Ukraine-Krieg Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, Russlands Zentralbankreserven zu beschlagnahmen
Die Idee, Russlands eingefrorene Reserven zu konfiszieren, um den Krieg und den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren, mag verführerisch sein. Sie ist aber auch unnötig und unklug. Ein Beitrag von Nicolas Véron und Joshua Kirschenbaum.
Zitat: Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben alle signifikanten Jurisdiktionen, die konvertierbare Reservewährungen ausgeben, entschlossen gehandelt und ihre jeweiligen Anteile an den internationalen Reserven der Bank von Russland eingefroren. Angesichts der steigenden Kosten des ukrainischen Widerstands mehren sich die Rufe, diese eingefrorenen Reserven zu konfiszieren, um den Krieg und den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren, wobei es auch skeptische Gegenargumente gibt. In der Europäischen Union hat sich die polnische Regierung für die Konfiszierung der Reserven ausgesprochen und wurde dabei vom Hohen Vertreter der EU-Außenpolitik, Josep Borrell, unterstützt. Diese Idee ist verführerisch. Sie ist aber auch unnötig und unklug.
Bei den Reserven der Bank von Russland handelt es sich um öffentliche Gelder. Auch wenn sie häufig damit verwechselt werden, sind diese Gelder doch etwas anderes als die eingefrorenen Vermögenswerte der sanktionierten Russen (die oft vereinfachend, aber bequemerweise als Oligarchen bezeichnet werden). Bei den Vermögenswerten einiger Oligarchen wird vermutet, dass sie unrechtmäßig erworben wurden, aber sie genießen dennoch den Schutz, der Privateigentum gewährt wird. Bei den Reserven der Bank von Russland handelt es sich dagegen um öffentliche Gelder, die weder unter diesen Schutz noch – im Kontext der Sanktionen – unter die Staatenimmunität fallen. Aber ihr Erwerb durch den russischen Staat, also im Prinzip im Namen des russischen Volkes, kann nicht grundsätzlich als unrechtmäßig angesehen werden. Die eingefrorenen Reserven der Bank von Russland sind mit insgesamt rund 300 Milliarden Dollar in den beteiligten Jurisdiktionen auch wesentlich umfangreicher als das eingefrorene Vermögen der Oligarchen.
Es gibt nun mindestens fünf, sich teilweise überschneidende Gründe, warum die Unterstützer der Ukraine in der gegenwärtigen Phase des Krieges von der Beschlagnahmung der russischen Reserven absehen sollten.
1.
Die Konfiszierung der Reserven würde die materielle Balance zwischen Russland und der Ukraine nicht kippen. Angesichts des Handlungsdrucks eines Krieges ist dies vielleicht der wichtigste Punkt. Die Debatte über die Konfiszierung könnte von anderen Maßnahmen ablenken, die tatsächlich dringend und folgenreich sind, wie die Reduzierung der europäischen Öl- und Gasimporte aus Russland und die Bereitstellung direkter Finanzmittel für die ukrainische Regierung.
Im Gegensatz dazu würde die Konfiszierung der Reserven der Bank von Russland die unmittelbaren Ziele der Ukraine in Bezug auf die Beendigung des Krieges und die Sicherstellung des Abzugs der russischen Streitkräfte, die russische Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine und ein dauerhaftes Friedensabkommen nicht fördern. Die Auslandsguthaben der russischen Zentralbank sind bereits eingefroren, und der Schritt vom Einfrieren zur Beschlagnahmung wird Präsident Putin nicht weiter schwächen.
Und weder die USA noch die EU sind finanziell so stark eingeschränkt, dass sie sich das Geld der russischen Zentralbank aneignen müssten. Für beide besteht die offensichtliche, verfahrenstechnisch schnelle und rechtlich einwandfreie Option darin, der ukrainischen Regierung weiterhin große Geldsummen aus den nationalen Staatshaushalten zu überweisen. Der US-Kongress ist dabei, ein 40-Milliarden-Dollar-Paket mit zusätzlicher Sicherheits-, Wirtschafts- und humanitärer Hilfe für die Ukraine zu verabschieden, und die EU erwägt eine neue Runde gemeinsamer Anleiheemissionen zur Finanzierung ihrer kurzfristigen Hilfen.
2.
Die Verbündeten der Ukraine würden sich selbst Optionen vorenthalten, die sich noch als wertvoll erweisen könnten, um Russland einen Ausweg zu bieten oder ein Druckmittel bei künftigen Verhandlungen zu gewinnen. Niemand weiß, was in den Gesprächen mit Russland – und mit welcher Art von Russland – angesichts möglicher künftiger Entwicklungen auf dem Spiel stehen könnte. In einigen Szenarien könnte die Möglichkeit, die Reserven der Bank von Russland wieder freizugeben, ein starkes Verhandlungsmittel sein. Diese Option von vornherein auszuschließen, macht wenig Sinn. Es ist natürlich möglich, dass die Verwendung der eingefrorenen Reserven zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine am Ende die beste Option ist, aber dieser Punkt ist noch nicht erreicht.
3.
Die einseitige Beschlagnahmung der Reserven durch die USA könnte zu einer schädlichen Uneinigkeit im Lager der Ukraine-Unterstützer führen, deren Geschlossenheit bisher eine große Stärke war. Ungeachtet der Meinung von Josep Borrell ist es unwahrscheinlich, dass die EU-Länder (ganz zu schweigen von anderen Pro-Ukraine-Ländern) bald einen Konsens über die Konfiszierung der Reserven erzielen werden können, und sei es nur aus Sorge um die Stabilität des Finanzsystems und die internationale Rechtsstaatlichkeit.
Auch wäre die EU aufgrund ihrer geografischen Nähe, ihrer sicherheitspolitischen Anfälligkeit und ihrer engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland offensichtlich stärker als die USA von direkten russischen Vergeltungsmaßnahmen betroffen, selbst wenn viele dieser Verflechtungen gerade rapide abgebaut werden. US-Finanzministerin Janet Yellen hat signalisiert, dass das US-Finanzministerium die Konfiszierung der Reserven der Bank von Russland nur dann empfehlen würde, wenn dies von Amerikas Partnern in der pro-ukrainischen Koalition unterstützt würde. Und Yellen hat Recht: Ein Alleingang der USA könnte Vertrauen untergraben oder sogar materiellen Schaden anrichten, wenn sie extraterritoriale Bestimmungen enthalten.
4.
Die Beschlagnahmung der russischen Reserven könnte unnötige Risiken für die Stärke und Stabilität des internationalen Finanzsystems mit sich bringen. Ähnliche Argumente wurden bereits beim Einfrieren der Reserven vorgebracht und sind sowohl in Russland als auch in China weit verbreitet. Es ist noch zu früh, um mit Sicherheit sagen zu können, inwieweit sie stichhaltig sind. Der Schritt vom Einfrieren zur Konfiszierung wäre jedoch radikaler mit Blick auf den Status von Währungsreserven als sichere Anlage. Die Auswirkungen wären selbst dann ungewiss, wenn man die Ungeheuerlichkeit von Russlands Angriff auf internationale Normen und seine offensichtlichen Kriegsverbrechen berücksichtigt.
5.
Auf einer weniger greifbaren, aber nicht weniger folgenreichen Ebene würde die Konfiszierung der russischen Reserven bedeuten, dass die Pro-Ukraine-Koalition einen Teil der moralischen Überlegenheit aufgeben müsste, die sie bisher innehatte. Wenn die USA und ihre Partner davon sprechen, die internationale, auf Regeln basierende Ordnung zu verteidigen, wird dies bereits von vielen als Heuchelei und Doppelmoral empfunden, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Dabei geht es hier um eine prinzipielle Frage: Ein glaubwürdiges Eintreten für eine regelbasierte Ordnung ist mehr wert als die Milliarden, die durch die Aneignung von russischen Geldern gewonnen werden könnten. Länder legen ihre Reserven in anderen Ländern im Vertrauen darauf an, dass sie in Situationen, in denen sie sich nicht im Krieg befinden, nicht enteignet werden – und jene Länder, die Reserven der Bank von Russland halten, befinden sich, obwohl sie die Ukraine aktiv unterstützen, derzeit nicht im Krieg mit Russland. Russlands Verstoß gegen internationale Normen, so schwerwiegend er auch ist, rechtfertigt keine unbegrenzte Bestrafung.
Es liegt auf der Hand, dass internationale Währungsreserven einen gewissen völkerrechtlichen Schutz genießen (wie Paul Stephan feststellte), auch wenn dies, wie oben erwähnt, keine Staatenimmunität vor Gerichtsverfahren einschließt und es nur wenige Präzedenzfälle gibt. Die moralische Überlegenheit ist auch mit Blick auf die russische Öffentlichkeit zu verteidigen, selbst wenn die Wahrnehmung in Russland derzeit durch massive und rücksichtslose Propaganda im Inland verzerrt wird. Die Beschlagnahmung von russischem Kollektiveigentum birgt die Gefahr, dass sich in Russland der Eindruck verfestigt, die Gegenseite wolle in Wirklichkeit Russland schaden und nicht die Ukraine verteidigen. Dies wird wahrscheinlich eine revanchistische Ausrichtung der russischen Öffentlichkeit begünstigen, was den Interessen der Ukraine, ihrer Verbündeten und des Weltfriedens zuwiderlaufen dürfte.
Rechtliche Hindernisse
Darüber hinaus dürfte die Anwendung von Sanktionen zur Beschlagnahmung der russischen Reserven, während sich die USA nicht selbst im Krieg befinden, nach US-Recht – dem International Emergency Economic Powers Act (IEEPA) von 1977 – illegal sein. Der einzige Fall einer Beschlagnahmung von Staatsvermögen durch Sanktionen auf der Grundlage des IEEPA war 2003 während der US-Invasion im Irak. In früheren Fällen wurde auf Gesetze zurückgegriffen, die nur in Kriegszeiten angewendet werden können (Trading With the Enemy Act von 1917).
Hingegen haben weder die Fälle Afghanistans noch der Venezuelas in dieser Debatte Präzedenzwert: In ersterem Fall kann die Verfügung über die Reserven der Zentralbank durch ein früheres Urteil gerechtfertigt werden, in dem die Taliban für die Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 haftbar gemacht wurden; im zweiten Fall gab es keine Beschlagnahmung, sondern eine Freigabe von zuvor eingefrorenen Vermögenswerten an eine Regierung, die von den USA als rechtmäßig angesehen wurde.
Und selbst wenn der US-Kongress ein neues Gesetz verabschiedet, das die Beschlagnahmung von Vermögenswerten in Situationen erlaubt, in denen sich die USA nicht im Krieg befinden, könnte es in künftigen Gerichtsverfahren als verfassungswidrig eingestuft werden. Eine solche aggressive Ausweitung der Exekutivbefugnisse könnte die US-Justiz sogar dazu veranlassen, die der Regierung in der Vergangenheit gewährte Befugnis bei der Ausübung von Blockaden oder anderen Sanktionen zu überdenken. Außerdem könnte ein künftiger US-Präsident die Befugnis zur Beschlagnahmung in Nicht-Kriegs-Zeiten rücksichtslos einsetzen, beispielsweise in einem Handels- oder Zollstreit. Ähnliche Argumente können auch in der EU und anderswo vorgebracht werden.
Es geht in der Frage der russischen Reserven nicht um die Wahl zwischen Beschlagnahmung und Komplizenschaft. Natürlich würden sich die Dinge grundsätzlich ändern, wenn die USA, die EU oder andere Mitglieder der Pro-Ukraine-Koalition selbst zu Kriegsparteien würden, und möglicherweise auch, wenn es zu einer dramatischen Eskalation durch Russland käme. Vorerst sollten die Unterstützer der Ukraine abwägen, welche Optionen am ehesten geeignet sind, ihre Ziele zu erreichen – auch wenn sie kurzfristig weniger emotional befriedigend sind.
Zu den Autoren:
Nicolas Véron ist Senior Fellow am Peterson Institute for International Economics und am wirtschaftswissenschaftlichen Institut Bruegel, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.
Joshua Kirschenbaum ist Senior Fellow bei der Alliance for Securing Democracy des German Marshall Fund.
unser Kommentar: Der German Marshall Fund hat vor über zehn Jahren dadurch Aufmerksamkeit erlangt, dass in einer seiner Veröffentlichungen Deutschlands neue Rolle "Neue Verantwortung" in der Weltpolitik auch dessen Beteiligung an Militärischen Aktionen miteinschließe-