jungewelt.de, 25. 03. 2022, von Helmut Donat
Der Angriff auf die Ukraine hat zu einem Aufschwung der Russophobie geführt. Ein offener Brief
Lieber Freund, Historikerkollege und Kontrahent,
besten Dank für Deine Antwort auf das Dir zugesandte Interview, das der Militärhistoriker Wolfram Wette unter dem Titel »Dieser Krieg hätte man verhindern können!« der Stuttgarter Zeitung Kontext gegeben hat. Vornehmlich gilt Deine Kritik aber den von mir hinzugefügten Darlegungen. Ich will mich dazu im folgenden äußern.
An den Anfang Deiner Kritik stellst Du meine Frage: »Was hat der Westen, haben die USA, die EU, die Franzosen, Briten und Deutschen getan, um der russischen Seite ihre Angst zu nehmen?« Das ist in der Tat eine zentrale Frage. Warum? Die gegenwärtige Einschätzung der russischen Politik wird vielfach kontrovers diskutiert. Die einen sagen: Das von Russland beanspruchte sicherheitspolitische Interesse stelle nur einen ideologischen Vorwand für Eroberungsabsichten dar; die anderen warnen: Es ist nachvollziehbar, dass Russland sich bedroht fühlt und seine Politik darauf stützt, nicht noch mehr ins Hintertreffen zu geraten. Welche Meinung man dazu einnimmt, davon hängt alles andere ab.
Reicht es aus zu sagen, wie Du es tust, die NATO-Osterweiterung sei »sehr bedauerlich« – und damit hat es sich. Oder muss man fragen, wie ist es dazu gekommen und aus welchen Gründen? Wer hat die NATO-Osterweiterung bewusst forciert? Wie hat Russland darauf reagiert angesichts der immer kürzeren Entfernung von Waffensystemen, die an sein Territorium grenzen und es damit in eine prekäre und militärisch verwundbare Lage bringen?
Nationale Einheitsfront
Du gehst in das Jahr 1939 zurück, erwähnst den Hitler-Stalin-Pakt, das Massaker von Katyn, den Warschauer Aufstand 1944 – und das Ganze kulminiert dann in der Behauptung, es handele sich, so Deine Worte, im Jahre 2022 um einen »imperialistischen Angriffskrieg, der an die Großmachtfantasien vorheriger Generationen (Zar, Stalin) anknüpft.« Schließlich berufst Du Dich auf die Unterdrückung der Polen, Bulgaren, Ungarn etc. nach 1945 durch die Sowjets. Aber entspricht das alles so, wie Du es darstellst, der Realität? Ist Deine Zar, Stalin und Putin-Kontinuitätslinie wirklich haltbar? Meines Erachtens schwimmst Du mit solchen Erzählungen in jener deutschen »nationalen Einheitsfront«, die den Russen eine geradezu weltgeschichtliche Verantwortung aufbürdet und deren Charakteristikum es ist, dass die eigene Schuld nicht einmal am Rande vermerkt wird. Damit geht eine Gleichschaltung des Denkens einher, die wie 1914 und 1923 (Ruhrkampf) offenbar bestens funktioniert.
Zur Erläuterung meines Standpunktes und zu Deiner Kritik daran möchte ich den Blick auf einen Umstand richten, der sich mir seit langem aufdrängt. Wie in den Debatten um die Schuld am Ersten Weltkrieg (2014), die Bedeutung des Versailler Vertrags (2019) und die Reichsgründung von 1870/71 (2020) findet auch die Auseinandersetzung mit den historischen Grundlagen der deutsch-russischen Politik statt, ohne sich dabei die Haltung all jener vor Augen zu führen, die den landläufigen Interpretationen widersprochen haben. Statt sie als wichtigen und zugehörigen Teil der Geschichte zu begreifen, werden ihre Vertreter ignoriert. Der historisch-politische Diskurs darüber, warum die deutsche Geschichte einen so überaus unglücklichen und grauenerregenden Verlauf genommen hat, findet ohne sie statt – als hätten sie gar nicht existiert. Dabei verkörpern sie die besten Traditionen der jüngeren deutschen Geschichte. Welche Folgen dies für das Denken, selbst für kritische Geister wie Dich hat, liegt auf der Hand. Was Dir an Erkenntnissen entzogen ist und ähnlich Betroffene nicht einmal merken, dürfte eine Rolle dabei spielen, warum Du so und nicht anders argumentierst. Ich will versuchen, es im folgenden näher zu erklären. Dabei orientiere ich mich an den Gedanken des Pazifisten Friedrich Willhelm Foersters und seines Umfelds. Sie alle haben gründlich und lange über die Ursachen und Folgen der Gewalt im 20. Jahrhundert und der beiden Weltkriege nachgedacht.
Der Philosoph und Pädagoge Foerster ragt dabei heraus. Nach meiner Einschätzung war er die bedeutendste Gestalt im Kampf gegen den Nationalismus und Militarismus in Deutschland im 20. Jahrhundert. Er hat seinem Volk und insbesondere den herrschenden Kreisen ihre politischen Fehlleistungen vor Augen geführt, ist deshalb nach 1918 als »übelstes Stinkgewächs am Giftbaum des deutschen Pazifismus« verunglimpft sowie nach 1945 zum »blinden Hasser« erklärt worden. Dabei ist er – im Unterschied zu seinen Kontrahenten und Feinden – nie unter die Gürtellinie gegangen. Er hat ihnen reinen Wein eingeschenkt, aber statt von ihm zu kosten, warfen sie gleich das erste Glas an die Wand.
Im Jahre 1928 sagte Foerster den Zweiten Weltkrieg, ausgehend von deutschem Boden mit einem Überfall auf Polen, für 1938 voraus. Hätte man seine Warnungen ernst genommen, die Geschichte wäre anders verlaufen. Dass er heute weitgehend unbekannt ist, liegt daran, dass er die Schuld der Täter, Mitverantwortlichen und Mitläufer angeprangert hat. Der Historiker Gerhard Ritter, Berater der Evangelischen Kirche in historischen Fragen nach 1945, machte ihn zum »Vansittartisten« (nach dem britischen Diplomaten Robert G. Vansittart, der von einem kriegerischen und reaktionären Nationalcharakter der Deutschen ausging, jW) und hatte großen Anteil daran, dass Foerster mit dem Makel einer »Persona non grata« versehen wurde.
Wie weit das ging und wie es funktionierte, habe ich zu Beginn meines Studiums der Geschichte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erfahren. In einem Seminar über die »Wilhelminische Ära« warnte die Professorin bei der Vorstellung der Literaturliste vor dem Schweizer Historiker Erich Eyck und dessen Biographien über Bismarck und Wilhelm II. Ihr Vorbehalt: Es handele sich um Werke liberaler Geschichtsauffassung. Auf meine Bitte, doch auch die anderen Bücher kurz zu charakterisieren, antwortete sie, diese gehörten mehr einer konservativen Sichtweise an. Erst viel später stellte ich fest, dass Eyck im zweiten Band seiner »Geschichte der Weimarer Republik« geschrieben hat: »Wer wird Foerster heute noch beschuldigen, hinsichtlich seiner Warnungen vor der aufsteigenden Drohung eines deutschen Revanchekrieges habe er zu schwarz gesehen oder übertrieben?« Der Professorin passte ganz einfach die Richtung nicht.
In Gegensatz zu der Verächtlichmachung Foersters und des breit angelegten, weitgehend gelungenen Versuchs der Unkenntlichmachung seiner Person und Haltung steht sein internationaler Ruf. So hat etwa der französische Botschafter André Francois-Poncet ihn mit folgenden Worten gewürdigt: »Friedrich Wilhelm Foerster war für uns der Typ des Ehrenmannes, des Denkers ohne Furcht und Tadel, die Verkörperung der höchsten moralischen Größe. Dass er selbst in den schlimmsten Momenten ein Pionier der deutsch-französischen Verständigung war, werde ich nie vergessen.«
Wie weit und nachhaltig die Deutschen im allgemeinen abgeschnitten sind von den wesentlichen und fundamentalen Geschichtstatsachen und Zusammenhängen, ist vielen nicht bewusst. Welche Folgen das unter anderem mit sich gebracht hat und noch immer mit sich bringt, ist nicht schwer zu begreifen. Viele Diskussionen und Debatten würden anders verlaufen. Ich bin geneigt zu sagen: Wären Dir die Darlegungen Foersters bekannt oder geläufig gewesen, hättest Du vielleicht anders reagiert oder Stellung bezogen.
Nationalismus und Militarismus
Ich sehe die zentrale historische Schuld für die kriegerische Entwicklung im 20. Jahrhundert im Nationalismus und Militarismus preußischer Provenienz. Die Westslawen orientierte sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere an der deutschen Kultur. Statt den westslawischen Völkern entgegenzukommen, sind sie durch eine völlig reaktionäre Politik in das panslawistische Lager geradezu hineingestoßen worden. Österreich-Ungarn lehnte es ab, von den Deutschen dazu ermuntert und bedrückt, sich mit den Serben auf der Basis einer föderalistischen Lösung zu versöhnen. Damit war die Idee einer übernationalen Staatengemeinschaft der Donauvölker zunichte gemacht. Daraus erwuchsen die zunehmenden Schwierigkeiten und Spannungen, ohne die der Erste und Zweite Weltkrieg nicht vorstellbar sind, zumal Russland keinen Anlass und keine Macht gehabt hätte, jemals weit nach Europa vorzudringen, wie später geschehen. Der »Cordon sanitaire«, der nach 1918 den Bolschewismus von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zurückgehalten hat, ist infolge des von Hitler und seinen Generälen vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört worden.
Der Panslawismus hat die meisten Tschechen, Serben, Russen etc. zunächst wenig berührt; sie identifizierten ihn – anders als den Pangermanismus der Alldeutschen – mit Frieden und Fortschritt. In Russland waren die leitenden Kreise keineswegs aggressiv-panslawistisch gesinnt bzw. ausgerichtet. Zar Nikolaus II. hat 1899 die erste Haager Friedenskonferenz initiiert. Die Vorgeschichte seines Vorschlags offenbart, dass es vor allem das Grauen vor allen Folgen eines Weltkrieges war, welches angesichts der sich zuspitzenden europäischen Südost-Wirren weiterblickende russische Persönlichkeiten veranlasste, die Lösung der damit verbundenen riesigen Probleme nicht allein vom Standpunkt der bestehenden großen Nationalstaaten anzustreben.
Deutschland, Österreich-Ungarn und die in seinem Gefolge mitziehenden Staaten verschlossen sich dem russischen Versuch einer europäischen Behandlung der brennenden Frage und setzten weiter auf die Option Krieg und den alten anarchischen Weg. Trotz der Misserfolge der ersten Haager Konferenz (1899), der Nachwirkungen der Niederlage im russisch-japanischen Krieg und der revolutionären Ereignisse (beides 1905) hielt das Zarenreich an friedlichen Methoden fest, während die österreichisch-ungarische Politik Russlands Schwäche benutzte und Bosnien und Herzegowina annektierte. Selbst als infolge des ungarischen Einflusses 1912 das Drängen Russland auf einen Hafen für Serbien durch die Drohung mit der deutschen »Nibelungentreue« folgenlos blieb, hat sich Russland weder aggressiv noch brutal verhalten. Es ist also falsch bzw. sehr fragwürdig, sich das damalige russische Riesenreich als eine große, kriegerisch gestimmte Masse oder Einheit vorzustellen, darauf aus seiend, die Donaumonarchie zu zerstückeln. Der in den Jahren vor 1914, vor allem in SPD-Kreisen vorgetragene und verbreitete Slogan von der »zaristischen Knute« und der »russischen Dampfwalze« ist ebenfalls nicht haltbar. Selbstverständlich haben auch die Russen eine Reihe von machtpolitischen Forderungen etc. erhoben, aber die Regierungskreise strebten keinen Angriffskrieg an oder wünschten ihn herbei, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Das zeigte sich auch in der Julikrise 1914, als das Zarenreich (ebenso wie Frankreich und Großbritannien) enormen Druck auf Serbien ausübte und es dazu brachte, das österreich-ungarische Ultimatum vom 23. Juli 1914 weitgehend anzunehmen und den Konflikt auf einer internationalen Konferenz zu behandeln und friedlich-schiedlich beizulegen. Mit einer solchen Reaktion Serbiens hatte niemand gerechnet. Selbst Wilhelm II. schrieb in seinen Randbemerkungen: »Damit fällt jeder Kriegsgrund weg!« Aber der preußisch-deutsche Generalstab drängte weiter auf den Krieg und machte ihn im Verein mit der politischen Führung unausweichlich. Fortan hat Russland Europa gegen den Versuch des Kaiserreichs verteidigt, den Kontinent unter seinen Marschstiefel zu zwingen.
Die hier vorgetragenen Erörterungen und Einsichten sind Ergebnis einer grundlegenden Befassung mit der Haltung Russlands vor 1914 und insofern legitim, auch wenn Historiker wie Christopher Clark, Herfried Münkler usw., welche die These von der Unschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg vertreten, das Gegenteil behaupten.
Achse Berlin–Moskau
Die bolschewistische Revolution ist von der deutschen politischen und militärischen Führung unterstützt, begrüßt und mit erheblichen Mitteln gefördert worden. Deutschland trägt also eine Mitverantwortung an den Umwälzungen in Russland, und ohne die deutsche Hilfe hätten die Bolschewiki nicht über die Menschewiki siegen können. Seither spricht man von der »Achse Moskau–Berlin«. Schon die Einmischung russischer Emissäre in den Verlauf der Novemberrevolution 1918 hat objektiv dem Machterhalt der Militärs genutzt und ihn begünstigt. Erinnert sei auch an das Treffen von Karl Radek mit Hans von Seeckt, Chef der Reichswehr, im Jahr 1923, bei dem es im sogenannten »Ruhrkampf« um ein Bündnis von Reichswehr und KPD gegen Frankreich und Belgien ging. Später folgte eine militärisch-technische Zusammenarbeit von Roter Armee und Reichswehr mit Truppenübungsplätzen in der Sowjetunion nebst Beihilfe zur deutschen Aufrüstung. Die Eintracht von deutschen Militärs und Teilen der Rechten mit der Sowjetunion richtete sich gegen die westlichen Demokratien und die von ihnen vertretenen Errungenschaften der Ideen von 1789. In dieser Tradition steht der Hitler-Stalin-Pakt, wie man u. a. bei John Wheeler-Bennett (»Nemesis der Macht – Die deutsche Armee in der Politik 1918–1945«) nachlesen kann, und er hat nichts mit einer wie immer gearteten Eroberungspolitik zu tun, die vom Zarenreich bis ins Jahr 1939 oder bis hin zu Putin reicht.
Du schreibst, ich glaubte, »dass sicherheitspolitische Gründe Russland dazu bewogen haben, Polen, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und die Tschechoslowakei zu besetzen. Selbst wenn dem so sein sollte, warum geht es nur um Russland? Wer hat die Bevölkerung der eben erwähnten Staaten gefragt, ob sie von Russland beherrscht werden wollen? Spätestens mit den Aufständen von 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei war klar, dass der Freiheitsgedanke in diesen Staaten mit Füßen getreten und von der Sowjetunion brutal unterdrückt wurde. Es ging der Sowjetunion nicht vorrangig um Sicherheit, sondern um Hegemonie, Herrschaft und Einfluss zur Etablierung eines durch und durch antidemokratischen und autokratischen Systems.« Erneut drängt sich mir der Eindruck auf, dass Du Dich im Fahrwasser einer sich neuerlich durchsetzenden Russophobie bewegst, sind doch die Dinge meines Erachtens komplizierter, als von Dir dargelegt.
Zunächst: Wem haben die russischen Randstaaten ihr Los zu verdanken? Wohl doch in erster Linie Deutschland. Während das Kaiserreich Geburtshilfe bei dem Sturz des Zarenreiches und der Errichtung der Sowjetunion leistete, öffnete Hitler im Ergebnis Stalin die Tür nach Europa. Sowohl Rumänien als auch Bulgarien sind in beiden Weltkriegen Aufmarschgebiete gegen Russland gewesen. Ebenso hat Ungarn in beiden Kriegen auf der Seite Deutschlands gestanden, ist mit den deutschen Armeen in Russland eingebrochen und hat an allem teilgenommen, was die Deutschen über Russland verhängt haben. Pal Graf Teleki von Szek, der sich als ungarischer Außenminister für Neutralität einsetzte, sah die Folgen des Mitmachens seines Landes voraus, protestierte vergeblich dagegen und nahm sich am 3. April 1941 das Leben. Das Ausmaß des über Ungarn und Rumänien geführten Stoßes gegen Russland war ungeheuerlich; die russische Front wurde bis zur Wolga aufgerollt. Der Krieg hat unermessliches Leid über das russische Volk gebracht. Wie hätte Moskau das vergessen können? Ungarns Besetzung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Russlands Antwort auf die Teilnahme Ungarns an zwei deutschen Kriegen. Was glaubst Du, hätte Deutschland getan, wäre es Russland gewesen, das im Verein mit seinen Randstaaten den Versuch unternommen hätte, Westeuropa zu überrennen und fünf Jahre lang das gesamte deutsche Sprachgebiet zu besetzen und zu verwüsten? Muss nicht derjenige, welcher den riesigen und größenwahnsinnigen Versuch der Welteroberung unternimmt und ein großes Volk und Land dabei an den Rand der Vernichtung bringt, damit rechnen, dass ein solcher Versuch furchtbare Konsequenzen nach sich zieht, die sodann unzählige Unschuldige treffen? Wer das bei seiner Lageeinschätzung nicht berücksichtigen will, als was soll man ihn bezeichnen?
Alles nur ein Trick?
Es steht außer Frage, dass die Sowjets die ungarische Revolte von 1956 mit unerhörter Grausamkeit niedergeschlagen und unterdrückt haben, weshalb sie von der öffentlichen Meinung in der Welt auch geächtet worden sind. Und man könnte noch viele weitere Schandtaten anführen. Reicht der Blick darauf aber aus, um von einer durchgehenden russischen imperialistischen Linie »Zar, Stalin, Putin« sprechen zu können und den Russen von heute zu unterstellen, sie hätten nichts anderes – wie Du es ausdrückst – als einen »imperialistischen Angriffskrieg« im Sinn, der den »Großmachtphantasien vorheriger Generationen« erneut Bahn brechen soll? Bist Du Dir im klaren darüber, was Du damit vor dem Hintergrund der Geschichte, der Ursachen und Folgen des Ersten wie Zweiten Weltkrieges sagst? Redest Du damit nicht jener althergebrachten »Russenfurcht« und dem Feindbild »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!« (1953) das Wort, dem bis heute viele Deutsche widersprochen haben und die deshalb oft ausgegrenzt sowie als Gefolgsleute der Sowjets verdächtigt und gebrandmarkt worden sind?
Mit der aktuellen Ukraine-Krise haben die Geschehnisse in der Zeit vor dem Ende des Kalten Krieges wenig zu tun, wohl aber mit denen nach dem Ende des Kalten Krieges. War die Zustimmung Gorbatschows und Russlands zur Wiedervereinigung Deutschlands nur ein Trick, um von Großmachtallüren abzulenken, damit uns die unwandelbare russische Seele danach um so mehr auf dem falschen Fuß erwischt? Du behauptest, dass es der Sowjetunion nie vorrangig um Sicherheit, sondern stets um Hegemonie gegangen sei. Du verlierst aber nicht ein einziges Wort über die deutschen Welteroberungspläne und Kriege? Ist das ein Zufall? Oder befindest Du Dich damit in großer Übereinstimmung mit all den Propagandisten, die den Russen und ihrer Führung schlechthin alles Böse und Schreckliche vorwerfen?
Wie nimmt sich vor diesem Hintergrund das Begehren – aus meiner Sicht handelt es sich um Anmaßungen – Wolodimir Selenskijs aus, die er vor wenigen Tagen vor dem Bundestag vorgetragen hat? Er bittet nicht um Hilfe, sondern er verlangt von uns, in den Krieg einzutreten und eine Mitschuld an einem Dritten Weltkrieg auf uns zu laden? Ist dieser Mensch weniger »verrückt« als jener Putin, dem Du eine »hässliche Diktatorenfratze« attestiert? Ich kann nicht erkennen, dass Putin bereit wäre, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren. Bislang geht sein Bestreben dahin, die Ukraine zu besiegen und den Konflikt zu lokalisieren. Kann ich aber dasselbe von Selenskij sagen? Selbst wenn man mit dem Rücken an der Wand steht, gibt einem dies das Recht, das eigene Volk, ja die Welt insgesamt in sein Schlepptau zu nehmen und in den Abgrund zu führen? Die Wehrlosigkeit des deutschen Gewissens gegenüber offiziellen Mutmaßungen, Einschätzungen und Übertreibungen dürfte den Historikern später einmal große Probleme aufgeben.
Man spricht inzwischen unbedacht, unangemessen und verfälschend von einem »Zivilisationsbruch«. Aus meiner Sicht war der Erste Weltkrieg ein »Zivilisationsbruch«. Der deutsche Überfall auf Belgien im August 1914 ging einher mit der bewussten Inkaufnahme eines bis dahin unvorstellbaren Krieges. Einen damit auch nur annähernd vergleichbaren Krieg hat Putin nicht begonnen. Ist, wer das sagt, ein Putin-Freund?
»Diktator mit Nazimethoden«
In eine ähnliche Richtung zielen eine Reihe weiterer unzulässiger Vergleiche. 109 Kinderwagen, auf einem Platz nebeneinander und in Reihen werbewirksam aufgestellt, sollen die bislang 109 im Ukraine-Krieg ums Leben gekommenen Kinder symbolisieren. Das geschieht ohne jedwede unabhängige Prüfung der Opferzahlen. In dem Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau heißt es am 25. Juni 1944: »Leere Kinderwagen wurden vom Krematorium zum Bahnhof aus dem Lager gefahren. Man führte je fünf in einer Reihe. Dieser Umzug dauerte über eine Stunde.« Wie viele Kinder sind in Auschwitz pro Tag vergast worden? Wie viele sind im Irak-Krieg getötet worden? Und wenn der Journalist Klaus Geiger von der Welt im ARD-Presseclub vom 20. März 2022 Putin zu einem »Diktator mit Nazimethoden« erklärt, hat er damit nicht jegliches Augenmaß verloren? Wer solchen Vergleichen widerspricht, findet der im Fernsehen, im Rundfunk und in der Presse noch ein Forum? Was ist davon zu halten, dass viele sich nun auf Putin als Kriegsverbrecher stürzen, zu den Kriegsverbrechen von Bush und anderen westlichen Politikern aber geschwiegen haben? Wird das eine Verbrechen kleiner oder das andere größer, weil der eine ein Russe und der andere USAmerikaner ist? Wo bleibt da das Augenmaß?
Du erwähnst, die »in deutschen Kriegsgefangenenlagern oder als Zwangsarbeiter geschundenen« Russen und dass sie »in Russland heute noch schäbig behandelt werden«. Ist das wirklich auf die gleiche Stufe zu stellen? Sind sie in Deutschland nicht der Vernichtung preisgegeben worden? Mit welchem Recht brechen wir, brichst Du vor diesem Hintergrund den Stab über russische Behörden und ihr Verhalten gegenüber jenen Opfern, für die wir nach 1945 nichts getan, sondern die wir mit vom Bundestag sanktionierten Gesetzen im Regen stehengelassen haben?
Lieber Freund, Du weißt, wie sehr ich Dich schätze. Um so mehr tut es mir weh, Dich nach meinem Empfinden in einer Weise argumentieren zu sehen, die jeden einstigen und neuen »Kalten Krieger« erfreuen dürfte und die inmitten des Atomzeitalters ihr althergebrachtes »Wenn Du den Frieden willst, dann bereite den Krieg vor!« propagieren und damit dem Krieg aller gegen alle das Wort reden.
Ich sage nein zu Selenskijs Vorschlag, Deutschland solle sich an die Spitze Europas stellen – und erneut in Waffen erstarren. Der Friede ist ein sehr, sehr hohes Gut, und ich halte es mit Reinhard Mey, der in einem Lied sagt: »Nein, meine Söhne geb’ ich nicht!« Es kann uns nicht gleichgültig sein, dass die mühevoll, in Jahrzehnten erreichte Friedenskultur, an deren Aufbau viele mitgewirkt haben, durch eine neuerliche Kriegskultur, von der wir wissen, wohin sie führt, ersetzt wird. In einer Welt und in einem Land, in dem der Krieg und nicht der Frieden als »Ernstfall« gilt, möchte ich nicht leben.
Herzliche Grüße,
Helmut
Wolfram Wette: Ernstfall Frieden – Lehren aus der deutschen Geschichte, Bremen 2017
Helmut Donat schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. Februar 2022 über die Umbenennung der Hindenburgstraße in Hannover.
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Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (25. März 2022 um 12:09 Uhr)
1. Zur Debatte über die "Kriegschuldlüge" hat Lenin damals genug gesagt, indem er den quasi "naturgesetzlichen" Charakter imperialistischer Kriege in Zeiten des Monopolkapitalismus bzw. des Finanzkapitals herausarbeitete - dahinter dürfen wir nicht Putin zuliebe zurückgehen. Der mag Lenin nicht, bezichtigt ihn des Verrat etc, doch das ist sein Problem.
2. Aber man muss ihm zugute halten, dass er sich 8 Jahre lang letztlich vergeblich um den Frieden in der Ostukraine bemüht hat und erst dann, m. E. fast schon zu spät, auf die Stimmung des Volkes und die Aufforderung der beiden Duma- Fraktionen der KPRF und von "Gerechtes Russland" reagierend die beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkannt und ihren Hilferuf erhört hat, wohl ahnend oder wissend, was damit auf seinen Staat und "seine" Oligarchen zukommen würde. Die gerne "business as usual" weiter gemacht hätten - aber:"Wir stehen mit dem Rücken zur Wand - hinter uns ist Moskau - keinen Schritt weiter zurück!" - das ist nicht die Sprache eines "Neo-Imperialisten", sondern die Sprache von 1812 und 1941!
3. Russland ist sehr reich an natürlichen Ressourcen, und sehr groß ist folglich der Appetit der "G7"-Staaten und ihrer Konzerne auf diese. Russland ist eben ein "OPEC-plus-Land", wenn auch mit Kernwaffen und Trägersystemen, die Furcht erregen (sollen). Deshalb konnte und musste es der NATO-Osterweiterung, die es von Jahr zu Jahr erpressbarer machte, auf diese blutige Weise Einhalt gebieten, als nichts anderes mehr half.
4. Es waren ja auch 1914 wie 1941 die natürlichen und landwirtschaftlichen Reichtümer Russlands (bzw. der UdSSR) , die das deutsche Grosskapital für sich haben wollte, und auch die billigen und willigen Arbeitskräfte sowie geopolitisch die Herrschaft über Eurasien bis nach Indien und China. Nun allerdings ist es bzw. sein Staat samt Militärmaschine in den Dienst des US-amerikanischen als des einzig verbliebenen Imperialismus getreten, in der Hoffnung, dass dabei genug Profit abfällt. Seit 1956 (Stichwort "Suezabenteuer") gibt es de facto keinen anderen Imperialismus mehr als jenen.( Auch der japanische ist heute allerhöchstens ein "Sub-Imperialismus", zu eigenen Eroberungen weder fähig noch gewillt.)
Das Gerede vom chinesischen und nun verstärkt vom russischen Imperialismus soll nur von dieser Tatsache ablenken!
5. In der Dritten Welt wird das vielfach glasklar gesehen. Die allermeisten Regierungen missbilligen zwar den russischen Angriff, die 8 Jahre vergebliche russischer Bemühungen um den Frieden in der Ukraine honorieren sie aber doch durch Stimmenthaltungen bzw. Nichtteilnahme an den "westlichen" Sanktionen - lediglich die drei "kleinen Tiger" und US-Stützpunktträger Südkorea, Singapur und Taiwan (!) machen pflichtschuldigst mit wie immer.
6. Zur "Kultur des Friedens" : Illusionen helfen nicht weiter.
Es gibt eine Fabel von Krylow, in der der Koch auf den Kater schimpft, weil der sich einen Fisch von der Tafel geholt hat, und er schimpft und schimpft - und der Kater Mischa sitzt und sitzt und frisst und frisst. Lässt sich nicht stören. Das ist bildlich die Geschichte der ständigen "NATO-Osterweiterung", während dieser "Phase des Friedens" (die übrigens durch imperialistische Balkan- und Nahost- sowie Afrikakriege gekennzeichnet war, das wollen wir mal nicht vergessen!), die faktisch die "ganz friedliche" Ausdehnung der US-Dominanz auch militärisch bzw. geostrategisch bis an die neuralgischen Punkte Russlands darstellt: symbolisch war dafür 2014 der Panzer mit der Fahne der USA vor der Brücke zwischen Narwa (Estland) und Iwangorod (Russland) - also nur (noch) relativ wenige Kilometer vor St. Petersburg!
"Die Katze lässt das Mäusen nicht" - der Imperialismus ist nicht wirklich friedensfaehig. Das muss man (mal wieder) begreifen. Viele werden das aber, aufs ach so verändernde Mitregieren scharf, nicht schaffen.
Leserbrief von Onlineabonnent/in Onlineabo abschließen" data-placement="top" class="far fa-info-circle" data-original-title="" title="" > Kurt D. aus Pfinztal (25. März 2022 um 09:45 Uhr)
Ich habe nicht verstanden, an welchen lieben Freund, Historikerkollegen und Kontrahenten sich dieser Brief richtet. Kann mir jemand weiterhelfen?
Leserbrief von Onlineabonnent/in Onlineabo abschließen" data-placement="top" class="far fa-info-circle" data-original-title="" title="" > Rainer B. aus Eckernförde (24. März 2022 um 23:00 Uhr)
...an wen ist der Offene Brief gerichtet? Ich kann es nicht entdecken...
Info: https://www.jungewelt.de/artikel/423330.pazifismus-haltlose-vergleiche.html