9. Zenith: Die Front im Norden
https://magazin.zenith.me/de/politik/hamas-gaza-und-hizbullah-im-libanon?utm_source=pocket-newtab-de-de
Hamas in Gaza und Hizbullah im Libanon
Die Front im Norden
Analyse
von Christoph Leonhardt
24.10.2023
Politik
Weder Israel noch die Hizbullah sind an einem neuen Krieg interessiert
– aber doch bereit, ihn zu führen.
Christoph Leonhardt argumentiert, warum die libanesische Miliz für
Israel eine größere Gefahr darstellt als die Hamas.
(..)
Bei den Zusammenstößen, bei denen einerseits Kleinwaffen, Granaten,
Mörser, Raketen, Flugkörper und Drohnen mitsamt
Infiltrationsversuchen, andererseits Artillerie, Luftschläge und
Kampfdrohnen zum Einsatz kommen, sind bereits Dutzende Menschen
gestorben:
Auf libanesischer Seite sind nach eigenen Angaben mindestens 44
Menschen getötet (darunter circa 25 Hizbullah- sowie 6 Hamas- und
Islamischer Dschihad-Kämpfer, fast ein Dutzend Zivilisten und ein
Journalist) und viele weitere verletzt worden. Auf israelischer Seite
sind nach eigenen Angaben mindestens 8 IDF-Soldaten sowie ein Zivilist
getötet und ein Dutzend verletzt worden.
Trotz der teils heftigen Auseinandersetzungen stellen sich die Kämpfe
im Grenzgebiet militärtaktisch noch als limitiert dar. Bis dato
richten beide Konfliktseiten die Stärke ihrer Angriffe am Ausmaß der
Attacke des Gegenübers aus, womit eine weitere Eskalation vermieden
werden konnte.
Die Hizbullah scheint die IDF durch ihre Angriffe an der Nordflanke
lediglich binden und ihren Fokus von der Front im Süden verschieben zu
wollen. Sollte die Hizbullah Israel jedoch in größerem Umfang
attackieren, ist von israelischer Seite auch mit deutlich stärkeren
Vergeltungsschlägen zu rechnen – und diese könnten nicht nur auf den
Libanon begrenzt bleiben, sondern wie bereits jüngst geschehen sich
auch punktuell auf Syrien, den Irak und sogar auf Iran ausweiten.
Ein Indiz für die hohe Eskalationsgefahr zeichnet sich schon darin ab,
dass viele Länder, darunter Belgien, Deutschland, Frankreich und die
USA, ihre Staatsbürger zum sofortigen Verlassen des Libanons
aufgefordert haben.
Ferner hat Washington die Flugzeugträger »USS Gerad R. Ford« und
»Dwight D. Eisenhower«, eine Reihe weiterer Kriegsschiffe und
Kampfjets sowie Raketenabwehrsysteme vom Typ THAAD und Patriot in die
Region entsandt, um eine Warnung in Richtung Iran und Hizbullah zu
senden.
Nicht nur der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian warnte
jüngst davor, eine »andere Front zu eröffnen«. Auch
Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah hat mehrfach bekräftigt,
dass die »Partei Gottes« fortan »für einen Krieg mit Israel«
bereitstehe.
Nachdem sich die Kämpfe im libanesisch-israelischen Grenzgebiet in den
vergangenen Tagen weiter intensiviert hatten, sprach der israelische
Verteidigungsminister Yoav Gallant am 21. Oktober seinerseits davon,
dass Israel im Falle eines Kriegseintritts der Hizbullah »einen hohen
Preis verlangen« werde.
Dem entgegnete der stellvertretende Hizbullah-Generalsekretär Naim
Qassem tags darauf, dass »Israel selbst einen hohen Preis zahlen«
werde, denn die Hizbullah befände sich bereits »im Herzen der Schlacht«.
—
10. Journal 21: Heiko Flottau: Der sprachliche Tunnelblick und das verpönte «Aber»
https://www.journal21.ch/artikel/der-sprachliche-tunnelblick-und-das-verpoente-aber
Zwischenruf <https://www.journal21.ch/category/tags/zwischenruf>
Der sprachliche Tunnelblick und das verpönte «Aber»
Heiko Flottau
1. November 2023
(…)
Bis jetzt sind die Palästinenser abermals auf der Verliererseite. Kaum
jemand spricht darüber, welches politische Ziel Israel anstrebt –
ausser der Vernichtung der Hamas.
In der ARD-Sendung «Hart aber Fair» vom 30. Oktober 2023 erklärte der
ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, Israel
müsse sich vollkommen von den Palästinensern «trennen». Wie das
geschehen soll, blieb offen.
Offenbar wird insgeheim über einen Gefangenenaustausch gesprochen.
Nach palästinensischen Angaben befinden sich 9500 Palästinenser in
israelischer Haft. 278 sitzen länger als 15 Jahre in Gefangenschaft,
14 über 25 Jahre und zwei über 30 Jahre. Anmerkung: In Deutschland
kommt jeder rechtmässig verurteilte Mörder im Allgemeinen nach 15
Jahren Haft frei.
Zu denen, die mehr als 15 Jahre im Gefängnis sitzen, zählt Marwan
Barghouti. Dieser prominente Vertreter der PLO-Untergruppe Fatah war
einer der Organisatoren der zweiten Intifada. Barghouti wurde am 6.
Juni 2004 zu einer fünffachen lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt,
weil er, nach israelischen Angaben, bei Bombenanschlägen mehrere
Israelis getötet habe.
Barghouti galt als möglicher Nachfolger Arafats. Im Gefängnis hat er
sich für die Versöhnung mit der Hamas ausgesprochen. Im Allgemeinen
gilt er als ein Mann, der – als Befürworter der Zweistaatenlösung –
mit Israel verhandeln könnte.
Auch bei der Hamas wäre er möglicherweise als Gesprächspartner
akzeptiert – sofern diese dann noch in irgendeiner, eher
zivilisierteren Form existieren würde. (…)
Mit der Hamas reden? Mit den heutigen in Gaza wütenden Schlächtern ist
das nicht möglich. Mit der in Katar residierenden politischen Führung
der Hamas schon eher. Wird die militärische Struktur der Hamas
zerschlagen, bleibt allerdings immer noch die Ideologie in den Köpfen.
Am Ende des Tages wird nur bleiben, was der «New York
Times»-Journalist jüdischer Abstammung, Roger Cohen, während des
US-Krieges gegen Saddam Hussein gefordert hat. Man müsse, schrieb
Cohen, auch mit seinen Feinden sprechen.
—
11. nd: Opfer der Hamas: »In meinem Namen will ich keine Rache«
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177346.nahost-opfer-der-hamas-in-meinem-namen-will-ich-keine-rache.html
Opfer der Hamas: »In meinem Namen will ich keine Rache«
Angehörige der Opfer der Hamas in Israel sprechen sich gegen den
Militäreinsatz im Gazastreifen aus. Auch sie verdienen, gehört zu werden
Orly Noy
07.11.2023, 14:44 Uhr
(…)
Umso bemerkenswerter ist es, dass sich angesichts der vorherrschenden
politischen Stimmung immer mehr Israelis, die die Massaker überlebt
haben oder deren Angehörige getötet oder nach Gaza entführt wurden, zu
Wort melden und sich eindeutig gegen die Tötung unschuldiger
Palästinenser aussprechen und der Rache eine Absage erteilen.
In einer Trauerrede für ihren Bruder Hayim, einen im Kibbuz Holit
ermordeten Aktivisten gegen die Besatzung, forderte Noi Katsman ihr
Land auf, »unseren Tod und unseren Schmerz nicht dazu zu benutzen, den
Tod und den Schmerz anderer Menschen oder anderer Familien zu
verursachen. Ich fordere, dass wir den Kreislauf des Schmerzes
durchbrechen und verstehen, dass der einzige Weg [vorwärts] Freiheit
und gleiche Rechte sind. Frieden, Brüderlichkeit und Sicherheit für
alle Menschen.«
Ziv Stahl, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Yesh Din und
Überlebender des Höllenfeuers in Kfar Aza, sprach sich in einem
Artikel in »Haaretz« ebenfalls entschieden gegen Israels Angriff auf
Gaza aus. »Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, nichts wird diejenigen
zurückbringen, die weg sind«, schrieb sie. »Die wahllose Bombardierung
des Gazastreifens und die Tötung von Zivilisten, die an diesen
schrecklichen Verbrechen unbeteiligt sind, ist keine Lösung.«
Yotam Kipnis, dessen Vater bei dem Hamas-Anschlag ermordet wurde,
sagte in seiner Trauerrede: »Schreiben Sie den Namen meines Vaters
nicht auf eine [militärische] Granate. Das hätte er nicht gewollt.
Sagt nicht: ›Gott wird sein Blut rächen.‹ Sagt: ›Möge sein Andenken
zum Segen werden.‹«
Michal Halev, die Mutter von Laor Abramov, der von der Hamas ermordet
wurde, warnte in einem auf Facebook geposteten Video unter Tränen:
»Ich flehe die Welt an: Hört auf mit all den Kriegen, hört auf,
Menschen zu töten, hört auf, Babys zu töten. Krieg ist nicht die
Antwort. Mit Krieg kann man keine Probleme lösen. Dieses Land, Israel,
macht Horror durch ... Und ich weiß, dass die Mütter in Gaza Horror
durchmachen ... In meinem Namen will ich keine Rache.«
Maoz Inon, deren Eltern am 7. Oktober ermordet wurden, schrieb bei Al
Jazeera: »Meine Eltern waren Menschen des Friedens ... Rache wird
meine Eltern nicht ins Leben zurückbringen. Sie wird auch andere
getötete Israelis und Palästinenser nicht zurückbringen. Sie wird das
Gegenteil bewirken ... Wir müssen den Kreislauf durchbrechen.«
Als Yonatan Ziegen, der Sohn von Vivian Silver, von einem Journalisten
gefragt wurde, was seine Mutter – von der angenommen wird, dass sie
entführt wurde – darüber denke, was Israel jetzt in Gaza tue,
antwortete er: »Sie wäre beschämt. Denn man kann tote Babys nicht mit
noch mehr toten Babys heilen. Wir brauchen Frieden. Dafür hat sie ihr
ganzes Leben lang gearbeitet ... Schmerz ist Schmerz.«
Eine 19-jährige Überlebende des Massakers im Kibbutz Be'eri hielt in
einem Video, das inzwischen im Internet viral ging, einen bewegenden
Monolog über die Vernachlässigung der Bewohner des Südens durch die
Regierung, in dem sie für die Rückkehr der Geiseln plädierte:
»Rückführung der Geiseln.
Frieden. Anstand und Fairness ... Vielleicht fällt es einigen von
Ihnen schwer, diese Worte zu hören. Es fällt mir schwer, sie
auszusprechen. Aber nach dem, was ich in Be'eri durchgemacht habe,
seid ihr es mir schuldig.«
Wir sind es ihnen schuldig. Ich höre ihnen zu und lese ihre Worte, und
ich verneige mich vor ihrem Mut. Und ich denke über das seltsame
Beharren so vieler, auch sogenannter Linker, darauf nach, den Grad
unserer Solidarität, unseres Schmerzes oder unserer Wut daran zu
messen, ob wir bereit sind, das Feuer zu unterstützen, das unsere
Armee auf Gaza niederregnen lässt.
Was werden Sie zu dem trauernden Vater sagen? Zu dem Überlebenden des
Massakers? Brauchen diese nicht auch Solidarität? Woher kommt deren
Mut zu sagen, was in jedem einzelnen unserer gebrochenen Herzen und
Seelen vorgeht?
»Ich habe meine Tochter verloren, nicht meinen Verstand«
Ich beobachte die Vorwürfe gegen diejenigen, die um ein Ende dieses
sinnlosen Gemetzels, dieses schrecklichen und bedrohlichen
Kriegsverbrechens in Gaza flehen, und ich denke an den Satz von Ben
Kfir, einem Mitglied des Bereaved Families Forum, der sich vor Jahren
in meinem Kopf eingeprägt hat, als er über die Sinnlosigkeit von Rache
sprach: »Ich habe meine Tochter verloren, nicht meinen Verstand.«
Dieser Mann, der den Menschen verloren hat, der ihm am meisten am
Herzen lag, und viele andere, die sich nun dem Kreis der
Hinterbliebenen angeschlossen haben, verstehen, was so viele heute
noch nicht verstehen wollen: dass der Weg, der uns angeboten wird,
nämlich mehr Blut und mehr »Abschreckungsmaßnahmen«, genau der Weg
ist, der uns schon so oft vorgegeben wurde und der uns zu den
Schrecken geführt hat, die wir heute erleben.
——
12. Der Spiegel: SPIEGEL-Gespräch mit einem Palästinenser und einem Israeli
https://www.spiegel.de/ausland/nahostkonflikt-ein-palaestinenser-und-ein-israeli-kaempfen-als-enge-freunde-fuer-frieden-a-3fd0a625-a2d0-467d-9190-f7ba6a9cbfa9
SPIEGEL-Gespräch mit einem Palästinenser und einem Israeli
»Wie nimmt man Rache für die Tötung eines Kindes? Indem man anderer Leute Kinder tötet?«
Der Palästinenser Bassam Aramin und der Israeli Rami Elhanan haben im
Nahostkonflikt jeweils eine Tochter verloren. Statt bitter zu werden,
kämpfen sie als enge Freunde für Frieden. Wie haben sie das geschafft?
Ein Interview von Jörg Schindler
04.11.2023, 19.26 Uhr • aus DER SPIEGEL 45/2023
—
In der Printversiondes Spiegel, 4.11.2023, steht das Interview
unter dem folgenden Titel und endet mit der folgenden Passage:
SPIEGEL-GESPRÄCH
Der Palästinenser Bassam Aramin und der Israeli
Rami Elhanan haben im Nahostkonflikt jeweils eine Tochter verloren.
Statt bitter zu werden, kämpfen sie als Freunde für Frieden.
Wie machen sie das?
(…)
SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, die Trennlinie in Nahost liege nicht
zwischen palästinensischen Muslimen und israelischen Juden, sondern
zwischen jenen, die keinen Frieden wol- len, und jenen, die bereit
seien, für den Frieden einen Preis zu zahlen. Was ist der Preis?
Elhanan: Ganz einfach: Der Preis ist die Fähigkeit, deinen Nächsten
so zu respektieren, wie du selbst respektiert werden möchtest.
SPIEGEL: Ist das so einfach? Der ganze politische und geografische
Schlamassel ist damit doch nicht gelöst.
Elhanan: Wir können einen Staat ha- ben oder zwei oder 10.000, eine
Kon- föderation oder eine Föderation. Das sind technische Fragen.
Aber um dort hinzukommen, müssen wir aufhören, auf den jeweils
anderen herabzublicken und uns als Besatzer und Besetzte zu
begegnen. Ich gebe zu, dass es schwer wird, an diesen Punkt zu
gelangen.
SPIEGEL: Was lässt Sie glauben, dass man ihn je erreichen wird?
Elhanan: Es gibt keine Alternative. Wir werden es nicht schaffen, die
Palästinenser in die Wüste zu treiben, und die Palästinenser
werden es nicht schaffen, uns ins Meer zu treiben. Wir sind dazu
verdammt, gemeinsam hier zu leben, auf die eine oder andere Weise.
Deswegen werden beide Sei-ten früher oder später an den Ver-
handlungstisch zurückkehren, den sie vor 23 Jahren in Camp David
verlassen haben. Aber ich glaube nicht, dass das kurzfristig
passieren wird.
Aramin: Vielleicht sollte man es mal so betrachten: Die Israelis haben
nicht sechs Millionen Palästinenser getötet, und die Palästinenser
haben, anders als die Deutschen, nicht sechs Millionen Juden ermordet.
Und trotz- dem sind Israel und Deutschland heute befreundete
Nationen, es gibt einen deutschen Botschafter in Tel Aviv und einen
israelischen Botschafter in Berlin. Was heißt das?
Es heißt, wir können es auch schaffen. Alles, was wir dafür brauchen, sind
mutige Anführer, die uns entschlossen vom Grauen und vom Schmerz der Ver-
gangenheit wegführen.
SPIEGEL: Herr Aramin, Herr Elhanan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
——
13. Die Zeit: Gershon Baskin: "Alle verhandeln mit Terroristen"
https://www.zeit.de/politik/2023-10/gershon-baskin-hamas-geiseln-israel-gaza/komplettansicht
Gershon Baskin: "Alle verhandeln mit Terroristen"
Gershon Baskin ist einer der wenigen Israelis mit direktem Kontakt zur Hamas. Er weiß, wie man mit Terroristen verhandelt – und dass man manchmal schwach wirken muss.
Interview: Martín Steinhagen und Fiona Weber-Steinhaus
28. Oktober 2023, 16:19 Uhr
Gershon Baskin initiierte und vermittelte fünf Jahre lang den geheimen
Kommunikationskanal, der zum folgenreichsten Gefangenenaustausch in
der Geschichte Israels beitrug: der israelisch-französische Soldat
Gilad Shalit gegen 1.027 palästinensische Gefangene. Den Kontakt zu
einigen Hamas-Entscheidern hielt Baskin weiterhin aufrecht, sagt er.
Momentan verhandelt Israel nicht direkt mit der Terrororganisation
Hamas, die Gespräche laufen über die USA und über Katar. Das Gespräch
mit Baskin fand am Mittwoch, 25. Oktober, über Video statt.
ZEIT ONLINE: Herr Baskin, in den vergangenen Tagen haben Sie mit Ihrer
Hauptkontaktperson von der Terrororganisation Hamas gechattet. Was
haben Sie ihm geschrieben?
Gershon Baskin: Es war in dem Sinne keine neue Unterhaltung. Schon
seit 18 Jahren schreibe und spreche ich mit Ghazi Hamad, einem
Sprecher der Hamas. Mit ihm habe ich damals im Fall von Gilad Schalit
verhandelt. (…)
ZEIT ONLINE: Für viele gilt der Grundsatz: Mit Terroristen verhandelt
man nicht. Warum haben Sie es damals im Fall Gilad Schalit getan?
Baskin: Alle verhandeln mit Terroristen. Auch wenn es nicht immer um
Geiseln geht, sondern um Geld. Das machen die Amerikaner, auch die
Deutschen. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, muss man mit
Terroristen verhandeln. Wir müssen mit unserem Feind reden.
Mein Grundsatz war immer: Ich bin bereit, mit jedem zu sprechen, der mit
mir spricht. Hätte ich mit den Nazis geredet? Ja, auch wenn sie mich
wahrscheinlich vorher ermordet hätten. Wenn ich glaube, dass man damit
ein Menschenleben retten kann, würde ich es tun. Und das gilt momentan
für jede einzelne Geisel im Gazastreifen.
(…)
ZEIT ONLINE: Seit dem 20. Oktober hat die Hamas insgesamt vier Frauen
freigelassen. Ist dies ein Hoffnungsschimmer für die mehr als 200
Geiseln, die noch im Gazastreifen festgehalten werden?
Baskin: Es ist etwas komplexer. Katar hatte, soweit ich informiert
bin, auf die erste Freilassung der beiden Amerikanerinnen hingewirkt,
auf Druck vonseiten der US-amerikanischen Regierung.
Katar unterstützt als Staat Terroristen, und versucht gleichzeitig Teil der
Weltwirtschaft zu sein: Es gibt dort eine US-amerikanische
Militärbasis, Katar investiert an der Wall Street und im Silicon
Valley, Qatar Airlines fliegt Ziele in der ganzen Welt an. Die USA
können ihre Position also nutzen. Die Freilassung war also keine Bitte
der USA. Es war ein Befehl.
(…)
ZEIT ONLINE: Bei der zweiten Freilassung soll Ägypten verhandelt haben.
Baskin: Interessant daran ist vor allem zweierlei. Die beiden Frauen
sind Israelis und keine Doppelstaatler. Damit ist das Argument
hinfällig, dass Menschen mit einem zweiten Pass anders behandelt
werden. Und: Die ägyptischen Verhandlungen erfolgten offenbar über den
militärischen Flügel der Hamas. Die Freilassung über Katar lief
hingegen über den politischen Flügel, sowohl in Doha als auch in Gaza.
Dies wirft eine Reihe von Fragen auf: Mit wem verhandeln wir oder über
wen? Was ist mit den Geiseln, die von anderen Gruppen wie dem
Islamischen Dschihad, und von Einzelpersonen festgehalten werden? Wer
hat die Kontrolle, wenn überhaupt jemand? Hat die Hamas eine
Strategie? Soweit ich weiß, wusste der politische Flügel gar nicht,
dass die zwei Frauen freigelassen werden sollten.
ZEIT ONLINE: Sie sprechen seit fast zwei Jahrzehnten mit Hamas-Führern
oder Offiziellen. Viele Menschen fragen sich angesichts der
bestialischen Taten: Was sind das für Menschen, die Zivilisten
massakrieren, vergewaltigen, Kinder foltern? Hat sich die Hamas
nochmals radikalisiert?
Baskin: Ihre grundlegende Weltanschauung ist gleich geblieben. Was
sich aber geändert hat, ist ihr Verhalten. Die Ideologie basiert auf
einem, wie ich es nenne, verzerrten Verständnis des Islam: Das Leben
auf der Erde ist kurz und unbedeutend. Nur das ewige Paradies ist
wichtig. Ein Märtyrer zu sein, ist der beste Weg, dorthin zu gelangen.
Wenn jemand in der Hamas also sagt: Ich habe keine Angst zu sterben,
ist das kein Slogan. Es ist die Wahrheit. Man kann seinen Feind nur
abschrecken, wenn er Angst vor dem Tod hat. Wenn er keine Angst hat,
funktioniert das Prinzip der Abschreckung nicht. Dazu kommt: +
Die Elite-Kampftruppe der Hamas, die Nujba-Truppe, besteht hauptsächlich
aus Kindern von Hinterbliebenen. Die Hamas wirbt Kinder aus Familien
an, in denen ein Bruder oder Vater, ein Großvater, ein Onkel getötet
wurde. Sie erziehen die Kinder in ihrer Version des Islam, in dem
Vorhaben für Palästina und Allah und lehren Vergeltung: Diese Juden
haben deinen Vater getötet. Ihr müsst sie also töten.
ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich diese Verhaltensänderung?
Baskin: Dafür habe ich keine Erklärung. Die Hamas hat etwa eindeutig
das Massaker auf dem Musikfestival verübt. Das Erstaunliche: Sie
bestreitet manche der Gräuel. Auch wenn dies klar gelogen ist. Ich
glaube, manche waren selbst schockiert. Es gab Berichte in Israel,
dass einige Terroristen diese Amphetamine genommen haben, die der IS
benutzt, um seine Kämpfer zu solchen Gräueltaten zu befähigen;
und dass diese Pillen bei einigen der toten Terroristen gefunden wurden.
Das ist aber keine Entschuldigung. Der militärische Flügel der Hamas
hätte dieses Massaker zumindest nicht ohne die Zustimmung der
Schlüsselpersonen des politischen Flügels der Hamas verüben können.
(…)
ZEIT ONLINE: Was wäre bei Verhandlungen für die Hamas von Interesse?
Baskin: Ein schneller Waffenstillstand. Aber sie wollen auch
Treibstoff. Darauf sind sie angewiesen. Aber was ich jetzt in den
Diskussionen erlebe, ähnelt durchaus dem, was ich in den letzten acht
Jahren der Verhandlungen mit der Hamas und Israel erlebt habe, in all
den Jahren, in denen Gilad Schalit in Gefangenschaft war: Es geht
manchmal zu wie im Kindergarten.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?
Baskin: Bei den Verhandlungen geht es auch um Spielchen: Wer macht den
ersten Schritt? Wer trägt die Schuld? Wer sagt die Wahrheit? Teams
arbeiten Strategien aus, machen Spieltheorie oder anderen Bullshit.
Wenn es ihnen wirklich um Menschenleben ginge, würden sie direkt mit
dem Feind sprechen – ohne Dritte, ohne Vermittler, einfach direkt, die
Karten auf den Tisch. Ein ehemaliger Chef einer der israelischen
Sicherheitsbehörden schrieb mir zu einem Vorschlag, den ich zum Umgang
mit dem Treibstoff verfasst hatte: Darauf können wir uns nicht
einlassen, wir würden schwach wirken. Ich dachte: Ist doch scheißegal,
wie wir wirken, Hauptsache, die Geiseln kommen frei.
(…)
ZEIT ONLINE: Auch wenn Sie kein offizieller Verhandlungsführer sind –
wie verändert es Ihre Rolle, wenn Sie die Menschen kennen, die in
Gefahr sind?
Baskin: Es ändert nichts. Ich kannte Gilad Schalit nicht und trotzdem
habe ich fünf Jahre und vier Monate lang fast jeden Tag darüber
nachgedacht, wie er freigelassen werden könnte. Und meine Arbeit war
auch schon immer persönlich. Ein Jahr, bevor Schalit gefangen genommen
wurde, hat die Hamas den Cousin meiner Ehefrau entführt und getötet.
Sein Mörder war einer der Gefangenen, die während des
Gefangenenaustausches freigelassen wurden.
ZEIT ONLINE: Sie haben Ihr Leben dem Frieden gewidmet. Wie behalten
Sie Hoffnung?
Baskin: Zum einen habe ich unter meinen Freunden etwa gleich viele
Palästinenser und israelische Juden. Ich gehe überallhin, ich treffe
Leute, ich bin willkommen. Ich befinde mich mit niemandem im Krieg und
lebe wirklich ein Leben in Frieden mit meinen Nachbarn. Deswegen weiß
ich, dass es möglich ist. Zum anderen werde ich nirgendwo anders
hinziehen.
ZEIT ONLINE: In Ihrer Familie gibt es darüber Diskussionen.
Baskin: Meine Tochter lebt jetzt in Frankreich. Sie ist vor sechs
Jahren aus Israel weggezogen. Sie wollte nicht ihre Tochter in dem
militaristischen Umfeld aufwachsen lassen, zu dem Israel geworden ist.
Sie sagte mir: Israel soll der sicherste Ort für Juden sein. In
Wirklichkeit ist es der gefährlichste Ort der Welt. Und der 7. Oktober
hat meiner Tochter recht gegeben. Mein jüngster Sohn möchte auch
weggehen. Aber hier bin ich zu Hause. Trotz aller Ungerechtigkeiten
und aller Probleme, die wir haben, ist es meine Lebensaufgabe, Israel
zu einem besseren Ort zu machen, in dem man in Frieden mit seinen
Nachbarn lebt.
ZEIT ONLINE: Was wäre dafür nötig?
Baskin: Der Ausgangspunkt für alles Weitere muss sein: Alle haben
dasselbe Recht auf dieselben Rechte. Ob das zu einem Staat, zwei
Staaten, drei Staaten oder zehn Staaten führt, ist nicht die
Hauptfrage. Die grundlegende Diskussion muss sein, dass wir alle das
Recht des anderen anerkennen müssen, hier zu leben. (…)
——
14. verfassungsblog: Muriel Asseburg und Lisa Wiese:
Die Gräueltaten der Hamas, Israels Reaktion und das völkerrechtliche Primat zum Schutz der Zivilbevölkerung
https://verfassungsblog.de/die-graueltaten-der-hamas-israels-reaktion-und-das-volkerrechtliche-primat-zum-schutz-der-zivilbevolkerung/
Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika
und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in
Berlin; sie ist Politikwissenschaftlerin und hat im Nebenfach
Völkerrecht studiert.
Lisa Wiese ist Volljuristin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und
Doktorandin am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches
Recht der Universität Leipzig.
20. Oktober 2023
Die Gräueltaten der Hamas, Israels Reaktion und das völkerrechtliche Primat zum Schutz der Zivilbevölkerung
(…)
Deutsche Solidarität, deutsche Verantwortung
Die Selbstverpflichtung der deutschen Politik auf die Sicherheit
Israels, die Abscheu über die Gräueltaten der Hamas und die
weitgehende Zustimmung zu Israels Ziel, die Hamas zu zerschlagen,
entheben Deutschland nicht seiner völkerrechtlichen Verantwortung.
Deutschland hat vielmehr, wie andere Drittstaaten auch, nicht nur eine
Verpflichtung, die Regeln des Völkerrechts zum Schutz der
Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu respektieren.
Es hat auch nach dem gemeinsamen Art. 1 der vier Genfer Konventionen
eine völkerrechtliche Pflicht auf deren Einhaltung zu drängen. Dies
hat der Internationale Gerichtshof (IGH) unter anderem im Jahr 2004 in
seinem Mauergutachten bestätigt.
In diesem Sinne sollte die Bundesregierung jetzt vordringlich ihre
engen Beziehungen zu Israel nutzen, um darauf einzuwirken, die Geiseln
durch Verhandlungen zu befreien; die Bevölkerung Gazas durch die
Einrichtung von Schutzzonen effektiv zu schützen; auf den Einsatz von
unzulässigen Methoden der Kriegsführung zu verzichten; humanitären
Zugang zu gewährleisten, so dass Trinkwasser, Lebensmittel,
Medikamente und Treibstoff für die Generatoren der Krankenhäuser
geliefert werden können; und humanitäre Korridore einzurichten, welche
die Evakuierung etwa von dringenden medizinischen Fällen und
ausländischen Zivilist:innen erlauben.
Gleichzeitig gilt es auch, über Staaten mit Kontakten zur
Hamas-Führung, wie Ägypten und Katar, auf erstere einzuwirken, um das
Wohlergehen der Geiseln zu gewährleisten und auf deren Freilassung zu
dringen, den wahllosen Raketenbeschuss auf Israel einzustellen und die
Flucht der eigenen Bevölkerung aus Kampfzonen nicht zu verhindern.
Im Nachgang der akuten Eskalation muss es auch darum gehen, die
Untersuchung vermuteter Kriegsverbrechen aller am Konflikt in Israel
und den palästinensischen Gebieten Beteiligten durch den
Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen.
Denn dass gravierende Verletzungen des humanitären Völkerrechts und
der Menschenrechte nicht sanktioniert und mutmaßliche Kriegsverbrechen
nicht verfolgt werden, lädt die Konfliktparteien zum fortgesetzten
Rechtsbruch ein. Das rückt auch eine politische Konfliktregelung und
ein nachhaltiges friedliches Zusammenleben in immer weitere Ferne.
——
15. Change.org: Wir fordern - Waffenstillstand in Nahost – jetzt!
Die nachfolgende Petition kann mitunterzeichnet werden:
https://www.change.org/p/sofortiger-waffenstillstand-und-wiederaufnahme-der-deutsch-pal%C3%A4stinensischen-entwicklungsz?utm_content=cl_sharecopy_37713836_de-DE%3A5&recruited_by_id=7cc8eaa0-75b0-11ee-b569-adcb5083be63&utm_source=share_petition&utm_medium=copylink&utm_campaign=psf_combo_share_initial&utm_term=psf_combo_share_initial&share_bandit_exp=initial-37713836-en-US
Wir fordern - Waffenstillstand in Nahost – jetzt!
—
Mit freundlichen Grüßen
Clemens Ronnefeldt
Referent für Friedensfragen beim deutschen
Zweig des internationalen Versöhnungsbundes
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.