfolgungsängste solcher traumatisierenden Erlebnisse. Zudem erfahren
betroffene Menschen oft gesellschaftliche Desolidarisierung etwa durch mangelnde Unterstützung von
Passant:innen und weitere Täter-Opfer-Umkehr bei Gericht, falls sie überhaupt
die Mittel haben, sich gegen polizeiliche Gewalt zu wehren. Auch die Strategie,
diese Fälle lediglich als Einzelfälle zu deklarieren, ist selbst Teil dieser
Gewalt. Die Erfahrungen marginalisierter Gruppen, die schon seit der Entstehung
der Polizei unter Kriminalisierung, Bedrohung und Gewalt leiden, werden nicht
ernst genommen, ihre Zeugenschaft entwertet. Indem den Opfern von Polizeigewalt
signalisiert wird, dass das ihnen widerfahrene Unrecht unerheblich ist, werden
sie einmal mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Dies geschieht auch
dadurch, dass sich die Mehrheitsgesellschaft selbst in Fällen drastischer
Polizeigewalt häufig intuitiv zunächst mit der polizeilichen Perspektive
identifiziert als mit der der Betroffenen.
2020 gingen nach
den Morden an George Floyd in Minneapolis und Breonna Taylor in Louisville in den USA auch in Deutschland aus Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung
Zehntausende Menschen auf die Straße. Warum erzeugen ähnliche Fälle keinen
gesellschaftlichen Aufschrei, wenn sie in Deutschland passieren und sich die
Fälle von tödlicher Polizeigewalt hier ebenfalls häufen? Warum wird das Problem
nicht in der Tagesschau thematisiert oder bei Anne Will diskutiert? Warum kommt
es nicht zu Massendemonstrationen, Riots und Aktionen des zivilen Ungehorsams?
Warum kennen viele die Namen von Trayvon Martin, Eric Garner und Mike Brown,
aber nicht die von Achidi John, Christy Schwundeck, N'deye Mareame Sarr oder
Mohamed Dramé?
Ein häufig
angeführtes Argument lautet, die Situation in den USA sei einfach viel
schlimmer als die in Deutschland – die radikale Polizeikritik der US-amerikanischen
Linken lasse sich auf Deutschland daher gar nicht übertragen. Aber tatsächlich
dürfte die unterschiedliche Aufmerksamkeit, die Fälle von Polizeigewalt bei uns
erhalten, eher etwas mit deutschen Befindlichkeiten zu tun haben als mit den
tatsächlichen Differenzen. In Deutschland fehlt marginalisierten Menschen die
öffentliche Lobby: Medien bemühen sich in vielen Fällen gar nicht erst darum, bei
Fällen von Polizeigewalt zu recherchieren, sondern schreiben zumeist die
Meldungen von Polizei und Staatsanwaltschaft ab (mit gravierenden Folgen: In
mindestens zwei der Todesfälle im August hat die Polizei zunächst gelogen und
musste später ihre Aussagen zum Geschehen korrigieren, in einem Fall soll sie
versucht haben, die Löschung eines Handyvideos zu erzwingen). Auch gibt es in
Deutschland, anders als in den USA, keine Verstärker im Bereich der Popkultur:
Wenn es für Beyoncé und Kendrick Lamar selbstverständlich ist, Forderungen der
Black-Lives-Matter-Bewegung in den Mainstream zu tragen, kommen die Erfahrungen
marginalisierter Gruppen in der deutschen Popkultur nur in Ausnahmen vor.
Auch die sich
als sozial und progressiv verstehenden Parteien, von sozialdemokratisch bis
links, versagen bei der Organisierung von Solidarität mit den Opfern von
Polizeigewalt auf ganzer Linie. Die SPD-Innenministerin Nancy
Faeser, von der sich viele ein entschlosseneres Vorgehen gegen Rassismus in
den Sicherheitsbehörden erhofft hatten, verteidigte und beschönigte erst vor
ein paar Tagen das Vorgehen der Berliner Polizei. Auch die Grünen,
denen in den Achtzigerjahren einige wichtige Polizeireformen zu verdanken waren,
haben sich zumindest überall dort, wo sie an der Regierung beteiligt sind,
inzwischen vollkommen auf das Geschäft der polizeilichen Imagepflege verlegt. Für große
Teile der Linkspartei gilt die Beschäftigung mit Polizeigewalt als
"Identitätspolitik", die zugunsten sozialpolitischer Forderungen zurückzustellen
sei.
Und auch die außerparlamentarische
Bewegungslinke nimmt sich des Themas Polizeikritik viel zu schleppend an. So
bleibt es weiterhin der unermüdlichen und meist übersehenen Arbeiten kleiner lokaler Solidaritätsinitiativen vorbehalten,
polizeiliche Übergriffe zu dokumentieren und zu skandalisieren – zumeist
jedoch, ohne dafür eine diskursive Resonanz zu finden. Dabei müsste längst klar sein, dass Polizei und Sicherheitspolitik keine Lösung gesellschaftlicher Problemlagen, sondern wesentliche Techniken zur Kontrolle und Kriminalisierung der Armen darstellen, dies trifft migrantische Menschen und Menschen, die Rassismus erfahren, überproportional, aber nicht ausschließlich.
unser Kommentar: Auch bei Verfolgungsjagden denen sich friedlich bewegende Passanten durch die Polizei ausgesetzt sehen, wenn sie sich zuvor ebenso friedlich von einer Demonstration entfernt haben, an der sie nicht teilnehmen wollten, können anschließend z. B. an einem Genickbruch versterben. Oder so, Zitat: Zudem erfahren
betroffene Menschen oft gesellschaftliche Desolidarisierung etwa durch mangelnde Unterstützung von
Passant:innen und weitere Täter-Opfer-Umkehr bei Gericht, falls sie überhaupt
die Mittel haben, sich gegen polizeiliche Gewalt zu wehren. Zitatende