Wir
leben in keiner offenen Situation mehr
Thesen
zum Ende des Interregnums und
warum es gerade jetzt einen
Neustart der LINKEN braucht
«Wir
leben in keiner offenen gesellschaftlichen Situation mehr, die
Entwicklungspfade sind umkämpft, viele mögliche Alternativen aber
bereits verunmöglicht, Wege sind verschlossen.» Mario
Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, beschreibt mit 15 Thesen die sich
neu herausbildenden Kräftekonstellationen, politischen Verwerfungen
und die aktuellen Herausforderungen für die Linke.
Als
zentrales strategisches Moment sieht er
die Herausbildung eines neuen hegemonialen Entwicklungspfades entlang verschiedener Ausprägungen eines grünen Kapitalismus.
Damit einher geht die Herausbildung einer neuen Blockkonfrontation um die globale Führung in dieser neuen Entwicklungsperiode.
Entgegen dieses neuen Projektes bildet sich eine nationalautoritäre Melange aus radikalisiertem Konservatismus und radikaler Rechter.
Für
viele Länder des Südens wird es eine Phase externer Schocks und
innerer Zerfallsprozesse werden und auch in den kapitalistischen
Zentren wird es zu heftigen Transformationskonflikten kommen.
Aus diesen Verwerfungen entsteht immer auch ein Potential für
Widerstand, aber nicht zwangsläufig eine erfolgreiche Verbindung von
möglichen, realisierbaren Schritten, Gestaltungswillen und einer
Perspektive des Systemwechsels. Vielmehr sollte sich die Linke auf
eine langjährige Position in der Defensive einstellen und vor allem
entlang der Schnittstellen von sozialer, ökologischer und
Friedensfrage produktive Konflikte zu herzustellen.
Mario
Candeias versucht entlang seiner Thesen den Weg einer erfolgreichen
disruptiven Neugründung der parteipolitischen Linken aufzuzeigen.
Die
15 Thesen für einen linken Neustart von Mario Candeias sind
kostenlos auf der Webseite der Zeitschrift «LuXemburg»
nachzulesen.
Thesen
zum Ende des Interregnums und warum es gerade jetzt einen Neustart
der LINKEN braucht
Von Mario
Candeias
Juli
2023
These
1 Viele Wege sind verschlossen
Wir
leben in keiner
offenen gesellschaftlichen Situation mehr, die Entwicklungspfade sind umkämpft, viele mögliche
Alternativen aber bereits verunmöglicht, Wege sind verschlossen.
These
2: Zukunft des Kapitalismus ist gesichert mit unterschiedlichen
Formen
Es
bildet sich ein hegemonialer Entwicklungspfad heraus, der
unterschiedliche Ausprägungen eines grünen Kapitalismus umfasst.
Weshalb hegemonial? Anders als andere gesellschaftlichen Projekte hat
er das Potenzial, neue Anlagefelder für das Kapital zu erschließen,
welche zugleich eine Bearbeitung der größten und langfristigsten
(Menschheits-)Krise, der ökologischen Krise, durch eine grüne
Modernisierung ermöglicht und so
ein tragfähiges Akkumulationsregime etabliert.
Regulativ erhält ein solches Projekt mit einigen mehr oder weniger
ausgeprägten sozialen Ausgleichmaßnahmen einen prekären
gesellschaftlichen Konsens, nach außen und innen autoritär bewehrt,
sozusagen „gepanzert mit Zwang“ (Gramsci). Je nach (Welt-)Region
wird sich dieses Projekt unterschiedlich ausprägen, in China anders
als in Deutschland oder den USA, in den Zentren kapitalistischer
Macht anders als an den (Semi-)Peripherien. Wir haben es mit Varieties
of Green Capitalism – mit unterschiedlichen Ausprägungen eines grünen Kapitalismus zu
tun. Am deutlichsten findet sich dieser als ausgeprägtes
Akkumulationsregime in China, seit dem sogenannten Green Deal
allerdings auch mehr und mehr in der EU.
These
3: Kampf um Vorherrschaft auf den Weltmärkten
Diese
Entwicklung wird überlagert von einer neuen
Blockkonfrontation,
die sich weniger entlang der Linie Demokratie vs. Autoritarismus
anordnet, als entlang einer harten Konkurrenz um
die globale Führung in der neuen Entwicklungsperiode hin zu einem hochtechnologischen und aufgerüsteten grünen
Kapitalismus. Im Wesentlichen sortiert sich das
Feld zwischen China und den USA,
mit Europa in einer problematischen Zwischenposition zwischen
subalternem US/NATO-Partner und eigenständigem Akteur. Die Folge
sind eine hochtechnologische Konkurrenz, Handelskriege, eine
partielle Deglobalisierung, eine dramatische Aufrüstung,
gewaltförmige Konflikte und Kriege an den Rändern der „Green
Empires“
bzw. an den tektonischen Berührungspunkten der Blöcke. Zugleich
wird dadurch die Klima- und Umweltkrise verschärft, stoffliche,
finanzielle und andere gesellschaftliche Ressourcen verschleudert,
die für den Umbau dringend nötig wären, es werden nicht zuletzt
Menschenleben aufs Spiel gesetzt.
These
4: zunehmender Konservatismus mit Kultur- statt Klassenkämpfen
Dieses
hegemoniale Projekt unterschiedlicher Formen eines grünen
Kapitalismus wird bereits jetzt herausgefordert von der Konvergenz
eines radikalisierten Konservatismus mit der radikalen Rechten und einer
aggressiven Verteidigung der fossilistischen Lebensweise,
einschließlich harter
Kulturkämpfe auf allen Ebenen.
Repräsentiert wird diese Allianz durch wechselnde Führungsfiguren
wie Trump, Bolsonaro, Duterte, Modi, Melloni, Núñez Feijóo und
andere. In Deutschland war dies zuletzt (wieder) an den heftigen
Kämpfen um die Heizungswende zu erkennen. Innergesellschaftlich
markieren diese nationalistischen, rechts-autoritären Projekte den
Gegenspieler zu einem grün-liberalen Projekt der Modernisierung
(zumindest in Europa und den USA sowie Lateinamerika). Sie bergen ein
großes Destruktionspotenzial.
Es mangelt diesen Projekten abgesehen von einer noch extremeren
Ausbeutung von Mensch und Natur[1] jedoch an einer produktiven Perspektive:
Die Aussichten auf Akkumulation jenseits eines Extreme Fossilism
sowie die Möglichkeiten zur Moderation von Sozial- und Klimakrisen
jenseits von Zwang sind begrenzt. Eben deshalb erweist sich diese
Internationale der Nationalen, auf globaler Ebene nicht als
Konkurrent des hegemonialen Projekts, ist vielmehr gezwungen sich jeweils
einem regionalen Hegemon unterzuordnen (Russland
unter China, Polen/Ungarn oder Italien unter Meloni der EU, GB nach
dem Brexit unter den Tories sowohl unter die EU als auch die USA, die
lateinamerikanische Rechte unter die USA etc.) – oder sie
verbleiben in schwierigen Zwischenpositionen.
These
5: Klimaziele nicht erreichbar, zunehmende Katastrophen
Die
verschärfte Polarisierung im Inneren sowie die neue globale
Blockkonfrontation in dieser Entwicklungsperiode führen zu einem
deutlich höheren Niveau an gesellschaftlicher und
zwischenstaatlicher Gewalt. Zugleich bildet die ökologische
Modernisierung zwar das Herz der ökonomischen Transformation und
Akkumulation, jedoch
erfolgt der Umbau nicht nur mit kapitalistischen, also
wachstumsorientierten Formen, sondern auch zu spät.
Das 1,5-Grad-Ziel, dazu braucht es keine Glaskugel, ist nicht mehr zu
erreichen, schon gar nicht unter den oben genannten Bedingungen einer
hochgerüsteten Blockkonfrontation und massiver
inner-gesellschaftlicher Widerstände. Die Klimaziele wären selbst
dann nicht zu erreichen, wenn wir morgen einen linken Green New Deal
implementieren könnten.[2] Die neue Entwicklungsperiode wird also von
Gewalt und Katastrophen geprägt sein. Das neue hegemoniale Projekt hat seine Grenzen und Krisen, das
heißt jedoch nicht, dass es nicht die nächsten 20 bis 30 Jahre
dominieren kann, bis eben das Potenzial ausgeschöpft ist.
These
6: Zunehmende internationale Ungleichheit
Für
viele Länder des globalen Südens, die entweder über wichtige
Rohstoffreserven verfügen und/oder von der Klimakrise stark
betroffen sein werden, bringen die kommenden Krisen und Katastrophen
externe Schocks und
innere Zerfallsprozesse mit sich.
Die alten kapitalistischen Zentren stellen sich darauf ein: „Die
direkte (militärische) Intervention zur Befriedung und zur
Herausbildung marktwirtschaftlicher, liberal-demokratischer Staaten
ist gescheitert, in Somalia und Bosnien, in Afghanistan, Libyen und
im Irak. Ende des »End of History« (Fukuyama). Der Markt schafft es
nicht, und eine Besetzung der Märkte mit Bodentruppen steht nicht
mehr an. … Doch die Zonen der Unsicherheit müssen nicht unbedingt
kontrolliert, können vielmehr eingehegt werden. Es entsteht eine Art »gated
capitalism« – auch ohne funktionierende Gemeinwesen in den Zonen
der Unsicherheit.“[3] Länder, die nicht zwischen den Blöcken zerrieben werden und im
Staatszerfall enden wollen, werden sich früher oder später einem
der Blöcke zuordnen.
These
7: steigende Probleme mit heftigen Konflikten
Katastrophen
(Wetterereignisse wie Überschwemmungen oder Dürren), Probleme der
Ernährungssouveränität, ökonomische und soziale Krisen infolge
langfristiger Preissteigerungen aufgrund von beschränkten
Ressourcen, Abriss und Neuordnung von Lieferketten, Internalisierung
ökologischer Kosten in die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter,
Kapitalvernichtung bei fossilistischen Industrien etc. werden auch
in den kapitalistischen Zentren zu heftigen Transformationskonflikten führen. Zum Beispiel ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir bereits
am Beginn einer langsamen Erosion des deutschen Exportmodells stehen,
mit allen ökonomischen, sozialen Folgen, auch für die
Kräfteverhältnisse und die Zersetzungstendenzen einer Europäischen
Union. Noch stärker sind davon die Semiperipherien innerhalb der
Blöcke betroffen, etwa der Osten und Süden der EU, oder Mexiko am
Rande der USA.
These
8: zunehmende Protestbewegung
Viele
spüren in diesen Zeiten multipler Krisen und kommender Katastrophen
eine Überforderung,
die ihre eigene und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit gefährdet. Viele haben das Gefühl, eigentlich muss alles anders
werden, die Dringlichkeit ist fast überwältigend, und doch geht
kaum etwas voran. Das „Weiter so“ bringt eine verallgemeinerte
Unsicherheit – alles zu ändern, ohne recht zu wissen wie, löst
ebenfalls Ängste und Unsicherheit aus. Daraus erwächst eine
Sehnsucht nach Normalität, die selbst jedoch irreal geworden ist.
Die Reaktion ist häufig ein Rückzug ins Private, in ein
vereinzeltes Sich-Durchschlagen bis hin zu durch Überforderung
bewirkte Burn-Outs und/oder Depressionen. Aus der immer schwieriger werdenden Möglichkeit sich-zu-arrangieren,
erwächst aber auch ein Potenzial des Widerstands. Dies kann aber nur
gehoben und organisiert werden, wenn es gelingt, eine
Verbindung von möglichen, realisierbaren Schritten,
Gestaltungswillen und Perspektive des Systemwechsels überzeugend zu verbinden.
These
9: Gefahr der Auflösung der Linkspartei
Was
bedeutet das für die gesellschaftliche Linke? Sie wird nicht
vergehen, aber sie wird für
mindestens ein Jahrzehnt oder länger eine defensive Position einnehmen, kaum Gestaltungsraum haben. Grund dafür ist eine
innergesellschaftliche Polarisierung zwischen den Trägern einer
grün-liberalen Modernisierung und den autoritären Verteidigern
einer fossilistischen Lebensweise (bei gleichzeitiger Zersplitterung
von Zusammenhängen und bizzarer Neuzusammensetzung). Die
Polarisierung lässt wenig Raum für Alternativen. Die als
Zeitenwende deklarierte globale Aufrüstung und Blockkonfrontation
verengen den Raum schon jetzt erheblich. Die
Krise der parteipolitischen Linken kann in Deutschland, wie schon in Italien zuvor, zu
ihrer praktischen Vernichtung führen.
Dies gilt es mit möglichst vielen Kräften zu verhindern (notfalls
auch durch klare Profilbildung, die Trennungen in Kauf nimmt). Die
gesellschaftliche Linke wird in jedem Fall konfrontiert sein mit
drastisch schwindenden Ressourcen, weniger Kräften und der Gefahr
der Zersplitterung.
These
10: Versagen der Linkspartei
In
der krisenhaften Übergangsphase der letzten eineinhalb Jahrzehnte,
die ich mit Antonio Gramsci als Interregnum bezeichne [s. Anmerkung],
sind neue
gesellschaftliche Konflikt- und Spaltungslinien entstanden, die quer durch alle Parteien gehen und seit 2011 zu einer
permanenten Umordnung des Parteiensystems geführt haben. Zentrale
Entwicklungen waren die Finanz- und dann die Schuldenkrise, die
Bewegung der Geflüchteten 2015, die Pandemie, der Kulturkampf um die
liberale gesellschaftliche Modernisierung mit Blick auf sexuelle
Orientierung und geschlechtliche Repräsentation sowie das Aufbrechen
damit verbundener Macht- und Gewaltverhältnisse, der Druck zur
ökologischen Modernisierung – die mit multikultureller,
geschlechtergerechter und ökologischer Modernisierung empfundene
Entwertung traditioneller Lebensweisen und Identitäten – und
zuletzt natürlich die Zeitenwende mit dem Krieg in der Ukraine. Die
Konfliktlinien gehen quer durch die Gesellschaft und natürlich auch
durch die LINKE. Seit
dem Erstarken der radikalen Rechten 2015 ist es der LINKEN an keiner
dieser Konfliktlinien gelungen, jeweils einen Pol in der
Auseinandersetzung zu besetzen, zum einen wegen der Polarisierung
durch rechte Kräfte, zum anderen,
weil die Position der Partei nach außen von innen regelmäßig konterkariert wurde. In jedem Fall erweist
sich der Versuch einer rein sozial-politischen Vermittlung der
Widersprüche als verkürzt.
Ursächlich
für die Krise der Partei war auch, dass politische Konfliktlinien
und Widersprüche sich mit Fragen innerparteilicher Macht und des
Kampfes um Ämter und Positionen verwickelten, was zum Teil erklärt,
weshalb viele der Konflikte in den letzten Jahren mit solcher
Heftigkeit ausgetragen wurden. Es
geht um eine Neuordnung des Parteiensystems, sowohl zwischen den Parteien wie auch in ihrem Inneren. Besonders
zugespitzt trifft es jene, bei denen der reale Wille zur Macht
angesichts von Wahlergebnissen und Umfragen nicht mehr als Kitt
zwischen den Strömungen und Flügeln wirkt. Dann schlägt die
mediale Dynamik zu, die eben solche Differenzen zur mächtigen
Gegensätzen werden lässt, in denen einzelne sich gegen die Partei
profilieren und die Zentrifugalkräfte die Partei auseinandertreiben.
Der anti-neoliberale Konsens, der die LINKE lange geeint hat,
zerfasert von den Rändern in Richtung eines sozial- oder
linkskonservativen Projekts auf der einen und in ein
(transatlantisch) sozialliberales Projekt auf der anderen – die
tragende Mitte dazwischen wird zerrieben. Die damit einhergehende
Kultur der permanenten Kritik, des Schlechtredens aus der Partei
selbst heraus, wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Sympathisant*innen
werden verunsichert und abgestoßen,
Mitglieder demotiviert und frustriert (seit
der Bundestagswahl sind rund 8 000 Mitglieder aus der Partei
ausgetreten).
Dies arbeitet den Gegner*innen einer in den Parlamenten verankerten
linken und sozialistischen Partei zu. Gegenwärtig gibt es einige,
die den Moment gekommen sehen, die LINKE endgültig zu zerstören.
These
11: Notwendigkeit linker Basisarbeit
Gesellschaftliche
Marginalisierung der Linken bei eingeschränkten Mitteln zur
Förderung des sozialen Zusammenhalts, zunehmenden
Gewaltverhältnissen und einem Leben mit der Katastrophe stellt die
Frage nach Überlebensstrategien. In welchen Strukturen organisieren
wir uns, wie können effektive Zentren regionaler Stärke,
Inseln
des Überlebens und der Sorge umeinander konstruiert werden, die Raum schaffen für eine
demokratische und solidarische Lebensweise in sozialistischer
Perspektiven in Zeiten eines Post-Growth? Es braucht Organisationen, in denen es
möglich ist, Veränderung selbst in die Hand zu nehmen, oft im
Kleinen, aber mit Blick auf das Ganze. Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte dafür sein. Die LINKE arbeitet an
Modellprojekten für die Organisierung in sozialen Brennpunkten, an
aufsuchende Praxen in den Nachbarschaften. In Initiativen wie
solidarity4all zu Zeiten der großen Depression in Griechenland oder
der Bewegung der von Zwangsräumung betroffenen (PAH) im Spanien der
Schuldenkrise kann „das Selbstbild der Menschen, von dem, was sie
erreichen können“, verändert werden, kann „mit ihnen zusammen
das Verständnis ihrer eigenen Fähigkeit zur Macht“ entfaltet
werden (Wainwright 2012, 122), kann ein neues inklusives WIR
entstehen. Denn die Erfahrung des Gemeinsamen verleiht
Handlungsfähigkeit und gibt den Glauben an eine machbare Veränderung
und die eigene Zukunft zurück. Im besten Falle gesellen sich dazu
Enklaven eines rebellischen
Regierens in Städten und Räumen, in denen es der Linken gelingt, relative
Mehrheiten zu organisieren und gesellschaftliche Bewegungen,
Organisierung und institutionelle Politik in ein produktives
Verhältnis zu bringen. Dazu gehört auch eine Perspektive
offen zu halten,
die an einem Ende des Kapitalismus arbeitet, an einer solidarischen
Gesellschaft. Dazu gehören ganz selbstverständliche Dinge wie eine
kostenfreie Gesundheitsversorgung und Bildung sowie bezahlbares
Wohnen für alle; entgeltfreie öffentlichen Dienstleistungen von
Bibliotheken bis zum öffentlichen Personennahverkehr; demokratische
Mitsprache, die etwas bewegt; selbstbestimmte Arbeit und Autonomie,
der ökologische Umbau der Städte, des Verkehrs, der
Energieversorgung und Landwirtschaft; viel mehr Zeit füreinander und
zum Leben. Hier scheint das Unabgegoltene vergangener Zukünfte auf,
von der Französischen Revolution über die Russische Revolution bis
hin zu 1968 oder 1989 – die Hoffnung auf einen und Arbeit
an einem erneuerten Sozialismus.
Denn die Hegemonie der Herrschenden ist nie vollständig und die
inneren Widersprüche des Kapitals und des Blocks an der Macht
brechen immer wieder auf, können angesichts des Niveaus immer neuen
Krisen und Katastrophen zu ungeahnten Brüchen und Öffnungen für
eine Alternative führen. Auf diese Möglichkeit gilt es sich stets
vorzubereiten.
These
12; Wiederaufbau der Linkspartei durch ???
Linke
Defensive bedeutet entsprechend nicht, dass nicht fortwährend
gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfänden.
Gesellschaftliche Widersprüche werden auch in einer neuen Periode
nicht stillgestellt. Das insgesamt höhere Niveau von Krisen und
Katstrophen bildet vielmehr die Grundlage dafür, dass aus kleinen
generischen Krisen schnell größere werden können, Kämpfe sich verdichten. So
erleben wir trotz einer strukturellen Schwäche und schwindender
Organisationsmacht von Gewerkschaften (und Bewegungen) derzeit das Aufkeimen einer neuen Streikbewegung von
Frankreich und Spanien über Großbritannien bis zur Bundesrepublik,
die sich um Verteidigung der und Arbeitsbedingungen in der
Daseinsvorsorge/sozialen Infrastrukturen und Ausgleich von
Reallohnverlusten im Zuge von Pandemie und Inflation drehen. Und doch
scheitern diese Aufbrüche an den soliden Mauern der Institutionen.
Vor allem an den Schnittstellen von sozialer, ökologischer und
Friedensfrage können sich nichtsdestotrotz gesellschaftliche
Mobilisierungen in Zukunft immer wieder verdichten. Solche Momente
können eine wichtige Grundlage für einen Wiederaufbau
einer gesellschaftlichen Linken darstellen. Neue Handlungssituationen werden sich einstellen und
selbst in der Defensive müssen Vorbereitungen für eine Offensive
gelegt werden. Zentral wäre dabei, nicht passiv auf solche zu
Momente zu hoffen, sondern selbst mit Partnern herausgehobene
gesellschaftlich produktive
Konflikte mit klarem Gegnerbezug zu produzieren.[4]
These
13; Wiederaufbau der Linkspartei durch ???
Eine
neue Hegemonie schafft durchaus neue Bedingungen für etwas Neues von
links. So führte erst die Verallgemeinerung des Neoliberalismus
durch sozialdemokratische Regierungen (bei uns Rot-Grün) dazu, dass
oppositionelle gesellschaftliche Gruppen entweder in den Machtblock
aufstiegen oder eben draußen blieben. Damit waren viele vorher
denkbare Wege und Bündnisse verstellt. Es
wuchs der Druck zur Konvergenz auf die übriggebliebenen Teile der
gesellschaftlichen Linken, sich neu zur formieren,
was letztlich zur Partei Die LINKE führte, sozusagen auf dem
Höhepunkt des Neoliberalismus. Ähnliches ist wieder denkbar,
diesmal wächst der Druck
zur Konvergenz links-sozial-ökologischer, links-gewerkschaftlicher,
sozialistischer, feministischer und radikaler Kräfte,
die unter der neuen Hegemonie keine Repräsentation oder ausreichend
Bündnispartner*innen mehr finden, um wirksam zu sein.
These
14: Linkspartei nicht leichtfertig aufs Spiel setzen
Für eine programmatische Erneuerung
Für
eine reformistische Linkspartei besteht ein hohes
Wählerpotential
Linkspartei muss sich
als moderne sozialistische
Gerechtigkeitspartei darstellen
Da
gibt es aber leider keinen Automatismus. Sofern eine mediale
Diskursdynamik eingesetzt hat, die in einer Abwärtsspirale
mündet und aus dem Inneren der Organisation selbst weiterbefördert wird,
gibt es eigentlich nur
zwei Wege aus der Krise: a)
eine Art disruptive Neugründung einer bestehenden Organisation (wie
etwa Labour unter Corbyn mit Momentum) oder durch die
Gründung einer neuen Organisation (wie Podemos in Spanien). Über den Umweg von Unidas Podemos, also
sozusagen der Kombination beider Wege, gelang
es in Spanien auch, die Vereinigte Linke – Izquierda Unida –
vorübergehend zu retten. Dies
muss aber keineswegs der Fall sein. Die Gründung einer neuen
Organisation kann auch zu einer Fragmentierung der Linken (wie in
Italien) führen. Bestehende
Organisationen sollten also nicht leichtfertig auf Spiel gesetzt
werden – was wiederum kein Argument für eine ausbleibende Erneuerung
einer bestehenden Organisation sein sollte.
Nach
innen braucht es eine programmatische
Erneuerung und ein Signal des Aufbruchs auf
den Feldern Frieden,[5] sozial-ökologischer Systemwechsel und Infrastruktursozialismus, Arbeit
und Ökonomie der Zukunft.
Dabei muss auf das im
engeren Sinne linkskonservative Spektrum um Sahra Wagenknecht keine Rücksicht mehr
genommen werden – nach dem von ihr selbst erklärten Bruch haben
wir bereits eine Situation Post-Wagenknecht.
Das ermöglicht es, die blockierte Richtungsentscheidung aufzulösen
und gesellschaftlichen Widersprüche anders und in verbindender
Perspektiven anzugehen. Denn trotz des negativen Trends existiert
nach jüngsten Umfragen[6] vom
Mai 2023 immer noch ein Wählerpotenzial von ca. 16 Prozent für eine
sozial-ökologisch ausgerichtete, kapitalismuskritische und
friedenspolitisch neu profilierte linke Partei mit sozialistischer
Perspektive.
Welche sozialen Gruppen wären es, die wir für eine Stabilisierung
über 5 Prozent bräuchten? Ihr
höchstes Potenzial hat die LINKE weiter bei Haushalten mit einem
niedrigen Einkommen, von denen – anders als häufig suggeriert –
die dezidiert sozial-ökologischen Forderungen der Partei am
stärksten befürwortet werden.[7] Bekanntermaßen wählen diese Wählergruppen aber besonders selten.
Hier braucht es also eine überzeugende
Nichtwähler-Strategie.
Das
zweitgrößte Wählerreservoir liegt bei SPD und Grünen. Es sind all
jene, die bereits jetzt und künftig von
SPD und Grünen enttäuscht werden, v.a. links-gewerkschaftliche und linksökologische
Wählergruppen. Dazu kommen jene linken sozial-ökologischen,
antifaschistischen, antirassistischen oder feministischen
Klassenmilieus, die
derzeit nicht (mehr) die LINKE wählen, eher zu Bewegungen neigen
oder Kleinparteien wählen.
Das ist durchaus ein wichtiger Sektor, nicht nur, weil
Tierschutzpartei, die Urbane, Klimaliste oder Volt der LINKEN
entscheidende 0,5 Prozentpunkte kosten, sondern auch neue Initiativen
für Wahlplattformen entstehen können. All
das sind Gruppen, die für eine Neugründung der LINKEN zu gewinnen
wären.
Ob
ein linkskonservatives Projekt gegründet wird, hat die LINKE nicht
in der Hand. Wenn es kommt, verliert die Partei sicherlich ein
erhebliches Potenzial in diese Richtung. In jedem Fall gilt es
möglichst viele Mitglieder und Wähler*innen zu halten. Aus
dem links sozialdemokratischen sowie traditionell gewerkschaftlichen
Spektrum wollen sich viele für das Überleben der LINKEN einsetzen. Sie sollten offensiv angesprochen, in ein neues Projekt integriert
werden, gemeinsam mit den innerparteilichen Mehrheitsfraktionen von
„Bewegungslinken“ und „progressiver Linken“ sowie den
gesellschaftlichen Gruppen, die sie jeweils repräsentieren. Das
Halten von Sympathisant*innen genügt jedoch längst nicht mehr, die Stammwähler*innenschaft ist zu klein geworden.
Die LINKE muss ihre Basis erweitern, neue Mitglieder gewinnen und mit
ihnen gemeinsam um Wähler*innenstimmen kämpfen.
Nur in klarer inhaltlicher wie symbolischer Abgrenzung vom
Linkskonservatismus und durch kluge Neuorientierung und
Bündnispolitik kann sie wieder eine attraktive Repräsentantin und
Partnerin einer breiteren gesellschaftlichen Linken werden. Das
gelingt nur durch klare Profilierung als moderne
sozialistische Gerechtigkeitspartei bzw. als
klassenorientierte sozialökologische und feministische Partei der
Gleichheit und Freiheit und des Friedens mit sozialistischer
Perspektive, als LINKEplus.[8]
These
15: Wir brauchen eine Neugründung der Linskpartei
Zu
bedenken wären bereits jetzt Wege
zu einer disruptiven Neugründung der LINKEN aus dem strategischen Zentrum der Partei heraus. Das wäre der
umgekehrte Weg von #aufstehen, vergleichbar eher mit Momentum in UK:
Es wird eine Struktur für Aktive, Gewerkschafter*innen und
zivilgesellschaftlichen Organisationen geschaffen, die nicht Teil der
Partei sein wollen (oder können) und sich dennoch in eine
verbindliche Unterstützungsstruktur einbringen wollen.
Denn bereits jetzt zeichnet sich ein Feld links von SPD und Grünen
ab, welches derzeit keine Repräsentation findet, teilweise auch
keine Repräsentation in der typischen Parteiform mehr sucht, deren
Wert aber sehr wohl erkennen kann.
Dies reicht von #armutsbetroffen und dem Paritäter über Fridays for
Future, BUND und linke Gewerkschafter*innen bis hin zu Antifa und
Migrant*innen-Selbstorganisierungen und nicht zuletzt kritischen
Intellektuellen.
Um
Missverständnisse zu vermeiden: Disruptiv meint nicht „zerstörerisch“, sondern einen Aufbruch im Sinne
eines erkennbaren
und wirkungsvollen Bruchs mit dem „Weiter-so“ hin zu einer neuen, klassenorientiert
sozialökologischen, feministischen, antirassistischen LINKEN
Friedenspartei mit sozialistischer Perspektive. Der Beginn einer
neuen gesellschaftlichen Entwicklungsperiode macht auch die
Neugründung der Partei zur Notwendigkeit, sofern sie überleben
will. Wie viel Erneuerung/Bruch und wie viel konstruktive
Weiterentwicklung/Zusammenhalten brauchen wir? Selbstverständlich
braucht es beides, ist jedoch ein schwieriger Balanceakt. Ziemlich
sicher wird die Partei Leute verlieren und andere eben nicht
gewinnen, selbst wenn sie es gut macht. Umgehen kann sie es nicht,
sie muss sich in diesem Widerspruch bewegen. An dem Schritt kommt sie
nicht vorbei. Für die LINKE ist sonst die Chance verbaut, den Ring
der Isolierung zu durchbrechen.
Es
braucht eine Art Doppelbewegung nach innen und nach außen, ein
Signal an die „eigenen Leute“, die Aktiven und nicht-mehr Aktiven
der Partei, aber auch ein Signal der Partei nach außen, dass nun
eine neue Zeit beginnt. Ein Neustart der Partei und der Linken
insgesamt, auf der Höhe der gesellschaftlichen Situation eines
beginnenden neuen Herrschaftsprojektes konkurrierender Varieties of
Green Empires in einer Zeit von Gewalt und Katastrophen.
Anmerkung
[i] Mit dem Begriff des Interregnums bezeichnete Antonio Gramsci offene
Übergangsperioden der Krise. In diesen Phasen habe die herrschende
Klasse den Konsens verloren und ihre Hegemonie eingebüßt. Die Krise
bestehe darin, „dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt
kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den
unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“ (Gramsci). Ausführlich
siehe Candeias, Mario, 2010: Interregnum – Molekulare Verdichtung
und organische Krise, in: Alex Demirović u.a. (Hg.), Vielfachkrise,
Hamburg, 45–62
Fußnoten/Literatur
[1] vgl. Candeias, Mario 2019: Aufstieg des globalen Autoritarismus. 19
Thesen zu Ursachen und
Bestimmungsmomenten, www.rosalux.de/publikation/id/40834/aufstieg-des-globalen-autoritarismus/,
u. Alex Demirovic, 2018: Autoritärer Populismus als neoliberale
Krisenbewältigungsstrategie, in: Prokla
190, www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/30
[2] vgl. Zeitschrift LuXemburg, 2022: Unangepasst, H.
2, https://zeitschrift-luxemburg.de/ausgaben/unangepasst/;
Candeias, Mario, 2022: Der Übergang. Der verspätete grüne
Kapitalismus und eine sozialistische Reproduktionsökonomie, in:
Zeitschrift
LuXemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/der-uebergang/
[3] Vgl. Candeias, 2014: Weltumordnung. Wie Konturen des Neuen allmählich
sichtbar werden, in: Zeitschrift
LuXemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/weltumordnung/
[4] Mario Candeias, 2020: Am Konflikt arbeiten, in: LuXemburg,
Dezember, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/am-konflikt-arbeiten/
[5] Tatsächlich sind die – in der Kommunikation unklaren –
außenpolitischen Positionen der LINKEN der stärkste Grund für
Wähler*innen im LINKEN-Potenzial, die Partei nicht zu wählen, vgl.
Mario Candeias, 2022: Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE.
Repräsentative Umfrage zum Potenzial der
LINKEN, www.rosalux.de/pressemeldung/id/46582/eine-partei-mit-zukunft-die-linke-1.
[6] Johanna Bussemer, Krunoslav Stojaković, Dorit Riethmüller, 2023:
Europa sozial und ökologisch: Ja! Ergebnisse einer repräsentativen
Umfrage, www.rosalux.de/publikation/id/50679/europa-sozial-und-oekologisch-ja
[7] vgl. Mario Candeias, 2022: Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE.
Repräsentative Umfrage zum Potenzial der
LINKEN, www.rosalux.de/pressemeldung/id/46582/eine-partei-mit-zukunft-die-linke-1.
[8] Vgl. Michael Brie, 2003: Ist die PDS noch zu retten? Analyse und
Perspektiven, RLS-Standpunkte Nr.
3, https://www.rosalux.de/publikation/id/2962/ist-die-pds-noch-zu-retten/
Mario
Candeias
Mario
Candeias ist Direktor
des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung
und Mitbegründer dieser Zeitschrift.
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.