29.06.2023

Taktische Manöver im Kosovo  Die EU sucht mit taktischen Manövern im Kosovo Serbien aus seinen Bindungen an Russland zu lösen, steckt damit aber fest. Experten fordern, auch Chinas Einfluss in Serbien zu schwächen.

german-foreign-policy. com,  29. Juni 2023,

BERLIN/BELGRAD (Eigener Bericht) – Der Versuch der EU, mit taktischen Manövern im Kosovo Serbien aus seinen traditionellen Bindungen an Russland zu lösen, steckt vor dem heute beginnenden EU-Gipfel fest. In dem gewalttätig eskalierenden Konflikt zwischen dem serbisch- und dem albanischsprachigen Bevölkerungsteil des Nordkosovos hatten sich EU und USA zuletzt überraschend auf die serbische Seite geschlagen und dadurch Belgrad für den Westen zu gewinnen versucht. Hintergrund sind neuere Aktivitäten Serbiens, das immer weniger Rohstoffe und Waffen aus Russland bezieht und damit den Anschein erweckt, sich zumindest ein Stück weit aus dem traditionellen russischen Einfluss lösen zu wollen. Allerdings gelingt es der EU bislang nicht, den Konflikt im Nordkosovo zu serbischen Gunsten zu entschärfen. Gleichzeitig warnt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), nicht nur Russland, auch China habe seinen Einfluss auf die Nicht-EU-Mitglieder in Südosteuropa erheblich gesteigert und sei insbesondere in Serbien mittlerweile zum größten Einzelinvestor aufgestiegen. Um China abdrängen zu können, empfiehlt die SWP der EU, „dreckige“ Investitionen aus der Volksrepublik anzuprangern.


Zitat: Belgrad umgarnen

Die EU und die Vereinigten Staaten hatten die jüngste Eskalation des Konflikts im Norden des Kosovos (german-foreign-policy.com berichtete [1]) genutzt, um zu versuchen, Serbien mit einem taktischen Manöver aus seinen Bindungen an Russland zu lösen und es enger an die westlichen Staaten anzubinden. Im serbischsprachigen Nordkosovo waren gewalttätige Unruhen losgebrochen, als die Regierung in Priština nach einer umstrittenen, von der serbischsprachigen Minderheit boykottierten Wahl neue Amtsträger einsetzen wollte, die nur von wenigen Personen aus der albanischsprachigen Minderheit gewählt worden waren. Im Konflikt zwischen beiden Seiten hatten sich Brüssel und Washington wohl zum ersten Mal überhaupt nicht hinter die kosovarische Regierung gestellt, sondern diese stattdessen aufgefordert, die Wahl zu wiederholen und weitere Schritte zur Beruhigung der Lage zu unternehmen. Als dies nicht geschah, folgten erste Strafmaßnahmen; die USA schlossen das Kosovo von der Teilnahme am Manöver Defender Europe 23 aus, die EU sagte kurzfristig Treffen mit kosovarischen Politikern ab.[2] Beobachter sahen darin einhellig einen Versuch, Serbien zu umgarnen, das als Schutzmacht der serbischsprachigen Minderheit des Kosovo auftritt, und ihm eine mögliche Abkehr von Russland schmackhaft zu machen. Belgrad kooperiert traditionell eng mit Moskau.


Alternativen zu Russland

Hintergrund des westlichen Werbens um Belgrad sind jüngere Aktivitäten Serbiens, die sich als Versuch begreifen lassen, sich ein Stück weit vom russischen Einfluss zu lösen. So hält zwar Gazprom noch eine Mehrheit an dem serbischen Ölkonzern NIS (Naftna industrije Srbije); Serbien hat allerdings den Anteil des Erdöls, den es aus Russland einführt, von rund 84 Prozent im Jahr 2015 auf nur noch 24,5 Prozent im Jahr 2021 reduziert.[3] Zudem hat es nicht zuletzt auf Druck der EU begonnen, seine Erdgaslieferanten zu diversifizieren; ist es bisher weitgehend von Importen aus Russland abhängig, so ist am 1. Februar der Bau einer neuen Pipeline gestartet worden, die Erdgas aus Aserbaidschan über Bulgarien nach Serbien leiten soll. Finanziert wird das Vorhaben großenteils von der EU.[4] Belgrad hat zwar militärische Kooperationsabkommen mit Moskau und mit China unterzeichnet und nutzt im großen Stil russische und inzwischen auch chinesische Waffen. Es plant allerdings derzeit, anstelle russischer französische Rafale-Kampfjets zu erwerben, und will darüber hinaus US-Militärtransportfahrzeuge beschaffen.[5] Fragen auch in Moskau haben zudem Berichte aufgeworfen, denen zufolge annähernd 3.500 in Serbien produzierte Raketen in die Ukraine gelangt sind – nach Angaben aus Belgrad freilich ohne Wissen der dortigen Regierung.[6]


Erfolglose Gespräche

Mit ihrem Versuch, Belgrad gegen Priština zu unterstützen und es damit weiter von Moskau wegzulocken, stecken EU und USA allerdings mittlerweile fest. Am vergangenen Donnerstag hatten sie unter massiven Drohungen den kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti und den Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić, nach Brüssel geladen, um dort zumindest die Forderung nach Neuwahlen im Nordkosovo durchzusetzen. Vučić weigerte sich jedoch, mit Kurti persönlich zusammenzutreffen; stattfinden konnte bloß ein indirekter Austausch, bei dem Vučić und Kurti jeweils getrennt mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell verhandelten.[7] Nicht einmal über die Modalitäten für baldige Neuwahlen im Nordkosovo konnte Einigkeit erzielt werden. Wie es mit dem Konflikt weitergehen soll, ist nicht wirklich ersichtlich. Nach dem Treffen der EU-Außenminister am Montag teilte Borrell mit, Brüssel werde, sofern sich nicht bald Fortschritte abzeichneten, zu härteren Sanktionen greifen, unter anderem auch zu solchen finanzieller Art. Laut Berichten könnte sich der heute beginnende EU-Gipfel mit der jüngsten Konflikteskalation im Kosovo befassen.[8] Dort nehmen die Spannungen immer weiter zu; in den vergangenen Tagen kam es bereits zu mehreren Sprengstoffanschlägen unter anderem auf kosovarische Polizeistationen.[9]


Beijing gewinnt Einfluss

Selbst wenn es gelänge, Serbien ein Stück weit aus seinen Bindungen an Russland zu lösen, wäre die Lage in Südosteuropa aus Sicht der EU noch längst nicht geklärt. So weist etwa die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus Berlin in einer aktuellen Untersuchung darauf hin, dass nicht nur Moskau in Belgrad – jedenfalls noch – über erheblichen Einfluss verfügt, sondern auch Beijing. Demnach gingen in den vergangenen zwölf Jahren über 50 Prozent der Projektmittel, die China in Ost- und Südosteuropa ausgab, und vier Fünftel der dortigen Infrastrukturinvestitionen in die Länder Südosteuropas, die der EU nicht angehören (Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien sowie das illegal von Serbien abgespaltene Kosovo). Von den insgesamt 136 Projekten wiederum, die China in den Jahren von 2013 bis 2021 in diesen Ländern durchführte, wurden 61 mit Serbien vereinbart. Ihr Gesamtwert: 18,77 Milliarden Euro. Der Wert der Investitionszuflüsse aus China nahm in Serbien in den Jahren von 2010 bis 2022 von 2,4 Millionen Euro auf fast 1,4 Milliarden Euro zu.[10] Damit war die Volksrepublik im Jahr 2022 der größte Einzelinvestor in Serbien und lag nur knapp hinter der EU insgesamt; die Investitionen von deren Mitgliedstaaten betrugen 2022 zusammengenommen 1,46 Milliarden Euro. Beijings Einfluss in Serbien liegt damit auf der Hand.


„Dreckige Investitionen aus China“

Die SWP rät zu einem gezielten Vorgehen, um nicht nur den russischen, sondern auch den chinesischen Einfluss in den Nicht-EU-Staaten Südosteuropas allgemein und ganz besonders in Serbien zu reduzieren. So heißt es etwa, man solle auf „einen schrittweisen EU-Beitritt“ der dortigen Länder orientieren – mit frühzeitigen ersten Teilschritten, um rasche Erfolge vorweisen zu können. Außerdem heißt es, Brüssel solle gezielt „Investitionen in Solar- und Windenergie“ stärken und sie „als strategisches Instrument nutzen“, um sich als vorteilhafter Einflussfaktor gegenüber Russland und China zu positionieren: Man könne damit vor allem bei der serbischen Umweltbewegung punkten, die zum Beispiel gegenüber chinesischen Investitionen auf dem serbischen Rohstoffsektor negativ eingestellt sei, da diese ökologische Schäden verursachten. Ausdrücklich heißt es, man dürfe sich „die Chance“, Investitionen in erneuerbare Energien „auch als narratives Mittel gegen ‘dreckige‘ Investitionen (etwa aus Russland oder China) zu nutzen, nicht entgehen lassen“.[11]


Nicht mehr glaubwürdig

Regierungsfernere Fachleute stufen die Erfolgsaussichten der EU freilich negativ ein. „Das Problem“ der EU sei, dass sie nach jahrzehntelangen folgenlosen Beitrittsversprechen nicht mehr „glaubwürdig“ sei, wenn sie den Nichtmitgliedern Südosteuropas eine Annäherung verspreche, erklärt Florian Bieber, ein Politikwissenschaftler der Karl-Franzens-Universität Graz: Derlei Lockversuche seien heute schlicht „nicht mehr realistisch“.[12] Damit fehlt Brüssel ein zentraler Hebel beim Versuch, seinen Einfluss in Südosteuropa zu zementieren.

 

[1] S. dazu Unruhen im Kosovo (II).

[2] Thomas Gutschker, Michael Martens: Keine Freunde mehr? Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.06.2023.

[3] Marina Vulović: Wirtschaftliche Beziehungen zwischen dem Westbalkan und Nicht-EU-Ländern. SWP-Aktuell 2023/A41. Berlin, 26.06.2023.

[4] Bulgaria and Serbia diversify energy supplies. apnews.com 01.02.2023.

[5] Aleksandar Vasovic, Ivana Sekularac: Serbia discusses price of French rafale jets, in shift from ally Russia. finance.yahoo.com 09.06.2023.

[6] Liefert auch Serbien Waffen? Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.06.2023.

[7] Alexandra Brzozowski: No breakthrough at EU crisis talks with Kosovo, Serbia leaders. euractiv.com 23.06.2023.

[8] Alexandra Brzozowski: Early elections in north Kosovo next step, EU says. euractiv.com 27.06.2023.

[9] Alice Taylor: Explosions, and attacks continue in North Kosovo. euractiv.com 28.06.2023.

[10], [11] Marina Vulović: Wirtschaftliche Beziehungen zwischen dem Westbalkan und Nicht-EU-Ländern. SWP-Aktuell 2023/A41. Berlin, 26.06.2023.

[12] „Die EU ist als Vermittlerin nicht glaubwürdig“. tagesschau.de 26.06.2023.


Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9281

 

unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukrainekeinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Nachrichten von Pressenza: Militarismus ist der Elefant im Klimaraum

aus e-mail  von  <newsletter@pressenza.com>, 28. Juni 2023, 7:15 Uhr


Nachrichten von Pressenza - 28.06.2023


Militarismus ist der Elefant im Klimaraum


Ein subjektiver Bericht der über die Internationale Friedenskonferenz für die Ukraine in Wien. Da stand nun der Elefant auf der Bühne, als sich kürzlich in Wien einige Hundert engagierte Friedenskämpfer*innen und Menschrechtsverteidiger*innen – unter ihnen mindestens die Hälfte Frauen und&hellip;

http://www.pressenza.net/?l=de&track=2023/06/militarismus-ist-der-elefant-im-klimaraum/


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Der posthume Demokrat – oder: Fritz Bauer und die CDU


Vor 55 Jahren, am 1. Juli 1968, starb Fritz Bauer. Wie kein anderer Jurist in der Bundesrepublik hat er als hessischer Generalstaatsanwalt nach dem Krieg die NS-Verbrechen verfolgt. Dafür wurde er von vielen bekämpft und geschmäht &#8211; vor allem von&hellip;

http://www.pressenza.net/?l=de&track=2023/06/der-posthume-demokrat-oder-fritz-bauer-und-die-cdu/


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Der Prigoschin-Aufstand: Analyse der Situation und der Folgen in der Region


In den letzten Tagen ist der Konflikt in unserer Region stark eskaliert, einschließlich des Übergreifens von Militäraktionen auf russisches Gebiet. Wir verzichten darauf, die allgemein bekannten Fakten über den „Befreiungs“-Marsch von Jewgeni Prigozhin und der Wagner-Gruppe auf Moskau zu wiederholen.&hellip;

http://www.pressenza.net/?l=de&track=2023/06/der-prigoschin-aufstand-analyse-der-situation-und-der-folgen-in-der-region/


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Wie Tiktok zum Goldrausch beiträgt


Seit Jahren ist im brasilianischen Amazonasgebiet ein regelrechter Goldrausch ausgebrochen. Ein Großteil der Goldsuche findet illegal statt. Die allermeisten der 20.000 illegalen Goldgräber*innen, die sogenannten Garimpeiros, arbeiten aber in indigenen Territorien, wo Goldschürfen verboten ist. Sie dringen immer tiefer in&hellip;

http://www.pressenza.net/?l=de&track=2023/06/wie-tiktok-zum-goldrausch-beitraegt/


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Putschversuch in Russland


Westen beobachtet gescheiterten Putschversuch in Russland mit Sorge wegen möglicher Instabilität rings um die russischen Nuklearwaffen; Interesse an Schwächung Moskaus überwiegt jedoch. Mit großem Interesse und einiger Sorge haben die westlichen Regierungen, auch die deutsche, den Putschversuch des Milizenführers Jewgenij&hellip;

http://www.pressenza.net/?l=de&track=2023/06/putschversuch-in-russland/


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Pressenza - ist eine internationale Presseagentur, die sich auf Nachrichten zu den Themen Frieden und Gewaltfreiheit spezialisiert hat, mit Vertretungen in Athen, Barcelona, Berlin, Bordeaux, Brüssel, Budapest, Buenos Aires, Florenz, Lima, London, Madrid, Mailand, Manila, Mar del Plata, Montreal, München, New York, Paris, Porto, Quito, Rom, Santiago, Sao Paulo, Turin, Valencia und Wien.


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Der Übergang zur Diplomatie (II) Multilaterale Verhandlungen mit Kiew zur Beendigung des Ukraine-Krieges haben begonnen – erstmals unter Beteiligung des Westens. Globaler Süden setzt Suche nach Friedenslösung fort.

german-foreign-policy.com, 28. Juni 2023

BERLIN/KIEW/KOPENHAGEN (Eigener Bericht) – Mit deutscher Beteiligung haben am Wochenende erste multilaterale Verhandlungen mit Kiew über eine Beendigung des Ukraine-Krieges begonnen. Am Samstag fanden in Kopenhagen Gespräche der G7-Staaten, der Ukraine sowie von fünf Ländern des Globalen Südens statt, die an Vermittlungsbemühungen zwischen Russland und der Ukraine beteiligt waren oder sind. Ziel des Treffens war es explizit, Friedensverhandlungen in Gang zu bringen; weitere Zusammenkünfte sollen folgen. In Kopenhagen ging es unter anderem um Sicherheitsgarantien, darunter nicht nur solche für die Ukraine, sondern auch Garantien für Russland. Öffentlich werden diese freilich noch zurückgewiesen. Außenministerin Annalena Baerbock etwa verlangte am gestrigen Dienstag bei einem Besuch in Südafrika, Russland müsse umgehend „seine Soldaten abziehen“. Unterdessen setzen Staaten des Globalen Südens ihre Suche nach einer Verhandlungslösung fort. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa ist erst kürzlich von einer „afrikanischen Friedensmission“ zurückgekehrt. Brasiliens Präsident Lula klagt, es sei offenkundig „Mode unter den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates“ geworden, „in andere Länder einzufallen“. Das müsse enden.


Zitat: Verhandlungen in Kopenhagen

Das Treffen am vergangenen Samstag in Kopenhagen ist – soweit bekannt – das erste gewesen, bei dem die westlichen Staaten in einem größeren Rahmen mit Kiew über eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg gesprochen haben. Offiziell zu dem Treffen eingeladen hatte die Ukraine; vertreten waren außer ihr sowie dem Gastgeber Dänemark die G7-Staaten und fünf Staaten des Globalen Südens, die bereits Vermittlungserfolge zwischen Kiew und Moskau erzielt haben (Türkei, Saudi-Arabien) oder sich noch darum bemühen (Brasilien, Indien, Südafrika). Die Bundesregierung hatte Jens Plötner geschickt, den wichtigsten außenpolitischen Berater von Kanzler Olaf Scholz. China war eingeladen, nahm aber nicht an der Zusammenkunft teil. Russlands Anwesenheit war nicht erwünscht. Das Treffen war offenkundig schon seit geraumer Zeit geplant; bereits im Mai hatte Dänemarks Außenminister Lars Løkke Rasmussen mitgeteilt, sollte die Ukraine bereit sein, mit Ländern wie Brasilien, Indien oder Südafrika über etwaige Friedensverhandlungen zu diskutieren, dann biete sich Kopenhagen als Ort dafür an. Für das Treffen stark gemacht hatten sich auch die USA; allerdings reiste ihr Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan aufgrund eines Krisentreffens zum Putschversuch in Russland nicht an und war nur per Video zugeschaltet.[1]


Selenskyjs „Friedensformel“

Über den Inhalt des Treffens hüllt sich die Bundesregierung in Schweigen. Ein hochrangiger Mitarbeiter der EU-Kommission ließ sich mit der Auskunft zitieren, in Kopenhagen habe sich „ein genereller Konsens“ dahingehend gezeigt, eine Verhandlungslösung müsse „die Prinzipien der UN-Charta, etwa die territoriale Integrität und die Souveränität“ aller Staaten, bestätigen.[2] Dies lässt keine weiterreichenden Schlüsse zu; ein Bekenntnis zu den UN-Grundsätzen enthalten sämtliche bisherigen Verhandlungsvorstöße von der „Friedensformel“ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bis zu Beijings Zwölf-Punkte-Papier.[3] Gewisse Aufschlüsse erlaubt ein Bericht des ehemaligen brasilianischen Außenministers Celso Amorim, der als Architekt der Politik von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bezüglich des Ukraine-Kriegs gilt und der, als Lulas außenpolitischer Berater, an dem Treffen in Kopenhagen teilnahm. Amorim zufolge präsentierte der Leiter des Kiewer Präsidialamtes, Andrij Jermak, dort einen Entwurf für eine Abschlusserklärung, die mehrere Elemente der Selenskyj‘schen „Friedensformel“ enthielt. Diese sieht den vollständigen Rückzug der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vor – auch von der Krim. Friedensgespräche auf ihrer Basis wären daher nach Lage der Dinge nur bei einer dramatischen russischen Niederlage möglich.[4]


Sicherheitsgarantien

Der Entwurf für die Abschlusserklärung scheiterte entsprechend – wie Amorim bestätigt, an den Einwänden der Länder des Globalen Südens, die unverändert nicht dazu bereit sind, sich dem Druck des Westens zu beugen und sich gegen Russland zu positionieren.[5] Sollte Jermak gehofft haben, einen Keil zwischen sie und Moskau zu treiben, sah er sich getäuscht. Wie unter Berufung auf den deutschen Teilnehmer des Treffens, Kanzlerberater Plötner, berichtet wird, griffen die Gespräche allerdings weiter aus und bezogen auch die Frage nach Sicherheitsgarantien ein – und zwar nicht nur nach Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die voraussichtlich nötig werden, weil ein ukrainischer NATO-Beitritt unter anderem an den Vereinigten Staaten scheitern dürfte (german-foreign-policy.com berichtete [6]), sondern darüber hinaus nach Garantien für Russland. Man könne Moskau beispielsweise versichern, heißt es, „dass keine Marschflugkörper auf dem Gebiet der Ukraine stationiert werden“.[7] Damit wird erstmals erkennbar, dass der Westen bereit sein könnte, Zugeständnisse an Russland zu machen, die in der Öffentlichkeit bislang entschieden zurückgewiesen werden. Wie Amorim bestätigt, sollen dem Treffen weitere folgen. Im Gespräch ist die nächste Zusammenkunft schon für Juli; ob der Plan aufgeht, ist allerdings ungewiss.


Die afrikanische Friedensmission

Unterdessen treiben die fünf Staaten des Globalen Südens, die in Kopenhagen vertreten waren, ihre eigenen Friedensbemühungen energisch voran. Indiens Premierminister Narendra Modi etwa betonte am vergangenen Donnerstag während eines Besuchs in den USA, New Delhi habe „vom Beginn der Ereignisse in der Ukraine an“ danach gestrebt, „den Streit durch Dialog und Diplomatie zu lösen“; es sei unverändert „bereit“, alle Bemühungen um Frieden zu unterstützen.[8] Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa war erst Mitte Juni gemeinsam mit drei anderen afrikanischen Staatschefs und Vertretern dreier weiterer Länder des Kontinents in die Ukraine und nach Russland gereist, um dort mit einer „afrikanischen Friedensmission“ nach Wegen zur Beendigung des Krieges zu suchen.[9] Die afrikanischen Bemühungen sollen weiter vorangetrieben werden. Außenministerin Annalena Baerbock war am gestrigen Dienstag bei einem Besuch in Südafrika bestrebt, Näheres über den Stand der Dinge in Erfahrung zu bringen. Während ihre südafrikanische Amtskollegin Naledi Pandor mitteilte, Pretoria werde sich durch den Putschversuch in Russland nicht von der Suche nach Frieden abbringen lassen [10], hielt Baerbock beinhart an der Forderung fest, Russland müsse „seine Bombardierungen einstellen und seine Soldaten abziehen“ [11]. Nur so könne „der Krieg enden“.


„Niemand will Krieg“

Umfassende Friedensbemühungen entfaltet seit einiger Zeit insbesondere Brasilien unter Präsident Lula. Lula hielt sich Mitte vergangener Woche in Rom auf, um in Gesprächen unter anderem im Vatikan, der seinerseits um ein Ende des Waffengangs bemüht ist, nach Wegen aus dem Krieg zu suchen. Er verband das mit der Forderung, die globale Ordnung an die veränderten Kräfteverhältnisse anzupassen – das umso mehr, als es offenkundig „Mode unter den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates“ geworden sei [12], „in andere Länder einzufallen“, urteilte Lula in der italienischen Hauptstadt. Am Samstag präzisierte er in Paris, „als die Vereinigten Staaten in den Irak einmarschierten“, hätten sie „niemanden konsultiert“; „als Sarkozy und England in Libyen einmarschierten“, hätten sie das ebenfalls nicht getan, „und als Putin in die Ukraine einmarschierte“, habe er sich auch nicht um internationale Zustimmung dafür bemüht. So könne es nicht weitergehen.[13] Lula sprach sich zudem ganz entschieden gegen „einen neuen Kalten Krieg“ zwischen den Vereinigten Staaten und China aus: „Niemand will noch Krieg.“[14] Man könne nicht Milliardensummen in Konflikten verschwenden, wenn weltweit 800 Millionen Menschen Hunger litten.


Keine Eile

Eilig haben die westlichen Mächte es mit der Beendigung des Ukraine-Krieges freilich nicht. Mit Blick auf das geplante Nachfolgetreffen zu der Zusammenkunft in Kopenhagen wurden westliche Diplomaten mit der Einschätzung zitiert, es sei „nicht unbedingt schlecht“, dass es noch ein wenig dauern könne, bis das Treffen zustande komme: Dann hätten „die Ukrainer noch ein bisschen Zeit, noch ein paar mehr Gewinne auf dem Schlachtfeld herauszukitzeln“. Das verbessere ihre Position.[15]

 

Mehr zum Thema: Der Übergang zur Diplomatie (II).

 

[1], [2] Copenhagen meeting helps advance Ukraine ‘peace summit’ plan. euractiv.com 27.06.2023.

[3] S. dazu Auf der Seite des Krieges.

[4], [5] Jamil Chade: Crise fragilizou Rússia, diz Amorim; emergentes bloqueiam proposta de Kiev. noticias.uol.com.br 25.06.2023.

[6] S. dazu Risse in der NATO.

[7] Kristina Dunz: Russlands Angriff auf die Ukraine: Geheimes Friedenstreffen in Kopenhagen. rnd.de 26.06.2023.

[8] Aniruddha Dhar: PM Modi on Ukraine war: ‘India ready to contribute in any way to restore peace’. hindustantimes.com 22.06.2023.

[9] Médiation entre Zelensky et Poutine : missiles, train bloqué, cocktail sur la Neva… Ce qu’il faut retenir de la mission de paix africaine. jeuneafrique.com 20.06.2023.

[10] S Africa: ‘Peace mission’ in Ukraine unaffected by Russia mutiny. aljazeera.com 27.06.2023.

[11] Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Deutsch-Südafrikanischen Binationalen Kommission. 27.06.2023.

[12] Lula vai enviar Celso Amorim para participar de encontro na Dinamarca sobre a Ucrânia. gazetadopovo.com.br 22.06.2023.

[13] Brasilien: Lula hinterfragt die Rolle internationaler Organisationen in Konflikten. latina-press.com 24.06.2023.

[14] Lula vai enviar Celso Amorim para participar de encontro na Dinamarca sobre a Ucrânia. gazetadopovo.com.br 22.06.2023.

[15] Copenhagen meeting helps advance Ukraine ‘peace summit’ plan. euractiv.com 27.06.2023.


Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9280


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Öffentlicher Gerichtstermin am 29. Juni: NachDenkSeiten versus Bundespressekonferenz

nachdenkseiten.de, vom 19. Juni 2023 um 10:00 Ein Artikel von: Florian Warweg

Nach längerem Hin und Her sowie einem abgelehnten Verfügungsantrag ist es so weit: Am 29. Juni gibt es die erste öffentliche Verhandlung im Hauptverfahren am Berliner Landgericht zwischen dem NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg und dem privaten Verein „Bundespressekonferenz e.V.“ (BPK), welcher in Deutschland über das Monopol zur Durchführung der sogenannten Regierungspressekonferenzen verfügt. Dessen Vorstand will den NachDenkSeiten mit allen Mitteln den Zugang zu den Regierungspressekonferenzen verweigern. Man fürchte, das wurde so offen kommuniziert, einen Präzedenzfall für alle „alternativen Medien“. Für unsere Leser zeichnen wir die Argumentation der NachDenkSeiten sowie die der beklagten Seite, dem BPK e.V., nach.


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Hintergrund: Was bisher geschah

Am 18. August 2022 erhielt der Autor dieser Zeilen auf dem Postweg ein Schreiben vom Vorsitzenden des BPK-Mitgliedsausschusses, Jörg Blank, seines Zeichens „Kanzlerkorrespondent“ bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa), in welchem ihm dieser mitteilte, dass der Ausschuss sich „nach eingehender Prüfung“ bestätigt sähe, den Antrag auf Mitgliedschaft in der BPK abzulehnen. Die einzig angeführte Begründung? Ich würde angeblich für die NachDenkSeiten nicht regelmäßig zu bundespolitischen Themen schreiben. Wie konstruiert und leicht widerlegbar diese Argumentation ist, erschließt sich durch eine kurze Inaugenscheinnahme meiner seit dem 1. Juni 2022 für die NachDenkSeiten verfassten Artikel, die sich in ihrer großen Mehrheit nachweislich bundespolitischen Themen widmen. Wenn man zu der Thematik recherchiert, wird deutlich, dass es derzeit zum Beispiel kaum andere Journalisten in der Bundesrepublik gibt, die so regelmäßig und in der politischen Breite wie ich für die NachDenkSeiten parlamentarische Initiativen im Bundestag (schriftliche Fragen, Kleine Anfragen an die Bundesregierung, Anträge etc.) auswerten und aufbereiten.

Noch eklatanter wird es, wenn man sich anschaut, was problemlos aufgenommene Mitglieder der BPK journalistisch so an Artikeln zu „Bundespolitik“ produzieren. Exemplarisch sei auf den ehemaligen Tagesspiegel-Redakteur und bis Ende 2022 Mitglied des umstrittenen Überwachungsportals „Gegneranalyse“, Matthias Meisner, verwiesen. Bis zum heutigen Tag bleibt Matthias Meisner das einzige Mitglied der Bundespressekonferenz, welches sich proaktiv und öffentlich gegen die Mitgliedschaft eines NDS-Redakteurs bei der Bundespressekonferenz ausgesprochen und eine entsprechende Kampagne initiiert hatte.

Daneben gibt es noch die öffentliche Bekanntmachung des Videobloggers Tilo Jung, der seit 2022 de facto über das Aufzeichnungsmonopol in der BPK verfügt. Kein anderer Journalist berichtet derzeit regelmäßig und videobasiert über die Regierungspressekonferenzen in der BPK. Eine Präsenz der NDS auf der BPK wäre also eine direkte Konkurrenz für Jung und sein mediales Business-Modell. Der Macher von Jung & Naiv erklärte im Juni 2022 folglich nicht ganz überraschend unter einem Tweet von Meisner, dass er „postwendend“ Einspruch gegen die Mitgliedschaft eines NDS-Redakteurs eingelegt habe. Seine Behauptung gegenüber Meisner, er wüsste von „Dutzenden“ solcher Einsprüche, ist nachweislich falsch. Selbst der BPK-Vorstand spricht lediglich von insgesamt sechs Widersprüchen, die eingegangen seien – wohlgemerkt bei über 900 Vereinsmitgliedern. Es legten also nur rund 0,67 Prozent der Gesamtmitgliederschaft Widerspruch ein.

Doch Meisner selbst, wie dargelegt die Hauptstimme gegen eine Mitgliedschaft der NachDenkSeiten in der BPK, schreibt spätestens seit 2023 weder regelmäßig zu bundespolitischen Themen (ein Blick auf seine Website, in der er alle Artikel aufführt, bestätigt dies), noch erfüllt er derzeit die Grundvoraussetzung in der Satzung der BPK, die vorschreibt, dass man „aus Berlin und/oder Bonn ständig und weit überwiegend über die Bundespolitik“ zu berichten habe. Herr Meisner lebt nämlich seit Beginn 2023 vornehmlich im europäischen Ausland, genauer in Prag.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Hauptpropagandist gegen unsere Mitgliedschaft in der BPK erfüllt selbst nicht einmal die Mindestanforderungen, die laut Satzung an den Erhalt und die Beibehaltung der Mitgliedschaft gestellt werden, dies hat aber bisher keinerlei Konsequenzen für seinen dortigen Mitgliedsstatus. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf den Ausschluss von Boris Reitschuster aus der BPK. Als einzige Begründung für den Rausschmiss wurde damals vom BPK-Vorstand angeführt, dass er gegen die Satzung verstoßen habe, indem er „keine Tätigkeit aus Berlin oder Bonn für eine Firma, die in Deutschland ansässig ist“, ausübe. Das auf seiner Seite angegebene Impressum weise eine Adresse in Montenegro auf. Fragen wirft in diesem Zusammenhang allerdings auch das Impressum auf, welches der nach Selbstauskunft „freie Journalist in Berlin und Prag“ Matthias Meisner auf seiner Homepage Meisnerwerk angibt:

Die als Impressum angegebene Adresse widerspricht ebenfalls den in der BPK-Satzung definierten Anforderungen an eine Mitgliedschaft. Denn „Mission Lifeline“ ist ein Dresdner Verein, dessen alleiniger Vereinszweck die Seenotrettung von Menschen im Mittelmeer ist. Eine anerkennenswerte Tätigkeit, doch verfügt der Verein über keinerlei Status als journalistisches Medium.

Ähnliche Fragen wie bei Meisner stellen sich zudem für die zahlreichen Vertreter von Lobby-Medien in der BPK wie zum Beispiel Clean Energy Wire, das Bundeswehr-Magazin, Finanztip, Energie & Management, das IT-Portal Golem, Diabetes Ratgeber, Apothekerzeitung oder das Deutsche Ärzteblatt. So sind allein für letztere Publikation aktuell elf Journalisten bei der BPK als Mitglied aufgelistet. Dass diese in die BPK aufgenommenen Vertreter der genannten Medien „ständig und weit überwiegend über Bundespolitik“ schreiben, ist mehr als fraglich.

Vor diesem skizzierten Hintergrund entschloss sich die NachDenkSeiten-Redaktion, den Klageweg einzuschlagen.

Argumentation für Aufnahme bei der BPK

Das Hauptargument unseres Anwalts ist es, dass der Verein BPK e.V. mit der alleinigen Ausrichtung der dreimal die Woche stattfindenden Regierungspressekonferenzen unter Teilnahme aller Ministerien und des Regierungssprechers über mindestens ein „faktisches Monopol“ verfügt. Zwar dürfen private Vereine grundsätzlich die Entscheidung über Mitgliedschaft willkürlich gestalten. Eine Ausnahme bestehe jedoch „im Fall eines situativen Anwendungsbereichs der Grundrechte. Insoweit unterliegen Monopolisten im Wege mittelbarer Drittwirkung der Grundrechtsbindung.“ Im aktuellen Fall geht es sogar um den besonders sensiblen Grundrechtsbereich der Presse- und Medienfreiheit.

Keine andere private oder staatliche Institution in der Bundesrepublik richtet nachweislich sonst noch Regierungspressekonferenzen aus. Der regelmäßige gleichzeitige Zugang zu allen Ministerien- und Regierungssprechern ist somit alternativlos und nicht substituierbar.

„Die Pressefreiheit“, so ein wegweisendes Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart, „kann nicht nur durch Maßnahmen der Regierung oder der Polizei, nicht nur durch übermächtige Pressekonzerne, sondern auch durch freiwillige Zusammenschlüsse von Journalisten beeinträchtigt werden, wenn durch die Auflagenstärke des Zusammenschlusses und darüber hinaus noch durch einen irreführenden Namen die Gefahr eines auch nur teilweisen Nachrichtenmonopols heraufbeschworen wird. Dieser Fall ist hier gegeben, und er ist gerade für sehr kleine Publikationsorgane, die ständig um ihre wirtschaftliche Existenz ringen müssen, bedrohlich. Die Pressefreiheit ist aber nur dann gewährleistet, wenn auch kleine Publikationsorgane und wenn alle parteipolitischen Richtungen zu Wort kommen.“ (Urteil vom 11. Mai 1971 – 6 U 99/70)

Des Weiteren wird argumentiert, dass, wie bereits zuvor im Artikel ausgeführt, die von mir verfassten Artikel „ganz überwiegend“ als bundespolitisch einzuordnen sind, und zudem darauf verwiesen, dass die BPK weder in der Satzung noch in irgendeiner anderen Form den von ihr genutzten Begriff „Bundespolitik“ definiert.

„Der Antragsgegner bleibt bereits eine brauchbare Definition schuldig, was er unter „ständig und weit überwiegend über die Bundespolitik berichten“ versteht. Diesseits wird bezweifelt, dass solches in justiziabler Form überhaupt möglich wäre.“

Auch grundsätzlich erscheint es im Hinblick auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie Artikel 5 des Grundgesetzes fragwürdig, wenn ein privater Verein, der das Monopol auf Regierungspressekonferenzen hält, die Forderung aufstellt, Journalisten müssten sich für Zugang zu diesen auf ein bestimmtes Ressort fokussieren und diese Zuteilung dann noch quantitativ ohne jegliche Definitionsgrundlage von „Bundespolitik“ überprüfen und bestimmen.

Davon abgesehen ist der Antragsteller bei den NachDenkSeiten jedoch explizit für das Ressort Bundespolitik zuständig, und in seinem Arbeitsvertrag sind die Abdeckung der BPK und seine Tätigkeit als „Parlamentskorrespondent“ auch entsprechend als zentrales Aufgabenprofil genannt. Im Arbeitsvertrag heißt es dazu:

„Für die NachDenkSeiten ist Florian Warweg als Parlamentskorrespondent tätig und wird in dieser Funktion auch die Bundespressekonferenz abdecken.“

Es gibt für einen Journalisten mit Schwerpunkt Bundespolitik keinen adäquaten Ersatz zur Bundespressekonferenz. Nur dort stehen dreimal die Woche Pressesprecher aller Ministerien und der Sprecher des Kanzlers unmittelbar Rede und Antwort. Die Presseabteilungen der jeweiligen Bundesministerien sind kein adäquater Ersatz. Presseanfragen der NachDenkSeiten wurden zum Beispiel, etwa im Falle des vom Familienministerium finanzierten Projekts „Gegneranalyse“, erst mit wochenlanger Verspätung beantwortet. Zudem macht es natürlich einen entscheidenden qualitativen Unterschied, ob ein Journalist die Möglichkeit hat, direkt alle Ministeriensprecher zu befragen und diese unmittelbar antworten müssen, oder die jeweiligen Presseabteilungen einzeln abgefragt werden müssen – mit keinerlei Garantie, eine zeitnahe Antwort zu bekommen.

Argumentation gegen die Aufnahme: Der Warweg trug mal eine „Free Assange“-Maske in der BPK

Zunächst begründete der BPK-Vorstand seine Entscheidung, mich nicht aufzunehmen, ausschließlich mit der Behauptung, ich würde für die NachDenkSeiten nicht „ständig und weit überwiegend über Bundespolitik“ berichten. Im Schreiben des Anwalts, der den BPK e.V. vertritt, wurden dann aber noch weitere Gründe nachgeschoben.

„Sorge vor Missachtung journalistischer Standards“

So heißt es zum Beispiel unter der oben genannten Überschrift in dem Schreiben des den BPK e.V. vertretenden Anwalts:

„Zudem hat sich der Kläger in der Vergangenheit nicht an die Vorgaben des Beklagten gehalten. Auf einem Foto, welches im Rahmen seiner früheren Tätigkeit als Korrespondent des russischen Propagandasenders RTV (sic!) entstand, zeigte er sich mit einer „Free Assange“-Maske in dem Raum für die Abhaltung der Bundespressekonferenzen. Dieses Foto wurde jedoch auch von den Nachdenkseiten verwendet. Eine solche Maske ist als aktivistisches Statement in der Praxis des Beklagten nicht geduldet. Es widerspricht dem bei dem Beklagten etablierten journalistischen Selbstverständnis. Das sitzungsleitende Vorstandsmitglied des Beklagten konnte im konkreten Fall die Maske jedoch nicht erkennen, da der Kläger sich auf dem Foto abgewandt und während der Sitzung möglicherweise eine andere, neutrale Maske getragen hat. Hätte der Vorstand die beschriftete Maske gesehen, hätte er sie als unzulässige Demonstration im Rahmen der Pressekonferenz gerügt. (…) Dass der Kläger gerade mit diesem Foto auf der Vorstellungsseite seines neuen Mediums seine journalistische Grundhaltung demonstriert, belegt ein Grundverständnis, das dem bei dem Beklagten etablierten Leitbild journalistischer Tätigkeit widerspricht.“

Bei dem reklamierten Foto handelt es sich um folgende Aufnahme, die zur Bebilderung des Artikels von Albrecht Müller „Florian Warweg – Verstärkung für die NachDenkSeiten“ genutzt worden war:

Das Foto war zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre alt und am 17. Juni 2020, einem Mittwoch, um 12:52 aufgenommen worden, also vor dem offiziellen Beginn der BPK, die mittwochs immer um 13 Uhr beginnt. Ich hatte es damals lediglich als Foto-Gag genutzt, zu diesem Zeitpunkt herrschte noch gar kein Maskenzwang in der BPK. Ich twitterte das Foto einen Tag später. Es gab dazu über zwei Jahre lang keinerlei kritische Rückmeldung vom BPK-Vorstand, obwohl das Foto dort bekannt war. Aber fast drei Jahre später soll das plötzlich ein Skandal sein und wird ernsthaft als Argument gegen meine Mitgliedschaft in der Bundespressekonferenz aufgeführt?

Davon abgesehen hatte ich nie den Status eines „Korrespondenten“, geschweige denn war ich für den „Propagandasender RTV“ tätig. Wikipedia führt unter TV-Sendern mit dieser Abkürzung folgende Medien auf:

„Kein hinreichender Nachweis über die Tätigkeit als Parlamentskorrespondent“

Der geneigte Leser kann sich ja selbst ein Bild machen, welche der Artikel, die ich beispielsweise im Verlauf der letzten zwei Monate verfasst habe, nicht unter den Oberbegriff „Bundespolitik“ fallen:


„Sorge vor vereinsschädigendem Verhalten“

Zu diesem Punkt heißt es:

„Der Kläger hat sich mehrfach überaus kritisch und zum Teil beleidigend über langjährige Mitglieder des Beklagten in seinen Artikeln und in den sozialen Netzwerken (zum Beispiel auf Twitter) geäußert. Dem Beklagten ist bewusst, dass kritische Berichterstattung – auch über andere Journalisten – erlaubt sein muss und möchte dies nicht unterbinden. Beleidigende Äußerungen und die Verbreitung von falschen Tatsachen sind für den Beklagten jedoch nicht hinnehmbar. Hier hat er auch gegenüber seinen Mitgliedern die Pflicht, diese vor unzumutbaren Angriffen zu schützen und hat darüber hinaus ein berechtigtes Interesse, die Arbeit des Vereins nicht zu beschädigen.“

Doch die Behauptung, ich hätte „langjährige Mitglieder“ der BPK auf Twitter oder in Artikeln beleidigt, wird mit keinem einzigen Beispiel belegt. Mir fiele auch ernsthaft kein Fall ein, der den Tatbestand „Beleidigung“ erfüllen würde. Das einzige Mal, dass ich mich auf Twitter zu einem BPK-Vorstandsmitglied geäußert hatte, war dieser Tweet:

Weiter heißt es dazu im Schreiben des BPK-Anwalts, erneut ohne jeden konkreten Beleg:

„Der Kläger hat durch seine Artikel in der Vergangenheit mehrfach die Glaubwürdigkeit anderer Mitglieder in Frage gestellt, und es besteht die Befürchtung, dass der Kläger die Veranstaltungen des Beklagten offenbar als Bühne nutzen will, um sich selbst als einzig kritische Alternative zu prägender Mehrheit der Mitglieder zu inszenieren.“

BPK hat keine Monopolstellung

Die Vorstandsvertreter der BPK behaupten, dass die BPK keine Monopolstellung innehabe, da es ja, so einer der zentralen Argumentationsansätze, dem bei Abweisung des Eilantrags sogar der entsprechende Richter folgte, öffentlich zugängliche Live-Übertragungen der Regierungspressekonferenzen gäbe. Doch dies ist nachweislich falsch. Diese Live-Übertragungen gibt es nicht. Es gab diese lediglich als explizite Ausnahme in der Hochphase der Corona-Maßnahmen. Hierzu hatten sich übrigens die BPK-Vorstandsmitglieder bei der Befragung durch den Richter im Zuge des Eilantrags auch nicht vollumfänglich wahrheitsgemäß geäußert. Sie implizierten gegenüber dem Richter wider besseren Wissens, dass es die Live-Übertragungen der gesamten Regierungspressekonferenz weiterhin gibt. Die NachDenkSeiten fragten beim Leiter Stabsstelle Kommunikation des öffentlich-rechtlichen Senders Phönix, Uwe-Jens Lindner, an, wie es um die Live-Übertragungen der Regierungspressekonferenzen in der BPK steht. Seine Antwort war unmissverständlich:

Regierungspressekonferenzen sind grundsätzlich von der Live-Übertragung ausgenommen und erst nach 30 Minuten frei lediglich für eine ausschnittweise Verwendung. Damit will der Verein sicherstellen, dass ein Großteil der Informationen der Regierungs-PK seinen Mitgliedern exklusiv zugutekommt.

Während der Corona-Zeit galt für Regierungspressekonferenzen eine grundsätzliche Ausnahme: In diesem Zeitraum war die Live-Übertragung durch phoenix gestattet, um zu vermeiden, dass zu viele Menschen im BPK-Saal zusammenkommen. Diese generelle Ausnahme besteht seit einiger Zeit nicht mehr.

Ein weiteres angeführtes Argument gegen die Monopolstellung lautet, dass sich doch jeder Journalist mit konkreten Fragen an die jeweils zuständigen Pressestellen von Ministerien und Behörden wenden könnte. Diese seien nach dem Informationsfreiheitsgesetz zur zeitnahen Auskunft verpflichtet.

Auch sei der gesamte Inhalt der sogenannten Regierungspressekonferenzen mit den Sprecherinnen und den Sprechern der Bundesregierung, die regelmäßig stattfinden, auch Nichtmitgliedern des Beklagten auf dem Onlineportal der Bundesregierung innerhalb von 24 Stunden nach dem Ende der Presskonferenzen als anonymisiertes Wortprotokoll zugänglich.

Ebenso spräche gegen eine Monopolstellung des Beklagten die Tatsache, „dass eine Befragung von Mitgliedern der Bundesregierung und anderen Gästen des Beklagten auch außerhalb von den Veranstaltungen des Beklagten für Journalisten jederzeit möglich ist und auch tatsächlich im Rahmen der journalistischen Arbeit ständig erfolgt: Die bereits erwähnten Pressestellen gewähren Journalisten und Zeitungen auf Anfrage Interviews und laden zu Hintergrundgesprächen ein.“

Bezeichnend auch die weitere Argumentation, dass zudem auch „der parlamentarische Raum, eine nicht zu unterschätzende Quelle für Informationen ist“ und dass „regelmäßige Kontakte zu Fraktionen und Parteien, zu Ausschüssen des Bundestages, zu Experten und Fachleuten einen guten Überblick auch über den Regierungsalltag geben.“ Man verweist folglich auf die Informationsmöglichkeiten in der Legislative, um zu behaupten, man hätte keinen Monopolcharakter in Bezug auf Pressekonferenzen der Exekutive.

Das Schreiben des BPK-Anwalts endet mit dem vielsagenden Satz:

„Da die Satzung keine Begründungspflicht für die Zurückweisung des Einspruches vorsieht, ist dies vorliegend ohnehin unproblematisch. Dies scheint der Beklagte jedoch nicht verstehen zu wollen.“

Die Verhandlung zwischen dem NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg und dem BPK e.V. findet am 29. Juni 2023 um 11:30 Uhr am Landgericht Berlin (Tegeler Weg 17-21) im Sitzungssaal 111 statt. Die Verhandlung ist öffentlich.


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28.06.2023

Nahostkonflikt Annexion als Ziel

jungewelt.deAusgabe vom 28.06.2023, Von Helga Baumgarten, Jerusalem

Palästina: Israels Rechtsaußenregierung steigert Gewalt in besetzten Gebieten und Gaza


Raneen Sawafta/REUTERS

Rette sich, wer kann: Schutz suchen vor israelischer Militäraktion in Dschenin (19.6.2023)

Hintergrund: Dschenin und »Islamischer Dschihad« Die Kleinstadt Dschenin im Norden der Westbank und das angrenzende Flüchtlingslager Dschenin sind in aller Munde. Dort wurde im Mai 2022 die palästinensische Journalistin Schirin Abu Akleh, die für Al-Dschasira arbeitete, von einem Scharfschützen der israelischen Armee erschossen. Ihr Tod und das gewaltsame Vorgehen der Polizei bei ihrer Beerdigung in Jerusalem stießen weltweit auf Empörung.

Komplett anzeigen

Seit 1967 müssen die Palästinenser unter einem Besatzungsregime leben, das von der israelischen Armee aufrechterhalten wird. Inzwischen sind sie mit immer fanatischeren Siedlern konfrontiert. Diese Siedler meinen, dass ihnen das gesamte historische Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss von Gott versprochen sei. Für die Palästinenser sei dort kein Platz. Inzwischen gerieren sie sich als Kolonialherren, die den Willen Gottes, wie sie ihn interpretieren, mit immer mehr Gewalt gegen die Palästinenser durchsetzen. Dörfer werden angezündet, Menschen zusammengeschlagen und erschossen, Moscheen werden entweiht und geschändet, Korane werden zerrissen und angezündet. Die Siedler verüben ihre Gewalttaten fast immer unter dem Schutz der Armee, die sich oft aktiv an der Gewalt gegen die Palästinenser beteiligt. Dabei setzt die Armee, zuletzt in Dschenin vor einer Woche, wieder Kampfhubschrauber und bewaffnete Drohnen ein, zum ersten Mal seit der zweiten Intifada.

Diese Besatzungsgewalt ist nicht neu und unter allen israelischen Regierungen, egal welcher Couleur, zu beobachten. In der Altstadt Jerusalems wurde direkt nach dem Junikrieg 1967 das historische Maghrebi-Viertel dem Erdboden gleichgemacht. Kein Haus blieb stehen, selbst eine Moschee wurde zerstört. Die Bewohner, an die tausend Menschen, wurden vertrieben.


Langer Krieg

1970/1971 schlug Ariel Scharon im Gazastreifen regelrechte Schneisen in die dortigen Flüchtlingslager, um breite Straßen für seine Panzer zu bekommen. Die aus Israel 1948 vertriebenen Palästinenser, die dort überleben mussten, verloren zu Tausenden ihre ärmlichen Behausungen und wurden erneut vertrieben in Richtung Sinaihalbinsel. Die jungen Palästinenser, die Widerstand geleistet hatten, wurden in neuerrichteten Lagern ebenfalls auf der Sinaihalbinsel festgehalten.

1994, in den ersten Monaten des von vielen mit Optimismus begrüßten Osloer Prozesses, der im September 1993 eingeleitet worden war, verübte der Siedler Baruch Goldstein, ein aus den USA eingewanderter Arzt, ein Massaker mitten in der Ibrahimi-Moschee in Hebron an betenden palästinensischen Gläubigen. Er erschoss 29 Menschen und verwundete mehr als 100. Die Armee stellte die Palästinenser in Hebron, die Opfer, für einen Monat unter Ausgangssperre. Die Siedler durften sich dagegen frei bewegen. Goldstein war ein Anhänger des extrem rechten Rabbis Meir Kahane – genau wieder heutige Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir.


Schließlich läuft seit 2006/2007 der »lange Krieg gegen Gaza«, wie ich ihn in Anlehnung an Amira Hass nenne. In diesem Krieg gegen die Menschen in Gaza und ihre gesamte Gesellschaft zerstört die israelische Armee gemäß der sogenannten Dahija-Doktrin in regelmäßigen Abständen in tage- oder wochenlangen Angriffen alles, was ihr in den Weg kommt.


Sinnloses Massaker

Weder während des Osloer Prozesses seit September 1993 noch beim »Camp David II« genannten Treffen Jassir Arafats mit Ehud Barak 2000 noch als Reaktion auf den arabischen Friedensplan 2002 signalisierte Israel jemals Bereitschaft, mit den Palästinensern Frieden zu schließen, basierend auf gegenseitiger Anerkennung. Der ehemalige katholische Patriarch Michel Sabbah brachte es 2014 auf den Begriff: »Was in Gaza passiert, ist kein Krieg, es ist ein Massaker. Ein sinnloses Massaker, denn es bringt Frieden und Sicherheit für Israel keinen Schritt näher. (…) Der einzige Weg heraus ist die Anerkennung des zugrundeliegenden Problems, nämlich der Besatzung. (…) Frieden wird es erst geben, wenn Israel einen freien und souveränen palästinensischen Staat anerkennt. (…) Die jetzige Führung glaubt nur an militärische Macht und Stärke. Sie haben hochentwickelte Waffen, um zu töten. Aber sie haben keine Bereitschaft, Frieden zu schließen. Dazu bringen sie keinen Mut auf.« Michel Sabbah könnte heute genauso argumentieren wie 2014. Hat doch der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu gerade gefordert, den Palästinensern die Idee eines palästinensischen Staates auszutreiben und ihr Streben danach zu »eliminieren«.

Terror und Gegenterror

Schon nach dem Krieg 1967 konnte jeder, der Augen hatte, erkennen, wohin die Besatzung führen würde. Die sozialistische Organisation Matzpen in Israel hat das im September 1967 laut Haaretz auf den Begriff gebracht: »Unser Recht auf Schutz vor Vernichtung gibt uns nicht das Recht, andere zu unterdrücken. Besatzung führt zu Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung. Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror. Terroropfer sind für gewöhnlich unschuldige Menschen. Das Festhalten an den besetzten Gebieten wird uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln. Für einen sofortigen Abzug aus den besetzten Gebieten.«

Netanjahus Ziel ist heute die Annexion der 1967 besetzten Gebiete mit der damit einhergehenden schrittweisen »Eliminierung« seiner palästinensischen Bewohner, sei es durch Vertreibung oder Vernichtung. Sein Minister Ben-Gvir ruft inzwischen dazu auf, Dutzende, Hunderte, wenn nötig Tausende Palästinenser zu töten. Von der sogenannten internationalen Gemeinschaft hört man kritisch-tadelnde Worte, denen keine Taten folgen. Eine Ausnahme sind die klaren Worte von Sven Kühn von Burgsdorff, EU-Vertreter in Israel, der die Angriffe der Siedler auf das Dorf Turmus Aja als Terrorismus benennt und ein Ende der Besatzung fordert. Die Palästinenser bleiben derweil konfrontiert mit einem Staat, der auf Siedlerkolonialismus basiert – einem Apartheidstaat. Von ihm wollen sie sich endlich befreien.

Siehe auch


Info: https://www.jungewelt.de/artikel/453618.nahostkonflikt-annexion-als-ziel.html


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Wenn der Blitz der Geschichte zuschlägt, kommt man am besten gleich zur Sache

freeassange.rtde.life, 27 Juni 2023 16:20 Uhr,  Ein Kommentar von Pepe Escobar

Nach den außergewöhnlichen Ereignissen in Russland, während des "längsten Tages" dieses Jahres, blieb Präsident Putin in allen Belangen der Gewinner. Nebenbei hat er die Mainstream-Medien des kollektiven Westens zu einem absoluten, intergalaktischen Arsch gemacht – wieder einmal.

Wenn der Blitz der Geschichte zuschlägt, kommt man am besten gleich zur SacheQuelle: AFP © Roman Romokhov


 

Ein Anwohner spricht mit einem Mitglied der Wagner-Gruppe in Rostow am Don am 24. Juni 2023.


Nach dem gescheiterten Putschversuch von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mobilisierte Präsident Putin praktisch jeden Russen und jede Russin, um die militärische Sonderoperation (MSO) – oder laut einigen Kreisen, den "Beinahe-Krieg" – schneller zu beenden.

Zusammen mit dem FSB hat Putin nun eine beeindruckende Liste von Verrätern der 5. und 6. Kolonne zusammengestellt, mit denen gebührend umgegangen werden wird. Und er genießt jetzt die uneingeschränkte Freiheit, de facto Befugnisse bei der Anwendung des Kriegsrechts im Rahmen eine Antiterroroperation (ATO) zu besitzen.

So sehr Putin im August 2020 dem ewig regierenden Lukaschenko half und einen Regimewechsel in Weißrussland verhinderte, so sehr verhinderte der gute alte Batka, dass Russland im Juni 2023 in einen Bürgerkrieg abrutscht. In Moskau und darüber hinaus ist derzeit eine komplexe, weitreichende ATO im Gange, während verschiedene westliche Exemplare aus der Subzoologie fassungslos, benommen und verwirrt sind: Sollte das nicht Putins Begegnung mit dem Schicksal von Zar Nikolaus II. sein?

Ein erster Blick auf das Schachbrett verrät uns, dass alle Figuren an ihren richtigen Platz geschoben wurden. Prigoschin erhält in Weißrussland einen goldenen Fallschirm, Verteidigungsminister Schoigu könnte kurz vor der Entlassung stehen, vielleicht sogar zusammen mit Generalstabschef Gerassimow. Ja, es gibt zutiefst dysfunktionale Ebenen im Verteidigungsministerium. Die "Musiker" von Wagner werden entweder als reguläres Armeekorps in die russische Armee eingegliedert, dürfen ihrem Chef nach Minsk folgen oder nach Hause gehen.

Möglicherweise machen sie weiterhin Geschäfte in Afrika, denn die Nachfrage für "Musiker" ist dort riesig.

Was geschah also wirklich vor und nach dem "längsten Tage des Jahres"? Unsummen von CIA-Geldern könnten den Besitzer gewechselt haben. Und am Ende könnte sich der "Putsch" als die größte russische Operation aller Zeiten erweisen, um den Westen zu trollen.


Viktor Orbán im Bild-Interview: Ein ukrainischer Sieg über Russland ist unmöglich





Viktor Orbán im Bild-Interview: Ein ukrainischer Sieg über Russland ist unmöglich






Die Mutter aller Verschleierungen

Wieder einmal beweisen die Fakten vor Ort, dass Putin der unbestrittene oberste Verteidiger Russlands ist. Nachdem er einige Stunden lang strategisches Schweigen bewahrt hatte, erhielt sein späteres Eingreifen die volle Unterstützung der Zivilbevölkerung, des FSB, der Tschetschenen, der Armee, der Kommunisten und aller anderen dazwischen.

Die genauen Bedingungen der Vereinbarung zwischen Lukaschenko und Prigoschin, mit Unterstützung des Gouverneurs der Region Tula, Alexei Djumin, sind noch unklar. Prigoschin gab bekannt, dass er mit den Bedingungen zufrieden sei, während Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zu Protokoll gab, dass ein Strafverfahren gegen Prigoschin eingestellt werden soll. Eine wichtige Forderung von Prigoschin war der Rücktritt von Verteidigungsminister Schoigu und Stabschef Gerassimow. Das könnte in naher Zukunft geschehen – oder auch nicht.

Und das bringt uns zu der immer noch faszinierenden Möglichkeit, dass dies die Mutter aller Verschleierungen war. Prigoschin baute diesen ganzen Zirkus auf, nur um ein Treffen mit Schoigu und Gerassimow in Moskau zu bekommen. Hat da jemand Übertreibung gesagt?  Das Szenario "Mutter aller Verschleierungen" impliziert auch einen Schachzug, der einem 5D-Schachspiel würdig wäre: Am Samstag befand sich die Gruppe Wagner 200 Kilometer von Moskau entfernt – am Sonntag dann 100 Kilometer vor Kiew. Hat da jemand Sun-Tsu-Kriegskunst der nächsten Stufe gesagt?


Ukrainischer Verteidigungsminister: Erwartungen an unsere Gegenoffensive "überschätzt"





Ukrainischer Verteidigungsminister: Erwartungen an unsere Gegenoffensive "überschätzt"






Zwischen Souveränität und Verrat

Alexander Dugin wies zu Recht darauf hin, dass dies auch eine Übung in Souveränität war:

"Nur der souveräne Lukaschenko trat zusammen mit dem souveränen Putin selbst Prigoschin entgegen. Es stellte sich heraus, dass viele den Präsidenten und das Volk hereinlegen können, indem sie im Verborgenen agieren, angeblich sogar in Putins Namen. Aber die Rettung des Vaterlandes in einer kritischen Situation ist nicht ihre Spezialität. Die Konsequenz daraus ist, dass Russland eine souveräne Elite braucht, sonst wiederholt sich alles."

Was den benommenen und verwirrten kollektiven Westen betrifft – insbesondere die NATO-Kiew-Junta, die Wagner umgehend von "Terroristen" in "Freiheitskämpfer" umbenannte –, so ist die Spezialität, die sie beherrschen, sich im eigenen Sumpf zu ertränken. Die Mainstream-Medien behaupteten, dass die "westlichen Offiziellen" von der Meuterei "überrascht" worden seien. Das hängt jedoch davon ab, wie viel Geld während der Vorbereitung zu dem Putsch den Besitzer gewechselt hat, und in welche Richtung.

Die MSO – jetzt ATO – wird fortgesetzt und die russische Armee kämpft unbeirrt weiter. Die "Gegenoffensive" der Ukraine torkelt weiter den Rand einer Klippe entlang und macht sich bereit, die tiefschwarze Leere zu umarmen. Ein Sieg Putins in allen Belangen bedeutet, dass sich die gesamte Zivilbevölkerung – und das Militär – dafür einsetzen, ihn und die russischen Institutionen zu bewahren und zu perfektionieren. Es gibt absolut kein Land im gesamten Westen, in dem wir dieses Maß an öffentlicher Unterstützung für die Regierung finden. Die russische Politik ist ein besonderes Wesen. Sie funktioniert sowohl auf höchster Ebene als auch an der Basis – anders als im Westen, wo tiefe Zwietracht zwischen Eliten und Volk die Norm ist.

Natürlich sollte auch stets darauf hingewiesen werden, dass es die weniger patriotischen russischen Oligarchen sind, die jedes Mal davonlaufen, wenn etwas passiert, das dem "längsten Tage des Jahres" ähnelt. Der Westen setzte seine Wetten einige Stunden lang auf das baldige Auseinanderfallen und die darauffolgende Zerstückelung Russlands. Nein, nicht jetzt und nicht heute. Und auch nicht in absehbarer Zeit.

Die Nachfolge im Kreml wird vom Team Putin und von ausgewählten patriotischen Oligarchen bereits vorbereitet. Unter den Anwärtern gibt es einen geheimen Namen, der jeden verblüffen wird, wenn er bekannt wird. Für die Öffentlichkeit ist er immer noch unsichtbar und agiert im Verborgenen. Sein Name soll vorerst geheim bleiben. Was derzeit zählt, ist, dass Russland insgesamt gestärkt aus dem "längsten Tag" hervorgegangen ist. Der Mann und die Frau auf der Straße zeigten sich als wahre Patrioten, die bereit waren, das Vaterland zu verteidigen, egal was auch immer dafür nötig ist.

Es gab keine Konfrontationen zwischen jenen, die zur Verteidigung der russischen Institutionen antraten, und jenen, die auf der Seite von Wagner standen. Die Bürger unterstützen tatsächlich beide Seiten. Sie setzen Wagner mit den "höflichen grünen Männern" gleich, die 2014 zur friedlichen Rückeroberung der Krim beitrugen und kein einziger Polizist oder Soldat stand ihnen gegenüber.

Putin sitzt also fester im Sattel denn je. Aber jeder sollte immer bedenken: Das Einzige, was Putin nicht verzeihen kann, ist Verrat.

Aus dem Englischen.

Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf Twitter folgen.


Mehr zum Thema - Nord Stream 2 – Der wahre Grund für den Abscheu der US-Regierung


RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Info: https://freeassange.rtde.life/meinung/173711-wenn-blitz-geschichte-zuschlaegt-kommt-man-am-besten-gleich-zur-sache


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Jacques Baud: „Das war sicher kein Putschversuch, wie unsere Medien die Sache aufgeblasen haben“



Jacques Baud im Gespräch mit Florian Rötzer am 26. Juni.


27. Juni 2023 72 Kommentare

Warum man im Westen von falschen Annahmen ausgeht, was der Aktion von Prigoschin zugrunde lag und warum Putin wahrscheinlich gestärkt aus dem Vorfall hervorgeht. Ein Gespräch.

 

Jacques Baud  war Oberst der Schweizer Armee, arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die Vereinten Nationen und für die Nato in der Ukraine. Er ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation. Das Gespräch wurde am 26. Juni geführt.

Am Wochenende gab es die große Aufregung über den angeblichen Militärputsch von Prikoschin mit seinen Wagner-Milizen, der allerdings  schnell wieder abgeblasen wurde. Der Deal scheint zu sein, dass er nach  Weißrussland gehen muss. Damit wäre er wohl getrennt von seinen Wagner-Einheiten und entmachtet. Aber was war das Ganze in Ihren Augen? War das jetzt tatsächlich ein ernsthafter Putschversuch? Oder war es doch eine Art Spiel, eine Erpressung? Oder war es ein abgekartetes Spiel mit dem Kreml?

Jacques Baud: Nein, das war sicher kein Putschversuch, wie unsere Medien die Sache aufgeblasen haben. Im Grunde genommen muss man, um das zu verstehen, zur Schlacht von Bachmut im Oktober letzten Jahres zurückgehen. Am 18. Oktober letztes Jahr hat General Surowikin, der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräften in der Ukraine, eine neue Strategie definiert. Er sagte: „Wir machen jetzt keine großen Angriffsoperationen mehr, sondern werden den vorrückenden Feind zerstören.“ Bachmut hat er als Beispiel, so könnte man sagen, für seine Strategie benutzt, indem er die die Operation Fleischwolf startete. Dafür hat er einen Vertrag mit der Sicherheitsfirma Wagner unterzeichnet. Das heißt, Wagner war beauftragt, für sechs Monate den Feind in Bachmut zu zerstören. Der Vertrag lief von Ende Oktober letztes Jahr bis Ende April dieses Jahres. Das Ziel der Operation war nicht, Bachmut einzunehmen, sondern den Feind in der Stadt zu vernichten. Die Wagner-Truppen haben ihren Auftrag durchgeführt und Ende April hat der russische Generalstab gesagt: Okay, Auftrag erfüllt. Der Vertrag ist jetzt abgelaufen und danke sehr, Sie können zurückkehren. Wir werden jetzt Fallschirmjäger oder andere Truppen in Bachmut einsetzen.

Nur eine Verständnisfrage. Hat Prigoschin die Zahl der Soldaten für diesen Einsatz aufgestockt?

Jacques Baud: Genau. Man muss sich erinnern, dass Wagner im Grunde genommen eine Sicherheitsfirma ist, nicht eine Kampforganisation. Solche Verbände sind für den Häuserkampf geeignet, d.h. das ist grundätzlich Infanteriearbeit. Man braucht Gefechstechnik, aber nicht unbedingt Großwaffen wie Panzer, schwere Artillerie etc. Das Problem ist natürlich, dass man, um einen Feind in einer Stadt zu vernichten, jedes Haus einnehmen und den Feind in jedem Haus zerstören muss. Und das ist genau, was die Wagner-Truppen gemacht haben. Das Problem ist, dass Ende April zwar vielleicht zwischen 95% und 99% der ukrainischen Truppen in Bachmut zerstört waren, aber es blieb noch ein ganz kleiner Teil der Stadt in den Händen der Ukrainer. Deshalb hat Prigoschin gesagt, man sollte die Sache jetzt nicht stoppen, auch wenn der Vertrag abgelaufen war, und die Arbeit fertig machen. Er verlangte weitere Ressourcen, insbesondere Artillerieunterstützung, um die Arbeit beenden und 100% der Stadt einnehmen zu können.

Er wollte also eine Vertragsverlängerung und mehr Geld und Ausrüstung?

Jacques Baud: Es ging ihm vor allem um eine Vertragsverlängerung, aber auch um die Artillerieunterstützung, weil die Wagner-Truppen zwar Infanteriewaffen hatten und von der russischen Armee selbstverständlich Treibstoff, Munition usw. versorgt wurden, aber keine eigene  Artillerieunterstützung hatten. Das ist das Psychodrama, das wir Anfang Mai dieses Jahres gesehen haben. Prigoschin hat gegen den Generalstab, gegen Gerassimow und Shoigu protestiert und gesagt: „Man gibt mir keine Mittel mehr, keine Artillerieunterstützung, das geht nicht so weiter.“ Aber im Prinzip war sein Vertrag abgelaufen. Das ist das Problem.

Im Generalstab in Moskau hat man schlussendlich entschieden, den Vertrag bis zum 21. Mai zu verlängern. Am 20. Mai war Bachmut eingenommen, der Feind war zerstört und die Wagner-Truppen wurden zurückgezogen. Sie wurden durch Fallschirmjäger oder andere Verbände der russischen Streitkräften ersetzt. Dazu kam, dass in der Zwischenzeit die Bedrohung durch die ukrainische Gegenoffensive entstanden ist. Deswegen gelangte man zur Schlussfolgerung, dass die russischen Streitkräfte einer Gegenoffensive nur widerstehen können, wenn sie voll integriert sind. In so ein Dispositiv kann man Wagner nicht integrieren. Das ist eine Privatfirma. Und die Integration eines Privatunternehmens in ein dynamisches Verteidigungssystem, wie das in der Ukraine erforderlich ist, bringt viele operationelle Probleme mit sich …

Bachmut war eine Ausnahme, da es sich um eine von den anderen operativen Aktivitäten getrennte operative Zone handelte. Es war keine Koordination mit anderen Verbänden erforderlich. Aber für die Verteidigung gegen die ukrainische Gegenoffensive sind andere Mittel, eine andere Koordination, Führung und die Integration der Mittel und so weiter notwendig. Das kann man fast nicht oder sehr schwierig mit einer Privatfirma machen.


Der Generalstab in Moskau wollte mit den Privatverbänden Schluss machen und sie in die russischen Streitkräfte integrieren


Das Verteidigungsministerium hat doch verlangt, dass alle privaten Milizen oder Freiwilligenverbände, es gibt an die 40 in Russland, auch von Gazprom und Oligarchen, sich dem Verteidigungsministerium unterstellen müssen. Einige haben diesen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnet, nur Prigoschin wollte das nicht.

Jacques Baud: Man spricht immer von den Russen. Man sollte aber von der russischen Koalition sprechen. Neben der russischen Armee mit dem Kommando in Moskau gab es noch die Milizen der selbständigen Republiken Donezk und Lugansk. Die hatten natürlich andere Regeln und haben seit 2014 auch Privatverbände eingesetzt. Das wurde schon vor der jetzigen militärischen Operation gemacht. Es handelte sich um lokale Milizen, kleine Privatarmeen. Aber die  Republiken wurde in die Russische Föderation integriert. Und jetzt hat der Generalstab in Moskau entschieden, mit diesen Privatverbände Schluss zu machen und sie in die russischen Streitkräfte zu integrieren. Man hatte damals auch die Möglichkeit erwähnt, aber das kann auch nur ein Gerücht sein, eine Fremdenlegion innerhalb der russischen Streitkräfte mit allen diese Privatverbänden und Söldnern zu kreieren. Sicher ist, dass das Oberkommando in Moskau keine selbständigen, halb privaten oder privaten Verbände haben will. Alles soll unter einem Kommando mit einem einheitlichen Führungssystem stehen. Das ist eigentlich ganz logisch.

Aber in der Ukraine ist es doch ähnlich. Da gibt es doch auch viele freiwillige Verbände, die zum Teil dem Verteidigungsministerium, zum Teil dem Innenministerium unterstehen. Ob alle da integriert sind, ist nicht klar. Aber die Ukraine hat mit diesen Verbänden doch Erfolge erzielt.

Jacques Baud: Ja, in der Ukraine gibt es drei verschiedene Verbände. Da sind natürlich die ukrainischen Streitkräfte, die direkt dem Generalstab untergestellt sind. Dann gibt es die Freiwilligenverbände des Innenministeriums, die zum Teil auch in die Streitkräften integriert sind, im Rahmen einer interministeriellen Organisation. Und dazu gibt es npch die sogenannte ukrainische freiwillige Armee. Das sind rechte Extremisten mit der rotschwarzen Flagge, man kann hier von Neonazis sprechen. Sie sind nicht dem Verteidigungsministerium unterstellt, aber operieren in den gleichen Gebieten. Ich weiß nicht, wie die Koordination funktioniert, aber das sind oft sehr brutale Freiwillige, die im Grunde genommen die Arbeit der ukrainischen Streitkräften ergänzen. Das ist eine andere Mechanik dort. Das Hauptproblem bei den Ukrainern ist jedoch die Koordination und operative Integration, zusätzlich zur funktionalen Integration der Waffen natürlich, da sie sehr unterschiedliche Waffen aus verschiedenen Quellen haben. Das macht die Integration dieses Systems extrem schwierig. Sie sind bisher nicht in der Lage gewesen, ihre Streitkräfte sauber in einer Kommandostruktur zu integrieren.

Aber kommen wir zurück zu den Russen und Prigoschin. Das russische Verteidigungsministerium hat den 1. Juli als Termin für die Auflösung der Privatverbände gesetzt. Und dann fangen Sie an zu verstehen, warum Prigoschin so reagiert hat …

Noch mal zuvor eine Frage. Warum hat man hier zu Lande eigentlich nichts oder nur wenig davon gehört? Weder von dem befristeten Vertrag mit Wagner über Bachmut noch von dem, dass die Privatverbände bis zum 1. Juli aufgelöst werden sollen.

Jacques Baud: Ja, ich weiß, niemand redet davon. Aber das ist offene Information. Man gibt uns nur einen Teil der Wahrheit oder einen Teil der Informationen. Und dafür hat man nachher diese Überraschungen wie mit Prigoschin. Aber zurück zur Geschichte. Am 1. Juli sollte also Prigoschin seinen Verband aufgelöst haben. Und dann könnten er und die einzelnen Soldaten Verträge mit den russischen Streitkräften schließen. Die anderen Privatverbände haben das als ganz normal akzeptiert. Nur Prigoschin wollte das nicht tun. Und das ist jetzt das Problem.


Im Grunde ist es ein unternehmerischer oder wirtschaftlicher Konflikt


Es gibt ja auch noch Kadyrow mit seinen tschetschenischen Verbänden. Was ist damit?

Jacques Baud: Die Truppen von Kadyrow sind ein Territorialverband von Tschetschnien, kein Privatverband. Das ist wie die Nationalgarde in den USA zum Beispiel.

Sie unterstehen also dem Verteidigungsministerium?

Jacques Baud: Ja, das entspricht ungefähr dem, was es auch in der Ukraine mit den Verbänden des Innenministeriums gibt. Das ist ein ähnliches Organisationsprinzip. Die Kadyrow-Truppen sind organisatorisch völlig anders als Wagner aufgestellt. Prigoschin wollte den Fall Wagner noch mit Gerassimow und Schoigu diskutieren. Deswegen ist er mit seiner Truppe nach Rostow gefahren. Anscheinend waren Gerassimow und Schoigu kurz in Rostow gewesen, und Prigoschin wollte sie dort treffen und den Fall diskutieren. Das ist eine ähnliche Situation, als wenn beispielsweise in Deutschland oder in Frankreich eine Firma geschlossen wird und die Angestellten auf die Straße gehen und protestieren. Der Unterschied ist natürlich, dass es hier keine normale Arbeiter waren, weil sie Gewehre, Panzer und so weiter hatten. Es ging nicht um eine politische Angelegenheit, einen Putsch oder einen Umsturz der Regierung. Übrigens wurde Putin nie erwähnt, weil Prigoschin vor ihm Respekt hat. Er hat nie im Sinn gehabt, die Regierung zu stürzen, er wollte nur seinen Fall, zusammen mit seiner Truppe, gewissermaßen unter vier Augen, mit Gerasimow und Schoigu diskutieren.

Wir haben im Westen die Sache aufgeblasen. Vor allem in den USA wurde mehrmals gesagt, dass das Ziel der ukrainischen Gegenoffensive nicht unbedingt operationell sein könnte. Das heißt, man erwartet nicht, dass die Ukrainer Gelände gewinnen, sondern man hat im Sinn, dass diese Gegenoffensive eine Panik und dann ein politisches Problem zu kreieren. Das sage nicht ich, sondern Medien in den USA und in Großbritannien.  Das ist ein bisschen verrückt als Idee. Aber unsere Medien haben Prigoschins Aktionen als Panik und politischen Umsturz angenommen oder wahrgenommen. Aber, wie gesagt, Prigoschin hat nie gesagt, die Regierung in Moskau stürzen zu wollen. Er hatte nie den Plan, übrigens auch nicht die Mittel, das zu realisieren. Und man sieht heute auch, dass er keine politische oder populäre Unterstützung hatte. Die Vorstellung, dass er einen Putsch machen könnte, ist  daher völlig falsch. Im Grunde ist es ein unternehmerischer oder wirtschaftlicher Konflikt und hat nichts mit Politik zu tun.

Wagner ist ja auch in Afrika oder in Syrien tätig. Wird denn die Miliz jetzt vollständig aufgelöst?

Jacques Baud: Ich weiß die Details nicht, aber ich nehme an, dass Wagner als Kampfgruppe, die im Donbass eingesetzt wird, aufgelöst wird. Aber Wagner als Firma bleibt bestehen. Sie wird nach wie vor in Afrika für Sicherheitseinsätze eingesetzt. Wagner ist ja eine Sicherheitsfirma, keine Kampffirma. Sie sind nicht ausgerüstet für Kampfhandlungen. Wie gesagt, Bachmut war eine Ausnahme, weil man beim Häuserkampf keine schweren Waffen benötigt, sondern Handgranaten, Sturmgewehre und ein paar tragbare Panzerabwehrwaffen. Und das ist es.  Jedes Mitglied einer Sicherheitsfirma kann diese Waffen beherrschen. Die Einheiten in Mali, Niger oder Burkina Faso werden ihre Sicherheitsaufträge im Dienste oder zugunsten der afrikanischen Länder weitermachen. Nur wird die Kampfeinheit in Ukraine und Russland aufgelöst.

 

Letztlich glaube ich, dass Putin gestärkt aus dieser Angelegenheit hervorgehen wird


Es heißt ja jetzt im Westen, aber natürlich auch in der Ukraine, dass Putin durch den Vorfall geschwächt sei. Sehen Sie das auch so?

Jacques Baud: Das ist vielleicht ein Problem wie bei einem Glas, das man als halb voll oder als halb leer betrachten kann. Der Vorfall hat im Westen und in der Ukraine ein falsches Signal gesendet. Man nahm an, dass wegen der Gegenoffensive Unruhen in Russland entstehen können. Das ist meines Erachtens eine völlig falsche Annahme, die aber im Westen vertreten wird. Das sieht man auch in den Medien, die den Vorfall als Schwäche von Russland oder Putin interpretieren. Wenn man die Sache sauber analysiert, würde ich sagen, ist es fast das Gegenteil, weil diese Krise innerhalb von 24 Stunden ohne Blutbad, ohne große politische Auseinandersetzung in Russland gelöst wurde. Sehr viele Russen haben die Geschehnisse in den Medien verfolgt, wo das sehr breit gezeigt wurde. Als zum Beispiel die Wagner-Truppen in Rostow angekommen sind, hat Putin den russischen Streitkräfte befohlen, nicht zu schießen. Das heißt, die russische Regierung hat eine Strategie der gewaltlosen Lösung gewählt, wie sie auch geschah.

Es wurden aber doch Kampfhubschrauber abgeschossen. Geriet das aus der Kontrolle?

Jacques Baud: Das ist sehr umstritten. Auch die Bilder. Was ich gesehen habe, und das könnte das erklären, ist, dass diese Hubschrauber als ukrainische Hubschrauber gesehen und bekämpft wurden. Ich weiß nicht, von wem. Die Details kenne ich nicht. Aber es können die Soldaten, die an dem Marsch der Gerechtigkeit, wie Prigoschin das genannt hat, teilgenommen haben, gewesen sein, weswegen sie wegen eines bewaffneten Aufstands nach Artikel 279 des russischen Strafgesetzes angeklagt wurden. Auch wenn sie  nicht direkt Gewalt ausgeübt haben, haben sie eine gewisse Gewalt geschaffen. Ich weiß nicht, ob alle Teilnehmer angeklagt werden oder ob es eine Amnestie geben wird, wie das für Prigoschin der Fall zu sein scheint.

Aber sicher ist, dass es in der Situation Chaos gegeben hat, durch das Menschen vermutlich das Leben verloren haben. Wenn man die Krise mit einem gewissen Abstand anschaut, dann sieht man, dass sie gewaltlos gelöst wurde und dass die Macht von Putin in keiner Weise und in keinem Moment in Frage gestellt wurde. Deswegen sage ich, das Glas ist halb voll oder halb leer. Letztlich glaube ich, dass Putin gestärkt aus dieser Angelegenheit hervorgehen wird.

Übrigens sind die Verträge zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium im Westen nicht bekannt, aber in Russland schon. Alles, was ich gesagt habe, findet man natürlich in der Presse. Das heißt, wir haben, und das werfe ich unseren Medien vor, eine falsche Vorstellung der Realität, und basierend auf den falschen Vorstellungen treffen wir falsche Entscheidungen. Ich glaube, das ist das Hauptproblem in einer solchen Situation. Aber im Grunde glaube ich, wird Putin gestärkt aus dieser Angelegenheit kommen.

Wenn der Konflikt um diese vertraglichen Angelegenheiten ging, muss man doch annehmen, dass der Kreml und auch der russische Geheimdienst natürlich hätten wissen müssen, was da kommen könnte, also dass versucht werden könnte, Forderungen auch gewaltsam durchzusetzen. Das geschah doch nicht überraschend, oder doch?


Jacques Baud: Ich glaube, das war eine Überraschung. In Russland haben sie das sicher ein paar Stunden vorher  antizipieren können. Für den Westen war es aber eine totale Überraschung, auch wenn Medien berichten, dass die CIA das vorausgesehen haben soll. Das ist eine falsche Interpretation. Als Prigoschin im Mai sein erstes Psychodrama gegen das Militärkommando in Moskau gemacht hat, wurde die Möglichkeit erwogen, dass er etwas in Moskau unternehmen könnte. Das war im Raum der Möglichkeiten, aber nicht im Bereich der Wahrscheinlichkeiten. Sicher haben die verschiedenen Nachrichtendienste diese Möglichkeit erwähnt, aber sie haben sie nicht antizipiert, dass das so und an diesem Zeitpunkt passieren würde. Das weiß man, weil die ukrainische Kommandostruktur überhaupt nicht reagiert hat. Sie hätten in ihrer Offensive profitieren können. Wenn sie den Aufstand tatsächlich erwartet hätten, wären Operationen vorbereitet worden, um diese chaotische Situation auszunutzen. Aber das war nicht der Fall. Dem entspricht auch die Analyse von einigen Leuten, die ich kenne, die im Nachrichtendienst sind.


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Info: https://overton-magazin.de/top-story/jacques-baud-das-war-sicher-kein-putschversuch-wie-unsere-medien-die-sache-aufgeblasen-haben


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukrainekeinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Nach AfD-Erfolg in Sonneberg: Buhlen um Wagenknecht

freeassange.rtde.life, 28 Juni 2023 12:32 Uhr, Von Dagmar Henn

Plötzlich haben sie alle lieb, der Focus, die Welt, sogar die FAZ. Weil ihnen eine Wagenknecht-Partei als einzige Rettung erscheint. Vielleicht ist das nur ein vorübergehender Schock, aber vor dem Hintergrund der üblichen Beschimpfungen ein eigenartiges Schauspiel.


Quelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld


Sahra Wagenknecht im Bundestag, 15.06.2023


Es gibt leise Anzeichen von Panik. Wenn man daran denkt, mit welcher Leidenschaft in den letzten Jahren über Sahra Wagenknecht hergezogen wurde, erweckt die heutige Berichterstattung schon fast den Eindruck, nun würde der Mainstream sie geradezu anbetteln, doch eine neue Partei zu gründen. Schließlich gilt seit Sonntag als endgültig bestätigt, dass das ehemalige Wählerpotential der Linken im Osten der Republik mittlerweile bei der AfD das Kreuz macht.


spiegel




Analyse

"Spitzengespräch": Strack-Zimmermann und Wissler führen Scheindebatte über den Frieden





Am weitesten geht da der Focus, dessen Kommentar schon im Titel verkündet "Nur Sahra Wagenknecht kann die AfD jetzt noch stoppen". Es gebe eine neue soziale Gruppe in Deutschland, die Anti-Grünen. Und die Linkspartei würde diesen Wählern kein Angebot mehr machen. So eine kleine Verunglimpfung kann er sich allerdings trotz der sichtlichen Bettelei um eine Parteigründung nicht sparen. Bei den Überschneidungen mit der AfD in der Gegnerschaft zu den Russland-Sanktionen und deutschen Waffenlieferungen spiele "auch ein stabiler Anti-Amerikanismus eine Rolle, den ihr Mann Lafontaine seit 40 Jahren verfolgt, schon mit der Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses gegen seinen Parteifreund Helmut Schmidt zu Beginn der achtziger Jahre."

Damals waren viele in der Bundesrepublik gegen diesen Doppelbeschluss, aber "Anti-Amerikanismus" war da nicht der ausschlaggebende Faktor, sondern eher die Tatsache, dass die USA damals im Grunde etwas Ähnliches beabsichtigten, wie es auch ein NATO-Eintritt der Ukraine zur Folge hätte – nämlich eine massive Verringerung der Vorwarnzeit für die Sowjetunion, falls diese US-Raketen je gestartet würden. Es war kein Geheimwissen damals, dass im Falle einer Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion das Schlachtfeld Deutschland heißen würde. Viele hielten das eben nicht für erstrebenswert (was vielleicht mit dazu beigetragen hat, dass man den Ukrainern so gründlich das Denken verdrehte, ehe ihr Land für die gleiche Rolle auserkoren wurde).


Wobei der Focus-Autor bei einer Parteigründung mehr Schwierigkeiten sieht, als sie das Wahlrecht tatsächlich enthält. Sicher, für einen Einzug in den Bundestag wurden die Voraussetzungen noch einmal weiter verschärft, indem es nicht mehr länger möglich ist, mit drei Direktmandaten ins Parlament zu kommen, sprich, die Gelegenheit wurde genutzt, um die einstmals großen Parteien noch weiter abzusichern. Aber es braucht keine fünf Prozent für die Gründung, und zwar 16 Landesverbände, aber die könnten auch aus jeweils sieben Personen bestehen, da gibt es kein Minimum. Die Gründung einer Partei folgt weitgehend dem Vereinsrecht, denn juristisch gelten die meisten Parteien als nicht eingetragene Vereine.


Deutschland: Entweder die AfD wählen oder gar nicht





Meinung

Deutschland: Entweder die AfD wählen oder gar nicht






Die neue Partei, so der Focus, richte sich auf "ein Milieu, das sich nicht nationalistisch, sondern national definiert, nicht liberal, sondern sozial", und nennt das "die Wagenknecht-Lücke". Allerdings wirkt der Kommentar wie ein Bestellzettel, auf dem schon einmal aufgezeichnet ist, was verboten ist – den "Klimawandel leugnen" beispielsweise. Eine Lightversion des momentanen Angriffs auf die Lebensverhältnisse der Mehrheit, mit nur etwas langsamerem Heizungsverbot? Das wird nicht funktionieren.

Die "ungesteuerte Migration" dürfe man "aus sozialen Gründen" ablehnen, wegen des Kampfes um soziale Zuwendungen oder Wohnraum. Auch wegen der Lohndrückerei, die über all die Jahrzehnte das Hauptmotiv war?

Und man dürfe die These ablehnen, "in der Ukraine würden Deutschlands Werte und universalistisch Menschenrechte verteidigt" und Sanktionen und Waffenlieferungen ablehnen. Aber sagen, dass die ukrainischen Nazis Nazis sind und es eine Schande ist, sie zu unterstützen und dass dieses Kiewer Regime entsorgt gehört, das geht natürlich dem Herrn vom Focus zu weit. Aber man darf gegen das Woke sein, in allen Schattierungen.


Ein Erdbeben – (demokratisch) ausgerechnet im Landkreis Sonneberg?




Meinung

Ein Erdbeben – (demokratisch) ausgerechnet im Landkreis Sonneberg?






Die FAZ, die einst als das"Hausblatt der deutschen Bourgeoisie" galt, drängt in eine ähnliche Richtung und interviewt eine Politikwissenschaftlerin, die an einer Studie mitgewirkt hat, deren Titel lautet "Bridging Left and Right? How Sahra Wagenknecht Could Change the German Party Landscape", wie Sahra Wagenknecht die deutsche Parteienlandschaft verändern könnte – aber "Brücken bauen zwischen Links und Rechts"? Ganz plötzlich wird genau das, was jahrelang sofort den Vorwurf "Querfront" auslöste, behandelt wie eine lebensrettende Medizin, als könne man den Schaden, den dieses vage und mit immer mehr Kriterien beladene "rechts", das inzwischen schon aktiviert wird, wenn jemand keine Transfrau in der Frauensauna will, mit einem Handstreich fortwischen.

Dieses Interview versucht sogar, der Linken, die ohne Wagenknecht und Grundmandate vermutlich den Bundestag nur noch von außen betrachten dürfte, eine solche neue Partei schmackhaft zu machen. Sie könne schließlich "als Partnerin attraktiver" sein "für SPD und Grüne". Und es gäbe Grünen-Wähler, die fänden, diese gingen zu viele Kompromisse ein, auf die könne die Linke dann ja setzen.

Währenddessen solle die Wagenknecht-Partei "mit dezidiert linken Inhalten Leute gewinnen", die "enttäuscht sind von der Politik oder sich verloren fühlen mit der progressiven gesellschaftspolitischen Position von Grünen, SPD und Linkspartei". "Progressive gesellschaftspolitische Positionen", da ging es einmal um Lebensqualität für die arbeitende Bevölkerung und nicht darum, das Geschlecht öfter wechseln zu können als die Konfession (ist eigentlich ein Kirchenaustritt teurer als ein Geschlechtswechsel?). Dementsprechend wirkt auch hier der erkennbare Wunsch nach dieser neuen Partei wie mit gespreizten Fingern geschrieben, als ginge es um eine Art Lebertran, der jetzt halt geschluckt werden muss, ehe das Urböse der AfD noch stärker wird und die ganze woke Klientel zu verschlingen droht.

Menetekel, Tiefpunkt, Schnauze voll – Hysterie nach Wahl eines AfD-Kandidaten





Menetekel, Tiefpunkt, Schnauze voll – Hysterie nach Wahl eines AfD-Kandidaten






Eines aber haben diese Texte gemein: sie behandeln die politische Landschaft nur wie ein Supermarktregal, in dem es eine neue Waschmittelmarke braucht. Die ganze Situation wird einzig aus dem Blickwinkel der Wahlen gesehen, und wie man es verhindern könne, dass die AfD weiter wächst. Das könnte ein grundlegendes Missverständnis sein. Denn auch, wenn die vielfältigen Sprech- und Denkverbote die Frage, was von wem gesagt werden kann, mit einem für eine demokratisch verfasste Gesellschaft unüblichen Gewicht versehen, geht es doch nicht nur darum, dass noch eine Stimme von links erklärt, Waffenlieferungen an die Ukraine seien eine schlechte Idee oder es gäbe dringendere Probleme als das gewünschte Pronomen.

Es geht darum, diese Politik zu beenden. Den Wahnsinn zurückzudrehen. Es geht nicht um die Frage, ob jetzt lauter oder leiser protestiert wird, oder ob der uniformen Mehrheit eine weitere Stimme widerspricht. Im Kern nämlich lassen all die Bitten um die linke Alternative erkennen, dass sie selbstverständlich erwarten, dass dennoch alles weitergeht wie bisher. Nur, dass die Unzufriedenen ein kleines Ventil haben, das vielleicht – und es fragt sich von vorneherein, für wie lange – nicht als "Nazi" beschimpft wird.

"Es gibt den Trend, alles, was nicht innerhalb eines engen Meinungsspektrums liegt, in die rechte Ecke zu stellen", sagt Wagenknecht selbst in einem aktuellen Interview in der Welt. Auch das gehört in die Reihe der Artikel der plötzlichen Erleuchtung. "Kaum ein Zug fährt pünktlich, als Kassenpatient wartet man Monate auf einen Facharzttermin, zigtausende Lehrer, Kita-Plätze und Wohnungen fehlen, und das normale Leben wird immer teurer. Aber statt Probleme zu lösen, schafft die Ampel zusätzliche." Allein, dass das unwidersprochen bleibt, ist ungewöhnlich.


Sachsens Ministerpräsident Kretschmer fordert Reparatur der Nord Stream-Gaspipelines





Sachsens Ministerpräsident Kretschmer fordert Reparatur der Nord Stream-Gaspipelines






Aber Wagenknecht weicht der Frage nach einer Parteigründung aus. Eine Partei bräuchte "schon beim Start solide Strukturen und eine entsprechende Satzung". Sicher, die Erfahrung, die sie mit "Aufstehen" machte, war nicht günstig; doch zumindest ist die Wahrscheinlichkeit, dass Anhänger von trotzkistischen Sekten diesmal die Kontrolle übernehmen, geringer.

Dennoch, auf die Frage nach dem Verhältnis zur AfD verweist sie auf deren rechtsextremen Flügel, mit dem sie nichts zu tun haben wolle, übersieht aber den Rechtsextremismus der Grünen, die eben nicht nur für "ein privilegiertes großstädtisches Milieu, das Politik und Journalismus dominiert und mit teils großer Überheblichkeit die öffentlichen Debatten bestimmt" stehen, sondern auch für eine Politik, die außenpolitisch von äußerster Aggression geprägt und in ihrem Kern kolonial und rassistisch ist.

Auch wenn Wagenknecht sich zumindest noch ziert, was sicher auch den massiven Angriffen der letzten Jahre nicht nur aus der Linken, sondern auch aus den Medien geschuldet ist, stellt sich der Chor, in dem um diese Partei gebettelt wird, gerade auf und wird zumindest für Unterhaltung sorgen. Das Problem ist nur, dass eine Partei, die so begrenzt und gezähmt ist, wie sie sich die Autoren dieser Artikel vorstellen, das politische Problem nicht löst, das nur gelöst werden kann, wenn die Sprechverbote fallen. Gerade dieses Milieu, das nun plötzlich erwartet, von Wagenknecht den Rettungsring zugeworfen zu bekommen, wird sich bei der kleinsten Abweichung vom Pfad der Tugend wieder in die woke Meute zurückverwandeln, um die es sich eigentlich handelt.


Maischberger und die Schlacht um die Ukraine





Meinung

Maischberger und die Schlacht um die Ukraine






Denn sie machen sich keine Sorgen um den Zustand des Landes, die Deindustrialisierung, die Verarmung, die damit einher gehen wird, auch nicht um jenen braunen Bodensatz, den ihre Liebe zum Russlandfeldzug aufwirbelt, sondern nur um den Stimmenanteil der AfD. Sollte der wieder sinken, lassen sie sich in die Sessel fallen und machen weiter wie bisher. Der einzige Grund, warum sie eine Wagenknecht-Partei plötzlich für wünschenswert halten, ist, dass damit ein Teil der jetzigen AfD-Wähler abgezogen wird, in der Hoffnung, den Stimmen damit politische Wirkung zu nehmen. Sahra Wagenknecht sollte nicht nur über eine neue Partei nachdenken, sondern auch darüber, ob sie ihnen diesen Gefallen tun will.


Mehr zum Thema"Was tun!?" – Sammeln sich schon Kräfte der LINKEN für eine neue Partei?


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28.06.2023

Trotz Warnung von Sicherheitsexperten: Pistorius verstößt mit dauerhafter Stationierung einer Kampfbrigade in Litauen gegen NATO-Russland-Grundakte

nachdenkseiten.de, 28. Juni 2023 um 12:30 Ein Artikel von: Florian Warweg

„Deutschland ist bereit, dauerhaft eine robuste Brigade in Litauen zu stationieren”, erklärte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius bei einem gemeinsamen Besuch mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 26. Juni in Vilnius. Doch mit diesem Schritt verstößt Pistorius wissentlich gegen die NATO-Russland-Grundakte. In diesem völkerrechtlichen Dokument versichert die NATO, „zusätzlich substanzielle Kampftruppen“ werde das Bündnis nicht „dauerhaft“ in den Staaten des ehemaligen Ostblocks stationieren. Die NATO hatte erst im April 2023 erneut betont, dass sie sich „voll und ganz“ an die NATO-Russland-Grundakte halten wird. Auch Sicherheitsexperten regierungsnaher Denkfabriken wie der SWP und ranghohe Bundeswehr-Generäle hatten zuvor vor so einem Schritt gewarnt.


Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es gilt bis heute als unklar, wie es zu dieser Zusage des amtierenden deutschen Verteidigungsministers kam. Nach übereinstimmenden Medienberichten sorgte dieser Schritt von Pistorius für Irritation und Verwunderung bei breiten Teilen von Politik wie Militär. So berichtet beispielsweise die NZZ:

„Die Ankündigung von Boris Pistorius, eine schwere Brigade mit 4.000 Soldaten fest in Litauen zu stationieren, hat den Bundestag und die Streitkräfte offenkundig sehr überrascht. Selbst in höchsten militärischen Ämtern scheint niemand vorab informiert gewesen zu sein. Ranghohe Militärs hatten zuvor von einer solchen Festlegung abgeraten.“

Völlig neu ist die Idee jedoch nicht. Es war Bundeskanzler Olaf Scholz höchstpersönlich, welcher im August 2022 im Rahmen seiner damaligen Baltikum-Reise, scheinbar ohne vorherige Rücksprache mit der Bundeswehr-Generalität, erklärt hatte, er könnte sich die feste Stationierung einer Kampfbrigade in Litauen vorstellen. Allerdings sollen ihn dann Führungskräfte der Bundeswehr regelrecht zurückgepfiffen und ihm darlegt haben, dass dies eigentlich nicht leistbar sein. Seitdem hat Scholz seine damalige Aussage auch nie wieder aufgegriffen.

Das jetzige Vorpreschen von Pistorius sorgt daher weitflächig für Überraschung. Auch der bekannte und als in Bundeswehrkreisen gut vernetzt geltende Militärblogger Thomas Wiegold schreibt dazu in seinem Blog Augen geradeaus! :

„Die Aussage von Pistorius kam deshalb gleich mehrfach überraschend. Zum einen hatte die Bundesregierung die dauerhafte Stationierung der Brigade oder auch nur wesentlicher Teile bislang abgelehnt, unter anderem mit Verweis auf die fehlende Infrastruktur. Zum anderen gehörte Deutschland bislang zu den Nationen, die im Gegensatz zu osteuropäischen NATO-Staaten an der Vereinbarung in der NATO-Russland-Grundakte festhielten, keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft auf dem Territorium ehemaliger Mitglieder des Warschauer Vertrags zu stationieren.“

Die NATO-Russland-Grundakte, offiziell als „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation“ bezeichnet, wurde am 27. Mai 1997 in Paris als völkerrechtliche Absichtserklärung zwischen der NATO und Russland unterzeichnet. Gleich zu Beginn der Erklärung heißt es:

„Die Nordatlantikvertrags-Organisation und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Russische Föderation andererseits, im Folgenden als NATO und Russland bezeichnet, gestützt auf eine auf höchster politischer Ebene eingegangene dauerhafte politische Verpflichtung, werden gemeinsam im euro-atlantischen Raum einen dauerhaften und umfassenden Frieden auf der Grundlage der Prinzipien der Demokratie und der kooperativen Sicherheit schaffen.“

Am Rande der Unterzeichnung des völkerrechtlichen Dokuments hatte der damalige Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, für alle Teilnehmer überraschend erklärt:

„Ich habe soeben beschlossen, alle Atomsprengköpfe abbauen zu lassen, die gegen Ihre Länder gerichtet sind.“

Der damalige ARD-Korrespondent in Paris sprach von „großes Erstaunen bei der NATO, aber auch bei der russischen Delegation und ein Jelzin, der sich diebisch freut über den Überraschungscoup.“

Diese völkerrechtliche Erklärung, ausgefertigt in drei Sprachen – Englisch, Französisch und Russisch –, wurde auf der einen Seite von den Staats- und Regierungschefs aller NATO-Mitgliedsstaaten und dem damaligen NATO-Generalsekretär sowie auf der anderen von Russlands Präsident Boris Jelzin unterschrieben. Das Papier sollte das Verhältnis zwischen dem Nordatlantischen Bündnis und Russland völlig neu begründen. Der Eingangstext liest sich wie ein Dokument aus längst vergangenen Zeiten:

„Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie verfolgen gemeinsam das Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen und das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit zu stärken. Diese Akte bekräftigt die Entschlossenheit der NATO und Russlands, ihrer gemeinsamen Verpflichtung zum Bau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten, geeinten und freien Europas zum Nutzen aller seiner Völker konkreten Ausdruck zu verleihen.

Die Übernahme dieser Verpflichtung auf höchster politischer Ebene stellt den Beginn grundlegend neuer Beziehungen zwischen der NATO und Russland dar. Beide Seiten beabsichtigen, auf der Grundlage gemeinsamen Interesses, der Gegenseitigkeit und der Transparenz eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zu entwickeln.“

Bei Punkt IV der Akte zu „Politisch-Militärischen Angelegenheiten“ beteuert die NATO, dass sie „nicht die Absicht und keine Pläne“ habe, „nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern – und dazu auch in Zukunft keinerlei Notwendigkeit sehen.“ Dies schließe die Tatsache ein, dass die NATO entschieden hat, sie habe nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffenlager im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten einzurichten.

Es ist in diesem Punkt IV der Akte, in dem auch aufgeführt ist, dass die NATO verspricht, „substanzielle Kampftruppen“ nicht dauerhaft in osteuropäischen NATO-Staaten zu stationieren.

In diesem Zusammenhang gibt es zahlreiche Stimmen aus dem transatlantischen Lager, die behaupten, die NATO hätte spätestens mit dem Beginn des Ukraine-Krieges die Grundakte aufgekündigt beziehungsweise sähe sich nicht mehr an diese gebunden. Doch diese Behauptung ist nachweislich falsch. In einem NATO-Dokument von April 2022 wird eindeutig erklärt:

„Die NATO hält sich voll und ganz an die NATO-Russland-Grundakte.”

In diesem Zusammenhang betont die NATO ebenfalls, dass das Bündnis am vereinbarten Rotationssystem festhalten werde.


Screenshot_2023_06_30_at_02_35_22_Trotz_Warnung_von_Sicherheitsexperten_Pistorius_verst_t_mit_dauerhafter_Stationierung_einer_Kampfbrigade_in_Litauen_gegen_NATO_Russland_Grundakte


Wir halten fest: Mit seiner Initiative einer festen Stationierung von 4.000 Kampfsoldaten an der sogenannten „NATO-Ostflanke“ in Litauen stößt Pistorius nicht nur seine eigene Generalität vor den Kopf und ignoriert die Empfehlungen von Beratern der Bundesregierung, nein, er steht damit sogar im Widerspruch zu offiziellen NATO-Verlautbarungen.

Selbst Markus Kaim, verantwortlich für den Bereich Sicherheitspolitik bei der regierungsnahen Denkfabrik Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP), welche zur Aufgabe hat, die Bundesregierung zu sicherheitspolitischen Themen zu beraten, warnte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vor einer Aufkündigung der NATO-Russland-Grundakte:

„Das wäre eine Steilvorlage für die russische Propaganda im Moment. Da frage ich mich, wem würde man damit nutzen? Es gibt eine Zukunft nach Präsident Putin, wie auch immer die aussehen wird. Und die lautet ein gedeihliches, kooperatives, westlich russisches Verhältnis, was wir zumindest, der Westen, wir die NATO, nach wie vor anstreben. Weil das wäre auch ein nicht unwichtiges Signal, daran festzuhalten, auch in schwierigen Zeiten.“

Doch statt zumindest perspektivisch ein „gedeihliches, kooperatives, westlich russisches Verhältnis“ anzustreben, scheint Pistorius komplett und langfristig mit Russland brechen zu wollen.

Titelbild: Bundeswehr/Lea Bacherle


Mehr zum Thema: Bundesverteidigungsministerium gibt Auskunft zu Leopard-Panzer in der Ukraine mit Flagge der faschistischen OUN-B

„Keine Erkenntnisse“ – Bundesregierung widerspricht Angaben von US-Regierung und zahlreichen Medien zur Bewaffnung von Neonazi-Milizen mit NATO-Material

Erst Pistorius bei Tagesschau hochgejubelt und jetzt sein Sprecher: ARD-Hauptstadt-Korrespondent wird neues Sprachrohr des Verteidigungsministers


Info: https://www.nachdenkseiten.de/?p=99971


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukrainekeinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Wagner-Aufstand: Das Bild wird klarer

aus e-mail von Doris Pumphrey, 28. Juni 2023, 10:21 Uhr


https://www.anti-spiegel.ru/2023/das-bild-wird-klarer/

27.6.2023


*Das Bild wird klarer

*Von Thomas Röper


In den Tagen nach dem Wagner-Putsch gab es viele Spekulationen, auch ich

habe einen spekulativen Artikel

<https://www.anti-spiegel.ru/2023/war-der-putschversuch-nur-eine-show-um-von-etwas-anderem-abzulenken/

geschrieben, obwohl ich das bekanntlich ungern tue. Und wie das mit

Spekulationen so ist, sie erweisen sich oft als unwahr. Die

Spekulationen darüber, dass Verteidigungsminister Schoigu abgesetzt

worden sei, haben sich als unwahr erwiesen. Schoigu war zwar nach dem

Putsch einige Tage lang nicht öffentlich aufgetreten, saß aber wieder

mit am Tisch, als Putin sich am Montagabend

<https://www.anti-spiegel.ru/2023/das-grosse-raetselraten-ueber-putins-rede/

mit den Chefs der russischen Sicherheitsbehörden traf.


Sowohl meine Quellen als auch die öffentlichen Erklärungen in Russland

zeigen alle in die gleiche Richtung: Der Putschversuch war keine Show,

kein schlauer Trick, er war echt. Alles, was derzeit bekannt wird,

deutet darauf hin, dass meine erste Einschätzung, die ich noch am

Samstag, während der Putsch noch lief, bereits unter der Überschrift

„Umsturzversuch – Prigoschin hat sich verrechnet

<https://www.anti-spiegel.ru/2023/prigoschin-hat-sich-verrechnet/>“ 

veröffentlicht habe, ziemlich zutreffend gewesen sein dürfte.


Prigoschin war offenbar wirklich so derartig in seiner eigenen Blase

gefangen, dass er der Meinung war, mit seinem „Marsch der Gerechtigkeit“

eine Welle der Sympathie und Unterstützung beim russischen Volk und

zumindest bei Teilen der russischen Eliten auszulösen. Dass er damit

falsch lag, war bereits am Samstagnachmittag offensichtlich. Alle

einflussreichen Personen in Russland, die sich bis dahin geäußert haben

(und das waren sehr viele), hatten Prigoschins Handeln scharf verurteilt

und eine harte Strafe für ihn gefordert, weil er mit seiner Aktion nur

den Gegnern Russlands in die Hände gespielt hat. Dass das so ist, sehen

wir an den Berichten der westlichen Medien, die seitdem Jubel-Artikel

veröffentlichen, in denen behauptet wird, Putin sei geschwächt worden.


*Ist Putin nun geschwächt?

*Dabei ist das Gegenteil der Fall, denn Wagner war die mächtigste

Organisation Russlands, die nicht dem russischen Staat untersteht. Und

selbst die hat es nicht geschafft, Putin zu schwächen. Im Gegenteil,

denn Prigoschins Aktion hat vor allem eines gezeigt: Sowohl die

russischen Eliten als auch das russische Volk (und erst recht die Armee)

haben sich in der Situation geschlossen hinter Putin und seine Politik

gestellt.


Russland sieht sich im Krieg mit dem Westen und Prigoschin ist Russland

mit seiner Aktion in den Rücken gefallen, so sieht es die Mehrheit in

Russland. Das alleine hat gereicht, damit seine Aktion von fast allen

verurteilt wurde. Hinzu kommt, dass Prigoschin riskiert hat, die an der

Front kämpfenden Einheiten zu entzweien, was im schlimmsten Fall zu

einem Bürgerkrieg hätte führen können.


*Warum ich den Aufstand als „Putschversuch“ bezeichne

*Prigoschin wollte keinen Bürgerkrieg und er wollte auch Putin nicht

stürzen, er wollte „nur“ Verteidigungsminister Schoigu loswerden. Aber

seine nicht durchdachte, ja sogar ausgesprochen dumme, Aktion hat das

Risiko in sich getragen, sich zu einer unkontrollierbaren Situation

auszuwachsen. Und das alles nur wegen seines persönlichen Kleinkrieges

mit Schoigu.


Dass ich von einem „Putschversuch“ spreche, auch wenn niemand den

Präsidenten stürzen wollte, liegt daran, dass Prigoschin Schoigu aus dem

Amt entfernen, also Druck auf Putin ausüben wollte, damit der Schoigu

feuert. Damit hat Prigoschin die Souveränität des Präsidenten

angegriffen, um ihm seinen Willen aufzuzwingen – und das ist in meinen

Augen schon ein Putschversuch, denn es würde eine Einschränkung der

verfassungsmäßigen Machtbefugnisse des Präsidenten bedeuten.


Schoigu stand (ob zu recht oder nicht, ist nicht entscheidend)

unbestritten in der Kritik, aber selbst seine größten Kritiker haben

sich in der Situation hinter ihn gestellt, denn dass Prigoschin für

seine eigenen Ambitionen die Einigkeit Russlands und seiner Streitkräfte

riskiert, das war nicht nur aus Putins Sicht, sondern aus der Sicht der

Russen insgesamt unverzeihlich.


*Oberstes Ziel: Kein Blutvergießen

*Putins oberstes Ziel war es daher, ein großes Blutvergießen und eine

mögliche Eskalation zu verhindern. Aus diesem Grund hat er die

Wagner-Kolonnen ohne Gegenwehr über die Autobahn Richtung Moskau fahren

lassen. Und aus diesem Grund hat er am Ende angeordnet, dass sogar die

Organisatoren des Putschversuches straffrei bleiben. Die Einigkeit

Russlands ist Putins höchstes Ziel und wenn er den Putschisten dafür

Straffreiheit zusichern muss, dann ist das ein Preis, den Putin –

vielleicht widerstrebend – zu zahlen bereit ist.


Die Rede

<https://www.anti-spiegel.ru/2023/praesident-lukaschenko-im-wortlaut-ueber-seine-verhandlungen-mit-prigoschin/>,

die Lukaschenko am Dienstag über die Ereignisse und seine Verhandlungen

mit Prigoschin gehalten hat, bestätigt das. All das, was Lukaschenko

erzählt hat, deckt sich mit dem, was ich schon am Samstag vermutet habe:

Prigoschin war emotionalisiert, hat nicht rational oder durchdacht

gehandelt und die Lage in Russland vollkommen falsch eingeschätzt, was

ihm Laufe des Samstages, während seine Kolonne Richtung Moskau fuhr,

immer klarer wurde. Daher hat er, nachdem Lukaschenko ihm

Sicherheitsgarantien angeboten hatte, seine Kolonnen stoppen lassen,

kurz bevor sie die um Moskau errichteten Verteidigungsanlagen der

regulären russischen Armee erreicht haben.


Auch Putins Reden

<https://www.anti-spiegel.ru/2023/das-grosse-raetselraten-ueber-putins-rede/

bestätigen das, denn Putin betont in all seinen Reden das gleiche: Er

dankt denen, die die Wagner-Kolonnen durch ihre Entschlossenheit und

durch ihre Besonnenheit fast ohne Blutvergießen aufgehalten haben und

lobt die Wagner-Soldaten für ihren Mut und ihren Einsatz an der Front.

Die Firma Wagner selbst hingegen dürfte nun genau überprüft werden

<https://www.anti-spiegel.ru/2023/weitere-erklaerung-putins-wagner-wurde-vollstaendig-vom-russischen-staat-finanziert/>,

denn sie hat Milliarden vom russischen Staat bekommen, und nun wird die

Verwendung der Gelder wohl genau überprüft.


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukrainekeinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Eine deutsche Brigade nach Litauen und polnische Fantasien

freeassange.rtde.life, vom 27 Juni 2023 11:26 Uhr,Von Dagmar Henn

Klingt eigentlich ziemlich harmlos, wenn man den baltischen Wahn beiseite lässt: die Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen. Wenn, ja wenn da nicht gewisse NATO-Vorstellungen bezüglich der Ostsee wären und nicht auch noch die Polen mitspielen würden.


Quelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld


Boris Pistorius in Litauen, 26. Juni 2023


Wenn eines feststeht bei der geplanten Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen, dann, dass es dabei nicht um Litauen geht. Alle drei baltischen Staaten sind zwar ungeheuer von ihrer Bedeutung überzeugt und tönen ständig, wie sehr sie doch von Russland bedroht sind. Aber es gibt nur zwei Gründe, warum Russland nicht schlicht völlig ignorieren kann, was dort geschieht, und die Zwergstaaten einfach ihrem Schicksal überlassen. Der eine ist die nennenswerte russische Minderheit, die in zwei der drei Staaten, Lettland und Estland, nach wie vor keine Bürgerrechte besitzt, und der andere heißt Kaliningrad. Und Letzteres ist nur deshalb ein Thema, weil diese drei Staaten so erbittert darum ringen, noch russlandfeindlicher zu sein als die Ukraine.


Litauen zerrt Deutschland in die militärische Konfrontation mit Russland





Meinung

Litauen zerrt Deutschland in die militärische Konfrontation mit Russland





Litauen, wo die Bundeswehrbrigade stationiert werden soll, ist noch der demokratischste Teil dieses Trios; allerdings werden auch dort Nazikollaborateure verherrlicht, und über ihre Verbrechen zu reden steht unter Strafe. Aber wenigstens gab es keine litauischen SS-Einheiten. Es ist gewissermaßen Baltikum light.

Litauen ist ungefähr so, als würde man die Bevölkerung Berlins auf der Fläche von Bayern verteilen, 2,9 Millionen Einwohner auf 65.000 Quadratkilometern; es ist also vor allem leeres Land. Was noch dadurch verstärkt wird, dass zwei Drittel der Einwohner in den Städten leben. Nachdem unbewohnte Fläche etwas ist, an dem in Russland keinerlei Mangel besteht, ist die hysterische Furcht vor einer russischen Besetzung, die dort kultiviert wird, schwer nachvollziehbar; wenn das Land nicht in der NATO wäre, würde es schlicht niemanden interessieren. Aber das mag der Schlüssel sein: die Abhängigkeit von Subventionen aus der EU. Sie fließen üppiger, wenn man es schafft, eine strategische Bedeutung zu konstruieren.

Diese allerdings ist und war immer schon nur dann existent, wenn sie sich gegen Russland richtete; im Falle Litauens vor allem gegen Kaliningrad. Man darf annehmen, dass es diese Lage ist, die die NATO animiert, mehr Militär in Litauen aufzustellen. Schließlich hegt man mittlerweile Träume, die ganze Ostsee unter NATO-Kontrolle zu bringen und der russischen baltischen Flotte die Ausfahrt zu sperren. Ein völlig idiotischer Plan, so unnütz wie wahnsinnig, aber so ist sie nun einmal, die NATO.

Die Eile, mit der jetzt zugesichert wurde, dass das deutsche Kontingent ganz sicher nach Litauen kommt, hat aber einen ganz anderen Grund. Der liegt vielmehr darin, dass noch ein anderer Kandidat versuchen könnte, sich in Litauen niederzulassen: Polen hat sich schon dazu bereit erklärt.


Bundeswehr-Pläne: Deutschland  will 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren





Bundeswehr-Pläne: Deutschland will 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren






"Duda habe ihm ein 'sehr interessantes Angebot' unterbreitet", zitiert die Welt aus einem Interview des litauischen Präsidenten Nausėda. Das ist natürlich eine Kränkung für die Bundeswehr, die seit 2017 die Führung der NATO-Mission in Litauen hat. Und schon steigt die Bereitschaft des deutschen Verteidigungsministers, die vorhandene multinationale Truppe von 1.500 NATO-Soldaten, die bisher dort stationiert ist, um eine ganze Brigade aufzustocken.

Der Grund für den ganzen Aufwand ist der sogenannte Suwalki-Korridor, die etwa 70 Kilometer lange Landgrenze zwischen Polen und Litauen, die Weißrussland von Kaliningrad trennt, und um den die NATO großes Aufhebens macht, weil an dieser Stelle angeblich die Landverbindung zu den baltischen Staaten unterbrochen werden könnte; in Wirklichkeit dürfte es eher um die Möglichkeit gehen, Kaliningrad von jeder Landverbindung abzuschneiden.

Dabei ist der ganze Einsatz in Litauen entweder überflüssig oder suizidär. Solange die NATO keine Provokationen in Richtung Kaliningrad startet, braucht es dort keine zusätzlichen Truppen. Sollte aber eine solche Provokation beginnen und Russland Kaliningrad verteidigen müssen, dann wäre die zu verlegende Brigade nur zusätzliches Kanonenfutter, woran auch eine großzügige Ausstattung mit schwerem Gerät nichts ändern würde.

Witzig an der Geschichte ist nur das Detail, dass Gorbatschow Deutschland angeboten haben soll, Kaliningrad, das ehemals deutsche Königsberg, wieder zurückzugeben. Ein alter Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2010 zitiert den ehemaligen Leiter des politischen Referats der deutschen Botschaft in Moskau, Joachim von Arnim, mit der Antwort auf dieses Angebot:

"Wenn die Sowjetunion Probleme mit der Entwicklung des nördlichen Ostpreußen habe, so sei das ihre Sache."

Nun, die damalige Generation erinnerte sich noch daran, dass eine Exklave, die womöglich nur über den Seeweg versorgt werden kann, nicht nur Freude bringt und ließ das Problem mit Polen und Balten vermutlich mit einer gewissen Schadenfreude in sowjetischen, später russischen Händen.

Landblockade Kaliningrads durch Litauen: Estland fordert NATO-Sicherheitsgarantien





Landblockade Kaliningrads durch Litauen: Estland fordert NATO-Sicherheitsgarantien






Vor diesem Hintergrund ist es besonders bizarr, jetzt deutsche Truppen zu entsenden, um genau das Stück Land zu bedrohen, das man 1990 hätte haben können, aber nicht wollte. Und sich dann ausgerechnet durch polnische Konkurrenz dazu drängen zu lassen, als könne man sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Nachbar, der jetzt schon darauf lauert, sich Galizien zurückzuholen, irgendwann auch Kaliningrad ins Visier nimmt. Die US-Neokons wären sicher davon begeistert.

Intelligent ist es nicht, eine ganze Brigade gewissermaßen zu Geiseln der polnischen Regierung und der Neokons zu machen. Aber intelligente Politik ist in Deutschland schon etwas her.


Mehr zum Thema - Polen unter PiS: Revisionismus, um die letzten Brücken abzureißen

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Info: https://freeassange.rtde.life/meinung/173689-deutsche-brigade-nach-litauen-und


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28.06.2023

Fremde FedernRüstungsindustrie, Einwanderungsland, Next Level Aussichtslosigkeit

makronom.de, vom 27. Juni 2023,

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.



Die Welt und ihre Wirtschaft wird indischer


piqer: Thomas Wahl

Migration ist ein globales und offenbar extrem komplexes Phänomen. Insofern ist der Blick aus der Vogelperspektive, den der ECONOMIST auf das weltweite, von indischen Migranten angeführte Phänomen wirft, spannend.

Von den 281 Millionen Migranten, die sich heute rund um den Globus verteilen – allgemein definiert als Menschen, die außerhalb ihres Geburtslandes leben – sind nach den jüngsten Schätzungen der UNO aus dem Jahr 2020 fast 18 Millionen Inder. Mexikanische Migranten, die die zweitgrößte Gruppe bilden, zählen etwa 11,2 Millionen. Die Auslandschinesen kommen auf 10,5 Millionen.

Das sind ganz andere Gruppen, als die, die wir in Deutschland aufnehmen, wahrnehmen oder gar fürchten. Der Artikel betont dabei den quantitativen, aber auch qualitativen Erfolg indischer Refugiés, die auch für das Image ihres Landes stehen. Während die Inder im Ausland eher positiv wahrgenommen werden, schlägt den Chinesen eher Misstrauen entgegen. Was auch auf geopolitische Verwerfungen hindeutet.

Eine große Zahl von Chinesen der zweiten, dritten und vierten Generation lebt im Ausland, vor allem in Südostasien, Amerika und Kanada. Doch in vielen reichen Ländern, darunter Amerika und Großbritannien, übersteigt die Zahl der in Indien geborenen Menschen die der in China geborenen.

Indisch stämmige Migranten verteilen sich über den ganzen Globus. So etwa in den westlichen Staaten:

  • 2,7 Millionen leben in Amerika,
  • über 835.000 in Großbritannien,
  • 720.000 in Kanada und
  • 579.000 in Australien.

Junge Inder strömen in den Nahen Osten, wo niedrig qualifizierte Jobs im Baugewerbe und im Gastgewerbe besser bezahlt werden als im Heimatland:

  • 3,5 Mio. indische Migranten leben in den Vereinigten Arabischen Emiraten und
  • 2,5 Mio. in Saudi-Arabien.

Weitere findet man in Afrika und anderen Teilen Asiens und der Karibik. Bekanntlich leisten gerade Arbeitsmigranten meist auch einen wichtigen Beitrag zum BIP ihres Heimatlandes. So erreichten Indiens Überweisungen aus dem Ausland 2020 einen Rekordwert von fast 108 Mrd. $, etwa 3% des BIP und damit mehr als in jedem anderen Land. Aber die Inder in Übersee mit ihren guten Sprachkenntnissen, dem hohen Bildungsstand und ihrem Know-how fördern auch intensiv den grenzüberschreitenden Handel und die Investitionen.

Indien hat wesentliche Voraussetzungen, um ein führender Exporteur von Talenten zu sein: eine große Zahl junger Menschen und eine erstklassige Hochschulbildung. Dass die Inder die englische Sprache beherrschen, ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft, ist wahrscheinlich auch hilfreich. Nur 22 % der indischen Einwanderer in Amerika, die älter als fünf Jahre sind, geben an, dass sie nur begrenzte Englischkenntnisse haben, verglichen mit 57 % der chinesischen Einwanderer, … .

Dazu kommt, die Einwanderungsregeln vieler reicher Länder filtern nach gefragten hohen Qualifikationen. Was z.B. dazu führte, dass 2022 73% der amerikanischen h-1b-Visa, die an Spezialisten in „Fachberufen“ wie Informatiker vergeben werden, an in Indien geborene Menschen gingen. Was als „Brain Drain“ für das Geburtsland sicher auch Nachteile hat. So analysierte eine Studie den Verbleib

von Studenten, die 2010 die hart umkämpften Aufnahmeprüfungen für die Indian Institutes of Technology, die Elite-Ingenieurschulen des Landes, absolvierten. Acht Jahre später stellten die Forscher fest, dass 36 % der 1 000 Besten ins Ausland abgewandert waren, unter den 100 Besten waren es sogar 62 %. Die meisten gingen in die USA.

Eine andere Studie untersuchte die besten 20%

der Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz (definiert als diejenigen, deren Arbeiten im Wettbewerb für eine Konferenz im Jahr 2019 angenommen wurden). Dabei wurde festgestellt, dass 8 % ihren ersten Abschluss in Indien gemacht haben. Aber nur eine winzige Anzahl von Forschern arbeitet heute dort.

Und so besitzen auch fast 80% der in Indien geborenen Bevölkerung im schulpflichtigen Alter mindestens einen Bachelor-Abschluss.

Bei den in China geborenen Amerikanern sind es nur  50 % und lediglich 30 % der amerikanischen Gesamtbevölkerung können dies von sich behaupten. Und so verwundert es nicht, dass Inder die am höchsten verdiente Migrantengruppe in Amerika sind –  mit einem mittleren Haushaltseinkommen von fast 150.000 Dollar pro Jahr. Das ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt und weit vor chinesischen Migranten, mit einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen von über 95.000 Dollar. In Australien liegt das mittlere Haushaltseinkommen unter indischen Migranten bei fast 87.000 Dollar pro Jahr, verglichen mit einem Durchschnitt von etwa 62.000 Dollar in allen Haushalten und etwa 58.000 Dollar bei den in China geborenen.

Und so steigen Mitglieder der indischen Diaspora auch zunehmend an die Spitze der Geschäftswelt sowie der Politik auf. So sind heute bei den amerikanischen S&P 500-Unternehmen 25 Geschäftsführer indischer Abstammung, gegenüber 11 vor einem Jahrzehnt.

In der Technologiebranche war es, laut Vinod Khosla, Mitbegründer von Sun Microsystems, für indische Unternehmer noch in den 1980er Jahren schwierig, in Amerika Geld zu sammeln.

„Sie waren Leute mit einem lustigen Akzent und einem schwer aussprechenden Namen und sie mussten höhere Hürden überwinden“, sagt er. Jetzt werden Adobe, Alphabet, Googles Muttergesellschaft, ibm und Microsoft alle von Menschen indischer Abstammung geführt. Die Dekane an drei der fünf führenden Business Schools, einschließlich der Harvard Business School, sind es auch.

Vergleichbares gilt ebenfalls für die Politik. Johns Hopkins-Forscher zählten im britischen Unterhaus 19 Mitglieder indischer Abstammung, darunter Premierminister Rishi Sunak. Man identifizierte sechs Indischstämmige im australischen Parlament und fünf im amerikanischen Kongress. Amerikas Vizepräsidentin Kamala Harris hat eine tamilisch-indische Mutter. Chef der Weltbank ist Ajay Banga, geboren in Pune in Westindien, nachdem er mehr als ein Jahrzehnt lang MasterCard geführt hatte.

Die chinesische Diaspora ist die einzige andere Gruppe mit vergleichbarem Einfluss in der Welt. Eine Analyse von The Economist, die zu Beginn der Covid-19-Pandemie durchgeführt wurde, schätzt, dass mehr als drei Viertel des gesamten 369-Milliarden-Dollar-Vermögens der Milliardäre in Südostasien von huaqiao kontrolliert werden, einem Mandarin-Begriff für ethnische Chinesen, die Bürger anderer Länder sind.

Vergleicht man Südostasien mit Europa und Nordamerika, sieht dieses Bild etwas anders aus. Es gibt z.B. weniger Chefs chinesischer Abstammung, die S&P 500-Unternehmen leiten, als Chefs indischer Abstammung. Man vermutet, dass sich viele der chinesischen Geschäftsleute eher dafür entscheiden, in China zu arbeiten und zu investieren. Gibt es doch genügend schnell wachsende chinesische Unternehmen, wie etwa den Smartphone-Hersteller Xiaomi, den Internet-Suchdienst Baidu und ByteDance, die in Peking ansässige Muttergesellschaft von TikTok, einer global agierenden Social-Media-App.

Der wachsende indische Einfluss wird zunehmend auch gestützt durch das westliche Misstrauen gegenüber China und seiner aggressiven Politik. Viele Westler sehen das Land zunehmend als Feind, der auf einen neuen Kalten Krieg zusteuert. Das belastet die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen gegenüber China.

Huawei, ein chinesischer Telekommunikationsausrüster, der in der Vergangenheit verdächtigt wurde, Embargos zu brechen und ein Kanal für die Spionage der chinesischen Regierung zu sein, wurde in Amerika verboten. Einige europäische Länder sind dem Beispiel gefolgt. Strenge Überprüfungen ausländischer Investitionen in amerikanische Unternehmen aus Gründen der nationalen Sicherheit zielen offen auf chinesisches Geld im Silicon Valley. Einzelne Personen, die im Verdacht stehen, auf Chinas Geheiß zu handeln, darunter ein ehemaliger Harvard-Professor, wurden bestraft.

Auch wenn Modi und seine hindunationalistische Bharatiya Janata Party Anlass zur Sorge gibt, indische Firmen können hier viel freier agieren.

Indiens Anspruch, eine von liberalen Werten geprägte Demokratie zu sein, erleichtert der Diaspora die Integration im Westen. Die Diaspora wiederum bindet Indien an den Westen. Ein verblüffendes Beispiel dafür war 2005, als die USA ein Abkommen schlossen, das Indien faktisch als Atommacht anerkannte, obwohl das Land sich weigerte, den Atomwaffensperrvertrag … zu unterzeichnen. Lobbyarbeit und Geldbeschaffung durch indische Amerikaner halfen dabei, das Abkommen durch den Kongress zu bringen.

Sicher, unter Modis Führung werden Indiens Verbindungen zum Westen einem Stresstest unterzogen. Im Land wächst die nationalistische Rhetorik und liberale Freiheiten werden angegriffen. Außenpolitisch ist Indien kein williger Follower der USA oder des Westens. Es betont seinen Status als unabhängige Macht, hat sich geweigert, Russlands Invasion der Ukraine zu verurteilen und kauft billig russisches Öl und Dünger.

Indien ist eine gewichtige Stimme der BRICS-Staaten, einer Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften. Die Abkürzung „BRICS“ steht für die Anfangsbuchstaben der fünf zugehörigen Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Club erwägt gerade, Saudi-Arabien und den Iran beitreten zu lassen. Das alles könnte den Ruf Indiens gefährden und der indischen Soft Power schaden. Andererseits werden die Übersee-Inder das versuchen auszugleichen. Und in der Konfrontation mit China wäre der Westen um so mehr auf Indien angewiesen. Ebenso wie auf die fachlich guten indischen Migranten. Es bleibt also spannend.

economistIndia’s diaspora is bigger and more influential than any in history



Next Level Aussichtslosigkeit in Großbritannien


piqer: Silke Jäger

John Harris ist ein von mir sehr geschätzter Reporter, der unermüdlich durch Großbritannien reist und mit den Menschen spricht. Ihnen einfach zuhört. Wissen will, was sie bewegt. Und sie nicht ausstellt, wenn er berichtet.

Er hat sich schon, so lange ich ihn lese, Sorgen gemacht. Um die Menschen, die kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen. Um die, die keine Perspektive sehen. Und um das Land, das sie so sehr im Stich lässt.

Aus diesem Text sticht aber noch etwas anderes aus den ohnehin schon düsteren Zeilen heraus. Harris ist selbst von Erschöpfung und Perspektivlosigkeit betroffen. Das sagt er nicht direkt, sondern erzählt es aus der Perspektive zweier Frauen, die in seiner Heimatstadt wohnen.

Die eine ist Altenpflegerin und verdient 10,70 Pfund die Stunde, was im Moment 12,48 Euro entspricht. Sie verdient damit als erfahrene Pflegefachkraft ungefähr das, was in Deutschland eine Pflegehilfskraft bekommt. Sie hat keine Hoffnung, dass sie demnächst mehr verdienen könne. Denn aus ihrer Sicht wäre der naheliegendste Grund für eine Lohnerhöhung ihr Einsatz während der Covid-Pandemie gewesen. Doch auch dafür gab es keine finanzielle Anerkennung.

Die andere ist selbstständige Buchhalterin und fürchtet sich vor dem Auslaufen ihres Hauskreditvertrages. So wie schätzungsweise zwei Millionen Brit:innen, deren zinsgebundene Verträge bald auslaufen und die dann mehrere Hundert Pfund im Monat nachzahlen müssen. Man schätzt, dass circa 4% der Haushalte in UK ihre Ersparnisse deshalb verlieren werden. Diese Aussicht gibt der Frau das Gefühl, sich nicht mehr hocharbeiten zu können, sondern mit dem, was sie jetzt hat, für immer zufrieden sein zu müssen.

Diese Beispiele symbolisieren unterschiedliche Arten von Aussichtslosigkeit. Und was Harris so anfasst, ist, dass nicht mehr nur diejenigen hoffnungslos sind, die von prekären Jobs oder von staatlicher Unterstützung leben müssen, sondern inzwischen auch die Mittelschicht. Leute wie er selbst.

Auf die Frage, was diese Menschen von der Politik erwarten, kommt:

If we have a Conservative government, it gets worse every year.

und

Everything is so out of your control … I feel like it doesn’t make much difference any more.

Die Rhetorik der letzten Jahre und die wirtschaftlichen Probleme erzeugen bei den Menschen eine tiefe Erschöpfung. Niemand will mehr leere Versprechungen hören, aber jede:r erwartet nur noch diese von der politischen Klasse.

Harris meint:

Now, I hear echoes of the weariness and bafflement I used to associate with the post-industrial places whose furies took us out of the EU, but this time in our market towns and suburbs. I worry about that. I think we all should.

GuardianBritain is used to crises now. But this widespread hopelessness is new – and frightening Autor: John Harris



Rüstungskonzern Hensoldt AG: Profit schlägt Compliance?


piqer: Lars Hauch

Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein PR-Glücksfall für die deutsche Rüstungsindustrie. Als Olaf Scholz das Ulmer Werk der Hensoldt AG besucht, verkündet Vorstandschef Thomas Müller dem Kanzler und Aktionärsvertretern, Hensoldts Produkte seien technologisch „die besten, wirklich die besten elektronischen Systeme zur Verteidigung unserer liberalen Grundordnung“.

Überraschung: In Wirklichkeit scheint Hensoldt es mit liberalen Werten nicht ganz so genau zu nehmen. Dem Spiegel wurden diverse interne Dokumente zugespielt. Daraus entstanden ist ein Text, der viele Fragen aufwirft. Vor einem Monat erschien er bei Spiegel+. Hier nun ohne Paywall bei Spiegel International. Es folgt eine Zusammenfassung.

Die Bundesregierung hat vor drei Jahren 25,1 Prozent der Hensoldt AG gekauft. Technik von Hensoldt steckt in allen möglichen Waffensystemen, unter anderem dem Leopard-2 sowie Iris-T. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Hensoldts Aktienkurs sich beinahe verdreifacht.

Compliance (= Regeltreue) ist besonders in der Rüstungsindustrie ein wichtiges und heißes Eisen. Deals werden oft über Ecken, unter Beteiligung diverser Unternehmen und Regierungen, eingefädelt. Korruption und Grauzonen gibt es entsprechend zuhauf. Leitend zuständig für Compliance ist bei der Hensoldt AG ein Jurist namens Solms Wittig. Laut internen Unterlagen mischt Sittig sich regelmäßig in laufende Geschäfte ein und macht sich dadurch nicht nur Freunde.

Besser kann man die Rolle von Compliance wohl nicht beschreiben. Die Aufpasser warnen, mahnen — aber können längst nicht jedes Fehlverhalten verhindern. Ein Beispiel dafür sind Hensoldts Geschäfte mit Uganda.

Uganda wird seit 37 Jahren autoritär von Yoweri Museveni regiert. Hensoldts hausinterne Analyse warnte 2020, es gebe ein „sehr hohes und kritisches Korruptionsrisiko“. Wegen des „Geschäftspotenzials“ drang man laut Spiegel-Recherchen dennoch in den Markt ein. Ein üblicher Vorgang: Hensoldt engagierte eine lokale Beraterfirma, die über die nötigen Verbindungen für einen Deal verfügt. Der Leiter der Geschäftsentwicklung Afrika schrieb an seine Kollegen gar, die Berater hätten besonderen Zugang zur Armee und Spezialkräften, die von Musevenis Sohn geleitet werden. Er sei ein „Bekannter von uns“. Hensoldt hat sich auf Nachfrage nicht zu dieser Beziehung äußern wollen. Der Deal sei jedoch nicht zustande gekommen.

An die Luftwaffe Ugandas lieferte Hensoldt dann aber doch. Compliance-Chef Sittig schrieb im Dezember 2020 einem Mitglied des Exekutivkomitees: „Wir haben einen Fall, der uns Kopfschmerzen bereitet.“ Ugandas Luftwaffe sollte Sensoren bekommen, die vor herannahenden Raketen warnen. An dieser Stelle wird es etwas kompliziert. Denn, wie in der Rüstungsbranche üblich, Hensoldt war nicht direkter Vertragspartner, sondern Zulieferer, in diesem Fall an die israelische Rüstungsfirma Bird Aerosystems. Das israelische Unternehmen arbeitete in Uganda mit einem einflussreichen Waffenhändler namens Boaz Badichi zusammen, der für Deals mit Despoten bekannt ist. Badichis Firma sowie eine lokale Tochterfirma bemühten sich zwei Jahre darum, den Deal mit der Luftwaffe auf die Beine zu stellen.

Compiance-Chef Wittig schlug Alarm. Es sei nicht klar, ob Hensoldt sich strafbar mache. Denn obwohl Hensoldt ja „bloß“ Zulieferer war, könnte ihr Mittäterschaft vorgeworfen werden, falls der israelische Waffenhändler in Korruption verwickelt sei. Sittig forderte eine Prüfung durch externe Rechtsexperten. Das dauerte der Verkaufsabteilung von Hensoldt aber offenbar zu lang. Der Deal wurde ohne weitere Prüfung durchgezogen.

Auf Nachfrage sagte Hensoldt, es habe keine konkreten Anhaltspunkte für rechtswidriges Verhalten gegeben. Ergänzende Ermittlungen hätten das letztlich bestätigt. Derlei Ermittlungen sind allerdings schwierig, und das hat in der Waffenbranche System. Die internationalen Unternehmen outsourcen gewisse Bereiche an lokale Partner, deren Methoden sie kaum kontrollieren können — und vermutlich auch nicht wollen. Laut internen Dokumenten gab es innerhalb Hensoldt einen heftigen Streit um das richtige Vorgehen. Letztlich setzten sich die Verkaufsleute gegen die Compliance-Abteilung durch. Wenn Compliance ernst genommen wird, sollte es eigentlich anders herum laufen.

Im Spiegel-Artikel wird noch ein weiteres Beispiel ausgeführt, dabei geht es um fragwürdige Deals mit Katar. Hensoldt hat die Anschuldigungen der Spiegel-Recherche übrigens allesamt zurückgewiesen. Wie wertegeleitet und feministisch deutsche Außenpolitik ist, wenn Profit in einem Rüstungsunternehmen mit Staatsbeteiligung offenbar über Compliance geht, muss die Bundesregierung beantworten.

spiegel Documents Hint at Dark Dealings at a German Defense Company Autoren: Sven Becker, Rafael Buschmann, Nicola Naber & Niklas Olschewski



Über Putins Schwäche


piqer: Theresa Bäuerlein

Nach den plötzlichen und chaotisch wirkenden Entwicklungen in Russland – auf einmal marschierte Söldnerführer Jewgenij Prigoschin auf Moskau zu und zog nach einer bizarren Vereinbarung mit dem Kreml blitzschnell wieder ab – habe ich nach Hintergrundartikeln gesucht, um besser zu verstehen, was da los ist.

Einer der Besten, die ich gefunden habe, ist aus dem New Yorker. Der Autor sprach dafür mit Mikhail Zygar, einem der kenntnisreichsten Reporter und Kommentatoren, über die Macht des Kremls.

Im Januar 2023 schrieb Zygar in der New York Times einen prophetischen Kommentar über Prigoschin mit dem Titel „The Man Challenging Putin for Power“. Zygar lebt seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Europa im Exil. Er ist ehemaliger Chefredakteur von TV Rain (auf Russisch Dozhd), einem unabhängigen Sender, den Putin nach Beginn des Krieges geschlossen hat. Sein 2016 erschienenes Buch „All the Kremlin’s Men“ war in Russland ein Bestseller, darin untersucht er Putins Herrschaft und die innere Dynamik seines Führungszirkels.

Für den Artikel im New Yorker beschreibt er, wie sich die Beziehung zwischen Putin und Prigoschin entwickelt hat. Nach einem neunjährigen Knastaufenthalt und Jobs als Hot-Dog-Verkäufer und im Catering schaffte Prigoschin es ins Putins Nähe, wurde sein Günstling, wurde reich, dann Anführer der Wagner-Truppe. Seit dem Ukraine-Krieg trat er jedoch mehr und mehr als Gegner Putins auf – nicht weil er gegen den Krieg war, sondern weil er nicht damit einverstanden war, wie dieser geführt wurde.

Sie [Putin und  Prigoschin] überwarfen sich in dem Moment, als Prigoschin zu glauben begann, er sei beliebt“, sagte Zygar. Als Prigoschin letzten Herbst durch Russland reiste, um Gefangene für die Wagner-Gruppe zu rekrutieren, „fühlte er sich wie ein Rockstar“. Seine Gabe war, dass er „so effektiv mit ihnen in ihrer Sprache sprach“, sagte Zygar. „Es kam der Moment, in dem Prigoschin nicht mehr Putins Marionette war. Pinocchio wurde ein echter Junge.“

Der auffälligste Aspekt des gerade geschehenen Aufstandes, so Zygar:

Putin ist schwächer geworden. Ich habe das Gefühl, dass er das Land nicht wirklich regiert. Jedenfalls nicht so, wie er es einst tat. Er ist immer noch Präsident, aber alle verschiedenen Clans“ – die Fraktionen innerhalb der Regierung, des Militärs und vor allem der Sicherheitsdienste – „haben jetzt das Gefühl, dass das ‚Russland nach Putin‘ näher rückt. Putin ist noch am Leben. Er ist immer noch in seinem Bunker. Aber es wächst das Gefühl, dass er eine lahme Ente ist, und sie müssen sich auf ein Russland nach Putin vorbereiten.

In ideologischer Hinsicht, so Zygar,

…verbindet Prigoschin zwei Ideen. Die erste ist die Anti-Korruption und die Anti-Oligarchen. Trotz seines eigenen immensen Reichtums hat er sich immer als Oligarchen-Bekämpfer dargestellt. Gleichzeitig ist er super illiberal. Er hasst den Westen und behauptet, er sei der wahre Beschützer der traditionellen Werte. Wahrscheinlich hat er mehr Anhänger als die Wagner-Gruppe; es gibt Leute in der Armee, der F.S.B., dem Innenministerium, die seine ideologischen Verbündeten sein könnten.

Im Gegensatz zu Putin und seinen Anhängern, die Propaganda über Staatsfernsehen und andere offizielle Kanäle verbreiten, nutzen Prigoschin und seine Anhänger Social Media, vor allem Telegram. Dort inszenieren sie sich als das „wahre“ Russland.

Sollte Putin demnächst stürzen, so Zygar, könnten ihm entweder extrem harte Elemente folgen, die von den Sicherheitsdiensten unterstützt werden, oder ein „relativ“ liberaler Clan, vertreten durch Premierminister Michail Mischustin und den Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin.

Die Atmosphäre erinnert ein wenig an die späten Tage Josef Stalins in den frühen fünfziger Jahren, als er eine weitere Säuberungsaktion (gegen Juden, „wurzellose Kosmopoliten“ und andere vermeintliche Feinde) plante, während Rivalen wie Georgi Malenkow und Nikita Chruschtschow „geduldig“ auf den Tod des alten Mannes warteten, damit sie ihren Zug machen konnten. Putin, so Zygar, wisse genau, wie Autokraten wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Putschversuche ausnutzten, um Massenverhaftungen vorzunehmen, Medien und Informationen weiter zu unterdrücken und die Regierung neu zu ordnen. Er könnte diesem Beispiel folgen. Die üblichen Stimmen in den sozialen Medien haben den ganzen Tag über eine Kakophonie der Spekulationen ausgelöst. Das wird so schnell nicht aufhören.

Was das für die Ukraine bedeutet? Einerseits ist es ein wichtiger Moment in diesem Krieg, sogar eine historische Chance, glaubt Zygar. „Sie müssen jetzt angreifen. Das ist der Moment, in dem die russische Armee mit internen Problemen beschäftigt ist.“

Gleichzeitig gibt es aber keine Garantie dafür, dass das derzeitige Chaos in Russland nur eine gute Nachricht für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenski ist. Zygar befürchtet, dass Putin nach einer solchen innenpolitischen Blamage wie der Prigoschin-Affäre ins Ausland ausschlagen und den Krieg in der Ukraine eskalieren könnte.

new yorkerPutin’s Weakness UnmaskedAutor: David Remnick



China plant 455 Gigawatt Solar- und Windleistung in Wüsten


piqer: Ralph Diermann

Im Westen Rumäniens entsteht derzeit der aktuell größte Solarpark Europas, die 1,6 Millionen Module kommen auf eine Spitzenleistung von gut einem Gigawatt. Das nur zur Einordnung einer Meldung, die der Erneuerbare-Energien-Infodienst IWR jetzt veröffentlicht hat: China plant, in der Wüste Gobi sowie in anderen Wüsten bis 2030 Solar- und Windparks mit einer Leistung von zusammen 455 Gigawatt zu bauen – also rund 400 Mal so viel wie die XXL-Anlage in Rumänien. Bei voller Auslastung würden sie etwa so viel Strom liefern wie 1.000 mittelgroße Kohlekraftwerksblöcke.

Ein gigantisches Vorhaben, da nicht nur Windräder und Solarmodule gebaut werden müssen, sondern auch entsprechende Stromleitungen, die die Energie aus den abgelegenen Wüsten in die Verbrauchszentren transportieren. Wobei China bei den Erneuerbaren derzeit ohnehin kräftig klotzt. Das zeigt etwa eine Meldung des Solar-Branchendienstes TaiyangNews: Allein zwischen Januar und Mai dieses Jahres hat China 61 Gigawatt Photovoltaik-Leistung installiert. Das entspricht etwa vier Fünftel der gesamten heute in Deutschland installierten Menge.

iwrChina plant gigantische 455 GW Solar- und Windkraftleistung in Wüsten bis 2030



Erst der Shitstorm, dann die Begeisterung


piqer: Squirrel News

Wenn es um die Qualität wichtiger Zukunftsentscheidungen geht, dann sollte man die öffentliche Meinung lieber nicht als Beraterin heranziehen. Umfragen zeigen jedenfalls immer wieder, dass sie sich ziemlich schnell ändern kann. Und die jüngsten Boulevard-Attacken auf die Wärmepumpe haben auch nicht gerade zu einem Klima geführt, in dem durchdachtes, kühles Abwägen überall an erster Stelle steht – um es mal ganz, ganz vorsichtig zu formulieren.

Eine interessante Sicht auf die Dynamik von gesellschaftlichen Herausforderungen, Lösungsvorschlägen, öffentlicher Resonanz und Akzeptanz hat nun Uwe Schneidewind in einem Interview mit der taz geäußert. Schneidewind war ja selbst Wissenschaftler, bis er dann 2020 in die Politik ging und Bürgermeister von Wuppertal wurde.

Im Interview erklärt er nun, warum der Wandel zuerst einmal mehr Zeit brauchte, als er es sich vorgestellt hatte, und warum es mühsam sein kann, Bürger von den Vorzügen einer Veränderung zu überzeugen, an die sie bisher noch nicht gewöhnt waren. Sein zwischenzeitliches Fazit:

Man muss immer erst einmal durch eine Shitstormphase durch. ­Danach sind dann meist alle begeistert.

Der Rest des Interviews ist nicht ganz so prägnant wie diese zwei Sätze. Aber auf jeden Fall lesenswert.

taz„Das knirscht ordentlich“Autorin: Dunja Batarilo



Deutschland, das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt


piqer: Theresa Bäuerlein

„Wir sind kein Einwanderungsland und wir können es auch nicht werden,“ sagte Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl 1989. Das ist noch keine 35 Jahre her und wirkt dennoch wahnsinnig veraltet. Heute hat nur ein Land auf der Welt in absoluten Zahlen mehr Einwanderer als Deutschland: die USA.

ZEIT ONLINE hat in dem hier empfohlenen Überblick Daten zu allen Zu- und Wegzügen nach und aus Deutschland seit dem Jahr 1952 ausgewertet.

Dem statistischen Bundesamt zufolge hat mittlerweile rund ein Viertel der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass mindestens ein Elternteil bei der Geburt keinen deutschen Pass besaß.

Rund 58 Millionen Zuzüge gab es insgesamt in den vergangenen 70 Jahren, 42 Millionen Migrant:innen verließen Deutschland wieder. Die ZON-Redaktion hat in Grafiken die bisher vier großen Phasen der Zuwanderung seit dem zweiten Weltkrieg dargestellt:

Phase 1: Ab 1955 holte die Bundesrepublik rund 14 Millionen sogenannte Gastarbeiter ins Land, vor allem aus Italien, der Türkei und Jugoslawien. Elf Millionen gingen wieder zurück.

Phase 2: Nach dem Zerfall des Ostblocks und Jugoslawiens wanderten viele Menschen aus Polen nach Deutschland ein, außerdem die sogenannten Spätaussiedler – Menschen mit deutschen Wurzeln aus Ost- und Mitteleuropa. 774.000 von ihnen kamen allein 1989 und 1990.

Phase 3: Ab den Nullerjahren nahm die EU zwölf neue Mitgliedsstaaten auf. Allein zwischen 2011 und 2021 kamen rund 6,3 Millionen Menschen aus dem EU-Ausland nach Deutschland. Etwa 1,6 Millionen Menschen kamen im gleichen Zeitraum aus humanitären Gründen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Phase 4: Seit Russland 2022 die Ukraine überfiel, erlebt Deutschland den größten Zuzug seit Gründung der Bundesrepublik. Mehr als eine Million Ukrainer:innen kamen 2022 ins Land.

Außerdem gibt es eine wachsende Migration aus asiatischen Staaten.

Die größte Gruppe ausländischer Studierender in Deutschland kommt mittlerweile aus China. Und Indien liegt in der Liste der größten Herkunftsländer heute auf Platz fünf.

Die Einwanderer leben nicht gleichmäßig über Deutschland verteilt.

Die meisten Ausländer leben bis heute im Westen Deutschlands, vor allem in den Städten. In die BRD zogen bis zur Wiedervereinigung weit mehr Migranten als in die DDR, später zogen viele Einwanderer dorthin, wo bereits andere Einwanderer lebten. Hinzu kommt ein wirtschaftlicher Grund: Das Lohnniveau ist im Westen Deutschlands bis heute höher als im Osten. Das machte vor allem westdeutsche Städte für Migranten attraktiv.

Staatsbürger der Türkei leben bis heute vor allem in westdeutschen Städten mit Industrie, in Ostdeutschland leben heute so gut wie keine Menschen mit türkischem Pass. Im Osten leben wiederum deutlich mehr Vietnamesen als im Westen – die Familien der Zehntausenden ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam. Geflüchtete wiederum dürften ihren Wohnort nicht selbst wählen, sondern werden nach einem politisch ausgehandelten Quotensystem im Land verteilt. Deswegen leben fast überall in Deutschland Syrer:innen.

Wie geht es weiter mit Deutschland als Einwanderungsland? Das hätte Kohl sich vermutlich nicht im Traum einfallen lassen, aber:

Kaum jemand bezweifelt heute, dass Deutschland angesichts einer alternden Bevölkerung auf Zuwanderung angewiesen ist. Schätzungen zufolge braucht das Land rund 400.000 Migrantinnen und Migranten jedes Jahr, damit die Zahl der Arbeitskräfte stabil bleibt. Die Frage ist: Werden die Menschen weiter ins Land kommen? Und wird die Politik in der Lage sein, zu steuern, wer kommt?

Global betrachtet, so argumentiert der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna, befinden sich überalterte Länder wie Deutschland längst in einem Wettstreit um junge Arbeitskräfte. Die große Frage der kommenden Jahre wird sein, ob Deutschland attraktiv genug sein wird, um nicht nur Menschen aus Europa, sondern auch aus den jungen Gesellschaften im Mittleren Osten und Nordafrika, aus China und Indien anzuziehen.

zeitDie Millionen, die kamenAutor: Jakob Bauer, Paul Blickle, Philip Faigle, Valentin Peter, Julius Tröger, Vanessa Vu & Benja Zehr



KI (LLM) erweitert das Methodenspektrum der Sozialwissenschaft


piqer: Ole Wintermann

In diesem SCIENCE-Text wird auf eindrückliche und spannende Weise beschrieben, wie die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, die auf Sprachmodellen (LLM) basiert, die Methodik der Sozialwissenschaft bedeutend erweitern könnte. Der Text ist ein großartiges Beispiel für die potenzialorientierte Sicht auf KI und eine starke Empfehlung wert.

KI kann menschenähnliche Reaktionen und Verhaltensweisen simulieren und damit die Grundlage dafür schaffen, dass sozialwissenschaftliche Analysen sehr viel schneller, vielfältiger und effizienter durchgeführt werden können, da KI menschliche Teilnehmende an Fragebögen, Beobachtungsstudien oder Experimenten ersetzen oder auch alternative Erklärungsansätze für menschliches Verhalten anbieten könnte. KI bietet also die Möglichkeit, mehr Verhaltensparameter zu messen und zu interpretieren.

In der politischen Analyse könnte KI alternative Handlungs- und Verhaltensszenarien in Abhängigkeit politischer Ideologien entwickeln helfen. Die Autoren sprechen vom “Ideologischen Turing-Test”:

„Once LLMs can pass the Ideological Turing Test—meaning that they can accurately represent opposing viewpoints in a way indistinguishable from real humans—researchers can use them to generate future scenarios.“


"Sobald LLMs den ideologischen Turing-Test bestehen - d. h., dass sie gegnerische Standpunkte so genau darstellen können, dass sie von echten Menschen nicht zu unterscheiden sind - können Forscher sie verwenden, um Zukunftsszenarien zu erstellen.

In der Forschung über soziale Interaktion könnte KI den Part von einzelnen Personen übernehmen. Hiermit könnten unterschiedliche Interaktionsmuster erzeugt werden. Gerade in der Interaktionsforschung könnte ausgerechnet die KI helfen, so die Autoren, inhärente Annahmen und Verzerrungen, die durch Forschende und Probanden in die Experimente unbewusst eingeschleust werden, offenzulegen und zu eliminieren. Dass hierbei die LLM ja selbst Ergebnis kulturell erzeugter Sprachmuster ist und Sprache auch ein Spiegelbild menschlicher Vorurteile sein kann, muss aber natürlich beachtet werden. Zwar versuchen bereits die KI-Modellierer selbst auf die “reine” und durch Vorurteile unbelastete KI wert zu legen. Aber schon die Frage, was eine „unbelastete“ KI sein soll, ist an sich wieder eine normative Frage, so die Autoren.

Die Sozialwissenschaft muss rechtzeitig Richtlinien für die ethische Verwendung der LLM, den passenden Datenschutz, die algorithmische Fairness, die Umweltfolgekosten der LLM sowie den Missbrauch erarbeiten, so die Autoren.

„Only by maintaining transparency and replicability can we ensure that AI-assisted social science research truly contributes to our understanding of human experience.“


"Nur wenn wir für Transparenz und Replizierbarkeit sorgen, können wir sicherstellen, dass die KI-gestützte sozialwissenschaftliche Forschung wirklich zu unserem Verständnis der menschlichen Erfahrung beiträgt."

scienceAI and the transformation of social science researchAutor: Igor Grossmann, Matthew Feinberg , Dawn C. Parker, Nicolas A. Christakis, Philip E. Tetlock & William A. Cunningham


Info: https://makronom.de/ruestungsindustrie-einwanderungsland-next-level-aussichtslosigkeit-44495?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=ruestungsindustrie-einwanderungsland-next-level-aussichtslosigkeit


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukrainekeinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

28.06.2023

Tiefschwarze Wolken über dem „Green Deal“

lostineu.eu, 28. Juni 2023

Im Europaparlament fällt ein wichtiges Umweltschutzgesetz durch. Und der europäische Rechnungshof zweifelt an den Klimazielen.

Scheitert die ehrgeizige Umwelt- und Klimaschutzpolitik der Europäischen Union? Vier Jahre nach dem Startschuss für den „European Green Deal“ sind tiefschwarze Wolken aufgezogen. Die EU drohe ihre ehrgeizigen Klimaziele zu verfehlen, warnt der Europäische Rechnungshof in Luxemburg. Auch im Europaparlament in Brüssel herrscht Krisenstimmung – dort ist das umstrittene Renaturierungs-Gesetz durchgefallen.

Bei einer Kampfabstimmung im Umweltausschuss fand sich keine Mehrheit für den Entwurf der EU-Kommission. Deutsche Christdemokraten, Konservative und Rechtsextreme stimmten dagegen; der Entwurf fiel mit 44 zu 44 Stimmen durch.

Damit wankt nicht nur eine zentrale Säule des europäischen „Green Deal“. Auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gerät in Bedrängnis. Die CDU-Politikerin wird von ihren eigenen Parteifreunden bedrängt, eine Kehrtwende zu vollziehen und den Entwurf zurückzuziehen.

Das Gesetz sei zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht, sagt der umweltpolitische Sprecher der konservativen EVP-Fraktion, Peter Liese (CDU). Die Vorlage sei „rückwärtsgewandt und ideologisch“, erklärt seine Parteifreundin Christine Schneider. „Er wird zu einem Rückgang der land- und forstwirtschaftlichen Flächen führen und damit unsere Ernährungssicherheit gefährden.“


Druck und Drohungen

Noch weiter geht Manfred Weber (CSU). Der EVP-Chef hat seine Truppen auf ein „Nein“ eingeschworen. Befürwortern des Entwurfs soll Weber sogar mit dem Rauswurf aus der Fraktion gedroht haben. Nur mit massivem Druck und Drohungen, so heißt es im Europaparlament, habe Weber das umstrittene Renaturierungs-Gesetz zu Fall bringen können.

Das endgültige „Aus“ bedeutet die Schlappe im Umweltausschuss jedoch nicht. Das letzte Wort hat das Plenum. Bei der für Mitte Juli geplanten Abstimmung droht ein Showdown zwischen den Befürwortern – Sozialdemokraten, Grüne, Linke und Liberale – auf der einen und den konservativen und rechten Gegnern auf der anderen Seite.

Ein Fragezeichen muss man wohl jetzt schon hinter die EU-Klimaziele machen. Das EU-Programm „Fit for 55“ sei intransparent und schlecht finanziert, kritisiert der Europäische Rechnungshof in einem Sondergutachten. Auch die nationalen Energie- und Klimapläne seien zu vage.

„Wir brauchen mehr Transparenz“, forderte die Leiterin der Prüfung, Joëlle Elvinger. Die Datenlage sei zu schlecht. Wie so oft, wenn von der Leyen EU-Politik macht…

Siehe auch Backlash beim Klima. Mehr zur Klimapolitik hier


Info: https://lostineu.eu/tiefschwarze-wolken-ueber-dem-green-deal


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Weiteres:




Update: Deutschland verletzt Nato-Russland-Grundakte


lostineu.eu, vom 27. Juni 2023

Verteidigungsminister Pistorius will die Nato-Ostflanke stärken und 4000 deutsche Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren. Verletzt er damit die Nato-Russland-Grundakte?

Dies hatten wir in unserem Newsletter geschrieben. Daraufhin entwickelte sich eine lebhafte Debatte auf Twitter. Die Nato habe die Grundakte spätestens mit dem Beginn des Ukraine-Krieges aufgegeben, hieß es.

Doch das ist falsch, wie ein Blick auf die Nato-Homepage zeigt. Zitat: „NATO fully abides by the NATO-Russia Founding Act.“ Man halte den Vertrag weiter ein, denn Truppen würden ja nur vorübergehend verlegt.

Dies entspreche der Grundakte. Darin erklärte die Nato, „zusätzlich substantielle Kampftruppen“ werde man nicht „dauerhaft“ in den Staaten des ehemaligen Ostblocks stationieren.

Genau dies läßt sich von den deutschen Plänen jedoch nicht mehr sagen. Deshalb habe Berlin auch lange gezögert, Litauen verbindliche Zusagen zu machen, heißt es bei der SWP, einem regierungsnahen Thinktank.

Offenkundig wird vermutet, dass die Bundesregierung ungebrochen an der Nato-Russland-Grund­akte festhalten will und daher Vorbehalte hat gegenüber einer permanenten militärischen Präsenz in Litauen.

SWP 2023

Einen Bruch sieht offenbar auch der Militärblogger Th. Wiegold. Pistorius Entscheidung sei überraschend, schreibt er auf seinem Blog:

(Schließlich) gehörte Deutschland bislang zu den Nationen, die im Gegensatz zu osteuropäischen NATO-Staaten an der Vereinbarung in der NATO-Russland-Grundakte festhielten, keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft auf dem Territorium ehemaliger Mitglieder des Warschauer Vertrags zu stationieren.

Blog „Augen geradeaus“

Das war einmal – ab sofort nimmt Deutschland keine Rücksicht auf Russland mehr…

Siehe auch „Berlin verletzt Nato-Vertrag“

P.S. Zur neuen Rechtsposition der Bundesregierung sagte Christian Wagner, einer der Sprecher des Auswärtigen Amts, laut „telepolis“: Die Nato-Russland-Grundakte könne „kein beschränkender Faktor für den Ausbau der Nato-Ostflanke sein“. Regierungssprecher Steffen Hebestreit ergänzte, der russische Angriff auf die Ukraine in einem „eklatanten Gegensatz“ zur Grundidee und den Zielen des Abkommen zwischen der Nato und Russland stehe. Deswegen fühle sich die Bundesregierung „an dieser Stelle auch nicht daran gebunden“.

8 Comments

  1. KK
    29. Juni 2023 @ 02:03

    @ european:
    „Den Irak-Krieg der USA nicht zu vergessen.“
    Und was immer gern vergessen wird: das perfide und letztlich dann gewaltsame Vorgehen gegen Grenada.
    Besonders auffällig: es geht immer gegen vermeintlich schwächere – wenn es um einen Gegner wie Russland geht, dann provozieren die USA nur, und lasssen dann letztlich andere für sich ganz vorne den Kopf hinhalten.
    Wird sicher auch bei China so kommen. Japan und Australien werden ja schon gut angestachelt und aufgerüstet, und Japans Pazifismusideologie wurde auch sicher nicht ganz freiwillig – gegen den Willen der Bevölkererungsmehrheit – beerdigt.

Reply

  • european
    28. Juni 2023 @ 19:50

    Vielleicht kann sich noch jemand daran erinnern, wie sehr seitens des Westens immer betont wurde, dass es „leider“ Gorbatschow’s Pech war, dass die Versprechen bezüglich der NATO-Osterweiterung niemals in Vertragsform schriftlich festgehalten worden waren. Man kann sie zwar in den Baker-Minutes nachlesen und auf Seite 8-9 steht es so eindeutig wie es eindeutiger nicht sein könnte. Als Deutsche bleibt man nur noch beschämt zurück, insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach deutschem, gültigem, Recht auch ein mündlich abgeschlossener Vertrag ein Vertrag ist.
    Nun haben wir hier den Fall, dass es einen richtigen Vertrag gibt, so schwarz auf weiß gedruckt, und den halten wir auch nicht ein mit der Begründung, dass er unter anderen Voraussetzungen geschlossen wurde.
    Gleichzeitig in Deutschland: „Im vergangenen Jahr seien rund 132 Milliarden US-Dollar (125 Milliarden Euro) mehr Direktinvestitionen aus Deutschland abgeflossen, als aus dem Ausland in Deutschland investiert wurden.“
    https://www.businessinsider.de/wirtschaft/deindustrialisierung-geldabfluss-aus-deutschland-fuer-investitionen-so-hoch-wie-nie-iw/#:~:text=Im%20vergangenen%20Jahr%20seien%20rund,Ausland%20in%20Deutschland%20investiert%20wurden.
    Willkürliche Rechtsauslegung führt zu Rechtsunsicherheit und dazu, dass Investoren in Länder gehen, wo es Rechtssicherheit gibt. Das ist eine logische Konsequenz. Die deutschen Politiker mögen innerhalb Deutschlands mit dieser Rechtsverdrehung durchkommen. International werden sie damit nicht erfolgreich sein. Zum Schaden des Landes.

    Reply

  • european
    28. Juni 2023 @ 18:18

    @Stefan

    „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat“ vor.“

    Oh, oh. Das ist sehr dünnes Eis. Wenn das das Kriterium ist, dann hat die Nato/USA dieses Abkommen schon längst gebrochen, lange vor der Ukraine. Siehe Kosovo, Libyen, Afghanistan uvm. Den Irak-Krieg der USA nicht zu vergessen. Millionen Tote, direkt und indirekt, und man kann nicht mal alle erfassen, weil die Schäden von Uranmunition lange nachhallen, z.B. durch Krebserkrankungen, Totgeburten, Fehlgeburten, Entstellungen. Gleiches gilt für Vietnam mit Agent Orange, der bis heute nachwirkt und den Kosovo, das Land mit der höchsten Rate an Brustkrebs und Lungenkrebs.

    Ganz aktuell dazu die Studie des Watson-Institutes der Brown University in Rhode Island, USAhttps://watson.brown.edu/costsofwar/papers/2023/IndirectDeaths

    Reply

  • Stefan
    28. Juni 2023 @ 17:41

    Die Nato Grundakte wurde von Russland aufgekündigt. Denn sie sieht auch
    „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat“ vor.

    Reply

  • KK
    28. Juni 2023 @ 11:47

    @ Hekla:
    “ Gehört inzwischen auch Vertragsbruch zu unseren Werten?“

    Offensichtlich; es zeichnet sich ja bereits ab, dass keiner mehr wirklich welche mit „uns“ abschliessen möchte. Siehe Brasilien, siehe Tunesien – um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen.

    Wer hat diese Typen bloß gewählt?

    Reply

  • Hekla
    27. Juni 2023 @ 21:28

    Ich las verschiedentlich, evtl. auch im Tagesspiegel, dass der Vertragsbruch von Pistorius damit begründet wird, dass der Vertrag unter ganz anderen Rahmenbedingungen geschlossen wurde… wenn man diese Linie fährt, kann man eigentlich auch das komplette Völkerrecht in die Tonne treten; seine Grundlagen sind mit dem Westfälischen Frieden von 1648, unter ganz anderen Rahmenbedingungen gelegt worden. Und was müsste dann das Bundesverfassungsgericht zu Grundgesetzverstössen sagen – nicht so schlimm, das GG ist unter ganz anderen Rahmenbedingungen in Kraft gesetzt worden?
    Gehört inzwischen auch Vertragsbruch zu unseren Werten?

    Reply

  • KK
    27. Juni 2023 @ 19:35

    @ Stef:
    „Bin gespannt, mit welchem Dreh dieser abermalige Vertragsbruch Deutschlands auch wieder den Russen selbst zugeschrieben wird….“

    Mit einem Dreh um 360 Grad natürlich!

    Reply

  • Stef
    27. Juni 2023 @ 18:06

    Bin gespannt, mit welchem Dreh dieser abermalige Vertragsbruch Deutschlands auch wieder den Russen selbst zugeschrieben wird….


  • Info: https://lostineu.eu/update-deutschland-verletzt-nato-russland-grundakte


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukrainekeinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

    27.06.2023

    Russisch-Ukrainischer Krieg: Der Wagner-Aufstand

    seniora.org, 27. Juni 2023, BIG SERGE 26.06.2023 - übernommen von bigserge.substack.com

    Yewgeny Prigoschins wilder Ritt


    (Red.) Es kursieren alle möglichen Theorien über die Gründe für den (leider doch blutigen) Theatercoup von Prigoschin. Big Serge stellt diese Theorien zusammen und klärt auf, was wirklich los war. Vor allem in den beigefügten Kommentaren des nigerianischen Bloggers kommt Licht ins Dunkel. Offenbar werden derzeit Lager für die Wagner-Kämpfer in Belarus eingerichtet und es scheint, dass Russland dieses Instrument auch in Zukunft verwenden will - wenn auch vermutlich weniger für den Ukraine-Krieg, sondern für Afrika.

    Die Ereignisse des vergangenen Wochenendes (23. bis 25. Juni 2023) waren so surreal und phantasmagorisch, dass sie sich jeder Beschreibung widersetzen. Am Freitag startete die berüchtigte Wagner-Gruppe eine scheinbar echte bewaffnete Revolte gegen den russischen Staat. Sie besetzten Teile von Rostow am Don   – einer Stadt mit über 1 Million Einwohnern, Regionalhauptstadt und Sitz des südlichen Militärbezirks Russlands   – bevor sie in einer bewaffneten Kolonne in Richtung Moskau aufbrachen. Diese Kolonne   – vollgepackt mit schwerem militärischem Gerät, einschließlich Luftabwehrsystemen   – kam bis auf wenige hundert Kilometer an die Hauptstadt heran   – praktisch unbehelligt von den russischen Streitkräften   –, bevor sie abrupt anhielt, verkündete, dass mit Hilfe des weißrussischen Präsidenten Alexander "Onkel Sascha" Lukaschenko ein Abkommen ausgehandelt worden sei, umkehrte und sich auf den Rückweg zu den Wagner-Stützpunkten im ukrainischen Gebiet machte.

    Es versteht sich von selbst, dass das Spektakel eines bewaffneten Marsches einer russischen Söldnertruppe auf Moskau und die Absperrung der Gebäude des Verteidigungsministeriums in Rostow durch Panzer und Infanterie der Firma Wagner in den westlichen Kommentaren die Zuversicht auslöste, der russische Staat stehe kurz vor dem Sturz und die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine würden sich in Luft auflösen. Innerhalb weniger Stunden wurden zuversichtliche und haarsträubende Vorhersagen verbreitet, darunter die Behauptung, Russlands globale Präsenz werde sich auflösen, wenn der Kreml seine Truppen zur Verteidigung Moskaus zurückruft, und Russland stehe kurz vor dem Eintritt in einen Bürgerkrieg. Auch die ukrainische Propagandamaschine lief auf Hochtouren: Personen wie Anton Geraschtschenko und Igor Sushko bombardierten die sozialen Medien mit gefälschten Geschichten über meuternde russische Armeeeinheiten und zu Prigoschin "übergelaufene" Regionalgouverneure.

    Es gibt etwas zu sagen über das analytische Modell, das in unserer Zeit vorherrscht   – es gibt eine Maschine, die sofort zum Leben erwacht, Gerüchte und Teilinformationen in einem Umfeld extremer Ungewissheit aufnimmt und formelhafte Ergebnisse ausspuckt, die zu ideologischen Vorannahmen passen. Informationen werden nicht neutral bewertet, sondern durch einen kognitiven Filter gezwungen, der ihnen im Lichte vorher festgelegter Schlussfolgerungen eine Bedeutung zuweist. Es wird *vermutet*, dass Russland zusammenbricht und einen Regimewechsel vollzieht (so Fukuyama)   – daher mussten Prigoschins Handlungen in Bezug auf dieses angenommene Endspiel eingeordnet werden.

    Am anderen Ende des Spektrums sahen wir ein ähnliches Maß an aggressiver Modellanpassung bei den Befürwortern des russischen "Trust the Plan", die zuversichtlich waren, dass der Wagner-Aufstand nur ein Schauspiel war   – eine ausgeklügelte List, die Prigoschin und Putin gemeinsam ausgeheckt hatten, um Russlands Feinde zu täuschen und den Plan voranzutreiben. Der analytische Fehler ist hier derselbe   – Informationen werden nur zu dem Zweck analysiert, ein bereits beschlossenes Endspiel zu untermauern und voranzutreiben; nur dass hier von russischer Allmacht ausgegangen wird und nicht vom Zusammenbruch des russischen Staates.

    Ich vertrat so etwas wie einen Mittelweg. Ich fand die Vorstellung, Russland stehe vor einem Bürgerkrieg oder einem Staatszerfall, äußerst bizarr und völlig unbegründet, aber ich war auch nicht der Meinung (und ich denke, die Ereignisse haben diese Ansicht bestätigt), dass Prigoschin in Zusammenarbeit mit dem russischen Staat eine Scharade inszeniert hat. Wenn der Wagner-Aufstand tatsächlich eine Psyop (Psychologische Operation) war, um die NATO zu täuschen, dann war es eine extrem ausgeklügelte und verworrene Operation, die bisher noch keinen eindeutigen Nutzen gezeigt hat (mehr dazu in Kürze).

    Ich glaube im Großen und Ganzen, dass Prigoschin aus eigenem Antrieb in einer äußerst riskanten Weise handelte (die sowohl sein eigenes Leben als auch eine destabilisierende Wirkung auf Russland riskierte). Dies stellte den russischen Staat vor eine echte Krise (wenn auch eine, die nicht schwerwiegend genug war, um die Existenz des Staates zu bedrohen), die dieser meiner Meinung nach im Großen und Ganzen recht gut bewältigt hat. Der Wagner-Aufstand war ganz klar schlecht für Russland, aber nicht existenzbedrohend, und der Staat hat gute Arbeit geleistet, um ihn einzudämmen und abzumildern.

    Beginnen wir mit einem kurzen Blick auf die zeitliche Abfolge der Ereignisse.

    Anatomie einer Meuterei

    Das Ausmaß der Desinformation (insbesondere durch die Ukrainer und die im Westen ansässigen russischen Liberalen), die während des gesamten Wochenendes im Umlauf war, war extrem, so dass es ratsam sein könnte, die Entwicklung der Ereignisse, wie sie tatsächlich stattfanden, zu überprüfen.

    Das erste Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, waren einige brisante Äußerungen von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin am 23. Juni (Freitag). In einem ziemlich langen und sprunghaften Interview stellte er die schockierende Behauptung auf, dass der Vorwand Russlands für den Krieg in der Ukraine eine glatte Lüge sei und dass der Krieg von Korruption und der Ermordung von Zivilisten geprägt sei. Noch verrückter wurde es dann, als Wagner behauptete, die russische Armee habe ihr Lager mit einer Rakete getroffen. Das war äußerst merkwürdig, denn auf dem veröffentlichten Video (das angeblich die Folgen dieses "Raketeneinschlags" zeigte) waren weder ein Einschlagkrater noch Trümmer noch verletzte oder getötete Wagner-Mitarbeiter zu sehen. Der "Schaden" durch die Rakete bestand aus zwei Lagerfeuern, die in einem Graben brannten   – anscheinend hat Russland Raketen, die kleine kontrollierte Brände auslösen können, ohne die umliegende Pflanzenwelt zu zerstören?

    Das Video zeigte natürlich nicht die Folgen eines Raketenangriffs, aber Prigoschins Rhetorik eskalierte daraufhin und er kündigte bald an, dass Wagner einen "Marsch für Gerechtigkeit" beginnen würde, um eine Lösung für seine verschiedenen Beschwerden zu erreichen. Es war nicht klar, was er genau wollte, aber es schien sich um persönlichen Groll gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow zu drehen.

    Kurz darauf wurden einige Videos von den russischen Behörden veröffentlicht (darunter eines mit General Surovikin), in denen Wagner offenbar aufgefordert wurde, "die Bewegung seiner Kolonnen zu stoppen" und in seine Lager zurückzukehren, um Blutvergießen und Destabilisierung zu verhindern. Dies bestätigte einige der Gerüchte, wonach Wagner die Lager in voller Stärke verlassen würde. Die Nachricht, dass die russische Nationalgarde in Moskau und anderswo aktiviert worden war, schien die Befürchtung zu bestätigen, dass ein bewaffneter Zusammenstoß in Russland unmittelbar bevorstand.

    Gegen Ende des Freitags waren bewaffnete Wagner-Konvois in Rostow (mit dem roten Z-Zeichen) und hatten in einem unblutigen Staatsstreich die Kontrolle über mehrere militärische Einrichtungen der Stadt übernommen. Die Szenen waren ein wenig skurril   – Panzer auf den Straßen der Stadt und Sicherheitskordons um wichtige Einrichtungen, aber scheinbare Gleichgültigkeit der Bevölkerung. Die Menschen mischten sich unter die Wagner-Soldaten, Straßenkehrer gingen ihrer Arbeit nach, Wagner kaufte Cheeseburger, und die Leute machten Fotos mit den Panzern.

    Ein T-72 ist das ultimative Accessoire

    An diesem Abend hatte Prigoschin ein angespanntes, aber höfliches persönliches Treffen mit zwei hochrangigen Beamten des Verteidigungsministeriums   – Yanus Evkurov (stellvertretender Verteidigungsminister) und Vladimir Alekseev (stellvertretender Leiter der Direktion des militärischen Geheimdienstes).

    Die Lage spitzte sich am nächsten Tag (Samstag, den 24.) zu, als bekannt wurde, dass zwei große bewaffnete Einheiten innerhalb der russischen Vorkriegsgrenzen unterwegs waren. Bei der einen handelte es sich um eine Kolonne von Wagner-Personal und Waffen, die Rostow in Richtung Moskau verließ, bei der anderen um eine tschetschenische Truppe, die vom Staat nach Rostow entsandt worden war. Angesichts der Nachricht, dass die staatlichen russischen Streitkräfte Straßensperren und Verteidigungsstellungen außerhalb Moskaus errichteten, sah es so aus, als stünden zwei getrennte Kämpfe bevor   – einer zwischen der Wagner-Kolonne und den staatlichen Streitkräften außerhalb Moskaus und ein weiterer zwischen den Tschetschenen und den Wagner-Überbleibseln um die Kontrolle über Rostow.

    An diesem Punkt begannen die ukrainischen Desinformationen wirklich zu wuchern, indem sie behaupteten, dass russische Militäreinheiten und regionale Verwaltungen zu Prigoschin überliefen   – was in der Tat bedeutet hätte, dass es sich nicht nur um einen Aufstand von Wagner gegen den Staat, sondern um eine umfassende Revolte des russischen Systems gegen Putins Regierung gehandelt hätte. Tatsächlich (und das ist ein wichtiger Punkt, auf den ich später noch zurückkommen werde) gab es keine Überläufer in regulären russischen Militäreinheiten oder regionalen Regierungen, und es gab keine zivilen Unruhen. Die Meuterei beschränkte sich auf die Wagner-Gruppe, und selbst daran waren nicht alle von Wagner beteiligt.

    Wie dem auch sei, in den frühen Abendstunden des Samstags gab es Grund zur Sorge, dass außerhalb Moskaus oder in Rostow Schießereien beginnen könnten. Putin gab eine Erklärung ab, in der er den Verrat anprangerte und eine angemessene Reaktion versprach. Das russische Justizministerium eröffnete ein Strafverfahren gegen Prigoschin wegen Hochverrats. Zwei Flugzeuge des russischen Verteidigungsministeriums wurden von der Wagner-Kolonne abgeschossen (ein Mi-8-Hubschrauber und eine IL-22). Die Atmosphäre in der Welt wurde durch die Menge an Speichelfluss aus Washington deutlich feuchter.

    Da kann man nicht parken, Kumpel

    Dann kam die Wagner-Kolonne zum Stillstand. Die belarussische Regierung gab bekannt, dass mit Prigoschin und Putin eine Einigung ausgehandelt worden sei. Das Büro von Lukaschenko behauptete, "man habe sich darauf geeinigt, dass ein blutiges Massaker auf dem Territorium Russlands untragbar sei." Die Kolonne wich von der Straße nach Moskau ab und kehrte zu Wagners Feldlagern in der Ukraine zurück, und die in Rostow verbliebenen Wagner-Truppen packten zusammen und verließen die Stadt. Abgesehen von den Besatzungen der beiden abgeschossenen Flugzeuge wurde niemand getötet.

    Die Spekulationen drehten sich natürlich sofort um die Bedingungen der Vereinbarung zwischen Prigoschin und dem Staat. Einige spekulierten, dass Putin zugestimmt hatte, Schoigu, Gerasimow oder beide aus ihren Ämtern zu entfernen (vielleicht war das die ganze Zeit der Sinn der Sache?). In Wirklichkeit waren die Bedingungen relativ lahm und antiklimaktisch:

    1. Das Hochverratsverfahren gegen Prigoschin wurde eingestellt, und er sollte nach Belarus gehen.
    2. Wagner-Kämpfer, die an dem Aufstand teilgenommen haben, werden nicht angeklagt und kehren zu ihren Einsätzen in der Ukraine zurück.
    3. Wagner-Kämpfer, die nicht am Aufstand teilgenommen haben, würden Verträge mit dem russischen Militär unterzeichnen (und damit Wagner verlassen und reguläre Vertragssoldaten werden).
    4. Ein vager Hinweis auf "Sicherheitsgarantien" für Wagner-Kämpfer.

    Also, das ist alles sehr seltsam. Ein echter bewaffneter Aufstand mit Panzern und schweren Waffen (und nicht ein Mann mit einem Büffelkopfschmuck) mit einer Übernahme von Militäreinrichtungen, die von Lukaschenko zu einer plötzlichen Lösung gebracht wurde, und alles, was Prigoschin dafür bekommen zu haben scheint, war... freie Fahrt nach Belarus? Das ist in der Tat merkwürdig.

    Versuchen wir also zu analysieren, was hier passiert ist, indem wir einen analytischen Rahmen verwenden, der nicht vordeterministisch ist   – das heißt, gehen wir davon aus, dass weder die russische Allzuständigkeit noch der russische Regimewechsel und die neoliberale Kuscheligkeit garantiert sind.

    Ich möchte mich zunächst mit genau diesen beiden ideologisch geprägten Theorien befassen. Auf der einen Seite gab es diejenigen, die behaupteten, Russland stehe kurz vor einem Bürgerkrieg und einem Regimewechsel, und auf der anderen Seite diejenigen, die der Meinung waren, das Ganze sei ein von der russischen Regierung geplantes Psycho-Spiel. Erstere haben sich bereits dadurch diskreditiert, dass alle ihre dramatischen Vorhersagen innerhalb von 24 Stunden in sich zusammenfielen   – Prigoschin führte tatsächlich keine metastasierende Meuterei an, stürzte Putin nicht und erklärte sich selbst nicht zu Zar Eugen I. An der anderen extremen Theorie   – Psyop   – ist nach wie vor etwas dran, aber ich halte sie für äußerst unwahrscheinlich, aus Gründen, die ich jetzt aufzählen werde.

    Psyop Szenarien

    Es ist relativ einfach zu sagen: "Der Aufstand war eine Psyop", ohne das näher zu erläutern. Es ist trivialerweise offensichtlich, dass der Wagner-Aufstand die westlichen Analysten „getäuscht“ hat   – aber das ist nicht ipso facto ein Beweis dafür, dass der Aufstand inszeniert war, um den Westen zu täuschen. Wir müssen nach etwas Konkreterem fragen   – zu welchem Zweck könnte der Aufstand inszeniert worden sein?

    Ich habe vier denkbare Theorien identifiziert, die es zumindest wert sind, untersucht zu werden   – lassen Sie uns einen Blick auf sie werfen und darüber sprechen, warum ich denke, dass sie alle letztlich den Aufstand nicht zufriedenstellend erklären können.

    Option 1: Lebendköder

    Eine mögliche Erklärung   – die ich schon häufig gehört habe   – ist die Vorstellung, dass Prigoschin und Putin den Aufstand inszeniert haben, um theoretische Netzwerke von Aufrührern, ausländischen Agenten und illoyalen Elementen aufzuspüren. Der Gedanke war wohl, dass Prigoschin ein kontrolliertes, aber kosmetisch realistisches Krisengefühl für den russischen Staat schaffen würde, das Putins Regierung verwundbar erscheinen ließe und verräterische und feindliche Parteien in ganz Russland dazu zwingen würde, sich zu offenbaren.

    Konzeptionell läuft dies auf wenig mehr hinaus, als dass Putins Regierung vorgibt, ein verwundetes Tier zu sein, um die Aasfresser anzulocken, damit sie getötet werden können.

    Ich denke, dass diese Theorie Anklang findet, weil sie Putin als einen extrem gerissenen, machiavellistischen und paranoiden Führer darstellt. Das ist auch der Grund, warum ich sie für falsch halte. Putin hat ein hohes Maß an Legitimität aus seiner Fähigkeit geschöpft, den Krieg zu führen, ohne das tägliche Leben in Russland zu stören   – es gibt keine Rationierung, keine Einberufungen, keine Einschränkungen der Bewegungsfreiheit usw. Eine der größten Kritiken an Putin kommt von der Kriegspartei, die behauptet, er führe den Krieg aus Angst zu zaghaft und sei zu sehr mit der Aufrechterhaltung der Normalität in Russland beschäftigt.

    Es erscheint daher widersprüchlich, dass ein Staatschef, der sehr darauf bedacht ist, die russische Gesellschaft nicht in einen Krieg zu stürzen, etwas so Destabilisierendes wie einen fingierten Aufstand inszeniert. Sollte die Wagner-Revolte tatsächlich eine Scharade gewesen sein, um andere verräterische und terroristische Elemente auszuräuchern, so ist sie zudem gründlich gescheitert   – es gab keine Überläufer, keine zivilen Unruhen und keine Verläumdungen Putins. Die Theorie des lebenden Köders besteht also aus mehreren Gründen den Schnuppertest nicht.

    Option 2: Maskierung von Einsätzen

    Eine zweite Theorie besagt, dass der Wagner-Aufstand im Wesentlichen eine riesige Vernebelung war, um die Bewegung der militärischen Kräfte um Russland herum zu ermöglichen. Der Gedanke dahinter ist wohl, dass, wenn bewaffnete Kolonnen scheinbar wild umherfliegen, die Menschen nicht bemerken, wenn russische Truppen in Stellung gehen, um beispielsweise Sumy oder Charkow anzugreifen. Diese Annahme wurde durch die Nachricht, dass Prigoschin nach Weißrussland gehen würde, nur kosmetisch untermauert. War das Ganze ein Trick, um die Verlegung von Wagner für eine Operation in der Westukraine zu verschleiern?

    Das Problem mit dieser Denkweise ist dreifach. Erstens verkennt sie die Komplexität der Aufstellung einer Truppe für Operationen. Es geht nicht nur darum, eine Reihe von Lastwagen und Panzern in Stellung zu bringen   – es gibt enorme logistische Anforderungen. Munition, Treibstoff, Infrastruktur im rückwärtigen Bereich   – all das muss bereitgestellt werden. Das lässt sich nicht innerhalb von 24 Stunden unter dem vorübergehenden Deckmantel einer vorgetäuschten Meuterei bewerkstelligen.

    Zweitens richtet sich der "Ablenkungseffekt" vor allem gegen die Medien und die Kommentatoren, nicht gegen den militärischen Geheimdienst. Anders ausgedrückt: CNN und die New York Times waren definitiv auf den Wagner-Aufstand fixiert, aber amerikanische Satelliten überfliegen weiterhin das Kampfgebiet und die westliche ISR (Intelligence, Surveillance, and Reconnaissance = Nachrichtendienst, Überwachung und Aufklärung) funktioniert noch. Prigoschins Eskapaden würden sie nicht davon abhalten, die Vorbereitungen für den Angriff auf eine neue Front zu beobachten.

    Drittens und letztens sieht es nicht so aus, als ob viel von Wagner Prigoschin nach Weißrussland begleiten wird   – seine Reise ins Lukaschenko-Land sieht eher nach einem Exil als nach einer Verlegung der Wagner-Gruppe aus.

    Option 3: Konstruierte Radikalisierung

    Dies ist die übliche "Falsche-Flagge"-Theorie, die immer dann in Umlauf kommt, wenn irgendwo etwas Schlimmes passiert. Sie ist ziemlich blasiert und abgedroschen: "Putin hat den Aufstand inszeniert, um den Krieg zu eskalieren, die Mobilisierung zu erhöhen usw."

    Das ergibt keinen Sinn und ist ziemlich leicht von der Hand zu weisen. Es gab echte ukrainische Angriffe innerhalb Russlands (einschließlich eines Drohnenangriffs auf den Kreml und grenzüberschreitender Vorstöße ukrainischer Streitkräfte). Wenn Putin den Krieg intensivieren wollte, hätte er jede dieser Gelegenheiten nutzen können. Die Vorstellung, dass er lieber einen internen Aufstand inszenieren würde   – mit dem Risiko einer weitreichenden Destabilisierung   – als sich auf die Ukraine zu konzentrieren, ist lächerlich.

    Option 4: Konsolidierung der Macht

    Von allen Psyop-Theorien ist dies diejenige, die wahrscheinlich am meisten für sich hat. Es gab zwei verschiedene Richtungen, die wir nacheinander behandeln werden.

    Zu Beginn wurde spekuliert, dass Putin Prigoschin als Vorwand benutzt, um Schoigu und Gerasimow zu vertreiben. Ich hielt dies aus mehreren Gründen für unwahrscheinlich.

    Erstens glaube ich nicht, dass es einen triftigen Grund gibt, diese Männer zu entlassen. Der russische Krieg war zu Beginn uneinheitlich, aber es gibt eine klare Tendenz zur Verbesserung der Rüstungsindustrie, da Schlüsselsysteme wie Lancet und Geran in immer größeren Mengen zur Verfügung stehen, und im Moment machen die russischen Streitkräfte aus der ukrainischen Gegenoffensive Mulch.

    Zweitens: Wenn Putin entweder Schoigu oder Gerasimow absetzen wollte, wäre dies als Reaktion auf einen vorgetäuschten Aufstand der schlechteste Weg, da dies den Anschein erwecken würde, dass Putin sich den Forderungen eines Terroristen beugt. Denken Sie daran, dass Putin weder Schoigu noch Gerasimow öffentlich für ihr Verhalten im Krieg kritisiert hat. Öffentlich scheinen sie seine volle Rückendeckung zu haben. Könnte der Präsident sie wirklich als Reaktion auf Prigoschins Forderungen entlassen, ohne unglaublich schwach zu wirken? Viel besser wäre es, wenn Putin sie einfach aus eigenem Antrieb entlassen würde   – und damit sich selbst und nicht Prigoschin zum Königsmacher machen würde.

    Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es nicht so aus, als würden Schoigu oder Gerasimow ihre Posten verlieren. Dies führte dazu, dass die Theorie der "Machtkonsolidierung" auf eine zweite Denkrichtung umgeschwenkt hat: Putin wollte mit Prigoschin im Wesentlichen das russische politische System einem Stresstest unterziehen, um zu sehen, wie die regionale Verwaltung und die Armeeführung reagieren würden.

    Die Objekte von Prigoschins Zorn?

    Damit wird der Aufstand wie eine Feuerwehrübung behandelt   – man löst den Alarm aus, schaut, wie alle reagieren, und notiert, wer die Anweisungen befolgt hat. Natürlich kamen russische Politiker aus dem Gebüsch gekrochen, um ihre Unterstützung für Putin zu bekräftigen und Wagner anzuprangern   – mit dem für Russland typischen Flair, wie der Governeur von Twer, der Prigoschin zum Selbstmord aufrief. Dies verleiht vielleicht der Vorstellung Glaubwürdigkeit, dass Putin seine Untergebenen auf die Probe stellen wollte.

    Aber auch diese Theorie lässt meiner Meinung nach einige wichtige Punkte außer Acht. Erstens schien Russland innerlich sehr stabil zu sein. Putin sah sich keiner Opposition oder Gegenwehr gegenüber, keine zivilen Unruhen, keine Meutereien in der Armee, keine Kritik von hochrangigen politischen Persönlichkeiten   – es ist nicht klar, warum er das Bedürfnis verspüren sollte, das Land zu erschüttern, nur um die Loyalität des politischen Apparats zu testen. Vielleicht halten Sie ihn für eine hyperparanoide Stalin-Figur, die sich dazu getrieben fühlt, mit dem Land Psychospielchen zu treiben, aber das passt wirklich nicht zu seinem Verhaltensmuster. Zweitens ist der Verlauf des Krieges im Moment überwiegend zu Gunsten Russlands, da der Sieg bei Bakhmut noch frisch im Gedächtnis der Öffentlichkeit ist und die Gegenoffensive der Ukraine mehr und mehr wie eine militärische Pleite der Weltgeschichte aussieht. Es macht wenig Sinn, warum Putin gerade jetzt, wo die Dinge für Russland sehr gut laufen, eine Granate abwerfen sollte, nur um die Reaktionszeit zu testen.

    Letztlich denke ich, dass alle diese "Psyop"-Theorien sehr schwach sind, wenn man sie in gutem Glauben nach ihren eigenen Bedingungen bewertet. Ihre Fehler haben einen gemeinsamen Nenner. Die Dinge laufen sehr gut für Russland, die Armee leistet hervorragende Arbeit bei der anhaltenden Niederlage der ukrainischen Gegenoffensive, es gibt keine inneren Unruhen oder Ungleichgewichte, und die Wirtschaft wächst. Die "Psyop"-Denkweise geht davon aus, dass Putin in einer Zeit, in der die Dinge gut laufen, ein enormes Risiko eingehen würde, indem er eine gefälschte Meuterei für vernachlässigbare Gewinne inszeniert und damit nicht nur Unruhen und Blutvergießen riskiert, sondern auch Russlands Image der Stabilität und Zuverlässigkeit im Ausland beschädigt.

    Man geht davon aus, dass das Putin-Team allwissend und in der Lage ist, ein hochkomplexes Täuschungsmanöver durchzuführen. Ich glaube nicht, dass die russische Regierung allwissend ist. Ich denke, dass sie einfach nur normal kompetent ist   – zu kompetent, um so einen Trick mit hohem Risiko und geringem Vorteil durchzuziehen.

    Was Prigoschin will

    Manchmal denke ich, dass der westliche Prädeterminismus des "Endes der Geschichte" (in dem die gesamte Geschichte ein unaufhaltsamer Marsch in Richtung globaler neoliberaler performativer Demokratie ist und die endgültige Befreiung und das Glück der gesamten Menschheit verkündet wird, wenn ihre siegreiche Flagge über Moskau, Peking, Teheran und Pjöngjang weht) im Wesentlichen ein geopolitisches Gegenstück zu Jurassic Park ist   – einer ergreifenden Geschichte von Hybris und Untergang (und einer meiner Lieblingsfilme).

    Das analytische Modell der Schöpfer von Jurassic Park ging davon aus, dass die Dinosaurier   – Kreaturen, über die sie praktisch nichts wussten   – sich im Laufe der Zeit Kontrollroutinen unterwerfen würden wie Zootiere. Geblendet von der Illusion von Kontrolle und der theoretischen Stabilität ihrer Systeme (von denen man annahm, dass sie stabil sind, weil sie so konstruiert wurden), war man sich nicht der Tatsache bewusst, dass der Tyrannosaurus eine eigene Intelligenz und einen eigenen Willen hatte.

    Ich denke, dass Jewgeni Prigoschin ein bisschen wie der Tyrannosaurus in Jurassic Park ist. Sowohl der westliche neoliberale Apparat als auch die russischen vierdimensionalen Planer scheinen Prigoschin als ein Rädchen zu betrachten, das dazu da ist, die Funktion ihres Weltmodells auszuführen. Ob es sich bei diesem Modell um den langen Marsch der Geschichte auf die Demokratie und den letzten Menschen oder um einen brillanten und nuancierten Masterplan Putins zur Zerstörung der unipolaren atlantischen Welt handelt, spielt keine große Rolle   – beide neigen dazu, Prigoschins Handlungsfähigkeit zu negieren und ihn zu einem Sklaven des Modells zu machen. Aber vielleicht ist er ein Tyranosaurus, mit einer Intelligenz und einem Willen, die eine innere Richtung haben, die unseren Weltmodellen gleichgültig ist. Vielleicht hat er den Zaun aus seinen eigenen Gründen niedergerissen.

    Ein Möchtegern-Lenin? Oder nur ein Mann, der mit dem Rücken zur Wand steht?

    Wir müssen darauf zurückkommen, wer Prigoschin ist und was Wagner ist.

    Für Prigoschin ist Wagner in erster Linie ein Unternehmen, das ihm vor allem in Afrika viel Geld eingebracht hat. Der Wert von Wagner (im grundlegendsten Sinne) ergibt sich aus seiner hohen Kampfkraft und seinem einzigartigen Status als von den russischen Streitkräften unabhängige Einheit. Jede Bedrohung eines dieser beiden Faktoren stellt für Prigoschin eine finanzielle und statusmäßige Katastrophe dar.

    In jüngster Zeit haben die Entwicklungen im Krieg eine existenzielle Bedrohung für die Wagner-Gruppe als lebensfähiges PMC erkennen lassen. Dies sind insbesondere:

    1. Ein konzertierter Vorstoß der russischen Regierung, Wagner-Kämpfer zu zwingen, Verträge mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen. Damit droht die Auflösung von Wagner als unabhängiger Organisation und ihre vollständige Eingliederung in das reguläre russische Militär.
    2. Wagner verliert das Personal aus den Rekrutierungen des letzten Jahres (einschließlich der Sträflinge). Diese Einberufenen stellten ein enormes Personalpolster dar, das es Wagner ermöglichte, die groß angelegten Kämpfe in Bakhmut zu schultern, aber viele von ihnen haben ihre Dienstzeit beendet.

    Dies bedeutet, dass Wagner an zwei Fronten bedroht ist. Auf institutioneller Ebene will die russische Regierung die Unabhängigkeit von Wagner im Wesentlichen neutralisieren, indem sie das Unternehmen dem Verteidigungsministerium unterstellt. Aus der Sicht von Prigoschin bedeutet dies im Wesentlichen die Verstaatlichung seines Unternehmens.

    Darüber hinaus ist ein verschlankter Wagner (der einen Großteil der Einberufenen verloren hat, die ihn auf die Größe eines Armeekorps gebracht hatten) nichts, was Prigoschin in den Kampf in der Ukraine schicken möchte. Ist Wagner erst einmal auf seinen Kern der erfahrenen Truppe reduziert, werden die Verluste in der Ukraine direkt auf Wagners Lebensfähigkeit durchschlagen.

    Mit anderen Worten: Prigoschin und die Behörden befanden sich in einer ausweglosen Situation. Was Prigoschin wahrscheinlich am meisten wollte, war, den in Bakhmut gewonnenen Ruhm zu nutzen, um Wagner zurück nach Afrika zu bringen und wieder viel Geld zu verdienen. Was er nicht wollte, war die Eingliederung seiner PMC in das russische Militär oder die Zermürbung seines Kerns von tödlichen Profis in einer weiteren großen Schlacht in der Ukraine. Das Verteidigungsministerium hingegen möchte die Wagner-Kämpfer unbedingt in die reguläre Armee integrieren und sie einsetzen, um die Ukraine auf dem Schlachtfeld zu besiegen.

    Wir haben also einen klaren Interessenkonflikt.

    Aber was kann Prigoschin dagegen tun? Er hat keinerlei institutionelle Macht, und Wagner ist in Bezug auf Ausrüstung, Nachschub, ISR und vieles mehr vom Verteidigungsministerium abhängig. Darüber hinaus unterstehen Prigoschins persönliches Vermögen und seine Familie der Gerichtsbarkeit des russischen Staates. Er hat nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten. Es gibt wirklich nur wenige Dinge, die er tun kann. Er kann Videos aufnehmen, um das Verteidigungsministerium in Verlegenheit zu bringen, zu belästigen und zu entwürdigen. Natürlich ist es wahrscheinlich unklug, Putin in diesen Tiraden direkt anzugreifen, und es könnte sich als unpassend erweisen, einfache russische Soldaten zu beleidigen. Daher müssen diese Angriffe genau auf die Art von bürokratischen Vorgesetzten abzielen, die die russische Öffentlichkeit nicht mag   – Männer wie Schoigu und Gerasimow.

    Abgesehen von diesen Videowutausbrüchen gab es für Prigoschin nur eine einzige Möglichkeit, die institutionelle Übernahme Wagners zu verhindern: einen bewaffneten Protest. Er musste so viele Männer wie möglich dazu bringen, sich ihm anzuschließen, eine Aktion zu starten und zu sehen, ob der Staat genug erschüttert werden könnte, um ihm den gewünschten Deal zu geben.

    Das klingt natürlich seltsam. Sie haben schon von Kanonenbootdiplomatie gehört   – jetzt sehen wir Vertragsverhandlungen mit Panzern. Es ist jedoch klar, dass der Streit über die Unabhängigkeit und den Status Wagners gegenüber den russischen Militäreinrichtungen im Mittelpunkt dieser Angelegenheit stand. Anfang dieses Monats kündigte Prigoschin an, dass er sich über einen Befehl des Präsidenten hinwegsetzen wolle, der seine Kämpfer verpflichtet, bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen.

    Die Erklärung von Prigoschin heute Morgen (Montag, 26. Juni) war jedoch äußerst aufschlussreich. Sie konzentrierte sich fast ausschließlich auf seinen zentralen Missstand: Wagner solle in das institutionelle Militär eingegliedert werden. Er führt dies zwar nicht zu Ende und merkt an, dass dies sein hochprofitables Unternehmen verstaatlichen würde, aber seine Kommentare lassen keinen Zweifel an seiner Motivation. Hier sind einige der wichtigsten Punkte, die er anspricht:

    • Wagner wollte keine Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen.
    • Die Eingliederung in das Verteidigungsministerium würde das Ende von Wagner bedeuten: "Diese Einheit sollte am 1. Juli aufhören zu existieren."
    • "Das Ziel unserer Kampagne war es, die Zerstörung der Wagner-Gruppe zu verhindern."

    Aber was glaubte Prigoschin, was passieren würde? Was war sein optimistisches Szenario? Wahrscheinlich hoffte er, dass die allgemeine Stimmung gegen Bürokratie und Korruption in Verbindung mit Wagners Popularität und Ruhm zu einem Aufschwung der Unterstützung für die Gruppe führen würde, der die Regierung in die Lage versetzen würde, Wagners Unabhängigkeit zu dulden.

    Es war eine mutige Entscheidung. Angesichts der institutionellen Absorption setzte Prigoschin auf eine maßvolle Destabilisierungskampagne, die das Land gerade so weit erschüttern würde, dass Putin sich zu einer Einigung mit ihm durchringen könnte. Prigoschin mag sich eingeredet haben, dass dies ein kluger und entscheidender Schachzug war, bei dem die Würfel zu seinen Gunsten fallen würden. Ich glaube eher, dass sie gar nicht gewürfelt haben. Sie haben mit Karten gespielt, und Prigoschin hatte nichts auf der Hand.

    Russlands Krisenmanagement

    Dies ist der Teil des Artikels, bei dem ich vermute, dass ich Federn lassen und mir den Vorwurf der "Anpassung" einhandeln werde   – aber sei’s drum. Lassen Sie uns das einfach offen ansprechen:

    Russland hat den Wagner-Aufstand sehr gut gemeistert, und sein Krisenmanagement deutet auf ein hohes Maß an staatlicher Stabilität hin.

    Damit will ich nicht sagen, dass der Aufstand gut für Russland war. Er war in mehrfacher Hinsicht eindeutig negativ. Russische Flugzeuge wurden von Wagner abgeschossen und russische Piloten wurden getötet. Prigoschin durfte dann gehen, nachdem er diese Todesfälle verursacht hatte   – ein Schandfleck für die Regierung. Es herrschte weit verbreitete Verwirrung, was der Moral nicht zuträglich ist, und die Operationen im südlichen Militärbezirk wurden durch Wagners Besetzung von Rostow gestört.

    Alles in allem war dies kein gutes Wochenende für Russland. Es war eine Krise, aber es war eine Krise, die der Staat insgesamt gut gemeistert und die Schattenseiten abgemildert hat   – vielleicht hat er sogar ein oder zwei Gläser Limonade aus den Zitronen von Prigoschin gemacht. Es passt vielleicht ein wenig, dass Schoigu früher Minister für Notstandssituationen (im Wesentlichen Katastrophenhilfe) war. Katastrophen sind nie gut, aber es ist immer besser, sie gut zu bewältigen, wenn sie passieren.

    Die Reaktion des Staates war eigentlich ziemlich einfach: Prigoschins Bluff durchschauen.

    Prigozhin fuhr mit seiner Kolonne in Richtung Moskau   – aber was sollte er tun, wenn er dort ankam? Die russische Nationalgarde bereitete sich darauf vor, sie am Betreten der Stadt zu hindern. Würde Wagner Moskau angreifen? Würden sie auf die Nationalgardisten schießen? Würden sie den Kreml stürmen oder die Basilius-Kirche beschießen? Dies würde unweigerlich zum Tod aller Beteiligten führen. Wagner, ohne eigenen Nachschub oder Beschaffung, kann die russischen Streitkräfte nicht erfolgreich bekämpfen und könnte sich wahrscheinlich nicht länger als ein oder zwei Tage selbst versorgen.


    Das Problem bei Prigoschins Ansatz ist, dass die Pantomime eines Staatsstreichs nicht funktioniert, wenn man nicht bereit ist, tatsächlich einen Staatsstreich zu versuchen   – und ein Staatsstreich funktioniert nur, wenn die institutionellen Behörden auf seiner Seite sind. Es ist nicht so, dass Prigoschin mit einem Panzer zum Lenin-Mausoleum fahren und den Bundesministerien und den Streitkräften Befehle erteilen könnte. Putsche erfordern die Kontrolle über die institutionellen Hebel der Macht   – regionale Gouverneursämter, Ministerien und das Offizierskorps der Streitkräfte.

    Prigoschin fehlte nicht nur all dies, sondern der gesamte Machtapparat denunzierte ihn, verachtete ihn und brandmarkte ihn als Verräter. Nachdem er sich durch Meuterei in eine Sackgasse manövriert hatte, blieb ihm nur die Wahl, entweder ein Feuergefecht vor Moskau zu beginnen und garantiert als verräterischer Terrorist in die Geschichte einzugehen oder sich zu ergeben. Es ist wahrscheinlich, dass der Abschuss eines russischen Flugzeugs durch die Wagner-Kolonne (den Prigoschin später als "Fehler" bezeichnete) ihn erschreckte und ihm bestätigte, dass er zu weit gegangen war und keinen Ausweg mehr sah. Wenn der Gegner mitgeht und Sie nichts auf der Hand haben, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als aufzugeben.

    Betrachten wir nun einen Moment lang die tatsächliche Szene in Russland. Eine Panzerkolonne fuhr auf die Hauptstadt zu. Wie reagierten der russische Staat und die Bevölkerung? Die Behörden auf allen Ebenen verurteilten öffentlich den Aufstand und erklärten ihre Unterstützung für den Präsidenten. Es gab keine Abtrünnigen, weder bei den militärischen Einheiten noch in der zivilen Verwaltung. Es gab keine zivilen Unruhen, keine Plünderungen, keinen Verlust auch nur der grundlegenden staatlichen Kontrolle im Land. Vergleichen Sie die Szenen in Russland während einer bewaffneten Rebellion mit denen in den Vereinigten Staaten im Sommer 2020. Welches Land ist nun stabiler?

    Letztlich gelang es der Regierung, eine Krisensituation, die leicht in ein erhebliches Blutvergießen hätte münden können, zu entschärfen, ohne dass dabei Menschen ums Leben kamen, abgesehen von den Besatzungen der beiden abgeschossenen Flugzeuge (deren Tod nicht verharmlost werden sollte und die als Opfer von Prigoschins Ehrgeiz in Erinnerung bleiben müssen). Außerdem laufen die Bedingungen der "Einigung" auf kaum mehr als eine Kapitulation Prigoschins hinaus. Er selbst scheint in einer Art Halb-Exil in Weißrussland zu leben (wo er möglicherweise auf einen Trotzki-Eispickel-Moment wartet), und es sieht so aus, als würde die Mehrheit der Wagner-Leute Verträge unterzeichnen und in das institutionelle russische Militär eingegliedert werden. Ausgehend von der Rede, die Putin heute Abend gehalten hat (bei Redaktionsschluss vor fünfzehn Minuten), haben die Wagner-Kämpfer nur drei Möglichkeiten: Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen, sich auflösen und nach Hause gehen oder sich Prigoschin im belarussischen Exil anschließen (vermutlich ohne ihre Ausrüstung). Was den institutionellen Status von Wagner betrifft, so hat Prigoschin verloren und der Staat gewonnen. Wagner als unabhängiger Kampfverband ist am Ende.

    Wir müssen natürlich ehrlich sein, was die Schäden des Aufstandes angeht.

    Prigoschin hat russische Soldaten getötet, als seine Kolonne die Flugzeuge abschoss, und wurde dann wegen Hochverrats angeklagt. Man kann natürlich sagen, dass eine friedliche Lösung weiteres Blutvergießen verhindert hat, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er russische Soldaten getötet hat und ungestraft davonkommt. Dies ist ein Versagen, das sowohl eine moralische als auch eine institutionelle Legitimationsdimension hat.

    Darüber hinaus sollte diese ganze Episode als ergreifende Lektion über die inhärente Instabilität dienen, die entsteht, wenn man sich auf Söldnergruppen verlässt, die außerhalb der formalen militärischen Institutionen operieren. Es gibt viele solcher Gruppen in Russland, nicht nur Wagner, und es wäre ein Fehler, wenn die Regierung nicht entschlossen handeln würde, um ihre Unabhängigkeit zu beseitigen. Andernfalls warten sie nur darauf, dass sich so etwas wiederholt   – möglicherweise mit einem weitaus explosiveren Ergebnis.

    Im Großen und Ganzen scheint es jedoch unbestreitbar, dass die Regierung mit einer extremen Krise recht kompetent umgegangen ist. Entgegen der neuen westlichen Sichtweise, wonach die Wagner-Revolte die Schwäche der Regierung Putin offenbart habe, deuten die Einheit des Staates, die Gelassenheit des Volkes und die besonnene Strategie der Deeskalation darauf hin, dass der russische Staat stabil ist.

    Schlussfolgerung: 1917

    Einer der universellsten und beliebtesten Zeitvertreibe der Menschheit ist das Aufstellen schlechter historischer Vergleiche, und dieser Prozess war am vergangenen Wochenende sicherlich in vollem Gange. Der beliebteste Vergleich war natürlich, den Aufstand von Prigoschin mit dem Sturz des Zaren im Jahr 1917 zu vergleichen.

    Das Problem ist, dass diese Analogie eine perfekte Umkehrung der Wahrheit ist.

    Der Zar stürzte 1917, weil er sich im Hauptquartier der Armee weit weg von der Hauptstadt aufhielt. In seiner Abwesenheit führte eine Garnisonsmeuterei in Petrograd (Petersburg) zum Zusammenbruch der Regierungsgewalt, die dann von einem neuen, aus der Staatsduma gebildeten Kabinett übernommen wurde. Staatsstreiche werden nicht durch sinnloses Blutvergießen erreicht. Was am meisten zählt, ist die grundlegende Frage der bürokratischen Autorität, denn das ist es, was es bedeutet, zu regieren. Wenn Sie zum Telefon greifen und die Stilllegung einer Eisenbahnlinie anordnen, wenn Sie eine Militäreinheit in Bereitschaft versetzen, wenn Sie einen Kaufauftrag für Lebensmittel, Granaten oder Medikamente erteilen   – werden diese Anweisungen befolgt?

    Es war trivialerweise offensichtlich, dass Prigoschin weder die Kraft noch die institutionelle Unterstützung oder den wirklichen Willen hatte, die Macht an sich zu reißen, und die Vorstellung, dass er einen echten Putschversuch unternahm, war absurd. Stellen Sie sich einen Moment lang vor, dass es Wagner gelungen wäre, sich durch die russische Nationalgarde nach Moskau durchzuschlagen. Prigoschin stürmt das Verteidigungsministerium   – er verhaftet Schoigu und setzt sich auf dessen Stuhl. Glauben wir wirklich, dass die Armee im Feld plötzlich seine Befehle befolgen würde? Es ist kein Zauberstuhl. Die Macht ist nur im Falle eines totalen Zusammenbruchs des Staates greifbar, und was wir in Russland gesehen haben, war das Gegenteil   – wir haben gesehen, wie der Staat seine Reihen schloss.

    Am Ende bleiben also sowohl das neoliberale Kommentariat als auch die russischen Planverfechter mit einer unbefriedigenden Sicht der Dinge zurück. Prigoschin ist weder der Vorbote eines Regimewechsels noch eine Figur in Putins vierdimensionalem Schachspiel. Er ist einfach ein launischer und äußerst verantwortungsloser Mann, der gesehen hat, dass ihm sein privates Militärunternehmen weggenommen werden sollte, und beschlossen hat, extreme und kriminelle Maßnahmen zu ergreifen, um dies zu verhindern. Er war ein Kartenspieler, der nichts in der Hand hatte und beschloss, sich mit einem Bluff aus einer Ecke herauszuwinden   – bis sein Bluff aufflog.


    Kommentare (Auszüge):

    Chima Okezue

    Writes Sharp Focus on Africa

    @bigserge: Ich bin Nigerianer. Ich wollte nur ein paar eigene Gedanken zu Ihrer Analyse hinzufügen.

    In den afrikanischen Ländern, in denen Wagner aktiv ist, haben sie lokale Unterstützung. So wurde beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik von einem lokalen Bildhauer ein Denkmal errichtet, um Wagners erfolgreichen Kampf gegen dschihadistische Aufständische zu feiern.

    Ich verfolge russische Telegram Kanäle und habe gehört, wie einige der maskierten Wagner-Kämpfer in der Donbass-Region sagten, dass sie nach Afrika zurückkehren wollen, wo die Dinge viel einfacher sind.

    Tatsache ist, dass Wagner auf dem afrikanischen Kontinent freie Hand hatte, ohne jegliche Aufsicht durch das russische Verteidigungsministerium und mit nur minimaler Überwachung durch den Kreml und den afrikanischen Gaststaat.

    Prigoschin und ein Teil seiner Kämpfer sind daher sehr verärgert über die Unterwerfung unter das Diktat des russischen Verteidigungsministeriums im ukrainischen Einsatzgebiet.

    In Bakhmut konnte Wagner nicht einfach seine eigenen Operationen planen und durchführen. Er musste sich dem Diktat des russischen Verteidigungsministeriums beugen, einer militärisch-bürokratischen Einrichtung, die er weder besonders mochte noch respektierte.

    Sie können sehen, wie Prigohzin in Bakhmut wütend wurde, weil er die benötigten Waffen nicht bekam. Es ging nicht darum, ob die Munition wirklich ausreichte. Es ging um die Tatsache, dass Wagner nicht das bekam, was er auf Anfrage verlangte, wie es in jedem afrikanischen Land, in dem er operierte, der Fall gewesen wäre.

    Wenn die Wagner-Truppen die Regierungen von Burkina Faso, Mali oder der Zentralafrikanischen Republik um die Lieferung bestimmter Materialien zur Unterstützung der örtlichen Aufstandsbekämpfung baten, erhielten sie diese stets ohne Widerspruch. (Bitte beachten Sie, dass die afrikanischen Gastländer für einen Teil der von Wagner verwendeten Waffen bezahlen, wenn auch nicht für alle).

    Prigozhin und der loyalistische Kern seiner Kämpfer konnten sich einfach nicht an die Situation in der SMO-Zone in der Ukraine anpassen. Sie unterschied sich einfach zu sehr von ihren Erfahrungen in Afrika. Der Versuch, Wagner in die reguläre russische Armee zu integrieren, war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Also revoltierten sie gegen das russische Verteidigungsministerium, und der Rest ist Geschichte.

    Big Serge

    Ja, ich glaube, da haben Sie recht. Das Arbeitsumfeld in der Ukraine ist völlig anders als in Afrika, und Prigozhin konnte sich nicht darauf einstellen.

    Chima Okezue

    Writes Sharp Focus on Africa

    Wagner hat Frankreich nicht aus den frankophonen afrikanischen Staaten verdrängt [Anm. Übersetzer: das hatte ein anderer Kommentator behauptet], das haben die dortigen Regierungen mit Unterstützung der lokalen Bevölkerung getan. Selbst wenn es Wagner nicht gegeben hätte, wären die französischen Truppen aus diesen Ländern, in denen eine antifranzösische Stimmung herrschte, vertrieben worden.

    Bitte beachten Sie, dass die meisten frankophonen afrikanischen Länder weiterhin gute Beziehungen zu Frankreich unterhalten und dessen Militärstützpunkte beherbergen. In diesen noch bestehenden Militärstützpunkten befinden sich immer noch 3.000 französische Soldaten, und weitere 3.000 französische Soldaten befinden sich in anderen frankophonen Ländern, in denen Frankreich keine offiziellen Militärstützpunkte unterhält. In diesen Ländern teilen sich die französischen Truppen die Quartiere mit den einheimischen Soldaten.

    Was wird aus den Wagner-Truppen, die derzeit in einigen afrikanischen Ländern (und Syrien) stationiert sind?

    Ich weiß es nicht. Aber was die Spekulationen angeht, so vermute ich, dass Putin sich seinem Naturell entsprechend verhalten wird. Höchstwahrscheinlich wird man den Wagner-Truppen gestatten, ihre Arbeit im Kampf gegen dschihadistische Aufständische fortzusetzen, während eine dauerhafte Lösung gesucht wird.

    Was auch immer aus Wagner in Weißrussland wird, wird sich wahrscheinlich auf Wagner in Afrika auswirken.

    Mit anderen Worten: Wenn Putin den Status quo, dass Prigoschin die Kontrolle über das Wagner-PMC in Weißrussland behält, beibehält, dann sehe ich keinen Grund, warum Prigoschin nicht auch die Kontrolle über Wagner im fernen Afrika behalten sollte.

    Wenn Putin und Lukaschenko andererseits beschließen, Wagner in Weißrussland aufzulösen, erwartet Wagner in Afrika das gleiche Schicksal.

    Im Gegensatz zu dem, was viele denken, setzt der Kreml Wagner nicht direkt in anderen Ländern ein. Vielmehr bittet ein befreundetes Land den Kreml um russische Truppen. Putin antwortet mit einer Empfehlung für Wagner. Dann vergibt das Land einen Auftrag an Prigoschin und leistet eine Anzahlung. Danach taucht Wagner auf.

    Quelle: https://bigserge.substack.com/p/russo-ukrainian-war-the-wagner-uprising?utm_source=substack&utm_medium=email
    Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus


    Info: https://seniora.org/index.php?option=com_acymailing&ctrl=url&subid=3998&urlid=4223&mailid=1823


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

    27.06.2023

    Die smarte Planwirtschaft

    zeit.de, vom 25. Juni 2023, 18:20 Uhr, Von Houssam Hamade und Christoph Sorg, 28 Kommentare

    Dank Big Data und KI sei heute eine neue Form der Planwirtschaft möglich, behauptet eine Reihe von Wissenschaftlern. Vorbilder sind ausgerechnet Konzerne wie Amazon.



    Lässt sich Wirtschaft demokratisch planen? Um diese Frage dreht sich eine aktuelle Debatte. © [M] Alexander Hoepfner für ZEIT ONLINE

    Die smarte Planwirtschaft – Seite 1

    Es gibt sie also doch, die gut funktionierende Alternative zum Kapitalismus: die smarte Planwirtschaft. Das behaupten zumindest eine Reihe von Büchern und wissenschaftlichen Artikeln, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden.

    Diese neue Form der demokratischen Planwirtschaft sei nicht nur gerechter und umweltfreundlicher, sondern ebenfalls effizienter und innovativer.

    Das klingt zunächst ungeheuerlich. Schließlich verbinden viele mit dem Wort Planwirtschaft jahrelange Wartezeiten für schlechte Autos und Telefone, stillstehende Produktionsbänder oder fehlende Bauteile. Die Privatwirtschaft sei dagegen flexibel, effizient und produktiv. Warum sollte die smarte Planwirtschaft also besser funktionieren als die Zentralverwaltungswirtschaft, wie man sie aus der DDR oder Sowjetunion kennt?  

    Houssam Hamade

    ist Autor und Journalist. Er veröffentlichte unter anderem zu den Themen Klassismus, Rassismus und Gewalt.

    Der wohl einflussreichste Text dieser neuen Debatte ist das 2019 erschienene Buch People's Republic of Walmart von Leigh Phillips und Michal Rozworski. Die beiden kanadischen Autoren behaupten: Es sind paradoxerweise hyperkapitalistische Konzerne wie Amazon und Walmart, die die Grundlage für vernünftiges und geplantes Wirtschaften schaffen. Diese seien nämlich intern riesige Planwirtschaften. Es wäre durchaus möglich, die Technik und Planung von Walmart dafür zu nutzen, eine bedürfnisorientierte Wirtschaftsweise zu schaffen.

    Christoph Sorg

    ist Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht vor allem zu Theorien des Kapitalismus, sozialen Bewegungen, Schulden und Wirtschaftsplanung.

    Auch Paul Adler, Professor für Management and Organization an der University of Southern California, meint: Obwohl viele Führungskräfte in der Öffentlichkeit für Märkte und Wettbewerb argumentieren, bevorzugen sie in ihren eigenen Unternehmen Koordination und Planung. Ihre verschiedenen Abteilungen ziehen alle am gleichen Strang, ganz ohne Markt und Konkurrenz. Dementsprechend hätten diese Führungskräfte, so Adler, ähnliche Sorgen wie sozialistische Planer: Wie kann das Personal an Entscheidungen mitwirken, ohne dass Chaos entsteht? Welche Form der Organisation führt zu Innovation, Effizienz und motivierten Mitarbeitenden?

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    Hier zeigt sich also ein scheinbares Paradox im Herzen des Kapitalismus: Für ein System, das wir Marktwirtschaft nennen, gibt es darin erstaunlich viel Planung. Der frühkapitalistische Wettbewerb zwischen kleinen Familienunternehmen, den der Begründer der Nationalökonomie Adam Smith einst beschrieb, ist mittlerweile einer Dominanz global agierender Konzerne gewichen. Diese nutzen modernste Technologien, um Arbeitsprozesse, transnationale Lieferketten und Ressourcenverbrauch präzise zu steuern. Nicht Angebot und Nachfrage, sondern die Planung des Managements herrschen innerhalb dieser riesigen Institutionen. Der Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon formulierte es einmal sinngemäß so: Stellen wir uns vor, ein Wesen vom Mars hätte ein Teleskop, das soziale Strukturen offenbart, und würde damit auf die Erde schauen. Stellen wir uns weiter vor, dass dieses Wesen Unternehmen als große grüne Flächen und Märkte als rote Striche zwischen den konkurrierenden Unternehmen sehen würde. Dieses Wesen, so Simon, wäre sicherlich überrascht, dass wir dieses mehrheitlich grüne, von dünnen roten Linien verbundene System Marktwirtschaft und nicht Organisationswirtschaft nennen.

    Dennoch sind Märkte wichtig für die Wirtschaft. So arbeiten die jeweiligen Abteilungen von BMW, Mercedes oder Volkswagen innerhalb der Firmen zwar entsprechend der Planung zusammen. Aber sobald die Autos das Werk verlassen, herrschen die Regeln der Konkurrenz. Nur wer auf dem Markt kaufkräftige Nachfrage findet, wird für die vorherige Planung mit Profit belohnt.

    Staatsregulierung

    Das Wesen vom Mars würde in dieser Konkurrenz aber nicht nur rote Linien zwischen BMW, Mercedes und Volkswagen sehen, sondern auch Striche, die beim Staat beginnen und die zu den Unternehmen führen oder sie umkreisen. Denn Staaten regulieren den Wettbewerb und steuern Märkte zu einem hohen Maß. Der schlanke Nachtwächterstaat aus der Zeit von Adam Smith und Karl Marx, der den Markt weitgehend sich selbst überlässt, wurde zumindest in reichen Ländern des Globalen Nordens von großen Wohlfahrtsstaaten ersetzt. Moderne Staaten planen außerdem sehr aktiv den Erfolg wichtiger Industriezweige im globalen Wettbewerb. Sie nutzen dafür Subventionen, Steuern, Zölle und betreiben selbst Unternehmen. Ohne solche öffentliche Planung könnten strategische Wirtschaftszweige kaum auf dem Weltmarkt bestehen. Bis zum Zweiten Weltkrieg erhoben die USA die höchsten Zölle der Welt. Sie forderten erst globalen Freihandel, als die eigenen Industrien auf dem Weltmarkt bestehen konnten. Auch das südkoreanische Wirtschaftswunder ist ohne den strategischen Schutz und Aufbau der eigenen Stahl-, Eisen- und Elektronikindustrien undenkbar.

    Ohne öffentliche Forschung kein iPhone

    Die deutsche Staatsquote, also der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, betrug in den 1950er-Jahren noch rund 30 Prozent. Seit 1970 lag sie konstant zwischen 43 und 50 Prozent. Mit der Corona-Pandemie wurden die 50 Prozent zum ersten Mal überschritten. Die Tendenz ist klar: Staatliche Planung wird an allen Ecken gebraucht. Mit wieder aufkommenden Finanzkrisen und der Klimakatastrophe wird sich diese Tendenz vermutlich noch weiter verstärken. Entgegen weitverbreiteten Annahmen sind öffentliche Institutionen vielfach beweglicher und risikofreudiger als allgemein angenommen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato zeigt das am Beispiel des iPhones. Ein Großteil der Schlüsseltechnologien, die das iPhone zu einem Smartphone machen, seien mit staatlichen Mitteln in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung entwickelt worden. Dazu gehören auch der Touchscreen, GPS und die Sprachassistentin Siri. Apple habe das Ganze nur geschickt marktfähig gemacht. Staatliche und öffentliche Einrichtungen, sagt Mazzucato, seien im Durchschnitt viel innovativer und risikofreudiger als Privatunternehmen. Denn diese haben große Schwierigkeiten, riskante Investitionen zu tätigen, die nicht oder kaum profitabel sind. Auch deshalb kommen die grundlegenden Technologien für Computer, Digitalkameras, Schreibmaschinen, Radios, Luftpost, virtuelle Realität und Mikrowellen ursprünglich aus öffentlicher Hand.

    Es wird also auch in der Marktwirtschaft schon viel geplant.

    • In heutiger Marktwirtschaft
      a. Unternehmensplanung
      b. Staatsplanung

    Die neue Planungsdebatte diskutiert hier zwei Hauptfragen:

    • Wie lässt sich Wirtschaft demokratisch planen?

    • Und: Kann diese Planung stärker auf ökologische Nachhaltigkeit und auf gerechte Verteilung abzielen anstatt auf Profite?

    Die sozial und ökologisch zerstörerischen Auswirkungen der gegenwärtig kapitalistischen Wirtschaftsweise sind bekannt: Klimaverschmutzung, Artensterben oder die Ausbildung ökonomisch abgehängter Schichten sind davon nur einige. Die Hoffnungen auf grünes Wachstum im Kapitalismus haben sich bisher nicht erfüllt. Zudem ist nicht alles, was profitabel ist, auch gesellschaftlich wünschenswert. Mit Kohle und Öl lässt sich etwa sehr gut Geld machen, die Verwendung dieser Energieträger ist aber nicht nachhaltig. Auch ist vieles, was wünschenswert erscheint, wiederum nicht profitabel, wie beispielsweise die Versorgung armer Regionen mit teuren Medikamenten.

    Frühere sozialistische Kalkulationsdebatte

    Ähnliches wurde bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der sogenannten sozialistischen Kalkulationsdebatte intensiv diskutiert. Damals erklärten liberale Ökonomen und Philosophen wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, Wirtschaft sei zu komplex, um geplant zu werden.

    Dafür gäbe es zwei Gründe.

    1. Zum einen könne die Fülle der Informationen, die der Markt als Quasi-Rechenmaschine verarbeitet, nicht durch eine Planungsbehörde ersetzt werden. Selbst einfache Prozesse, wie die Herstellung und der Vertrieb eines Kugelschreibers, sind höchst komplex. Von den Wetterverhältnissen, den Lagerbedingungen bis zum Zustand der Materialien: Unzählige Variablen spielen eine Rolle und müssen aufeinander abgestimmt werden. Je mehr Prozesse koordiniert werden müssen, desto komplexer. Der Markt, sagte Hayek, mache diese Komplexität bewältigbar. Es entscheidet nämlich die Bereitschaft, einen bestimmten Preis zu bezahlen. Die zeige an, wie dringend die Ware gebraucht wird.

    Eine Tischlerin, die besonders dringend Schrauben benötigt, ist bereit, mehr für die knappen Schrauben zu bezahlen. Sie kann auch selbst entscheiden, wann sie welche Schrauben mit welchem Härtegrad und in welcher Größe einkauft. Es ist darum sinnvoll, ihr diese Entscheidungsgewalt auch zu überlassen.

    2, Das ist das zweite Argument Hayeks: Das lokale Wissen von Betrieben und Arbeitenden ist für die Produktion notwendig. Es kann vielfach nicht ohne Weiteres artikuliert und von einer Zentrale gesammelt werden. Genauso wie auch viele Menschen nicht verständlich in Worte fassen können, wie man Fahrrad fährt. Die Kaufentscheidungen der jeweiligen Tischlerinnen liefern den Schraubenfabrikantinnen die Information, die sie benötigen, um die richtigen Schrauben in der richtigen Menge zu produzieren. Je mehr nachgefragt wird, desto mehr produzieren sie. So braucht der Markt keine Planungsbehörde. Marktwirtschaft wird – in der Theorie – dezentral organisiert. Das ist – in der Theorie – ihre Stärke.

    Unternehmen vertrauen schon lange nicht mehr nur auf Marktpreise

    Diese Argumentation war so gut, dass der sozialistische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Oskar Lange meinte, dass eine "Statue von Professor Mises" einen ehrenvollen Platz in der Zentralen Planungsbehörde eines sozialistischen Staates einnehmen sollte. Aber es war auch derselbe Oskar Lange, der kurz vor seinem Tod 1965 die heutige Debatte vorwegnahm: Angesichts des damals noch jungen Computers sei der Markt eine Technologie des "vorelektronischen Zeitalters". Wenn der Markt eine Art Datenverarbeitungssystem ist, wieso sollte er dann nicht durch modernere, digitale Technologien ersetzt werden können?

    Firmen wie Amazon nutzen bereits heute Machine-Learning-Algorithmen. Diese werden mit dem Click-Verhalten von Konsumierenden gefüttert. Mithilfe dessen wird die zukünftige Nachfrage eingeschätzt. Mit der gleichen Technologie könnte also eine Planungsbehörde auch die gesellschaftliche Nachfrage feststellen. Anschließend stellt sich die Frage, wer ein Produkt wie auf welche Weise produziert. Industrielle Plattformen und Cloud-Computing bieten hier Potenzial zur Optimierung. Datenökosysteme wie die derzeit entstehende VW Industrial Cloud versprechen eine "smarte Steuerung in Echtzeit". Wenn beispielsweise "demnächst ein Lkw im Stau steht, ein Bauteil fehlerhaft ist oder eine Maschine ausfällt, wissen sofort alle Beteiligten Bescheid. Denn die Informationen sind sofort über die Cloud verfügbar. So lassen sich zum Beispiel Materialflüsse und mögliche Lieferengpässe noch besser managen", erklärt der VW-Konzern auf seiner Website.

    Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene entstehen so riesige Datenmengen, die potenziell eine mathematische Optimierung der Produktion erlauben. Eine Methode dafür heißt lineare Programmierung. Ironischerweise wurde sie von dem Nobelpreisträger und Mathematiker Leonid Kantorowitsch in der Sowjetunion entwickelt, konnte sich aber im dortigen autoritären System nicht durchsetzen. Stattdessen nutzen kapitalistische Konzerne die Methode heute zur Optimierung ihrer Produktionsprozesse und Logistik.

    Innerhalb dieser Planungsdebatte wird teilweise argumentiert, dass die Rechenkapazität für eine Optimierung der gesamten Wirtschaft erst heute durch moderne Supercomputer zur Verfügung steht. Diese können mit den vielen Variablen umgehen, wegen denen von Mises und Hayek vor ökonomischer Planung gewarnt hatten.

    Potenziell könne eine smarte Planung sogar besser mit den Bedürfnissen einer Volkswirtschaft umgehen als der Markt. Das marktwirtschaftliche Einpendeln von Angebot und Nachfrage ist schließlich oft ineffizient. Wenn beispielsweise Corona-Impfdosen fehlen, brauchen Pharmaunternehmen Rohstoffe, Technik und ausgebildete Arbeitskräfte. Ab einem gewissen Punkt müssen sie neue Fabriken bauen und ein dazugehöriges logistisches System. Wenn sich herausstellt, dass zu wenige Pharmaunternehmen ihre Kapazitäten erweitert haben, kommt es längere Zeit zu einem in diesem Fall tödlichen Mangel. 

    Waren es zu viele, wurden Anlagen umsonst gebaut und stehen still. Darum vertrauen auch kapitalistische Unternehmen schon lange nicht mehr nur auf Marktpreise als Indikatoren dafür, was an welchem Ort gebraucht wird, sondern auf Marktforschung und die Analyse von Konsumverhalten. Überproduktion ist außerdem nicht nur ein Problem für die jeweiligen Unternehmen, sondern kann auch zu schweren Wirtschaftskrisen führen. Kooperative Planung hat dagegen den Vorteil, dass voneinander abhängige Betriebe sich miteinander abstimmen können. Das führt auch dazu, dass wertvolle Informationen geteilt werden können.

    Autoritäre Strukturen produzieren schlechte Daten

    Aber historischen Experimenten mit Planwirtschaft, allen voran der sowjetischen, fehlte es nicht nur an Rechenleistung und besseren mathematischen Methoden, sondern an demokratischer Beteiligung. Autoritäre Strukturen sind nicht nur ein ethisches Problem, sondern führen auch zu schlechter Planung. Aus Angst vor Bestrafung spielten Betriebe ihre Produktionskapazitäten herunter, um die von oben vorgegebenen Output-Ziele auch erfüllen zu können. Planungsbehörden, denen das bewusst war, mussten die wahren Kapazitäten schätzen. Auch darum produzieren autoritäre Strukturen schlechte Daten. Zudem führten starre Vorgaben von oben zu mangelnder Motivation unter Lohnabhängigen. Darum arbeiten Unternehmen wie Google mit vergleichsweise flachen Hierarchien. Die jeweiligen Arbeitskräfte können so ihr konkretes Wissen schneller und direkter anwenden. Autonomie am Arbeitsplatz gilt außerdem heutzutage als Schlüssel zur Motivation der Mitarbeitenden.

    Smarte Wirtschaftsplanung soll also nicht die dystopische Form eines perfekten algorithmischen Plans von oben annehmen. Schließlich sind lokale Betriebe und das koordinierende Zentrum voneinander abhängig. Lokale Betriebe kennen ihre spezifischen Produktionsbedingungen, während vermittelnde Zentren einen besseren Überblick über die Entwicklungen in der gesamten Wirtschaft haben. Wie das Zusammenspiel zwischen lokalen Betrieben und Zentrum genau aussieht, wird in verschiedenen Planungsansätzen unterschiedlich geregelt. Im Modell der sogenannten Participatory Economics bestimmen beispielsweise demokratisch besetzte Konsumierendenräte ihre Nachfrage. Währenddessen passt ein Unterstützungsbüro auf Basis dieser Nachfrage die Preise für Güter an. Die Preise sollen dazu beitragen, Angebot und Nachfrage, sowie Sozial- und Umweltkosten auszugleichen. Der Ökonom Pat Devine schlägt dagegen vor, Preise für die Input-Güter Arbeitskraft, natürliche Ressourcen und Kapital von Regierungen zentral festzulegen. Lokale Betriebe können auf dieser Basis autonom agieren. Über Investitionen entscheidet ein Governance-System, das verschiedene Interessengruppen zusammenbringt.

    Innerhalb der Debatte wird immer wieder darauf hingewiesen, dass KI und Big Data keine Wundermittel sind. Sie lösen nicht automatisch alle Probleme der Welt. Zwar spreche sehr viel dafür, dass eine smarte Wirtschaftsplanung heute technisch und organisatorisch effizient funktionieren kann. Das löst aber nicht die dringenden politischen Fragen: Wollen wir in Zukunft in Städten leben, die vornehmlich für Autos gebaut sind oder für nachhaltigere Transportmittel? Wie wollen wir arbeiten und wie viel Ungleichheit empfinden wir als gerecht? Erkennen wir Sorgearbeit als wichtige und schwere Arbeit an? Aber auch hier tragen technische Mittel dazu bei, demokratische Aushandlungsprozesse zu verbessern. Vor allem aber könnte eine smarte Planwirtschaft überhaupt erst diese Entscheidungsfreiheit ermöglichen, während der Markt über Wettbewerbs- und Wachstumsdruck Möglichkeitsräume allzu oft schließt.

    Warum sollte man sich angesichts von Klimawandel, Armut oder zukünftigen Pandemien also in einem zentralen Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens, nämlich unserer Wirtschaftsweise, das Nachdenken über ganz grundsätzliche Veränderungen und Verbesserungen versagen? Im Gegenteil: Die Debatte über eine – im Gegensatz zur einstigen Sowjet-Planwirtschaft – produktive und nachhaltige Alternative zum rein profitorientierten Wirtschaften scheint dieser Tage nötiger denn je.  

    https://www.zeit.de/kultur/2023-06/wirtschaftsplanung-ki-smarte-planwirtschaft-big-data/komplettansicht

    https://www.zeit.de/thema/bmw

    Is Green Growth Possible?

    Jason Hickel & Giorgos Kallis

    Pages 469-486 | Published online: 17 Apr 2019

    The notion of green growth has emerged as a dominant policy response to climate change and ecological breakdown. Green growth theory asserts that continued economic expansion is compatible with our planet’s ecology, as technological change and substitution will allow us to absolutely decouple GDP growth from resource use and carbon emissions. This claim is now assumed in national and international policy, including in the Sustainable Development Goals. But empirical evidence on resource use and carbon emissions does not support green growth theory. Examining relevant studies on historical trends and model-based projections, we find that: (1) there is no empirical evidence that absolute decoupling from resource use can be achieved on a global scale against a background of continued economic growth, and (2) absolute decoupling from carbon emissions is highly unlikely to be achieved at a rate rapid enough to prevent global warming over 1.5°C or 2°C, even under optimistic policy conditions. We conclude that green growth is likely to be a misguided objective, and that policymakers need to look toward alternative strategies.

    Das Konzept des grünen Wachstums hat sich als eine der wichtigsten politischen Antworten auf den Klimawandel und den ökologischen Zusammenbruch herauskristallisiert. Die Theorie des grünen Wachstums besagt, dass eine fortgesetzte wirtschaftliche Expansion mit der Ökologie unseres Planeten vereinbar ist, da der technologische Wandel und die Substitution es uns ermöglichen werden, das BIP-Wachstum von der Ressourcennutzung und den Kohlenstoffemissionen absolut zu entkoppeln. Diese Behauptung wird heute in der nationalen und internationalen Politik vorausgesetzt, auch in den Zielen für nachhaltige Entwicklung. Empirische Belege für Ressourcenverbrauch und Kohlenstoffemissionen stützen die Theorie des grünen Wachstums jedoch nicht. Bei der Untersuchung einschlägiger Studien über historische Trends und modellgestützte Projektionen stellen wir fest, dass: (1) es keine empirischen Beweise dafür gibt, dass eine absolute Entkopplung von der Ressourcennutzung auf globaler Ebene vor dem Hintergrund eines anhaltenden Wirtschaftswachstums erreicht werden kann, und (2) es höchst unwahrscheinlich ist, dass eine absolute Entkopplung von den Kohlenstoffemissionen in einem Tempo erreicht wird, das schnell genug ist, um eine globale Erwärmung von mehr als 1,5°C oder 2°C zu verhindern, selbst unter optimistischen politischen Bedingungen. Wir kommen zu dem Schluss, dass grünes Wachstum wahrscheinlich ein fehlgeleitetes Ziel ist und dass die politischen Entscheidungsträger nach alternativen Strategien suchen müssen.



    Notes on Contributors

    Jason Hickel is an anthropologist at Goldsmiths, University of London, and a Fellow of the Royal Society of Arts. He writes on global inequality, political economy and ecology.

    Giorgos Kallis is an ICREA professor at the Institute of Environmental Sciences and Technology at the Autononomous University of Barcelona, an ecological economist and political ecologist writing on limits to growth.

    Wie Amazon lernte, was wir wollen

    Die personalisierten Produktempfehlungen des Internetkonzerns scheinen banal zu sein. Und doch hat der Algorithmus Amazon groß gemacht und den Onlinehandel geprägt.

    Von Meike Laaff

    5. Juli 2019, 19:45 Uhr 239 Kommentare


    © Phil Goodwin/​unsplash.com

    Wie Amazon lernte, was wir wollen – Seite 1

    Suchen wir etwas auf Amazon, wird es persönlich. Melden wir uns an, bekommen wir auf uns zugeschneiderte Produktempfehlungen eingespielt. Es wird angezeigt, was Kundinnen und Kunden, die auch die just angeklickte Stichsäge kauften, außerdem noch kauften oder ansahen. Und dass viele andere die Sägeblätter gleich mitbestellt haben. Solche personalisierten Empfehlungen sind heute so alltäglich, dass wir kaum mehr über sie nachdenken.

    Für Amazon aber sind sie ein Teil seiner Erfolgsgeschichte: Laut der Unternehmensberatung McKinsey sollen 35 Prozent aller Verkäufe über die Plattform auf Produktempfehlungen zurückgehen, die Algorithmen errechnet haben. Schon früh hat Amazon darauf gesetzt, seinen Kundinnen und Kunden personalisierte, gute Empfehlungen zu machen. Mithilfe von Daten und Computersystemen. Möglich wurde das durch einen Algorithmus, der sich in den frühen Tagen des Onlinehändlers als zentral für die Empfehlungssysteme herausstellte. Sein Erfinder war Greg Linden, ein früher Entwickler von Amazon. Was er und sein Team damals programmierten, gilt als Basis dafür, wie Nutzern heute im Netz Produkte, aber auch Musik und Videos empfohlen werden. 

    Andere Algorithmen waren überfordert

    Linden kam 1997 zu Amazon. Damals war das Unternehmen, das Jeff Bezos am 5. Juli 1994 zunächst unter dem Namen Cadabra gegründet hatte, noch recht klein. Es verkaufte nur Bücher, konzentrierte sich auf den Markt in den USA. Mitarbeiter arbeiteten im Firmensitz in Seattle an Tischen, die aus ausgehängten Türen zusammengebaut waren. Linden war Mitte 20, als er als Entwickler bei Amazon anfing – frisch von der Uni, wo er zu künstlicher Intelligenz geforscht hatte.

    Eigentlich war es in dem jungen Unternehmen gar nicht Lindens Aufgabe, an Empfehlungen für die Nutzer zu arbeiten. Er war für Marketing zuständig, träumte aber davon, intelligente Systeme zu bauen, die Menschen helfen sollten, Bücher zu entdecken, auf die sie von allein nie gestoßen wären. Darum tüftelte er nebenher an Lösungen dafür.

    Eine "Notwendigkeit, die Innovation stimuliert", sei das gewesen, schreibt Linden an ZEIT ONLINE. Ein Interview am Telefon will er jetzt, zum 25-jährigen Amazon-Jubiläum, nicht geben. Auch das Unternehmen will zu seiner Arbeit von damals nichts mehr sagen. Längst schon hat er dort gekündigt, war später bei Google und Microsoft und lebt heute vor allem als Privatier in Seattle.

    Fest steht jedenfalls: Amazon hatte damals ein Problem. Die Empfehlungssysteme, die Mitte der Neunzigerjahre gängig waren, versuchten mithilfe von Daten der Nutzer, Kunden zu finden, die sich möglichst ähnlich waren – und darauf ihre Empfehlungen aufzubauen. Die Vorschläge, die so entstanden, waren jedoch nicht besonders gut, vor allem aber wurden die Systeme immer langsamer, je mehr Daten sie verarbeiten mussten. Deshalb waren sie für Amazon bald schon ungeeignet. Dessen Produktpalette und Kundenstamm umfasste damals schon Millionen. Fast minütlich liefen neue Bestellungen auf, die in die Berechnungen mit einfließen sollten. Das Ziel waren Empfehlungen in Echtzeit. Andere Modelle sortierten Nutzer in vordefinierte Gruppen, denen sie Vorschläge machten – doch am Ende waren diese Empfehlungen noch schlechter.


    Greg Linden, ehemaliger Entwickler von Amazon, schrieb einen Algorithmus, auf dem die Empfehlungen für Kunden beruhen. © privat

    Also drehte Linden das Prinzip um. Nicht der Vergleich von Menschen, sondern der von Produkten sollte helfen, Amazons Buchempfehlungen zu verbessern. Aus dieser Idee entwickelten er und andere einen Algorithmus, den sie kompliziert item-to-item collaborative filtering nannten. Vereinfacht gesagt funktioniert er im Grunde so: Werden zwei Produkte außergewöhnlich häufig zusammen gekauft, wird das in einer Datenbank vermerkt. Ruft eine Kundin amazon.com auf, werden in der Datenbank gespeicherte Informationen abgerufen – und auf ihrer Basis individuelle Empfehlungen erstellt. Auf eine gewisse Art tut Amazons berühmtes Feature "Kunden, die dies kauften, kauften auch" etwas ganz Ähnliches, aber nur bezogen auf das Produkt, das gerade angeschaut wird. Mit dem neuen Algorithmus flossen alle Produkte, die mit einem Kundinnenkonto verbunden waren, in die Empfehlung mit ein.  

    1998 meldete das Team ein Patent an

    Dieser Algorithmus stellte sich als blitzschnell heraus, weil er einen Großteil der Berechnungen offline durchführen konnte. Sein Grundprinzip war simpel, er verschluckte sich auch an immer weiter wachsenden Datenmengen nicht. Und er war in der Lage, transparent zu machen, warum einem Kunden ein bestimmtes Produkt empfohlen wurde. Auch von der Qualität der Empfehlungen war Amazon nach Testläufen überzeugt. Noch 1998 begann Amazon, den Algorithmus zu nutzen, im gleichen Jahr meldeten Linden und seine Mitstreiter ein Patent an.

    Und alle so: item!

    Es war der Startschuss für die Personalisierung auf Amazon: Mit dieser Technologie war es möglich, jedem Nutzer, jeder Nutzerin eine andere Webseite auszuspielen – gespickt mit Angeboten, die sie zu noch mehr Käufen stimulieren sollten.

    Rasch habe sich gezeigt, dass dahinter ein lukratives Geschäft stecke, schreibt Linden. "Es dauerte nicht lange und die Leute merkten, dass das Einzige, was noch mehr Verkäufe bei Amazon auslöste als die Empfehlungen, Menschen waren, die gezielt nach etwas suchten, von dem sie schon wussten, dass sie es kaufen wollten."

    "Was Linden da entwickelt hat, war der erste große kommerzielle Einsatz von Big Data", sagt Viktor Mayer-Schönberger. Der Professor am Oxford Internet Institute hat 2013 mit einem Journalisten ein Buch über die computergestützte Verarbeitung gigantischer Datenhaufen und deren Auswirkung auf die Gesellschaft geschrieben. Zuvor hätten Empfehlungssysteme Daten meist genutzt, um sich Fragen beantworten zu lassen. Dank Lindens System aber seien nun auch diese Fragen aus den Daten abgeleitet worden, sagt Mayer-Schönberger. Eine wichtige Verbesserung. Denn auf diese Weise wurden bisher nicht entdeckte Verbindungen zwischen Produkten offenkundig, auf die vielleicht kein Mensch je gekommen wäre.

    Viele Onlinehändler begannen in den folgenden Jahren, item-based collaborative filtering zu nutzen. Sie schrieben eigene, ähnliche Algorithmen oder integrierten die ursprüngliche Variante, angepasst an ihre Zwecke. Auch Unternehmen wie YouTube und Google machten sich den Linden-Algorithmus zunutze.

    "Amazon hat nie den Preis ins Zentrum gestellt, sondern immer die Empfehlungen", sagt Mayer-Schönberger. Notwendig dafür sei es, Daten auszuwerten, schnell, effizient, mit Ergebnissen, die besser sind als die Empfehlungen der Konkurrenten. Lindens Filterprinzip unterschied Amazon schon Ende der Neunziger von anderen Händlern. "Das ist der zentrale Grund, warum Amazon so erfolgreich wurde und es bis heute ist."

    Auch andere Forscher sehen in Lindens Arbeit einen wichtigen Schritt für die Personalisierung von Onlineempfehlungen: Joseph Konstan ist Informatikprofessor von der Universität Minnesota. Er gehörte zu dem Forscherteam, das 2001 die erste wissenschaftliche Veröffentlichung zu dem produktbasierten Filterprinzip publizierte und bestätigte, dass es tatsächlich dazu taugte, die bisherigen Probleme der Empfehlungssysteme zu überwinden.

    Heute bezeichnet Konstan Amazons Erfolge in der Personalisierung zwar als groß – daran hätte Lindens Arbeit einen Anteil, andere Algorithmen aber auch. Tatsächlich ist der ursprüngliche Code von Linden und seinem Team über die Jahre immer wieder ergänzt, verbessert und abgewandelt worden.

    Die Qualität von Empfehlungen hänge stark davon ab, was genau man unter der Verbindung von Produkten verstehe, schrieben Linden und der langjährige Amazon-Mitarbeiter Brent Smith vor zwei Jahren in einem Fachmagazin (IEEE Internet Computing: Smith & Linden, 2017). So braucht es zum Beispiel Kniffe, damit auch eine Kundin, über die kaum Daten vorliegen, gute Empfehlungen bekommt – oder ein neues Produkt, das kaum verkauft wurde, sinnvoll vorgeschlagen wird. Auch darauf, wie sich Interessen und Präferenzen von Menschen über die Zeit hinweg verändern, muss das System reagieren. Denn jemand, der vor vielen Jahren eine Babyrassel gekauft hat, braucht jetzt gerade vermutlich keine Schnuller mehr. 

    Und dann ist da noch das Harry-Potter-Problem

    Lösungen gibt es inzwischen auch für das Harry-Potter-Problem: Ist ein Produkt so populär, dass unglaublich viele Menschen es kaufen, unabhängig davon, ob sie sich sonst für Mangas, medizinische Fachliteratur oder Kochrezepte interessieren, dann taugt die Empfehlung dazu wenig, weil sie den Nutzern vermutlich nichts anzeigt, was sie nicht ohnehin schon auf dem Schirm hatten.

    Fast schon zu bequem?

    Manche Menschen irritieren die Kauftipps aber bis heute. Nicht nur, weil ihnen zum Beispiel empfohlen wird, was sie schon haben oder nie wollten, sondern auch, weil es ihnen unangenehm und aus Datenschutzgründen nicht recht ist, wenn Unternehmen in ihren Käufen und ihrem Klickverhalten herumstöbern.

    Greg Linden hat eine andere Sicht darauf. Für ihn sind die Algorithmen hinter den Kauftipps nur ein Werkzeug dafür, dass Millionen Menschen einander auf anonyme Weise durch das, was sie kaufen, indirekt Dinge empfehlen. Und deshalb sei es in gewisser Weise auch die falsche Frage, ob die Empfehlungen auf Amazon, Netflix oder Spotify heute schon besser seien als Tipps von Angesicht zu Angesicht. 

    Viktor Mayer-Schönberger kann sich aber auch Szenarien vorstellen, in denen solche Empfehlungen zum Problem werden könnten: Etwa wenn Unternehmen sie bewusst manipulieren würden, um Eigenmarken zu bevorzugen – oder wenn es Dritten gelänge, den Empfehlungsalgorithmus durch Daten über falsche Käufe und Aufrufe so zu beeinflussen, dass Millionen Amazon-Kunden falsche Empfehlungen angezeigt bekämen.

    https://www.zeit.de/digital/2019-07/amazon-algorithmus-greg-linden-empfehlungssysteme/komplettansicht

    Info: https://www.zeit.de/kultur/2023-06/wirtschaftsplanung-ki-smarte-planwirtschaft-big-data/komplettansicht

    27.06.2023

    EU hat den Schuß nicht gehört, Berlin verletzt Nato-Vertrag – und doch kein Friedensgipfel

    lostineu.eu, 27. Juni 2023

    Die Watchlist EUropa vom 27. Juni 2023 –

    Es ist schon bitter. Da schmiedet EUropa seit Monaten Pläne, um Russland zu ruinieren und Kremlchef Putin zu schwächen. Doch wenn es ernst wird und sich erste Risse im russischen System zeigen, dann tappen die EUropäer im Dunkeln.

    „Die unmittelbaren Ereignisse am vergangenen Wochenende haben wir so nicht erwartet“, sagte der Vorsitzende des EU-Militärausschusses Robert Brieger am Montag in Luxemburg. Es habe auch „keine akute Warnung“ gegeben. Ja, teilen die Amerikaner denn nicht ihre Erkenntnisse? Die US-Dienste behaupten, sie hätten den Aufstand von Wagner-Chef Prigoschin kommen sehen!

    Die EU hat den Schuß nicht gehört – genau wie zu Beginn des Ukrainekriegs.

    Fast noch frustrierender ist die Erkenntnis, dass es in Brüssel keinen Plan B für den Fall gibt, dass in Russland wirklich eine Staatskrise ausbricht. Darauf sei man nicht vorbereitet, räumte EU-Chefdiplomat Borrell ein. Dabei wäre ein Zusammenbruch des mit Atombomben vollgestopften Riesenreiches für Deutschland und die EU eine wesentlich größere Gefahr als der (noch) begrenzte Krieg in der Ukraine…

    Mehr zur Krise in Russland hier

     

    News

    • Mehr Geld für Militärhilfe. Die Europäische Union will mit noch mehr Härte und weiterer Aufrüstung auf die am Wochenende zutage getretenen „Risse“ in Russland reagieren. Die EU-Außenminister verkünden weitere 3,5 Milliarden Euro für die Ukraine – 5,6 Mrd. Euro wurden bereits für Kiew bereit gestellt. – Mein Beitrag für die „taz“ steht hier
    • Ukraine scheitert mit Vorstoß für Friedensgipfel. Der internationale Gipfel sollte im Juli in Kopenhagen stattfinden und auf der ukrainischen „Friedensformel“ aufbauen, die den Abzug der russischen Truppen aus allen besetzten Gebieten einschließlich der Krim vorsieht. Ein vorbereitendes Treffen am Sonntag war aber ohne Ergebnis zu Ende gegangen. – Mehr zur Friedensformel“ hier
    • Deutschland verletzt die Nato-Russland-Grundakte. Verteidigungsminister Pistorius will 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren. Damit stärkt er die Nato-Ostflanke, was angesichts der Krise in Russland hochwillkommen ist. Zugleich verletzt er aber den Nato-Vertrag mit Russland von 1997, der eine dauerhafte Stationierung von Kampftruppen im östlichen Bündnisgebiet verbietet…

     

    Watchlist

    • Verfehlt die EU ihre hochfliegenden Klimaziele? In einem Sonderbericht hat der Europäische Rechnungshof dem Kampf gegen den Klimawandel in der EU ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. In dem Report bezweifelt der Rechnungshof, dass die EU ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 wie angestrebt um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken kann. Die Finanzierung sei nicht gesichert, so die Prüfer.
    • Fällt Naturschutz-Gesetz erneut durch? Am Dienstag stimmt der Umweltausschuß des Europaparlaments über einen Gesetzentwurf zur Renaturierung durch. Bei einer ersten Sitzung gab es ein Patt von 44 zu 44. Die konservative EVP, in der CDU/CSU den Ton angeben, stemmt sich gegen den Entwurf von Klimakommissar Timmermans. Der Sozialist habe schlechte Arbeit geleistet, so CDU-Experte P. Liese


    Info: https://lostineu.eu/eu-hat-den-schuss-nicht-gehoert-berlin-verletzt-nato-vertrag-und-doch-kein-friedensgipfel


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.




    Weiteres:




    „AWK vermint“: Wie Selenskyj die Nato einspannen will


    lostineu.eu, vom 26. Juni 2023

    Präsident Selenskyj hat die Nato aufgefordert, sich auf einen Einsatz in der Ukraine vorzubereiten. Russland habe das AWK Saporischschja vermint und wolle einen Atomunfall auslösen – das dürfe die Nato nicht unbeantwortet lassen. Doch die Warnung führt in die Irre.

    Russland bereite einen „Terrorangriff“ mit „Strahlenfreisetzung“ am AKW Saporischschja vor, behauptete Selenskyj in einem Tweet an den kanadischen Premier Trudeau. Die Partner der Ukraine müssten eine „prinzipienfeste Antwort“ vorbereiten, insbesondere beim Nato-Gipfel in Vilnius.

    Dieselbe Botschaft werde er anderen Nato-Chefs übermitteln, kündigte Selenskyj an. Er stützt sich dabei auf (angebliche) Erkenntnisse seines Militärgeheimdienstes, wonach Russland das Kraftwerk vermint habe und eine gezielte Sprengung vorbereite, um Radioaktivität freizusetzen.

    Allerdings ist das AKW seit langem in russischer Hand. Warum sollte Russland diesen wichtigen Trumpf in die Luft sprengen? Wer würde bewußt eine radioaktive Wolke auslösen wollen, die ebensogut nach Westen wie nach Osten oder Norden – also nach Russland – ziehen könnte?

    Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA gibt Entwarnung: Man habe keine Minen am Kühlwasserbecken des AKW festgestellt, teilten IAEA-Beobachter mit, die vor Ort mögliche Gefahren prüfen sollen. Man kenne die ukrainischen Berichte, könne sie aber nicht bestätigen.


    „Die Schwarzmeerflotte vernichten“

    Wer hat Recht? Wir wissen es nicht, würden im Zweifel aber den IAEA-Experten mehr Vertrauen schenken als dem ukrainischen Geheimdienst. Zudem erinnern wir uns an frühere Versuche Selenskyjs, die Nato direkt in den Krieg in der Ukraine hineinzuziehen.

    Nun versucht er es offenbar erneut. Nicht ohne Erfolg: In Nato-Kreisen wird an die Drohung des Westens vom vergangenen Herbst erinnert, dass die Allianz die russische Schwarzmeerflotte vernichten könnte, falls Russland Atomwaffen in der Ukraine einsetzt.

    Noch sind das bloß Warnungen und Drohungen. Doch diesmal scheint es Selenskyj wirklich darauf anzulegen, die Nato hineinzuziehen. Wenn es tatsächlich zu einem Störfall kommen sollte – von wem auch immer verursacht – könnte er sein Ziel erreichen…

    Siehe auch Selenskyj will die Nato in den Krieg ziehen – nun auch über Saporischschja

    P.S. Der russische Außenminister Sergej Lawrow weist die Vermutung zurück, die Regierung in Moskau wolle das Atomkraftwerk in Saporischschja sprengen lassen. Solche Anschuldigungen des Westens und der Ukraine seien „Unsinn“, wird Lawrow von der amtlichen Nachrichtenagentur Tass zitiert.

    5 Comments

    1. KK
      27. Juni 2023 @ 00:29

      @ Hekla:
      „den grössenwahnsinnigen und offensichtlich zu allem fähigen Schauspieler“
      Ich bin geneigt zu wetten, dass bei einem Koks-Screening bei dem Mann der Messbereich des Tests nicht ausreichen würde… Grössenwahn, Allmachtsphantasien und auch sein stierer bis irrer Blick könnten darauf hindeuten…

    Reply

  • Hekla
    26. Juni 2023 @ 20:19

    Kurz und bündig: es ist allerhöchste Zeit (wenn nicht schon zu spät), dass der Westen den grössenwahnsinnigen und offensichtlich zu allem fähigen Schauspieler fallen lässt. Im eigenen existenziellen Interesse.

    Reply

  • european
    26. Juni 2023 @ 19:22

    Dazu gibt es zwei lesenswerte Artikel von Thomas Röper auf dem Anti-Spiegel.

    Der Atomwaffeneinsatz rückt näher, insbesondere im Zusammenhang mit dem AKW Saporischschja.
    https://www.anti-spiegel.ru/2023/rote-linien-und-das-akw-saporoschschje-russland-droht-mit-atomwaffeneinsatz/

    Der zweite befasst sich mit den vielen offenen Fragen des „Putschversuchs“.
    https://www.anti-spiegel.ru/2023/war-der-putschversuch-nur-eine-show-um-von-etwas-anderem-abzulenken/

    Reply

  • KK
    26. Juni 2023 @ 18:41

    Jetzt bräuchte es einen deutschen Aussenminister, der sich, wenn es wieder mal ernst wird, ein selbstbewusstes „I’m not convinced“ traut – und keine US-Marionette, die alles für die Ukraine tut und die dem ukrainischen Berufsschauspieler im Präsidentenamt jedes Drehbuch-Gefasel glaubt – egal, was ihre deutschen Wähler dann ausbaden müssen.
    Zur Not täte es auch ausnahmsweise mal ein selbstbewusster Kanzler.

    Reply

  • Mars attacks
    26. Juni 2023 @ 17:41

    Seit mehr als 13 Monaten wird nun pausenlos von Raketen auf NATO-Gebiet, AKW Zerstörung und vor allem vom Genozid an der Ukraine und ganz besonders deren Kinder gesabbelt. Ich kann es nicht mehr hören und schon gar nicht die tägliche Wahrsagung und das dazugehörige „ich weiß was was noch niemand sonst weiß“ diverser Knalltueten. Alle Seiten sind mit dem Thema durch, da aber die öffentliche Wahrnehmung mutwillig aufrechterhalten wird, bleibt der Krieg am köcheln und jeder einzelne tote wird zu Märkte getragen.


  • Info: https://lostineu.eu/awk-vermint-wie-selenskyj-die-nato-in-den-krieg-ziehen-will-schon-wieder


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.




    Weiteres:



    „Risse“ in Russland: Gießt die EU Öl ins Feuer?


    lostineu.eu, vom 26. Juni 2023

    Die Watchlist EUropa vom 26. Juni 2023. Heute mit dem Machtkampf in Russland, der Reaktion der EU-Außenminister, dem EU-Gipfel (u.a. zur Migration) und der Regierungskrise in Belgien.

    Wie geht der Machtkampf in Russland weiter? Welche Auswirkungen hat er auf den Krieg in der Ukraine, aber auch für die Sicherheit in EUropa? Nach dem gescheiterten Putschversuch von Wagner-Chef Progoschin dürften diese Fragen die neue Woche beherrschen.

    Den Auftakt machen die EU-Außenminister, die sich am Montag mit der russischen Krise befassen. Außenministerin Baerbock erklärte bei ihrer Ankunft in Luxemburg, aus ihrer Sicht sei der Machtkampf noch nicht beendet.

    „Es ist nach wie vor unklar, was dort geschieht. Ich sage ganz klar, was dort geschieht und nicht, was dort geschah“, sagte die Grünen-Politikerin. Die Ereignisse am Wochenende seien offensichtlich nur „ein Akt in diesem russischen Schauspiel“ gewesen.

    Das kann man so sehen. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob die EU sich in diesen Machtkampf einmischen will – und welche Folgen dies für die Nachbarn Russlands und EUropa haben könnte.


    „Risse im System“

    Vor einem Jahr hatte Baerbock erklärt, dass die EU mit ihren Wirtschaftssanktionen darauf ziele, Russland zu „ruinieren„. Einige EU-Strategien wollten sogar einen Aufstand gegen Putin auslösen.

    Ist es nun so weit? Zeigen sich erste „Risse“ im russischen System, wie EU-Chefdiplomat Borrell glaubt? Geht die westliche Strategie der Schwächung und Destabilisierung Russlands auf?

    Oder kann Kremlchef Putin seine Macht festigen und den Krieg weiterführen, vielleicht sogar intensiver und brutaler als zuvor? Seinem Freund Erdogan ist dies nach einem Militärputsch gelungen…

    Diese und viele andere Fragen zur Russland-Politik dürften auch den EU-Gipfel beschäftigen, der am Donnerstag in Brüssel beginnt.

    Eigentlich sollte sich das zweitägige Treffen vor allem um die Ukraine drehen. Die EU wollte die ukrainische „Friedensformel“ vorantreiben. Doch dieses Thema rückt nun in den Hintergrund.

    Die Hardliner in der EU glauben, Putin verstehe nur die Sprache der Gewalt. Dies habe der Putschversuch am Wochenende gezeigt. Von Frieden wollen sie nichts wissen. Vielmehr gelte es, die Ukraine noch stärker zu bewaffnen, also Öl ins Feuer zu gießen…


    Streit über Asylkompromiss

    Weitere Gipfel-Themen sind die China-Politik sowie die Migration. Die Flüchtlingskrise und der Streit über den EU-Asylkompromiss dürfte die EU-Chefs lange beschäftigen, heißt es in Brüssel.

    Was passiert noch? Am Montag muß sich die belgische Außenministerin Lahbib einer Anhörung im Parlament stellen. Die Opposition verlangt ihren Kopf, weil sie in diversen Iran-Affären versagt habe. Ein Rücktritt könnte den Sturz der Regierung nach sich ziehen.

    Und am Dienstag versucht der Umweltausschuß im Europaparlament, den umstrittenen Entwurf zur Renaturierung doch noch durchzubringen. Die konservative EVP lehnt ihn weiter ab. Bei einem Scheitern droht Ungemach für den „European Green Deal“…

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    1 Comment

    1. KK
      26. Juni 2023 @ 19:32

      Wer wird denn Öl ins Feuer giessen – bei den Preisen?
      Oder gibts wieder welches aus ukrainischen Sonnenblumen?

    Reply


    Info: https://lostineu.eu/risse-in-russland-die-reaktion-der-eu-und-regierungskrise-in-belgien


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.




    Weiteres:




    Open thread zum Machtkampf in Russland


    lostineu.eu, vom 25. Juni 2023

    Der Machtkampf in Russland hat ein vorläufiges Ende gefunden. Wagner-Chef Prigoschin zieht sich zurück, Kremlchef Putin will ihn ungestraft nach Belarus abziehen lassen. Ist Putin nun geschwächt – und wenn ja, was bedeutet das für Russland, die Ukraine und EUropa?

    Diese Frage dürfte das Treffen der EU-Außenminister am Montag in Luxemburg beherrschen. Hier können Sie aktuelle Meldungen, Analysen (Links) und Kommentare posten. Wir freuen uns auf Ihr Feedback!

    Zum Start zwei konträre Einschätzungen aus Deutschland und China.

    Die Meuterei zeige klare Risse in Putins Machtsystem, meint das ZDF:

    Prigoschin hat dramatisch offengelegt, wie kaputt das System Putin ist, wie brüchig seine Macht und Sicherheitsapparate sind. Auch Prigoschin konnte sich nicht durchsetzen, nach über einem Jahr Ukraine-Krieg ist Putins Herrschaft aber klar auf Sand gebaut.

    ZDF

    Dass Putin geschwächt wurde, sei reines Wunschdenken, schreibt die „Global Times (China)

    Despite the Western media saying that the revolt exposed the weakness of the Putin administration, the rebellion was quelled in such a short period of time after Putin vowed to take decisive actions on Saturday morning. This in fact shows that the Kremlin maintains a strong capability of deterrence, which will further increase its authority, some experts said.

    Global Times

    Over to you!

    Hier noch ein Kommentar vom „Standard“ in Wien. Er sieht Putin geschwächt, doch das sei keine gute Nachricht:

    Nicht unwahrscheinlich ist, dass Putin seinen Verteidigungsminister Schoigu und dessen Generalstabschef Gerassimow entlässt. Hardliner könnten an die Macht kommen. Für die Ukraine wäre das keine gute Perspektive. Und für Putin eine nicht sehr populäre Entscheidung, nicht einmal ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl. Die Wahl wird er wohl gewinnen, einen wirklichen Nachfolger gibt es nicht. Aber was kommt dann? Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg. Das Gespenst des Chaos der 90er-Jahre steht im Raum. Machtkämpfe, politische Morde. Diesmal allerdings mit diversen Privatarmeen. Dann würde sich der Westen Putin wohl händeringend zurückwünschen. Auch damit die Atomwaffen unter Kontrolle blieben.“

    Der Standard

    Update

    Nun kommen erste Meldungen über Twitter, wonach die Wagner-Gruppe ein oder mehrere große Lager in Belarus errichtet. Sie sollen 200 km von der Grenze zur Ukraine entstehen und bis zu 8000 Mann beherbergen. Womöglich hat sich die Ukraine zu früh gefreut – und die EU die Lage erneut falsch eingeschätzt!?



    25 Comments

    1. Thomas Damrau
      27. Juni 2023 @ 06:54

      @ebo (26. Juni 2023 09:36)
      Richtig, die NATO meint, „dass Putin nur auf militärischen Druck reagiert“. Aber diese Arbeitshypothese ist schon seit Beginn des Krieges Grundlage der Entscheidungen – nicht erst seit Prigoschins Erpressungsversuch.
      Und als Grund für mehr Waffenlieferung braucht die NATO die Ereignisse des Wochenendes auch nicht: Die Eskalationslogik „Wenn der Nagel nicht in die Wand will, brauchen wir eben einen größeren Hammer“ erfordert schon auf Grund der mangelnden militärischen Erfolge der Ukraine „mehr und heftigere“ Waffen.

    Reply

    Arthur Dent
    26. Juni 2023 @ 23:52

    Welch wundersame Dinge unsere Auguren doch aus dem Vogelflug, den Innereien und den Knochen herauslesen können – wo doch die Wirklichkeit oft tief verborgen hinter der Fassade des Augenscheins liegt.
    Und wie der Astronaut sich aus dem Schwerefeld der Erde löst, so entkommen unsere Politiker zunehmend der Gravitationskraft des Humanismus.

    Reply

  • Hekl
    26. Juni 2023 @ 16:55

    Von allen Vermutungen, Spekulationen, Analysen, Einschätzungen, usw. erscheint mir bisher am plausibelsten, dass es sich um einen sog. „verdeckten Aufmarsch“ handeln könnte. Mein (zugegebenermaßen einziges und unsicheres) Indiz dafür: Russland befindet sich im Krieg, daher sollte man das Bild, das uns, dem unfreundlichen Westen, Russland von sich vermittelt mit größter Skepsis betrachten. Mich irritiert, wie massiv und mit welcher ungewohnten Transparenz Russland über die angeblichen inneren Konflikte und Zwistigkeiten kommuniziert. Das wäre nichts, was man seinen Gegnern auf dem Silbertablett servieren würde. Können wir uns wirklich sicher sein, dass Prigoschin wirklich der Rebell und Verräter ist, als den man ihn verkauft? Können wir es wirklich wissen?

    Reply

  • KK
    26. Juni 2023 @ 14:21

    Man stelle sich vor, die in Privatarmeen konzentrierten russischen und die vom Westen bis an die Zähne modernst bewaffneten ukrainischen Faschisten tun sich zusammen und holen sich ein Stück des ehemaligen „Ostblocks“ heim ins Reich (bzw. die Reiche).

    Dann schauen unsere immer mehr Waffen geliefert habende Bellizisten aber sicher blöd aus der Wäsche, wenn dann andere tatsächlich das tun, was sie Putin immer als Ziel unterstellt haben. Und die den Finger dann sicher noch viel näher am Atomknopf haben.

    Reply

  • Godfried van Ommering
    26. Juni 2023 @ 12:47

    Der Kommentar vom Wiener Standard macht klar daß es eher die Schwäche des Westens, der Koalition aus Ukraine und NATO, ist, die von den Ereignissen des Wochenendes in Russland bloß gelegt worden ist: denn sein kriegerisch vorangetriebenen Versuch „Putin“ zu stürzen, unter Einsatz der Ukrainischen Armee, führt, so hat sich jetzt gezeigt, sofort in die Verunsicherung bezüglich der Folgen innerhalb und außerhalb Russland, und zu einer Art Lähmung der konfrontierenden Politik des Westens wegen des Faktors Atomwaffen: die Reaktionen aus Regierungskreisen und von sonstigen Politikern zeigen nur wie wenig oder einfach slecht durchdacht das ganze Vorgehen der Westmächte ist. Man hat der russische Präsident verteufelt, aber anscheinend sich keine realistische Vorstellung gebildet, wie denn umzugehen mit den unüberschaubaren Wirbeln nach einem Sturz des Teufels. Vielmehr muß sich der Westen darüber Gedanken machen, daß das Projekt dieses Krieges gegen Russland beim jeden Schritt weiter, seien es Sanktionen oder Waffenlieferungen, unbeherrschbarer wird. Und bald ruft der verwegene Zauberlehrling nach den rettenden Formel, der den Spuk ein Ende setzen kann…

    Reply

    • ebo
      26. Juni 2023 @ 14:44

      Richtig ist, dass der Westen auf eine Destabilisierung Russland und die Entmachtung Putins zielt. Nichts anderes bezweckt der Wirtschaftskrieg, der 2022 auch von der EU entfesselt wurde. Damals wie heute will man Russland „ruinieren“ (Baerbock) – doch an die möglichen Folgen hat offenbar niemand gedacht. Naiv wirkt auch die Schadenfreude, mit der nun die Krise in Russland kommentiert wird. Sollte sich Prigoschin durchsetzen, so wird der Krieg gegen die Ukraine nicht etwa abgeblasen, sondern sogar noch härter geführt werden…

      Reply

  • Helmut Höft
    26. Juni 2023 @ 11:15

    Das Getöse um Wagner+brutale Söldnergruppe(n) sollte einmal allseits aufgearbeitet werden. Wer weiß denn, dass unter den Truppen des Wertewestens® ebenfalls massig Angehörige von PMSC (Private Military Security Company) mitlaufen? Die größte solcher „Organisationen“ heißt G4S und sitzt in Crawley, UK-; wer denkt noch an Blackwater in Falludscha und ja, die waren – und sind, heute unter anderem Namen – auch an anderen Stellen beteiligt, z. B. im Abu-Ghuraib-Folterskandal.
    Fazit: Die „Guten“ sind nicht besser als die „Bösen“! Annalena aus Borbeck: Bitte übernehmen, machen Sie was „feministisches“, was „moralisches“, was „unter Völkerrecht“ draus. *ächz*

    Reply

  • Stef
    26. Juni 2023 @ 10:52

    Vielleicht waren Motivation und Hintergrund der Aktion auch viel simpler.

    Wagner sollte sich auf Druck der russischen Militärführung vertraglich zu einer Eingliederung in die Befehlshierarchie des Militärs verpflichten, was Prigoschin in die direkte Befehlsgewalt des verhassten Verteidigungsministers Schoigu gebracht hätte. Damit sollte wohl die mit einer kampfstarken, autonomen Militärtruppe verbundene Problem für den Stast gelöst werden. Frist für den Vertragsschluss sollte wohl Ende Juni ablaufen.

    Vielleicht war dies einfach nur der verzweifelte Versuch Prigoschins und Wagners, sich der Einverleibung zu widersetzen.

    Reply

  • Cornelia Henke
    26. Juni 2023 @ 10:23

    Schwer einzuschätzen: Fake oder das bröckelnde Machtgefüge Putins? Ich vermute eine koordinierte Aktion von Putin und seinem „Kettenhund“.
    Prigoschin ist es als Militärexperte sicher klar, dass man mit 25000 Soldaten keinen erfolgreichen Putsch durchführen kann und einen Flächenbrand – mit Unterstützung der Bevölkerung hat es auch nicht gegeben. Genau so wenig wie eine „Bestrafung“ für die Missetat. (Allerdings könnte es auch für Prigoschin ein Versuch sein, zu prüfen, wie weit er „gehen kann“.) Na ja – vielleicht nur „Theaterdonner“ oder eine Loyalitätsprüfung der anderen Art. … Fakt ist – ein instabiles Russland im Bürgerkrieg könnte unsere Zivilisation zum Einsturz bringen. Wenn der Verkauf von Atomwaffen zur Geschäftsidee von Warlords wird. Willkommen im 21. Jahrhundert, Konflikte mit Kriegen regulieren und Intelligenz ohne Vernunft!


  • Info: https://lostineu.eu/open-thread-zum-machtkampf-in-russland


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

    27.06.2023

    Interview Wie lässt sich der Fachkräftemangel beheben, Herr Jäger?

    makronom.de, vom 26. Juni 2023, IN TERVIEW: SUSANNE ERBE, Deutschland
    Während die Erwerbstätigkeit in Deutschland neue Rekordwerte erreicht, klagen die Unternehmen über einen eklatanten Fachkräftemangel – der sich noch verschärfen dürfte, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Ein Gespräch mit IZA-Direktor Simon Jäger über das Ausmaß des Mangels und mögliche Gegenmaßnahmen.


    Zur Person

    Simon Jäger ist Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Associate Professor of Economics am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Faculty Research Fellow am National Bureau of Economic Research (NBER). Auf Twitter: @simon_jaeger


    Herr Jäger, wie genau wird der Fachkräftemangel eigentlich gemessen?

    Typischerweise wird hierfür die Zahl der offenen Stellen im Verhältnis zur Arbeitslosenzahl herangezogen. Je größer dieses Verhältnis und je mehr Zeit zur Besetzung offener Stellen durchschnittlich benötigt wird, desto ausgeprägter demnach der Fachkräftemangel. Außerdem werden Unternehmen direkt befragt, etwa im Rahmen der ifo Konjunkturumfragen, ob sie ihre Geschäftstätigkeit durch Fachkräftemangel beeinträchtigt sehen. Auf diese Weise lassen sich Engpassberufe und Branchen mit besonderen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung identifizieren. Allerdings geht aus den Zahlen nicht hervor, ob der wahrgenommene Mangel daraus resultiert, dass es zu wenige Menschen mit den gesuchten Qualifikationen gibt oder dass die angebotenen Löhne und Arbeitsbedingungen nicht attraktiv genug sind.


    Lassen sich Unterschiede nach Regionen, Branchen und Qualifikation erkennen?

    Insgesamt sehen wir einen großen Bedarf bei Gesundheits- und Sozialdienstleistern, in der Logistikbranche oder auch in Handwerk und Bau. Groß ist der Mangel auch in den Bereichen der Elektromobilität und der erneuerbaren Energien, also Sektoren, die für die Transformation sehr zentral sind. Dabei suchen die Unternehmen sowohl Fachkräfte, das heißt Menschen, die mindestens eine abgeschlossene Ausbildung haben, als auch Arbeitskräfte, die in Helfertätigkeiten arbeiten und für die keine spezielle Qualifikation benötigt wird. Und je nach Region lassen sich hier auch Unterschiede in den Bedarfen feststellen.


    Ist die Lücke vor allem durch einen regionalen oder qualifikatorischen Mismatch entstanden?

    Aus meiner Sicht spielen beide Komponenten bei der Betrachtung von Engpässen eine zentrale Rolle, hinzu kommt ein sektoraler Mismatch. Deswegen spricht aus wissenschaftlicher Perspektive sehr viel dafür, den Wettbewerb um Arbeitskräfte zu stärken. Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass Menschen auf Arbeitsplätze wechseln, die gute Löhne und Arbeitsbedingungen bieten, und das sie dort auch seltener kündigen. Für Arbeitgeber ergeben sich daraus zusätzliche Anreize, in Form von Qualifizierungsmaßnahmen mehr in ihre Beschäftigten zu investieren.

    Darüber hinaus ist es wichtig, die Entgelttransparenz zwischen verschiedenen Arbeitgebern zu stärken. Dies führt nachweislich zu stärkerem Wettbewerb und Anstieg von Löhnen, wie Reformen aus anderen europäischen Ländern und US-Bundesstaaten zeigen. Nicht zuletzt sollten wir unsere Kurzarbeitsregelungen überprüfen und anpassen, um strukturelle Veränderungen zu ermöglichen – etwa den Wechsel der Ingenieurin vom Automobilzulieferer zum e-Mobility-Startup.


    Wie sieht es in der Zukunft aus? In welcher Größenordnung und in welchen Berufen werden Lücken prognostiziert?

    Aktuelle Berechnungen des IAB zeigen: Ohne Zuwanderung und steigende Erwerbsquoten würde die Zahl der Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, bis zum Jahr 2035 um über sieben Millionen sinken, vor allem weil die Babyboomer nach und nach aus dem Berufsleben ausscheiden.

    Das wirkt sich gleich doppelt auf die Arbeits- und Fachkräftesituation aus: Für frei werdende Stellen fehlt der Nachwuchs, während die älter und pflegebedürftiger werdende Gesellschaft einen steigenden Arbeits- und Fachkräftebedarf gerade in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Soziales hat.

    In welchen Berufen in Zukunft Lücken aufklaffen werden, lässt sich aus meiner Sicht nur schwer mit belastbaren Zahlen prognostizieren, da dies – neben technologischem Fortschritt – auch davon abhängt, inwiefern stärkerer Wettbewerb zu Lohnerhöhungen führt und damit auch zu einer geringeren Arbeitsnachfrage in dem jeweiligen Beruf.


    Die Vorhersagen zur Demografie gehen von einer stark schrumpfenden Bevölkerung aus. Wäre es möglich, dass in einer solchen Situation auch weniger Fachkräfte nachgefragt werden – und sich das Problem quasi von selbst erledigt?

    Entscheidend ist weniger das Schrumpfen, sondern das Altern der Bevölkerung, also das sinkende Erwerbspersonenpotenzial bei gleichzeitig steigendem Rentenbezug und wachsendem Bedarf an Arbeitskräften etwa in der Pflege. Dass sich die Nachfrage nach Fachkräften reduziert, ohne dass wir als Gesellschaft Wohlstandsverluste in Kauf nehmen müssten, wäre dann vorstellbar, wenn es gelingt, durch mehr Automatisierung und Digitalisierung menschliche Arbeit zu ersetzen oder produktiver zu machen. Das wird sicherlich in Teilen der industriellen Fertigung wie auch bei manchen Dienstleistungen mit hohem Routineanteil möglich sein.

    Bislang hat der technologische Fortschritt allerdings immer auch neue Tätigkeiten hervorgebracht, also die Arbeit zwar verändert, aber die Arbeitsnachfrage nicht reduziert. Außerdem gewinnen gerade die Bereiche an Bedeutung, in denen es besonders auf menschlichen Kontakt, Empathie und soziale Kompetenzen ankommt, etwa Pflege und Bildung. Wir sollten daher unsere Hoffnungen nicht allein in Roboter und künstliche Intelligenz setzen.


    Welche Maßnahmen sind erforderlich, um den Mangel abzuwenden?

    Wenn die Gesellschaft möchte, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland nicht schrumpft, sind verschiedene Maßnahmen zielführend: Wir müssen die Einwanderung von Fachkräften erleichtern und zugleich unser inländisches Erwerbspotenzial besser ausschöpfen. Qualifizierung spielt hier eine wichtige Rolle. Aber auch bessere Arbeitsbedingungen, insbesondere flexiblere Arbeitszeitregelungen, können dazu beitragen, die Frauenerwerbstätigkeit zu steigern, die „stille Reserve“ zu aktivieren und Ältere länger im Unternehmen zu halten.


    Inwieweit würde eine Anhebung des Renteneintrittsalters helfen, wie sie verschiedentlich wieder gefordert wird?

    Unser Ziel sollte sein, dass die Menschen länger arbeiten, weil sie können und wollen, nicht weil sie müssen. Neben mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und, wo möglich, auch bei den ausgeführten Tätigkeiten kann ein effektives betriebliches Gesundheitsmanagement dazu beitragen, die Arbeitsfähigkeit länger zu erhalten. Wenn es in Kombination mit zusätzlichen Anreizen für die Beschäftigung Älterer gelänge, das faktische Renteneintrittsalter dem gesetzlichen anzunähern, wäre schon viel erreicht. Dann müsste auch weniger über Ausnahmen und Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen oder Erwerbsverläufe diskutiert werden. Zur Stabilisierung des Rentensystems insgesamt werden dennoch weitere Stellschrauben wichtig bleiben, auch das Renteneintrittsalter.


    Durch welche Maßnahmen ließe sich die Frauenerwerbstätigkeit weiter erhöhen?

    Im europäischen Vergleich sehen wir, dass die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen auf dem deutschen Arbeitsmarkt sehr hoch ist, was sehr zu begrüßen ist. Allerdings arbeiten viele Frauen und insbesondere Mütter im Durchschnitt wenige Stunden, also häufig in einem Minijob oder in der geringen Teilzeit. Hier ist also in jedem Fall noch großes Potenzial.

    Entscheidende Faktoren sind hier: Kinderbetreuungsangebote müssten weiter ausgebaut werden, sowohl qualitativ als auch von der zeitlichen Flexibilität her, denn die Praxis zeigt, dass es allein mit dem formellen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz nicht getan ist. Neben der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf würde vor allem die Abschaffung des Ehegattensplittings und der Begünstigung von Minijobs die nötigen Anreize setzen, damit mehr Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen oder ihre Arbeitszeit über eine geringfügige Beschäftigung oder eine Teilzeit mit geringer Stundenanzahl hinaus ausweiten.

    „Bislang hat der technologische Fortschritt immer auch neue Tätigkeiten hervorgebracht, also die Arbeit zwar verändert, aber die Arbeitsnachfrage nicht reduziert“

    Eine Doktorandin von mir hat untersucht, wie sich die Option für eine flexible Arbeitszeitgestaltung in Australien ausgewirkt hat: Junge Mütter arbeiten häufiger und mehr – und die sogenannte Motherhood Penalty (also die Einkommenseinbußen durch die Geburt der Kinder) ist geschrumpft. Das bedeutet: Die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen nach der Geburt des ersten Kindes hat sich weniger stark geöffnet. Die Reform ist ein gutes Beispiel dafür, wie die gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden steigen könnten, wenn die Menschen flexibler über ihre Arbeitszeit bestimmen können. Außerdem sind kulturelle Faktoren, das heißt, gesellschaftliche Erwartungen an Mütter, ein wichtiger Faktor, über den wir zu wenig sprechen.


    Sie haben mit anderen IZA-WissenschaftlerInnen einen Vorschlag zur besseren Gestaltung der Einwanderung gemacht. Welche Elemente enthält Ihr Konzept?

    Auf dem Papier sind die Einwanderungsangebote für Fachkräfte außerhalb Europas schon recht großzügig, werden aber noch zu wenig genutzt, auch weil sie nach wie vor zu kompliziert sind. Wir schlagen daher eine deutliche Vereinfachung vor, die allerdings die Erteilung einer befristeten Arbeitserlaubnis für Drittstaatsangehörige an ein vorliegendes Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot in einem tarifgebundenen Unternehmen koppelt. Unser Vorschlag schafft also eine doppelte Dividende: Wir steigern die Erwerbsmigration und setzen einen zusätzlichen Anreiz für produktive, wachsende Unternehmen, eine Tarifbindung einzugehen, um Zugang zu einem größeren Arbeitskräftepool zu erhalten. Von der Gewährleistung tariflicher Standards bei Löhnen und Arbeitsbedingungen würden in- und ausländische Beschäftigte gleichermaßen profitieren.


    Letztlich wäre die einfachste und marktwirtschaftlichste Lösung für einen Mangel eine Preiserhöhung. Man könnte also erwarten, dass in den Berufen, in denen die Nachfrage nach Arbeitnehmern hoch ist, auch die Löhne steigen. Warum ist das nicht geschehen?

    Ich denke, dass die Erkenntnisse aus der modernen Arbeitsmarktforschung zur Marktmacht von Unternehmen am Arbeitsmarkt eine entscheidende Rolle beim Verständnis spielen. Der Arbeitsmarkt ist kein perfekt kompetitiver Markt und die Friktionen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Klage über Arbeitskräftemangel ist auch Ausweis dessen, dass in manchen Bereichen Löhne unterhalb der Arbeitsproduktivität gezahlt werden.

    „Im Kern ist die Debatte um den Fachkräftemangel auch eine gesellschaftliche Debatte darüber, in welchen Bereichen wir unsere Ressourcen einsetzen möchten“

    Wir müssen die Diskussion sehr offen und ehrlich führen. Im Kern ist die Debatte um den Fachkräftemangel auch eine gesellschaftliche Debatte darüber, in welchen Bereichen wir unsere Ressourcen einsetzen möchten: Wie wichtig ist uns als Gesellschaft das Bildungssystem? Wie wichtig ist uns die Arbeit am Menschen? Der empfundene Fachkräftemangel ist damit auch ein Symptom des zugrunde liegenden Problems: die Verteilung knapper Ressourcen.


    Gegen höhere Löhne werden u. a. die Sorgen vor steigenden Preisen, aus dem Markt verschwindenden Unternehmen und wegautomatisierten Jobs angeführt. Sind diese Bedenken aus Ihrer Sicht berechtigt?

    All diese Entwicklungen sind in gewissem Maße zu erwarten, aber nicht zwingend Anlass zur Sorge. Wenn stärkerer Wettbewerb um Arbeitskräfte zu steigenden Reallöhnen für einen großen Teil der Beschäftigten führt, wie aktuelle Forschung aus den USA nahelegt, könnten etwaige Preissteigerungen dadurch weitgehend ausgeglichen werden. Wo sich höhere Lohnkosten nicht auf die Preise umwälzen lassen, muss das Unternehmen geringere Gewinne in Kauf nehmen oder verstärkt auf Automatisierung setzen. Fallen auf diese Weise gering bezahlte Jobs weg oder werden bestimmte Geschäftsmodelle unrentabel, die sich auf einen breiten Niedriglohnsektor stützen, muss das gesamtgesellschaftlich kein Problem sein, wenn die Beschäftigten dann für produktivere, besser entlohnte Tätigkeiten zur Verfügung stehen.


    Welche Maßnahmen sind am ehesten politisch durchsetzbar, welche sind am effizientesten?

    Unser Vorschlag zur Verknüpfung von Einwanderung und Tarifbindung könnte, abgesehen von einer gewissen Skepsis auf Arbeitgeberseite, auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen, weil er ohne den Einsatz von Steuermitteln auskommt und Unternehmen wie Beschäftigten gleichermaßen zugutekäme.

    Als besonders effizient gelten Maßnahmen im Bildungssystem, vor allem solche, die bei der frühen und systematischen Förderung benachteiligter Gruppen ansetzen. Umfangreiche Forschung aus den USA weist für die dafür eingesetzten Mittel enorme gesellschaftliche Renditen nach, denn Bildungsinvestitionen zahlen sich noch Jahrzehnte später auf dem Arbeitsmarkt aus. Darüber hinaus gibt es „low-hanging fruits“ beispielsweise bei der Steigerung des Wettbewerbs um Arbeitskräfte durch Erhöhung der Entgelttransparenz zwischen Arbeitgebern. Insgesamt mangelt es in Deutschland leider noch zu häufig an geeigneten Forschungsdaten, anhand derer sich die Effizienz von Maßnahmen überhaupt analysieren lässt.


    Info: https://makronom.de/interview-wie-laesst-sich-der-fachkraeftemangel-beheben-herr-jaeger-44472?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=interview-wie-laesst-sich-der-fachkraeftemangel-beheben-herr-jaeger


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

    27.06.2023

    Nachrichten von Pressenza: Friedensboot „Goldene Regel“ erhielt eine Auszeichnung des New Yorker Rates „wie sanfter Wind in deinen schönen Segeln“

    aus e-mail von  <newsletter@pressenza.com>, 27. Juni 2023, 7:15 Uhr


    Nachrichten von Pressenza - 27.06.2023


    Friedensboot &#8222;Goldene Regel&#8220; erhielt eine Auszeichnung des New Yorker Rates „wie sanfter Wind in deinen schönen Segeln“


    An einem schönen Tag vor dem Rathaus von New York City begeisterte die Stadträtin Carlina Rivera große Menschenmengen mit Enthusiasmus, Überzeugung und der Wahrheit darüber, warum wir die Missionen von Veterans For Peace und Move The Money schätzen müssen. Mit&hellip;

    http://www.pressenza.net/?l=de&track=2023/06/friedensboot-goldene-regel-erhielt-eine-auszeichnung-des-new-yorker-rates-wie-sanfter-wind-in-deinen-schoenen-segeln/


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    Pressenza - ist eine internationale Presseagentur, die sich auf Nachrichten zu den Themen Frieden und Gewaltfreiheit spezialisiert hat, mit Vertretungen in Athen, Barcelona, Berlin, Bordeaux, Brüssel, Budapest, Buenos Aires, Florenz, Lima, London, Madrid, Mailand, Manila, Mar del Plata, Montreal, München, New York, Paris, Porto, Quito, Rom, Santiago, Sao Paulo, Turin, Valencia und Wien.


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

    27.06.2023

    Der Übergang zur Diplomatie (I)   Ex-US-Regierungsmitarbeiter sagt baldigen Übergang zu Verhandlungen im Ukraine-Krieg voraus – rechtzeitig vor dem US-Präsidentschaftswahlkampf. Erste Vorgespräche haben bereits stattgefunden.

    german-foreign-policy.com, 27. Juni 2023

    BERLIN/KIEW/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Die westlichen Mächte steigen in Verhandlungen mit Kiew über eine Beendigung des Ukraine-Kriegs ein. Am Samstag sind in Kopenhagen Repräsentanten der G7-Staaten, der Ukraine und mehrerer Länder des Globalen Südens zusammengetroffen, um erstmals gemeinsam Friedensgespräche in Aussicht zu nehmen. Konkrete Ergebnisse wurden dabei noch nicht erzielt; die Verhandlungen sollen aber fortgesetzt werden. Dass im Anschluss an die aktuelle ukrainische Gegenoffensive Gespräche zumindest über einen Waffenstillstand geführt werden sollen, ist als Ziel der Biden-Administration seit geraumer Zeit erkennbar. Ursachen sind die abnehmende Zustimmung in der US-Bevölkerung für die Unterstützung der Ukraine und der Präsidentschaftswahlkampf, der für Biden eine Fortsetzung der milliardenschweren Hilfsleistungen nicht angeraten sein lässt. Auch in Europa schrumpft der Anteil derjenigen, die Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland befürworten. Ein ehemaliger US-Regierungsmitarbeiter spricht sich dafür aus, spätestens im Herbst konkret auf einen Waffenstillstand zu orientieren. „Am schwierigsten“, urteilt er, dürften dabei „die Gespräche mit den Ukrainern“ sein.


    Zitat: Stimmungsumschwung in den USAUrsache dafür, dass die Unterstützung für die Ukraine im Westen unter Druck zu geraten beginnt, ist zum einen ein gewisser Stimmungsumschwung in den USA, verbunden mit dem herannahenden US-Präsidentschaftswahlkampf und eskalierenden Kosten. Waren im März 2022 laut einer Umfrage des Pew Research Center nur sieben Prozent aller US-Amerikaner der Meinung, Washington investiere zuviel in Hilfsprogramme aller Art für Kiew, so stieg ihr Anteil in diesem Monat bereits auf 28 Prozent.[1] Unter Republikaner-Wählern lag er sogar bei 44 Prozent, während nur 20 Prozent die US-Unterstützung als angemessen einstuften und nur 14 Prozent der Ukraine umfangreichere Mittel zugute kommen lassen wollten. Darüber hinaus werden auch unter Politikern zunehmend Einwände geäußert, man könne nicht auf Dauer zweistellige Milliardensummen in die Ukraine pumpen und – je nach Parteipräferenz – es an Mitteln für die Sozialpolitik (Demokraten) oder für die Abschottung der US-Grenze zu Mexiko (Republikaner) fehlen lassen. Der Ukraine-Krieg droht für Joe Biden umso stärker zur Belastung im Wahlkampf zu werden, als bei den Republikanern der Flügel an Einfluss gewinnt, der die Unterstützung für Kiew reduzieren will, insbesondere Kräfte um Ex-Präsident Donald Trump.[2]


    Stimmungsumschwung in Europa

    Ein gewisser Stimmungsumschwung zeichnet sich auch in Europa immer deutlicher ab. So zeigt etwa eine Umfrage, die im Auftrag des Deutschen Polen-Instituts durchgeführt wurde, dass in Deutschland der Anteil derjenigen, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, von 58 Prozent im März 2022 auf 51 Prozent im Mai 2023 zurückgegangen ist. In Polen sank er von 87 auf 76 Prozent.[3] Im selben Zeitraum schrumpfte der Anteil derjenigen, die die Russland-Sanktionen unterstützen, von 69 auf 57 Prozent (Deutschland) bzw. von 90 auf 85 Prozent (Polen). Gleichzeitig zeigt eine aktuelle Umfrage der Universität Warschau, dass der Anteil der Polen, die stärkere Unterstützung für die Ukraine wünschen, von fast 50 Prozent im Frühjahr 2022 auf nur noch 28 Prozent gefallen ist, während sich die Einstellung gegenüber ukrainischen Flüchtlingen erheblich gewandelt hat. So ist der Anteil derjenigen, die von sich sagen, eine „sehr positive“ Einstellung gegenüber Ukrainern zu haben, von 44 Prozent im Januar auf 28 Prozent im Mai und im Juni gesunken. 31 Prozent geben an, ihre Einstellung gegenüber Ukrainern habe sich verändert; von diesen nennen 85 Prozent eine Änderung „zum Schlechteren“.[4] Die am meisten genannte Ursache ist die Wahrnehmung, ukrainische Flüchtlinge hielten sich oft für berechtigt, Leistungen jeder Art kostenlos zu erhalten.


    Politische Widerstände

    In Polen haben EU-Vergünstigungen für ukrainische Getreideexporte, die gravierende Nachteile für polnische Landwirte mit sich brachten, bereits zu massiven Protesten geführt. Diese mussten mit Sonderregelungen gedämpft werden, die den Verkauf kostengünstigeren ukrainischen Getreides in Polen wie auch in weiteren Staaten Ost- und Südosteuropas einschränken. Ungarn trägt schon heute weder alle Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine noch alle Maßnahmen gegen Russland umstandslos mit. Die Slowakei könnte, wie Beobachter spekulieren, nach der vorgezogenen Parlamentswahl im September einem ähnlichen Kurs folgen.[5] Auch die zunehmenden Widerstände in den USA beginnen sich, wie berichtet wird, mittlerweile in der politischen Praxis niederzuschlagen. So heißt es, ukrainische Abgeordnete seien in kürzlich geführten Gesprächen mit Mitarbeitern des US-Außenministeriums und des Nationalen Sicherheitsrats immer wieder vertröstet worden, wenn sie um zusätzliche Waffenlieferungen gebeten hätten – mit dem Hinweis, man wolle nun erst einmal „sehen, wie die Gegenoffensive verläuft“.[6] Die ehemalige ukrainische Vizeministerpräsidentin Iwanna Klympusch-Tsyntsadse wurde unlängst mit der Äußerung zitiert, sie „fürchte“ um die Fortsetzung der US-Förderung in gewohnter Höhe für das kommende Finanzjahr. Letzteres beginnt am 1. Oktober.


    Den Waffenstillstand im Blick

    Mit Blick auf die langsam geringer werdende Unterstützung für die Ukraine und vor allem auf den US-Präsidentschaftswahlkampf sind seit geraumer Zeit Überlegungen zu vernehmen, die auf eine Einstellung der Kämpfe nach der aktuellen ukrainischen Gegenoffensive und auf Verhandlungen hinauslaufen – wohl noch in diesem Jahr (german-foreign-policy.com berichtete [7]). In diesem Sinne hat sich kürzlich etwa Charles Kupchan geäußert, ehedem Europadirektor im Nationalen Sicherheitsrat unter US-Präsident Barack Obama und heute beim einflussreichen Council on Foreign Relations (CFR) tätig. Auch Kupchan sagt voraus, man könne „nicht davon ausgehen, dass die Unterstützung des Westens auf dem derzeitigen Niveau anhält“.[8] In den USA seien genügend Mittel „wahrscheinlich bis zum Spätsommer“ vorhanden; spätestens 2024 müsse Biden dann jedoch „stärker auf einen Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung“ dringen. Dies sei umso mehr der Fall, als die Ukraine beim Versuch, sie „zu retten“, vollständig „zerstört werden“ könne: „Je länger dieser Krieg anhält, desto mehr fügt er dem Land enormen Schaden zu“. „Wenn die Kampfsaison zu Ende geht, wird es eine neue Pattsituation geben“, sagt Kupchan voraus: Spätestens dann müsse der Westen „zu einer diplomatischen Strategie übergehen, die auf einen Waffenstillstand abzielt“.


    Die schwierigsten Gespräche

    Dabei müsse es „das allererste Ziel“ sein, fordert Kupchan, „den Krieg zu beenden und das Töten zu stoppen“. Nötig sei etwa „eine stabile Kontaktlinie, hinter die sich die Truppen zurückziehen“.[9] Man dürfe es auch nach einer Beendigung der Kämpfe „nicht akzeptieren, dass Russland die Kontrolle über einen Teil des [ukrainischen, d.Red.] Territoriums behalten darf“; es gebe „historische Analogien, auch zu Deutschland“: Die Bundesrepublik hat im Kalten Krieg den Anspruch auf das Territorium der DDR tatsächlich niemals preisgegeben. „Schwer“ werde es, Russland zu Verhandlungen zu veranlassen, sagt Kupchan voraus. Auch die Ukraine werde sich dagegen sperren: Selenski strebe „die volle territoriale Souveränität seines Landes und den kompletten Abzug der russischen Streitkräfte an“, und er werde dabei „von 90 Prozent der Bevölkerung unterstützt“. „Die Gespräche mit den Ukrainern“, urteilt Kupchan, „könnten deshalb am schwierigsten werden.“


    Erste Verhandlungen

    Am Samstag haben erste Gespräche in größerem Rahmen begonnen – mit einem Treffen in Kopenhagen, bei dem auf offizielle Einladung der Ukraine die G7-Staaten und fünf Länder des Globalen Südens zusammenkamen, um die Perspektiven einer Friedenslösung für die Ukraine in den Blick zu nehmen. german-foreign-policy.com berichtet am morgigen Mittwoch.

     

    [1] Andy Cerda: More than four-in-ten Republicans now say the U.S. is providing too much aid to Ukraine. pewresearch.org 15.06.2023.

    [2] Pete Shmigel: US Polling and Politics on Ukraine War is Changing. kyivpost.com 19.06.2023.

    [3] Jacek Kucharczyk, Agnieszka Łada-Konefał: Der deutsche und der polnische Blick auf die russische Aggression gegen die Ukraine. Deutsch-polnisches Barometer. Forschungsbericht Juni 2023. Darmstadt 2023.

    [4] Aleksandra Krzysztoszek: Poles less willing to help Ukrainian refugees: poll. euractiv.com 15.06.2023.

    [5] Lubos Palata: Slowakei: Auf dem Weg ins prorussische Lager? dw.com 12.06.2023.

    [6] Jamie Dettmer: Ukraine’s long war and the importance of patience. politico.eu 15.06.2023.

    [7] S. dazu „Untragbare Opfer“, Nach der Offensive und Der Korea-Krieg als Modell.

    [8], [9] Annett Meiritz: „Der Rückhalt des Westens für die Ukraine wird abnehmen“. handelsblatt.com 15.06.2023.


    Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9279


    unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

    26.06.2023

    Kommunalpolitik Nur AfD ist zufrieden: Parteien, Kirche und Verbände enttäuscht von Sonneberg-Wahl

    mdr.de, Stand: 26. Juni 2023, 06:44 Uhr, von MDR THÜRINGEN

    Während die Thüringer AfD auf weitere Wahlerfolge hofft, sieht die CDU die Gründe für ihr Scheitern bei der Bundesregierung. Die Grünen kritisieren die Sonneberger, die die AfD gewählt haben. Innenminister Maier (SPD) schlägt vor, die AfD viel mehr als bisher bei Sachthemen zu stellen. Bei den Kommunalwahlen 2024 hält der Jenaer Politologe Oppelland ein starkes AfD-Ergebnis für denkbar. Die Jüdische Landesgemeinde weist darauf hin, dass die AfD keine normale demokratische Partei sei.


    Robert Sesselmann ist nach seinem Wahlsieg der erste Landrat der AfD in Deutschland. In Thüringen gibt es darauf unterschiedliche Reaktionen. Bildrechte: IMAGO/Jacob Schröter (Bild)


    Auf dieser Seite:


    Die Reaktionen auf die Wahl des ersten AfD-Landrates in Deutschland im Kreis Sonneberg fallen unterschiedlich aus.


    AfD-Chef Höcke: Sonneberg als "politisches Wetterleuchten"

    Thüringens AfD-Chef Björn Höcke sieht im Wahlsieg des AfD-Politikers Robert Sesselmann den Auftakt für mehr Erfolge bei Kommunal- und Landtagswahlen. Höcke sagte am Sonntag bei der AfD-Wahlparty, von Sonneberg gehe ein "politisches Wetterleuchten" aus. Die AfD wolle diesen Schwung mitnehmen für die kommenden Landratswahlen. "Und dann bereiten wir uns für die Landtagswahlen im Osten vor, wo wir dann wirklich ein politisches Erdbeben erzeugen können." Kommendes Jahr werden die Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. Zuletzt lag die Thüringer AfD in Umfragen auf Platz eins. Die Thüringer AfD warf den anderen Parteien undemokratisches Handeln.


    Thüringens AfD-Chef Björn Höcke spricht von einem "politischen Wetterleuchten". Bildrechte: dpa


    CDU: Lösungen gegen Art des Protests aus Berlin finden

    Für die Thüringer CDU erklärt der Thüringer Generalsekretär Christian Herrgott, dass der amtierende Landrat und CDU-Kandidat "Jürgen Köpper als erfahrener und ehrlicher Arbeiter den Landkreis Sonneberg auf Kurs gehalten hätte, statt ihn in eine unsichere Zukunft zu führen." Herrgott fordert nun, dass "jetzt wir alle Lösungen gegen diese Art des Protestes gegen Berlin finden."
     

    Wahlverlierer Jürgen Köpper (links) neben CDU-Generalsekretär Christian Herrgott Bildrechte: MDR/Sina Reeder


    Coburger Nachbar-Landrat: Nicht hilfreich für weitere Zusammenarbeit

    Perspektivisch sei die Wahl eines AfD-Landrates im Sonneberger Landkreis erst einmal nicht hilfreich für die weitere Zusammenarbeit, sagt der Coburger Landrat Sebastian Straubel (CSU) nach der Wahl. Eine Prognose zur weiteren Zusammenarbeit verbiete sich erst einmal für ihn. "Das Ergebnis nehme ich als Landrat des Nachbar-Landkreises zur Kenntnis", erklärt Straubel. Außergewöhnlich sei gewesen, dass bundespolitische Themen eine so große Rolle im Wahlkampf gespielt hätten, jedoch nicht regionale Themen, die die Kommunalpolitik ja ausmachten. Gerade auf regionaler Ebene sei in den vergangenen Jahren viel auf den Weg gebracht worden. Als Beispiel nannte er das "erfolgreiche Tourismusmarketing im Verein Coburg-Rennsteig".

    Ministerpräsident Ramelow: Sonneberger wollten Signal geben Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken sagte angesichts des Wahlsieges des AfD-Landratskandidaten am Sonntagabend in der ZDF-Sendung "Berlin direkt", die Sonneberger hätten sich entschieden, ein Signal zu geben. Auch Ramelow verweist darauf, dass Sesselmann allein mit Themen Wahlkampf gemacht habe, die nichts mit Kommunalpolitik zu tun hätten. Als Wahlbeamter sei es jedoch seine Aufgabe eine Kommunalverwaltung zu führen. Zur gemeinsamen Wahlempfehlung über die Parteigrenzen hinweg, sagte Ramelow, dass er nicht ausschließen könne, das mancher das als Bevormundung empfindet. Der Linken-Politiker erklärt dabei, dass die Landratswahl im Kreis Sonneberg eine demokratische Landratswahl gewesen sei. Ramelow hält es für notwendig, dass die Parteien "die Ostdeutschen mitnehmen, statt über sie zu reden".

    SPD-Innenminister: Sachpolitik statt Geheimdienstbeobachtung Der Ausgang der Landratswahl in Sonneberg zeigt für Thüringens Innenminister und SPD-Chef Georg Maier, dass weder Wahlaufrufe gegen die AfD noch deren Beobachtung durch den Verfassungsschutz Menschen davon abhielten, diese Partei zu wählen. Konkrete Sachpolitik sei das Mittel, um die AfD zu bekämpfen. Maier appellierte an die rot-rot-grüne Koalition und die CDU in Thüringen, "einen Modus zu finden, um die politische Selbstlähmung des Landtages zu überwinden".

    Wesentlich dabei sei, dass bei allen Plänen zur Bewältigung von Krisen auch eine soziale Abfederung mitgedacht werde - wie etwa beim umstrittenen Heizungsgesetz von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) oder auch, wenn es um das Aus für Verbrenner-Motoren gehe. Wer auf dem Land lebe, habe derzeit oft keine reale Chance, auf seinen Verbrenner zu verzichten und den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, sagt Maier. "Wir haben da wirklich eine Überforderung vieler Menschen gehabt."

    Gleichzeitig kritisierte Maier den Präsidenten des Gemeinde- und Städtebundes Thüringen, Michael Brychcy (CDU), der sich offen für eine Zusammenarbeit mit AfD-Vertretern auf kommunaler Ebene gezeigt hatte. "Manche haben der AfD ja den Teppich ausgerollt", sagt Maier mit Verweis auf Brychcy. "Was soll das?"

    Für die nächsten Monate erwarte Maier, dass Sesselmann als neuer Landrat versuchen werde, "Sand ins Getriebe zu streuen". An vielen Stellen seien Landräte zwar nur ein ausführendes Organ von politischen Entscheidungen an anderer Stelle. Etwa bei der Jugendpolitik in ihrem Landkreis könnten sie aber durchaus versuchen, zum Beispiel Migranten schlechter zu stellen als Nicht-Migranten.


    Georg Maier (SPD), Thüringer Innenminister, spricht sich für eine neue Strategie im Umgang mit der AfD aus. Bildrechte: dpa

    Grünen-Landeschef: "Bewusst für 'rechtsextremes' Original entschieden"

    Obwohl sich die Wahl von Sesselmann als neuer Landrates im Kreis Sonneberg abgezeichnet habe, "lässt mich das Ergebnis fassungslos zurück", sagt Ann-Sophie Bohm, eine der beiden Landesvorsitzenden der Grünen in Thüringen. Die Mehrheit der Wähler im Kreis Sonneberg hätte damit das Amt des Landrates "in die Hände einer Partei gelegt, deren politische Agenda die gesellschaftliche Spaltung ist", erklärt sie weiter.

    Der Grünen-Co-Vorsitzende Max Reschke erklärt, dass "wir uns trotz aller inhaltlichen Differenzen hinter den CDU-Kandidaten gestellt" hätten, doch dies habe nicht gereicht. Teile der Bevölkerung im Kreis Sonneberg hätten sich "bewusst für das 'rechtsextreme' Original entschieden". Der AfD-Kandidat Sesselmann habe keinen einzigen praktikablen Vorschlag für die Lösung der Probleme des Landkreises. Bedenklich sei stattdessen, dass er nur mit dem Schüren von Stimmungen und Ängsten so viel Zuspruch erfahren habe.

    FDP-Chef Kemmerich: Kein politisches Konzept erkennbar

    Thomas Kemmerich als Vorsitzender der FDP im Thüringer Landtag erklärte, dass "niemand in Thüringen ein politisches Amt übernehmen sollte, der kein erkennbar positives Konzept für die Zukunft unseres Landes hat." Es müssten gute Lösungen für Probleme gefunden werden, "deren Bestehen für den Höhenflug extremer Kräfte sorgt."

    Die Jungen Liberalen, die FDP-Nachwuchsorganisation, äußern sich deutlicher als Kemmerich. Sie blicken in einer Stellungnahme mit höchster Sorge auf das Wahlergebnis: Demokratische Grundwerte und friedliches Miteinander seien in Gefahr. Landesvorsitzender Christopher Hubrich sieht die AfD "nicht nur als eine politische Gefahr, sondern auch als ökonomischen Albtraum für Ostdeutschland." Jede Stimme für die AfD sei ein direkter Angriff auf den Zusammenhalt und setze die wirtschaftliche Zukunft der Region aufs Spiel.

    Politikwissenschaftler: Starke Ergebnisse für AfD auch kommendes Jahr möglich

    Der Jenaer Politikwissenschaftler Torsten Oppelland hält auch bei den Thüringer Kommunalwahlen im kommenden Jahr ein starkes AfD-Ergebnis für möglich. Ganz auszuschließen sei das nicht, sagte Oppelland nach der Landratswahl in Sonneberg MDR THÜRINGEN. Die etablierten Parteien hätten das Signal aus Sonneberg sicher verstanden, könnten ihre Politik aber auch nicht komplett ändern.

    Die Probleme blieben für alle bestehen, die Wähler müssten mitgenommen werden. Das sei vor allem bei den großen bundespolitischen Themen wichtig, die auf regionaler Ebene für Wellen schlagen. Neben dem Heizungsgesetz sei das die Frage der medizinischen Versorgung, sagte Oppelland mit Verweis auf das Krankenhausgesetz, das derzeit diskutiert wird.


    Jenaer Politikwissenschaftler Torsten Oppelland Bildrechte: dpa

    Oppelland sagte, auf kommunaler Ebene müsse man mit der AfD in irgendeiner Weise zusammenarbeiten, eine reine Blockade und Verweigerung im Kreistag sei "sicher nicht sinnvoll". Das bedeute aber keine politische Zusammenarbeit. Das Prinzip der etablierten Parteien, politische Bündnisse mit der AfD zu verweigern, könne man aufrechterhalten, so der Politologe.

    Evangelische Bischöfin: Sonneberger nach Wahl nicht in politische Ecke stellen Die Regionalbischöfin Friederike Spengler von der evangelischen Kirche in Mitteldeutschland hat nach eigenen Angaben bis zum Schluss gehofft, dass es ein anderes Wahlergebnis gibt. "Aber es gehört zur Demokratie, dass Wahlergebnis anzuerkennen. Das muss ich akzeptieren", sagt die für Südthüringen zuständige evangelische Bischöfin MDR THÜRINGEN. Sie verweist darauf, dass laut Studien drei Viertel der Menschen die AfD aus Protest gewählt hätten. Sie warnt zugleich davor, die Sonneberger in eine politische Ecke zu stellen. Die Menschen hätten eine Art Wut gespürt, ein Gefühl, dass sie nicht mehr gehört würden und nicht mehr an demokratischen Prozessen beteiligt seien. "Weitere Sonntagsreden helfen da nicht". Stattdessen werde ein öffentlicher Diskurs benötigt, vor allem muss man sich "gegenseitig ausreden lassen." Das einzig Gute an dem Wahlabend sei die hohe Wahlbeteiligung gewesen, sagt Spengler, die zuvor auch einen Aufruf, zur Wahl zu gehen, mitgetragen hatte.

    Jüdische Landesgemeinde: Erschreckendes Ergebnis

    Den Vorsitzenden der jüdischen Landesgemeinde in Thüringen, Reinhard Schramm, macht das Wahlergebnis "zutiefst traurig". Die Wahl des AfD-Landrates sei für ihn erschreckend, sagte er MDR THÜRINGEN. Wer in Thüringen die AfD mit einem Björn Höcke an der Spitze wähle, weiß, wem er die Stimme gebe. "Wo soll das noch hinführen?", fragte er mit Blick darauf, dass der Nationalsozialismus und dessen Verbrechen relativiert würden. Die AfD sei keine normale demokratische Partei. Er habe Angst davor, was noch kommen könnte, sagte Schramm. "Demokratische Parteien und Organisationen sind nun aufgefordert, die Stärken der Demokratie zu vermitteln", sagt er weiter.


    Reinhard Schramm von der Jüdischen Landesgemeinde hat Angst davor, was nach dem AfD-Sieg in Sonneberg noch kommen könnte. Bildrechte: dpa

    Stiftung Gedenkstätten: Ausgang der Landratswahl ist "Schande"

    Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, hat den Ausgang der Landratswahl als "Schande" bezeichnet. Zwar seien nicht alle, die bei dieser Wahl für den AfD-Kandidaten Robert Sesselmann gestimmt hätten, Rechtsextreme und Rassisten, schrieb Wagner auf Twitter. Aber jeder AfD-Wähler habe "wissentlich für eine Partei gestimmt, zu deren Kern Rassismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit gehören".

    DGB begrüßt gemeinsamen Wahlaufruf

    Der Deutsche Gewerkschaftsbund Hessen Thüringen (DGB) sieht es als wichtiges Zeichen an, dass vor der Stichwahl alle demokratischen Parteien "an einem Strang gezogen haben". Jetzt müsse dafür gesorgt werden, "dass zwischen den demokratischen Fraktionen kein politischer Stillstand entsteht", sagt Michael Rudolph als Vorsitzender der Gewerkschaft. Das Prinzip der Spaltung und der Ausgrenzung dürfe nicht die Oberhand in der Politik gewinnen. Der DGB forderte, dass im Sonneberger Kreistag die demokratischen Fraktionen daran arbeiten, eine soziale und inklusive Politik voranzutreiben.

    CDU-Politiker aus Sachsen-Anhalt warnen vor Radikalisierung

    Auch in Sachsen-Anhalt gab es Reaktionen auf die Wahl in Südthüringen. So zeigte sich der Vorsitzende des Landkreistages von Sachsen-Anhalt, Götz Ulrich (CDU), beunruhigt. Ulrich sagte dem MDR am Montag, man sehe eine ähnliche Entwicklung mindestens in Mitteldeutschland, wahrscheinlich auch in ganz Ostdeutschland. Das mache ihm Sorge.

    Auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) zeigte sich betroffen. Haseloff warnte einerseits vor zu schnellen Bewertungen. Andererseits müsse man sich angesichts der Wahlbeteiligung von etwa 60 Prozent fragen, was jetzt im gesamten politischen Bereich zu diskutieren und auch zu besprechen sei: "Dafür müssen wir uns jetzt auch wirklich die Zeit nehmen in den nächsten Tagen und Wochen, darüber im demokratischen Spektrum auch eine klare Vereinbarung zu treffen, dass wir diesen radikalen Tendenzen entsprechend auch entgegenwirken können."

    Hinweis aus der Redaktion: User-Kommentare sind unter diesem Beitrag zur Wahl in Sonneberg möglich.


    Info: (https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/landrat-afd-sesselmann-reaktionen-100.html#sprung1)




    Weiteres:




    Reaktionen auf AfD-Sieg : Schuld sind vor allem die Anderen


     
    faz.net, Aktualisiert am 26.06.2023-21:42, Von Eckart Lohse, Berlin


    AfD in Feierstimmung: Wahlsieger Robert Sesselmann zwischen Landeschef Björn Höcke und Bundeschef Tino Chrupalla Bild: Robert Gommlich (Bild)


    Wer ist verantwortlich für die Wahl Robert Sesselmanns zum Landrat? Die Union gibt der Ampel die Schuld, die Grünen machen der CDU Vorwürfe. Und die Linke teilt in beide Richtungen aus.


    Die Linkspartei hat ihre Beinfreiheit am Montag ausgiebig genutzt. Da sie weder Mitglied der Ampelkoalition ist noch Rücksicht auf die CDU nehmen muss, hat sie gleich zwei Schuldige benannt dafür, dass im thüringischen Sonneberg am Sonntag erstmals in Deutschland ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt worden ist. „Zuallererst“ habe es eine „sehr große Unzufriedenheit mit der Politik der Bundesregierung“ gegeben, sagte der Linke-Vorsitzende Martin Schirdewan im ZDF. Als Beispiel nannte er das Gebäudeenergiegesetz, das die Ampel gerade in einem zweiten parlamentarischen Anlauf fertigzustellen versucht.


    Eckart Lohse Leiter der Parlamentsredaktion in Berlin. (Bild)


    Zudem gebe es aber ein „Riesenproblem“ mit dem Verhalten von CDU und CSU „und auch der FDP teilweise“, weil diese der „AfD den roten Teppich manchmal ausrollen“. Nämlich, so fuhr Schirdewan fort, indem sie „ihre Sprüche übernehmen, indem sie ihre Politik übernehmen, beim Klimawandel zum Beispiel, bei der Migrationspolitik oder auch in Fragen gendergerechter Sprache“.

    Damit waren so viele Gründe und Verantwortliche für die Entscheidung der Wähler in Sonneberg genannt, dass der Erkenntnisgewinn gering blieb. Warum die vor allem im Osten verankerte Partei Die Linke es nicht geschafft hat, den enormen Zulauf zur AfD zu verhindern, wurde jedenfalls nicht beantwortet.


    SPD zeigt zumindest Spuren von Selbstkritik

    Überraschender äußerte sich die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Sie teilte nicht nur gegen die Konkurrenz aus, sondern ließ zumindest Spuren von Selbstkritik erkennen. Die Politik der Ampel sei in letzter Zeit „nicht nur schlecht erklärt, sondern auch schlecht organisiert“ gewesen. Allerdings ließ Esken auch die Union nicht ungeschoren davonkommen und forderte sie auf, zu einer „konstruktiven Oppositionspolitik zurückzukehren“. Die SPD-Chefin bestritt, dass es sich bei der Wahl des AfD-Landrats um „eine reine Ostproblematik“ handele.


    Die Union verortete die Verantwortung für die Wahl Robert Sesselmanns vor allem bei der Ampel. „In Sonneberg hat die beispiellose Unzufriedenheit mit der Bundespolitik sich ein Ventil gesucht und gefunden“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), der F.A.Z. Mit Blick auf das Bemühen der anderen Parteien, gemeinsam die Wahl des AfD-Bewerbers zu verhindern, äußerte er, auch ein „aus der Not geborener kurzfristiger überparteilicher Schulterschluss“ habe die Auswirkungen der Unzufriedenheit nicht mehr eindämmen können und eher eine Abwehrreaktion hervorgerufen. Wer bislang geglaubt habe, „der Wähler werde es schon nicht wagen, ist spätestens am Sonntagabend unsanft von der Realität eingeholt worden“.


    Als Rezept empfahl Frei, die unterschiedlichen politischen Konzepte und Alternativen „klar konturiert“ herauszuarbeiten. Nur so werde man der AfD erfolgreich begegnen können. „Es wäre falsch, bestimmte Themen nicht anzusprechen, nur weil sie auch von der AfD thematisiert werden.“ Die Politik müsse „von den Bürgern her denken und überzeugende Lösungen für die Herausforderungen anbieten, die sich aus ihrer Sicht stellen“, äußerte Frei.


    „Die Bundesregierung spaltet das Land“

    Ähnlich eindeutig wie er wies auch CDU-Generalsekretär Mario Czaja die Verantwortung für den Wahlausgang der Ampelkoalition zu. Die AfD habe im Wahlkampf in Sonneberg viele bundespolitische Themen bearbeitet, sagte Czaja dem Fernsehsender Phoenix. „Die Bundesregierung spaltet das Land. Sie hat zu viele Themen und Vorschläge, die im Land nicht auf Konsens stoßen.“

    Nur selten führte die Suche nach den Ursachen des AfD-Sieges am Tag danach weiter als bis zum kurzatmigen Parteienstreit. Für einen Moment ließ Czaja den Blick auf die Vorgänge etwas grundsätzlicher werden. In Ostdeutschland würden bundespolitische Themen schon immer eine große Rolle spielen, sagte der CDU-Generalsekretär, der zumindest insofern aus Erfahrung sprechen kann, als er die DDR noch als Jugendlicher erlebt hat. Die Menschen dort hätten bereits mehr Veränderung erlebt als die Bürger in den westlichen Bundesländern. Dieser Veränderungsdruck führe dazu, dass es im Osten ein besonderes Augenmerk dafür gebe, ob in Berlin alles gerecht zugehe und Maß und Mitte gewahrt würden.

    Die zu den Grünen gehörende Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, die wie Czaja in der DDR aufwuchs, schaltete im „Tagesspiegel“ auf Parteienkampf. Wenn Teile der Union „einen Kulturkampf“ ausriefen, müsse man sich nicht wundern, wenn dieser Kampf „von rechts“ angenommen werde.

    Quelle: F.A.Z.


    Info: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/reaktionen-auf-afd-sieg-schuld-sind-vor-allem-die-anderen-18991860.html

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