Zeitgeschehen im Fokus (I von III)
Forschen - Nachdenken - Schlüsse ziehen
Schweizer Zeitung für mehr soziale Verbundenheit, Frieden und direkte Demokratie
zeitgeschehen-im-fokus.ch, vom 22. Dezember 2023
Artikel in dieser Ausgabe
- Editorial
- In den Bundesrat gewählt – und nun?
- «Die Ukraine ist in einer Sackgasse»
- Krieg und Frieden
- Gazakrieg
- Palästina/Israel: «Zwei hochtraumatisierte Bevölkerungen stehen einander gegenüber»
- Vom pädagogischen Wert der Zuversicht
- «Ich sehe in dir viel Potenzial – was brauchst du, um etwas daraus zu machen?»
Editorial Auch in diesem zu Ende gehenden Jahr beschäftigen uns die aktuellen Konflikte. Ein unbeschwertes Weihnachten wird nicht leicht fallen, wenn nicht weit entfernt Krieg, Tod, Verderben und Elend herrscht. Es sieht nicht danach aus, dass die Konflikte bald beendet und friedliche Lösungen gefunden werden.
In unserer Zeitung kommen verschiedene Stimmen zu Wort, die aus gutem Grund eine andere Position einnehmen als die meisten grossen Medien. Um einen Konflikt, sei es zwischen Privatpersonen oder Staaten beurteilen zu können, muss man ihn aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und darf sich nicht nur auf die Darstellung einer Seite abstützen. Es gilt der Grundsatz: audiatur et altera pars. Das wäre zwar bei der aktuellen Berichterstattung schon ein Fortschritt, aber genügt noch nicht. Wenn man nicht nur irgendwelchen Meinungen hinterherrennen möchte, muss man sich mit Hilfe unabhängiger, seriöser Quellen ein umfassendes Bild verschaffen. Nur so kann man ein Ereignis verstehen, damit man nicht urteilt, bevor man weiss. Der Philosoph Immanuel Kant hat das in seiner Abhandlung «Was ist Aufklärung?» trefflich formuliert: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.»
In allen Artikeln unserer Zeitung gehen wir nach diesem Grundsatz vor und wollen so zu einer offenen unvoreingenommenen Diskussion beitragen. Wir lenken das Denken nicht in die eine oder andere Richtung, sondern wir suchen nach Fakten und präsentieren sie unseren Leserinnen und Lesern. Sie können, wenn sie breit informiert sind, im Sinne Kants eigene Schlüsse ziehen.
Wenn wir einen aktuellen Konflikt beurteilen wollen, dann müssen wir in die Geschichte eintauchen und uns mit den möglichen Ursachen befassen. Wenn das nicht mehr gefragt ist, wird Geschichte obsolet. Dann bewertet man den verbrecherischen Angriff der Hamas auf Israel oder den Einmarsch Russlands in die Ukraine als singuläres Ereignis, das aus heiterem Himmel über die Menschen hereingebrochen ist. So gibt es nur schwarz oder weiss. Damit ist das Sichtfeld eingeschränkt.
Im Falle des immer wieder zitierten «Massakers der Hamas an der Zivilbevölkerung» ist jedoch eine internationale, unabhängige Untersuchung notwendig, um herauszufinden, was an diesem 7. Oktober geschehen ist. Genauso muss untersucht werden, ob auch von Israel Kriegsverbrechen begangen worden sind. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern es sind Standards des internationalen Rechts, die für alle Menschen und Staaten gelten.
Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern trotz aller Unbill ruhige Festtage. Lassen wir uns von der christlichen Botschaft des Friedens und der Versöhnung leiten. Eine friedlichere Welt ist möglich, wir sind als Menschen bestimmt, dazu beizutragen, wo immer es möglich ist. Das ist die Botschaft aller Religionen.
Die Redaktion
veröffentlicht 22.Dezember 2023
In den Bundesrat gewählt – und nun? von Reinhard Koradi
Den gewählten Bundesrätinnen und Bundesräten gratuliere ich herzlich. Sie wurden in ihrem Amt bestätigt oder neu in die Exekutive gewählt. Vermutlich bringt eine solche Bestätigung oder Wahl in die höchste Exekutivbehörde unseres Landes ein erhebendes Gefühl mit sich. Aber ist auch der notwendige Respekt vor den Herausforderungen der kommenden vier Amtsjahre präsent? Ich erinnere mich noch an die Antrittsrede des neu in den Bundesrat gewählten Friedrich Traugott Wahlen (1959). Sie war beeindruckend. Nie mehr habe ich von einem neu gewählten Bundesrat oder einer Bundesrätin eine annähernd ähnliche Bescheidenheit und Verantwortung gegenüber dem Schweizer Volk erfahren, wie sie Bundesrat Wahlen bei seiner Erklärung zur Annahme der Wahl zum Ausdruck brachte.
(Bild thk)
Regieren statt Dienen
Die direkte Demokratie bringt es mit sich. Oberstes Organ ist das Volk, die Bürger dieses Landes. Die Exekutive – der Bundesrat – ist das ausführende Organ des Volkswillens. Dieser Wille ist unter anderem in der Schweizerischen Bundesverfassung festgehalten. Weiter werden mittels Initiativen und Referenden die anstehenden politischen Sachgeschäfte durch Volksentscheide geregelt. Zwischen dem Volk und dem Bundesrat steht das Parlament (Nationalrat und Ständerat). Diese beiden Kammern sollten grundsätzlich den Willen des Volkes repräsentieren. In den letzten Jahren wurde das demokratische Prinzip jedoch immer mehr durch eigenmächtige Entscheidungen der «Regierung» durchlöchert. Die wohl brisantesten Ereignisse sind in dieser Hinsicht die Europapolitik, die Annäherung an die Nato, die Verletzung des Prinzips der bewaffneten Neutralität und der forsche Ansatz bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie durch den Bundesrat.
Je länger je mehr verstand sich der Bundesrat als Macher in eigener Kompetenz und empfand Volk und Parlament als Hemmschuh. Der Diener mutiert zum «Gebieter». Dabei dürfen wir die Verwaltung – in diesem Fall die Bundesverwaltung und das diplomatische Korps – nicht aus den Augen verlieren. In diesen Bereichen scheint sich eine Dynamik zur Unterwanderung des Volkswillens mit erheblichen Schäden für die direkte Demokratie zu entwickeln. Der Kontrolle der Verwaltung und deren Eigendynamik muss in den kommenden Jahren weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als bisher.
Erwartungen an den Bundesrat
Im Vordergrund steht die Treue zur Bundesverfassung und damit auch der Respekt vor dem Willen des Volkes. Es geht darum, die Interessen der Schweiz gegenüber dem Ausland und im Innern zu verteidigen und zu schützen. Der Bundesrat darf sich nicht weiter in die Enge treiben und durch ausländische Institutionen erpressen lassen. Unabhängigkeit und Freiheit haben erste Priorität. Forderungen und Annäherungen, die der Schweiz Schaden zufügen, sind strikte abzulehnen. Die in der Vergangenheit begangenen Fehler müssen korrigiert werden. Die Schweiz darf nicht länger als Bittsteller auftreten. Übergriffe auf unsere Souveränität sind mit Nachdruck zurückzuweisen. Es dürfte auch sehr nützlich sein, die Mitgliedschaften in den verschiedenen transnationalen Gremien und Organisationen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Nur dabei sein, um im Club der Mächtigen am «Katzentisch» zu sitzen kann nicht Ziel unserer aussenpolitischen Aktivitäten sein (Uno-Sicherheitsrat).
Der Bevormundung der Bevölkerung durch Massregelung und Meinungsdiktatur ist ein Riegel zu schieben. Vom Bundesrat wird erwartet, dass er für Transparenz sorgt und eine Kultur der freien Meinungsbildung und -äusserung fördert. Offenheit und die Bereitschaft, die Bevölkerung rechtzeitig in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen sollen anstelle von Geheimdiplomatie, Vertuschungsmanövern oder gar irreführenden Informationen treten.
Ich erwarte vom Bundesrat eine Politik, die das friedliche Zusammenleben in unserem Land ermöglicht, unsere direkte Demokratie, und die Fähigkeit fördert, eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln. Eine Politik, die nicht der politischen Korrektheit folgt und die eigenen Werte verrät. Keine Anbiederung, sondern eine selbstbewusste Vertretung der Landesinteressen und der spezifischen staatspolitischen Eigenheiten der Schweiz wie zum Beispiel die Neutralität, der Drang zur Selbstbestimmung und der dezentrale föderalistische Staatsaufbau (Kantone).
veröffentlicht 22.Dezember 2023
«Die Ukraine ist in einer Sackgasse» Interview mit General a. D. Harald Kujat*

Zeitgeschehen im Fokus Herr Kujat, westliche Politiker und Medien propagierten lange, die grosse ukrainische Offensive werde den Sieg über Russland einleiten. Jetzt kam alles ganz anders. Man nimmt nun offenbar zur Kenntnis, dass die Offensive gescheitert ist. Wie gehen die Medien damit um?
General a. D. Harald Kujat Diese Erkenntnis setzt sich nur langsam durch. Die Bundesregierung ist offenbar entschlossen, ihre «As long as it takes»-Strategie der militärischen und finanziellen Unterstützung fortzusetzen. Berichte amerikanischer Medien über die Gründe des Scheiterns der Offensive und der möglichen Konsequenzen werden nur sehr sporadisch wiedergegeben. In dieser selbst vom Nato-Generalsekretär als «kritisch» bezeichneten Lage der Ukraine hatte Präsident Biden in einem emotionalen Appell für die Zustimmung der Abgeordneten zu einem Finanzpaket im Umfang von 110,5 Milliarden US-Dollar geworben und dabei sowohl das Risiko eines Russland-Nato-Krieges als auch den Verlust der «globalen Führerschaft» beschworen, falls es keine Zustimmung gibt. In dem Hilfspaket sind neben 61 Milliarden US-Dollar für die militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine Mittel für Israel, Taiwan und den Schutz der Grenze zu Mexiko enthalten. Es hätte vor dem Ende der diesjährigen Sitzungsperiode verabschiedet werden müssen, damit sich die Lage der Ukraine nicht weiter verschärft. Hinzu kommt, dass auch das Hilfspaket der Europäischen Union in Höhe von 50 Milliarden Euro blockiert ist. Allerdings hat der Kongress noch rechtzeitig den Verteidigungshaushalt 2024 in Höhe von 886 Milliarden US-Dollar beschlossen, in den einige hundert Millionen US-Dollar für Waffenlieferungen an Israel und die Ukraine eingeplant sind, sodass die Ukraine etwas Zeit gewonnen hat. Präsident Bidens Fazit am Ende des Selenskyj-Besuches war dann aber doch ernüchternd: «Wir werden die Ukraine mit kritischen Waffen und Ausrüstung versorgen, so lange wir können […] aber ohne zusätzliche Mittel sind wir schnell nicht mehr in der Lage, der Ukraine bei der Bewältigung ihrer dringenden operativen Anforderungen zu helfen.» Wird aus der amerikanischen «As long as it takes»-Strategie eine «As long as we can»-Strategie?
Selenskyj ist doch von Präsident Biden gebeten worden, kurzfristig nach Washington zu kommen, um den Senat zu einer positiven Entscheidung über das Hilfspaket zu bewegen.
Ja, er hat das auch am 12. Dezember versucht, allerdings ohne Erfolg. Von den republikanischen Senatoren, die das Hilfspaket ablehnten, wurde beklagt, dass weder die amerikanische Regierung noch Selenskyj sagen konnten, wie die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen könnte und welchen Plan die Regierung für die Zukunft der Ukraine hat. Die «AsiaTimes» schreibt in diesem Zusammenhang: «Das Ukraine-Problem der Biden-Regierung geht jedoch tiefer als nur die Finanzierung. Den Abgeordneten ist nun klar, dass der Krieg nicht gewonnen werden kann, und sie fragen sich, ob die Regierung nicht in eine Falle geraten ist, indem sie Selenskyj unterstützt hat. Kein ernsthafter militärischer Führer hat die These aufgestellt, dass die Ukraine gegen Russland gewinnen kann, obwohl Kiew und die Regierung seit Monaten versicherten, dass dies möglich sei. Die Abgeordneten, die sich diese Argumente in den letzten zwei Jahren angehört haben, erkennen nun, dass die Regierung sie getäuscht hat.»
Und trotzdem kann man nicht von einem «Umschwenken» der Medien im Hinblick auf die reale Lage sprechen?
Zumindest in Deutschland und sicherlich auch in anderen europäischen Ländern werden die wahre Lage der ukrainischen Streitkräfte, weshalb die angestrebten Ziele nicht erreicht wurden, und die Konsequenzen für den weiteren Kriegsverlauf, noch nicht in der notwendigen Klarheit thematisiert. Viele sind immer noch bereit, die Ukraine bis zum bitteren Ende weiterkämpfen zu lassen und ignorieren die grossen menschlichen Verluste ebenso wie die Zerstörung des Landes. Es wird sogar nach wie vor behauptet, die Ukraine verteidige die Freiheit und Sicherheit des Westens und sollte deshalb mehr Unterstützung zur Fortsetzung des Krieges erhalten. Andere fordern weitere Waffenlieferungen, um die ukrainischen Streitkräfte in die Lage zu versetzen, russisch besetztes Territorium freizukämpfen, um dadurch Russland zu Verhandlungen zu zwingen und die Voraussetzungen für ein positives Verhandlungsergebnis zu verbessern. Aber je länger der Krieg dauert, umso mehr neigt sich das Geschehen trotz des grossen westlichen Engagements zugunsten Russlands, was durch die gescheiterte Offensive immer deutlicher wird.
Spricht der Verlauf des Krieges nicht dafür, endlich der Wahrheit ins Auge zu sehen?
Das fällt natürlich schwer, wenn man die ganze Wahrheit seit fast zwei Jahren nicht zugelassen hat. Aber letzten Endes wird dies kommen, zwar nicht, indem die Kriegsbefürworter ihren Irrtum eingestehen, sondern die veröffentlichte Meinung tatsächlich umschwenkt, was wir teilweise ja bereits erleben.
Die Ursachen der verzerrten Darstellung der Realität sind die unreflektierte Übernahme von Desinformation, sind vor allem Inkompetenz und ideologische Verblendung. Als ich Anfang November auf die kritische personelle Lage der ukrainischen Streitkräfte hinwies und erklärte, dass das strategische Ziel der Offensive nicht erreicht wurde, hat man dies wegen meiner angeblichen Unkenntnis des Ziels als Fehleinschätzung kritisiert. In Wahrheit war das strategische Ziel, die russischen Streitkräfte von ihrer logistischen Drehscheibe Krim abzuschneiden, seit dem Herbst 2022 bekannt. Da der Anschlag auf die Kertsch-Brücke nicht den beabsichtigten Erfolg brachte, begann Anfang 2023 die Planung der Offensive in der Absicht, die russischen Verteidigungsstellungen, die Surowikin-Linie, zu durchbrechen und bis zur Landverbindung zwischen Russland und der Krim vorzustossen. Dass die Offensive gescheitert war, hatte der ukrainische Oberbefehlshaber, General Saluschnyj, bereits wenige Tage vor meinem Interview in einem Beitrag des Economist eingestanden.
Saluschnyj ist doch als Oberbefehlshaber der Armee für die Niederlage verantwortlich.
Die Washington Post hat kürzlich einen detaillierten Bericht über die Offensive veröffentlicht. Danach wurde der Operationsplan von amerikanischen, britischen und ukrainischen Offizieren gemeinsam in der «Security Assistance Group-Ukraine», einem amerikanischen Stab in Wiesbaden, entwickelt. Die amerikanischen Offiziere hielten einen Durchbruch mit einem konzentrierten Frontalangriff mechanisierter Kräfte durch die vom Westen ausgebildeten und mit westlichem Material ausgerüsteten Truppen im Süden der Front Richtung Melitopol für möglich. Die ukrainische Armee griff jedoch auf drei Angriffsachsen an, was die Stosskraft deutlich verringerte. Die Amerikaner forderten auch, die Offensive sehr viel früher zu beginnen, um den Russen nicht genug Zeit zum Ausbau der Verteidigungsstellungen zu lassen. Die Ukraine brauchte jedoch für die Vorbereitung bis Anfang Juni. Die mangelnden Fortschritte der ukrainischen Streitkräfte und die grossen Verluste bereits am Anfang der Offensive, führten schon nach weniger als zwei Wochen zu grossen Frustrationen bei allen Beteiligten. Im August wurde die Operationsführung noch einmal gemeinsam nachjustiert, jedoch ohne Erfolg. Aus Saluschnyjs Sicht ist eine Pattsituation mit der Folge entstanden, dass die Zeit für Russland arbeitet. Es ist richtig, dass der Bewegungskrieg weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Aber eine Pattsituation sehe ich nicht, weil die russischen Streitkräfte eindeutig überlegen und seit einiger Zeit zu Angriffen übergegangen sind.
Wie ist der Misserfolg in der Ukraine aufgenommen worden?
Das Scheitern der Offensive hat in der ukrainischen Führung zu einer Auseinandersetzung zwischen Selenskyj einerseits, Saluschnyj und Klitschko andererseits geführt. Selenskyj bestreitet eine Pattsituation energisch, und Saluschnyj wirft Selenskyj vor, ihn zu übergehen und mit den Frontkommandeuren direkt zu kommunizieren. Dass Klitschko für Saluschnyj Partei ergriff, zeigt, dass es Widerstand gegen die Führung Selenskyjs gibt und bereits die Auseinandersetzung um seine Nachfolge begonnen hat.
Rückblickend ist Selenskyj eine tragische Figur. Er hatte vor dem Krieg seine Bereitschaft erklärt, auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verzichten und Neutralität zu akzeptieren. Noch am 28. März letzten Jahres hat er gegenüber russischen Medien die Verhandlungsfortschritte in Istanbul und die erzielten Ergebnisse gelobt und den Vertragsentwurf durch seinen Verhandlungsführer paraphieren lassen. Er wurde jedoch davon abgebracht, den Friedensvertrag gemeinsam mit Putin zu unterzeichnen. Dafür sollte er offenbar vom Westen jede erforderliche Unterstützung erhalten, um den Krieg zu gewinnen.
Oleksyj Arestowytsch, ein ehemaliger enger Berater Selenskyjs, der wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Selenskyj-Team ausgeschieden ist und die Ukraine verlassen hat, spricht nun die bittere Wahrheit aus, dass die Ukraine in einer Sackgasse ist: «Die Sackgasse, und es ist eine blutige Sackgasse, ist offensichtlich. Es ist Zeit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Ich bin der Überzeugung, dass eine Fortsetzung der Kämpfe sinnlos ist. Das bedeutet nur Dutzende und Hunderte Tote jeden Tag, daran kann keine Seite interessiert sein.» Der Parteichef der Selenskyj-Partei und ehemalige ukrainische Delegationsleiter bei den Istanbul-Verhandlungen im März vergangenen Jahres, David Arachamia, sprach sogar von einer Revolte in der Verkhovna Rada, dem ukrainischen Parlament. Er hatte übrigens kürzlich eingeräumt, dass Russland bereit war, Frieden zu schliessen, falls die Ukraine einen neutralen Status annehmen würde.
Warum hat die ukrainische Führung sich nicht an die amerikanische Taktik, die Sie vorher erwähnten, gehalten?
Es gab sowohl auf westlicher Seite als auch bei der Ukraine entscheidende Fehleinschätzungen. Selenskyj hatte 2023 zum Jahr des entscheidenden Sieges erklärt. Die grossangelegte Offensive sollte die strategische Lage zugunsten der Ukraine wenden. Es zeigte sich jedoch sehr schnell, dass die Erwartungen und Ergebnisse entlang der gesamten Front weit auseinander gingen. Die russischen Streitkräfte waren lange als schwach, ihre Moral als niedrig, die Führung als inkompetent und die Bewaffnung als veraltet dargestellt worden. Dagegen wurde die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte masslos überschätzt. Übrigens haben die westlichen Medien ein gehöriges Mass an Mitverantwortung für diese Desinformation und deren Folgen. Jetzt ist ein Punkt erreicht, an dem klar geworden ist, dass die Ukraine keinen militärischen Sieg erringen kann. Die Alternativen sind, Russland erreicht die Ziele seiner «militärischen Spezialoperation», ein langer zerstörerischer Krieg oder ein Waffenstillstand mit folgenden Friedensverhandlungen. Letzteres jedenfalls solange sich die Erfolge Russlands in Grenzen halten und noch Chancen für die Ukraine bestehen, einen akzeptablen Interessenausgleich zu erreichen. Das Zeitfenster für einen Verhandlungsfrieden mit einem Ergebnis, das den Interessen der Ukraine Rechnung trägt, beginnt sich jedoch langsam zu schliessen.
War eine erfolgreiche Offensive und damit ein militärischer Sieg der Ukraine nicht von Anfang an illusorisch?
Selenskyj wurde vor einiger Zeit mit den Worten zitiert: «Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand.» Sein Oberbefehlshaber hatte als Voraussetzung für einen Erfolg der Offensive mehr als eintausend moderne westliche Panzer, Schützenpanzer und Geschütze gefordert, obwohl ihm klar sein musste, dass der Westen diese grosse Zahl an Waffen nicht liefern konnte und für deren Einsatz auch nicht genügend ausgebildete ukrainische Soldaten zur Verfügung standen. Daraus kann man schliessen, dass Saluschnyj bereits vor Beginn der Offensive Zweifel hatte, ob die angestrebten Ziele unter den gegebenen Umständen erreichbar wären.
Bei uns waren die «Experten» dagegen der festen Überzeugung, dass die Ukraine erfolgreich sein werde. Ich habe mir vorstellen können, dass den Ukrainern ein Einbruch in die russischen Verteidigungslinien mit grossen Verlusten gelingen könnte, jedoch kein Durchbruch. Wenn die ukrainischen Streitkräfte dem amerikanischen Rat gefolgt wären, alle im Westen ausgebildeten und ausgerüsteten Brigaden geschlossen in einem operativen Schwerpunkt einzusetzen, wären die Erfolgsaussichten sicherlich grösser gewesen. Dazu wäre es jedoch erforderlich gewesen, diese Kräfte in einem Bereitstellungsraum zusammenzuziehen, was angesichts der russischen Luftüberlegenheit höchst riskant gewesen wäre. Vor allem die gewaltigen Minenfelder, die russische Luftüberlegenheit, die den uneingeschränkten Einsatz von Kampfhubschraubern erlaubte und der effektive Systemverbund aus permanenter Aufklärung des Gefechtsfeldes durch verschiedene Systeme und praktisch zeitverzugsloser Zielbekämpfung durch die russischen Streitkräfte haben die ukrainischen Streitkräfte scheitern lassen. Das Fehlen einer wirksamen Luftunterstützung, der Mangel an Minenräumgerät, der die Angriffsbewegung verlangsamte und die ukrainischen Soldaten längere Zeit dem russischen Feuer aussetzte, sowie die Tatsache, worauf ich oft hingewiesen habe, dass sie nicht das Gefecht der verbundenen Waffen beherrschen, haben ebenfalls entscheidend zum Misserfolg beigetragen.
Sie erwähnten, dass die USA kritisiert hätten, dass die Offensive der Ukraine zu spät angefangen habe. Wäre das tatsächlich ein Vorteil gewesen, wenn die Offensive früher begonnen hätte?
Falls die russischen Verteidigungsstellungen noch nicht vollständig fertiggestellt gewesen wären, hätte dies die Erfolgschancen sicherlich vergrössert. Allerdings wiegen die anderen Aspekte, die einen Erfolg verhindert haben, wesentlich schwerer. Ich kann auch verstehen, dass die militärische Führung der Ukraine ein Höchstmass an Erfolgssicherheit anstrebte und deshalb eine lange Vorbereitungszeit brauchte.
Im Grunde genommen führen doch die USA den Krieg. Wenn sie Selenskyj gedrängt hätten, die Offensive zu beginnen, dann hätte er diese Offensive doch früher begonnen, zumal die USA an der Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte beteiligt waren.
Ohne die finanzielle und materielle Unterstützung durch die USA könnte die Ukraine in diesem Krieg nicht bestehen. Hinzu kommt, dass die amerikanischen Streitkräfte entscheidenden Anteil an der Kriegsführung der Ukraine haben. Zu diesem Zweck arbeiten amerikanische und ukrainische Offiziere im bereits erwähnten US-Stab in Wiesbaden eng zusammen, um alle Aspekte der ukrainischen Operationsführung zu planen. Das führt immer wieder zu Missverständnissen und Irritationen, wird aber als notwendig angesehen, um das ukrainische Militär mit der modernen westlichen Operationsführung vertraut zu machen. Ergänzt wird diese Zusammenarbeit durch Ausbildung an westlichen Waffensystemen und Training mechanisierter Verbände in der Grössenordnung von Brigaden.
Angesichts der kritischen Lage der ukrainischen Streitkräfte sehen sich die USA nach Medienberichten veranlasst, nun den Befehlshaber des amerikanischen Ukrainestabes, Generalleutnant Antonio Aguto, mit einem Beraterteam dauerhaft nach Kiew abzukommandieren, um den ukrainischen Befehlshabern über die Schulter zu schauen. Es ist leicht vorhersehbar, dass die Beratermission wachsen wird. Das erinnert sehr an den Beginn des Vietnamkrieges.
General Aguto soll einen Strategiewechsel («hold and build») durchsetzen. Die ukrainischen Streitkräfte sollen in die strategische Defensive gehen, um die Verluste zu reduzieren und den gegenwärtigen Frontverlauf zu halten («hold»). Der somit eingefrorene Konflikt soll es erlauben, das gravierende Personalproblem zu lösen, neue Soldaten auszubilden und sie mit westlichen Waffen auszurüsten («build»). Ob der Strategiewechsel die gegenwärtige strategische Lage zugunsten der Ukraine ändert, ist fraglich. Denn die russischen Streitkräfte haben bereits mit Angriffen begonnen und werden sie sicherlich fortsetzen, bis Russland seine strategischen Ziele erreicht hat. Es sei denn, die Ukraine nimmt Verhandlungen mit Russland auf und erreicht einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand. Übrigens hat der ukrainische Präsident seine Rückreise aus den USA in Wiesbaden unterbrochen, vermutlich um sich von General Aguto über dessen Pläne informieren zu lassen.
Sie erwähnten, dass Präsident Biden die Kongressabgeordneten gedrängt habe, dem Hilfspaket für die Ukraine zuzustimmen, da anderenfalls das Risiko eines Russland-Nato-Kriegs zu befürchten sei. Ist das Ihrer Meinung nach eine echte Gefahr?
Das Risiko der Ausweitung des Kriegs besteht seit seinem Beginn. Je länger der Krieg dauert, desto grösser wird es, wenn nicht ernsthaft ein Waffenstillstand und eine Friedenslösung angestrebt werden. Allerdings haben sowohl die USA als auch Russland bisher alles unternommen, um eine direkte Konfrontation zu verhindern. Das von Präsident Biden beschriebene Risiko könnte nach seiner Meinung entstehen, wenn Russland die Ukraine militärisch besiegen sollte, weil die westliche Unterstützung nachlässt. Russland könnte dadurch ermutigt werden, seinen Krieg gegen andere, auch Nato-Staaten, fortzusetzen. Dagegen sprechen gewichtige Argumente. Russland hatte zu Beginn des Krieges offensichtlich nicht die Absicht, die gesamte Ukraine zu erobern. Dazu war das russische Kräftedispositiv im Vergleich zu den ukrainischen Streitkräften viel zu gering. Zudem hätte die Besetzung der Ukraine eine enorme Zahl russischer Streitkräfte erfordert, Ressourcen gebunden und grosse Kosten verursacht. Hinzu kommt, dass Russland mit seinem Vorgehen gegen die Ukraine ja gerade einen «Cordon sanitaire» – eine Pufferzone – zwischen den russischen und Nato-Streitkräften erreichen will.
Alles deutet vielmehr daraufhin, dass die russische Führung zunächst eine militärische Drohkulisse aufbaute, um die USA und die Nato zu Verhandlungen über ihre Vertragsentwürfe vom 17. Dezember 2021 zu veranlassen. Ob Russland angesichts der Konzentration grosser Teile der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes Kiew mit einem schnellen Vorstoss einnehmen und eine russlandfreundliche Regierung einsetzen oder den Druck zu grösserer Verhandlungsbereitschaft erhöhen wollte, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Jedenfalls hatte die entstandene Lage beide Seiten dazu bewogen, Friedensgespräche aufzunehmen. Noch während der Verhandlungen wurden die russischen Streitkräfte aufgrund des für beide Seiten positiven Verlaufs und als Zeichen des guten Willens aus den eroberten Gebieten abgezogen. Wie wir inzwischen wissen, ist jedoch eine friedliche Lösung vor allem durch die USA und Grossbritannien verhindert worden.
Aber Sie schliessen das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland nicht aus?
Alles deutet darauf hin, dass es Russlands Ziel ist, die eroberten Gebiete zu konsolidieren und möglicherweise noch Charkow und Odessa zu erobern. Aber der Verlauf des Krieges wird von den Interessen und Zielen beider Seiten bestimmt, die sich ändern können. Offensichtlich hält sich Russland die Option offen, den Dnjepr nach Westen zu überschreiten, denn es hat dessen Brücken nicht zerstört.
Die russischen Streitkräfte sind jetzt wesentlich stärker als vor dem Krieg, aber nach meiner Meinung nicht stark genug, um die Nato in einem konventionellen, auf Europa begrenzten Krieg zu besiegen. Andererseits ist jedoch auch die Nato nicht stark genug, um Russland unter den derzeitigen Bedingungen eine konventionelle Niederlage zufügen zu können. Es befinden sich nur noch wenige amerikanische Kampftruppen in Europa, und personelle und materielle Verstärkungen zu verlegen, dauert viele Monate. Ausserdem haben die Planung und Vorbereitung auf einen möglichen Konflikt mit China absoluten Vorrang. Der Verteidigungshaushalt 2024 zeigt das überdeutlich. Sollte eine der beiden Seiten die Lage jedoch anders einschätzen, was unwahrscheinlich ist, könnte eine solche Fehlentscheidung katastrophale Konsequenzen für den europäischen Kontinent haben. Denn nach den geltenden Doktrinen würden jede Seite versuchen, eine drohende konventionelle Niederlage durch den Ersteinsatz von Nuklearwaffen abzuwenden.
Sehen die europäischen Verbündeten der USA das ähnlich wie sie es Präsident Biden dargestellt hat?
Das ist mein Eindruck. Deshalb wird allgemein eine konventionelle Verstärkung der europäischen Streitkräfte gefordert. Vor allem soll die Bundeswehr ihre Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung erheblich stärken oder, wie der Verteidigungsminister es formulierte, «kriegstüchtig» werden.
In deutschen Medien ist zu lesen, die Bundeswehr sei nicht in der Lage, das eigene Land oder die Nato-Verbündeten zu verteidigen. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine müsse Deutschland die Bündnis- und Landesverteidigung wieder in den Mittelpunkt stellen.
Ich habe seit zwölf Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr nicht in der Lage ist, einen substanziellen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten. Unsere Verfassung ist eindeutig: «Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.» Und weiter: «Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen», der Nordatlantischen Allianz. Das bedeutet, Kernaufgabe der deutschen Streitkräfte ist die Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der Nato, entsprechend ihrem Verfassungsauftrag Frieden, Freiheit, Sicherheit und territoriale Integrität zu schützen und zu bewahren. Alle anderen Aufgaben sind Ableitungen aus diesem Auftrag. Damit verpflichtet die Verfassung jede Bundesregierung, ständig deutsche Streitkräfte mit einem Personalumfang, einer aufwuchsfähigen Struktur sowie einer Ausrüstung und Bewaffnung unterhalten und sie zu befähigen, das Verfassungsgebot zu erfüllen und unser Land gemeinsam mit unseren Verbündeten zu schützen und notfalls zu verteidigen.
Wieso ist die Bundeswehr in einem solchen Zustand?
Die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr 2011 war zusammen mit der Aussetzung der Wehrpflicht der entscheidende Schritt weg von der Landes- und Bündnisverteidigung hin zu Auslandseinsätzen. Die damalige aussen- und sicherheitspolitische Zäsur war nicht nur ein Verfassungsbruch, denn sie wurde damit begründet, dass «eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen Mitteln unverändert unwahrscheinlich (ist).» Deshalb sollten die «wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung die Grundzüge der neuen Struktur der Bundeswehr bestimmen. Wer etwas von der Sache verstand, bewertete schon damals die geostrategische Begründung, mit der die Fehlentwicklung eingeleitet wurde, als nicht tragfähig. Denn die jeweiligen sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen können und dürfen den Verfassungsauftrag nicht aufheben.
Aber es wird doch in letzter Zeit wegen der angeblichen Bedrohung durch Russland eine verstärkte Aufrüstung gefordert …
Seit sich die wahre militärische Lage in der Ukraine nicht mehr bestreiten lässt und sich entsprechende Informationen gegen Desinformation und Verschleierung durchsetzen, wird jetzt tatsächlich «das Ende der Welt, wie wir sie kennen» prophezeit. Es heisst, wenn Russland den Krieg gewinnt, «wäre niemand in Europa mehr sicher.» Ich verstehe, dass diejenigen, die bisher bedenkenlos die Kriegstrommel gerührt haben, die weitere militärische Unterstützung der Ukraine sicherstellen wollen. Dass Russland beabsichtigt, nach einem militärischen Sieg über die Ukraine Nato-Staaten anzugreifen, und dazu in wenigen Jahren auch in der Lage sei, ist offensichtlich nicht die Erkenntnis dafür qualifizierter und verantwortlicher militärischer Stäbe aus einer komplexen gesamtstrategischen Lagebeurteilung, sondern eine Vermutung von «Militärexperten». Um zu begründen, dass die Bundeswehr endlich befähigt werden muss, einen unseren nationalen Sicherheitsinteressen entsprechenden Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten, brauchen wir keine spekulativen, von wenig Sachkenntnis zeugenden Kriegsszenarien. Die Erfüllung des Verfassungsauftrags reicht. Übrigens im Sinne der Verfassung «zur Wahrung des Friedens».
Sie sagen, die USA fordern die Ukraine auf, in die Defensive zu gehen. Wäre das nicht das Beste, was geschehen könnte?
Ich habe schon die «Hold and Build»-Strategie angesprochen. Der bisherige Kriegsverlauf zeigt aus amerikanischer Sicht, dass strategische Ziele und Mittel der Ukraine in Einklang gebracht werden müssen, was bedeutet, das Ziel aufzugeben, das gesamte ukrainische Territorium in den Grenzen von 1991 zu erobern. Das bedeutet weiterhin, den Konflikt entsprechend dem Frontverlauf einzufrieren und in die Defensive zu gehen, um die grossen Verluste zu reduzieren. Als Vorbild dient das koreanische Modell der Teilung des Landes am 38. Breitengrad. Aber zur Korealösung, die seit siebzig Jahren hält, gibt es grosse Unterschiede. Im Koreakrieg waren die Grossmächte – China, die USA und indirekt die UdSSR – auf beiden Seiten mit eigenen Truppen an den Kämpfen beteiligt. Diese Staaten hatten deshalb ein eigenes Interesse, den Krieg zu beenden. Das ist hier nicht der Fall. Der Krieg hat am 38. Breitengrad begonnen und wurde dort auch beendet. Dagegen haben die russischen Streitkräfte etwa zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums eingenommen. Schliesslich ist der Waffenstillstand zwei Jahre parallel zu den Kampfhandlungen verhandelt worden. Das ist übrigens ein Vorwurf, den man dem Westen machen muss. Auch in einem legitimen Verteidigungskrieg darf die Politik nicht suspendiert werden, sondern muss bestrebt sein, den Krieg zu akzeptablen politischen Bedingungen zu beenden. Am Ende eines Krieges gibt es immer ein politisches Ergebnis. Es ist entweder mit dem Gegner durch einen Interessensausgleich ausgehandelt worden und hat deshalb Bestand, oder es ist die Folge einer militärischen Niederlage einer Seite, und der siegreiche Gegner diktiert die politischen Bedingungen.
Welche Chancen bestehen, um zu einer tragfähigen Lösung zu gelangen?
Es war absehbar, dass sich das Geschehen im Verlauf des Krieges immer mehr zugunsten Russlands wendet. Es liegt in den eingeschränkten Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte, den Landkrieg fortzusetzen, gegenwärtig nicht im Interesse Russlands, die Dynamik der überlegenen offensiven Operationsführung zu brechen, sondern diesen Vorteil so lange wie möglich, das heisst bis zum Erreichen seiner militärischen Ziele zu nutzen.
Sie werden wahrscheinlich die vier Oblaste vollständig einnehmen …
Das Ziel ist offenbar, diese vier Regionen vollständig einzunehmen und möglicherweise auch Charkow und Odessa. Denn Odessa sehen die Russen als eine urrussische Stadt an. Falls die ukrainische Führung den von den USA verfolgten Plan akzeptiert, wird das Land in die bis dahin von Russland besetzten Gebiete und in eine Rumpf-Ukraine im westlichen Einflussbereich geteilt. Die amerikanischen Vorstellungen von der weiteren Entwicklung gehen offenbar über die personelle und materielle Konsolidierung der ukrainischen Streitkräfte hinaus. Einflussreiche amerikanische Sicherheitspolitiker schlagen vor, dass sich die USA und andere Nato-Staaten nicht nur zu einer langfristigen wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung verpflichten, sondern auch dazu, die ukrainische Unabhängigkeit zu garantieren. Nach dem Modell des Artikels 4 des Nato-Vertrages sollen sofortige Konsultationen erfolgen, wenn die territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit bedroht ist. Zudem soll die Europäische Union den Beitritt der Ukraine beschleunigen.
Sie erwähnten den Verhandlungsführer bei den Friedensverhandlungen, der davon sprach, dass es den Russen vor allem um die Neutralität gegangen sei?
Im Kern ging es um zwei Punkte. Neutralität der Ukraine – kein Nato-Beitritt – und keine westlichen Truppen oder militärische Einrichtungen auf ukrainischem Territorium. Das ist und bleibt zweifellos die «conditio, sine qua non» für Russland im Hinblick auf alle künftigen Regelungen. Die Stärke der ukrainischen Streitkräfte wurde in einer Anlage festgelegt. Darüber hinaus ging es um gleiche Rechte für ukrainische Staatsbürger in den östlichen Regionen, die sich als Russen verstehen oder russischsprachig sind. Das wäre die Umsetzung des Minsk II-Abkommens, wozu sich die Ukraine mittels einer Verfassungsänderung bis 2015 verpflichtet hatte. Am 30. September 2022 hat Russland allerdings vier Regionen zu russischem Staatsgebiet erklärt. Dadurch ist eine andere Lage entstanden, zumal die russische Verfassung die Abtretung russischen Staatsgebietes verbietet.
Wie stehen die Chancen auf Frieden?
Seit den Verhandlungen Ende März letzten Jahres haben beide Seiten die Hürden für eine Verhandlungslösung erhöht. Deshalb und insbesondere aufgrund der derzeitigen militärischen Lage, sind die damaligen Rahmenbedingungen für einen ausgewogenen Interessenausgleich nicht mehr vollständig gegeben. Zumal die ukrainischen Streitkräfte nicht fähig sind, die militärische Lage zugunsten einer stärkeren Verhandlungsposition zu verändern. Dass dies auch die USA so sehen, zeigt die von ihnen vorgeschlagene Strategieänderung.
Im März letzten Jahres waren doch die Gebiete noch gar nicht erobert …
Das ist richtig. Die Aufständischen im Donbas waren im eigentlichen Sinne keine «Separatisten», wie sie üblicherweise bezeichnet wurden. Sie wollten sich nicht vom ukrainischen Staat trennen, sondern die gleichen Rechte wie alle anderen ukrainischen Bürger erhalten.
Sie haben erwähnt, dass die Ziele, die man in den Verhandlungen im März 2022 ausgehandelt hatte, nicht mehr möglich seien, auch Ihren Friedensplan vom letzten August, der eine ernsthafte Möglichkeit geboten hat, sehen Sie in vielen Punkten als überholt an. Was denken Sie, braucht es heute, um zu einem dauerhaften Frieden zu kommen?
Wir betrachten unseren Vorschlag nicht als Plan. Wir wollten vielmehr einen Weg zu einem Waffenstillstand als erstem Schritt und als Voraussetzung für Friedensverhandlungen aufzeigen. Wir wollten entgegen der herrschenden Meinung zeigen, das Frieden und Sicherheit für die Ukraine möglich sind. Ein Waffenstillstand, so wie wir ihn vorgeschlagen haben, wäre auch heute noch realisierbar. Vor allem wäre er eine tragfähige Grundlage für Friedensverhandlungen. Ein Waffenstillstand ohne folgende Friedensverhandlungen bringt weder Frieden und Sicherheit für die Ukraine noch eine stabile europäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Dass die Details einer Friedenslösung erst in den Verhandlungen geklärt werden können, versteht sich von selbst. Wir haben jedoch immerhin dargestellt, was unter Berücksichtigung der Interessen Russlands und der Ukraine sowie des Verhandlungsergebnisses von Ende März 2022 zum Zeitpunkt unserer Veröffentlichung erreichbar war. Für mich ist die entscheidende Leitlinie für eine Friedenslösung und für die Vermeidung erneuter Spannungen um die Ukraine, was Henry Kissinger 2014 in einem Namensartikel in der New York Times schrieb: «Viel zu oft wird die Ukraine-Frage als Showdown dargestellt: ob die Ukraine sich dem Osten oder dem Westen anschliesst. Aber wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten einer Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden fungieren.»
Herr General Kujat, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
* General a. D. Harald Kujat, geboren am 1. März 1942, war unter anderem Generalinspekteur der Bundeswehr und als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses höchster Militär der Nato. Zugleich amtete er als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs. Für seine Verdienste wurde Harald Kujat mit einer grossen Zahl von Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Kommandeurskreuz der Ehrenlegion der Republik Frankreich, dem Kommandeurskreuz des Verdienstordens Lettlands, Estlands und Polens, der Legion of Merit der Vereinigten Staaten, dem Grossen Band des Leopoldordens des Königreichs Belgien, dem Grossen Bundesverdienstkreuz, sowie mit weiteren hohen Auszeichnungen, unter anderem aus Malta, Ungarn und der Nato.
veröffentlicht 22.Dezember 2023
Krieg und Frieden von Thomas Kaiser
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs beschwören Politiker im Einklang mit den grossen Medien den Sieg der Ukraine über den Angreifer Russland. Die Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren. Angebliche militärische Erfolge der Ukraine werden hochstilisiert und sollen als Beweis für die Überlegenheit der Ukraine herhalten. Bei vielen Stellungnahmen westlicher Politiker fühlt man sich ins letzte Jahrhundert versetzt. Die Parallelen sind verstörend.
Zwei Monate vor dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 hielt der deutsche Kaiser, Wilhelm II., eine Rede vor Arbeitern, in der er an den Durchhaltewillen der Deutschen appellierte und sie in bereits aussichtsloser militärischer Lage zu weiterem Kämpfen ermutigte: «Werdet stark wie Stahl, und der deutsche Volksblock, zu Stahl zusammengeschweisst, der soll dem Feinde seine Kraft zeigen. Jeder Zweifel muss aus Herz und Sinn gebannt werden. Jetzt heisst es: Deutsche, die Schwerter hoch, die Herzen stark und die Muskeln gestrafft zum Kampfe gegen alles, was gegen uns steht, und wenn es noch lange so dauert!» Vier Jahre lang hat man den Krieg vorangetrieben und der ahnungslosen Bevölkerung den «Siegfrieden» in Aussicht gestellt. Die menschlichen Opfer dienten einer «höheren Sache». Das Erhabenste sollte angeblich der Tod auf dem «Feld der Ehre» sein. Leonhard Frank beschreibt in seinem Roman «Der Mensch ist gut», was «gefallen auf dem Felde der Ehre» in letzter Konsequenz bedeutet: «Menschen, Millionen Menschen, Menschen schiessen aufeinander, ermorden, erschlagen, erwürgen, zerfetzen einander.»¹ Ein Inferno, wie es sich auf allen Schlachtfeldern moderner Kriege abspielt.
Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Zürich 1918.
Vom Siegfrieden zum Endsieg
Ende 1917, die USA waren bereits in den Krieg eingetreten, äusserte sich Paul von Hindenburg, der «verdiente» Generalfeldmarschall und spätere Reichspräsident, an seinem 70. Geburtstag zu den positiven Kriegsaussichten des Deutschen Reichs: «Sorget nicht, was nach dem Kriege werden soll, das bringt nur Missmut in unsere Reihen und stärkt die Hoffnungen der Feinde. Vertraut, dass Deutschland erreichen wird, was es braucht, um für alle Zeit gesichert dazustehen. Vertraut, dass der deutschen Eiche Luft und Licht geschaffen werden wird zu freier Entfaltung. Die Muskeln gestrafft, die Nerven gespannt, das Auge geradeaus, wir sehen das Ziel vor uns, ein Deutschland hoch zu Ehren, frei und gross. Gott wird auch weiter mit uns sein.»²
Auch während des Zweiten Weltkriegs hielt die Propaganda die Bevölkerung mit permanenten Erfolgsmeldungen «bei Laune», obwohl die deutsche Wehrmacht an allen Fronten auf dem Rückzug war. Die Wochenschauen propagierten den Sieg, als die Armeen der Alliierten schon an der Grenze des Deutschen Reichs standen. Die berüchtigte Rede von Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast illustrierte diese verheerende Perversität: Kampf «bis zum letzten Mann» ohne Rücksicht auf das Leben, weder der Zivilisten noch der Soldaten.
Als die Sowjetarmee schon vor den Toren Berlins stand und Hitler 14jährige zur Verteidigung der «Reichshauptstadt» rekrutieren liess, beschwor man immer noch den «Endsieg».
Deutsche Offensiven gescheitert
Im September 1918, als Kaiser Wilhelm zur «Endschlacht» aufrief, war das Deutsche Reich in einer vergleichbar prekären Situation wie die Ukraine heute. Zwar waren die politischen und militärischen Ursachen anders gelagert, aber nicht die Aussichtslosigkeit, gegen einen überlegenen Gegner zu gewinnen. Die Deutschen waren im Herbst 1918 militärisch und personell am Ende. Seit dem Kriegseintritt der USA 1917 auf der Seite der Entente veränderte sich die militärische Lage dramatisch. Der Krieg war aufgrund der Übermacht der Gegner durch die Unterstützung der USA nicht mehr zu gewinnen. Die «frischen» und technisch besser ausgerüsteten US-amerikanischen Soldaten waren den seit vier Jahren ohne durchschlagenden Erfolg kämpfenden Deutschen völlig überlegen. Zudem grassierte die Spanische Grippe.
In die Schlachten wurden immer jüngere Männer geschickt, denn Millionen hatten bereits ihr Leben verloren. «Das Geschützfeuer war immer wilder geworden, hatte sich vervielfacht, steigt rasend an. Die eingeschlagenen Granaten rissen Unterstände, Balken und Menschen auseinander. Trotzdem verliessen, vom Befehle vorgestossen, lange dichte Reihen lehmiger Gestalten, die gegnerischen Gräben, wurden vom flankierenden Maschinengewehrfeuer glatt auf die Erde gestrichen.»³
Die 1918 angestrebten deutschen Offensiven scheiterten alle, es gelang kein Durchbruch, aber die Schlachtfelder wurden mit weiterem Blut junger Menschen getränkt. «Links und rechts von mir sah ich lange Reihen von Soldaten. Als ich zehn Meter weiter gegangen war, schienen um mich herum nur noch wenige Männer übrig zu sein. Dann wurde ich selbst getroffen.»4
Manipulation und Desinformation
Die Soldaten hatten genug. Vier Jahre Stellungskrieg, Tod, Elend, Entbehrung, Entkräftung und Desillusion bestimmten die innere Haltung stärker, als der Kampf «mit Gott für Kaiser und Vaterland». Die meisten ahnten auch nach Jahren sinnlosen Gemetzels, dass ein Sieg nicht mehr möglich sein würde. Nichtsdestotrotz: Die Generalität sowie der deutsche Kaiser glaubten oder mussten daran glauben, dass der Krieg noch zu gewinnen sei. Generalfeldmarschall von Hindenburg schrieb 1920 in seinen Memoiren: «Aus dem Geländegewinn, den Beutezahlen, den schweren blutigen Verlusten des Gegners sprach mit aller Deutlichkeit die Grösse der deutschen Erfolge.»5
Trotz aller Propaganda, Falschinformation und Demagogie musste das Deutsche Reich seine Niederlage konstatieren. Die meisten Menschen waren erleichtert, endlich hatte der Krieg ein Ende. Heute noch bestehende Kriegsgräber mit Kreuzen, so weit das Auge reicht, sind traurige Zeugen einer menschlichen Tragödie. Was hat das alles gebracht?
Und hundert Jahre später?
Auch wenn der Erste Weltkrieg schon über 100 Jahre zurückliegt, scheinen die mediale Berichterstattung und öffentliche Äusserungen von politisch Verantwortlichen kaum 100 Jahre weiter zu sein. Vieles, was im Ersten Weltkrieg an Manipulation und Propaganda der Bevölkerung serviert worden ist, findet sich in ähnlicher Form heute wieder. Dazu gehören Äusserungen wie: «Russland darf den Krieg nicht gewinnen» oder «kämpfen bis zum letzten Ukrainer», «der Feind ist schwach, wir können ihn besiegen.» Wie der deutsche Kaiser seine «Untertanen» zu überzeugen versuchte, ihr Leben für einen verlorenen Kampf zu opfern und sich als «Kanonenfutter» zur Verfügung zu stellen, suggeriert man den Ukrainern einen bevorstehenden Sieg. In der Ukraine werden Männer rekrutiert für einen Krieg, der nur Opfer bringt: «Schon vor gut einem Jahr hat die Ukraine die Mobilmachung ausgerufen. Seitdem darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das Land mehr verlassen – ausser in Ausnahmefällen.»⁶
Sieg der Ukraine?
Am Anfang des Krieges wurden Meldungen verbreitet, die die Ukrainer in Euphorie versetzen sollten, damit sie trotz erdrückender Übermacht gegen die Russen kämpfen und sich nicht auf Verhandlungen einlassen: «Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Man muss sich nur die verfügbaren Informationen genau ansehen. Zunächst ist da die offensichtliche Tatsache, dass Russlands Truppen nicht mehr vorankommen.»7
Die Parallelen zwischen vergangenen Kriegen und dem aktuellen Krieg sind bedrückend. Bis vor kurzem fanden sich in den Mainstream-Medien Berichte über Geländegewinne: «Der grösste Durchbruch steht noch bevor.»8, und über hohe russische Verluste: «Militärisch hat Russland einen erheblichen Teil seiner konventionellen Streitkräfte verloren», so lässt sich der Nato-Generalsekretär bei einem Treffen mit dem ukrainischen Aussenminister vernehmen.⁹ Wieviel Glauben man den Aussagen des Kriegsgegners schenken kann, haben wir schon im Ersten Weltkrieg gesehen: keinen.
Baerbock gibt Blankoscheck
ETH-Militärökonom Marcus Keupp liess sich im Frühjahr dieses Jahres weit auf die Äste hinaus, als er prophezeite: «Russland wird den Krieg im Oktober verloren haben.» 10 Wie er heute argumentiert, da sein prognostiziertes Szenario nicht eingetreten ist, weiss man nicht genau. Beunruhigend ist, dass ein gescheiterter Kriegsaugur auf der Homepage des Bundes geführt wird.11
Als im Herbst aus den USA leise Signale zu vernehmen waren, dass die Aussichten der Ukraine auf einen Sieg immer unwahrscheinlicher werden, griff die deutsche Aussenministerin, Annalena Baerbock, eine Russenhasserin und Bewunderin von Selenskyj, im September dieses Jahres in die Vollen und versprach ihm – wie im Ersten Weltkrieg das Deutsche Kaiserreich der k. und k. Monarchie Österreich-Ungarn – unendliche Unterstützung: «Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen. Freiheit und Demokratie müssen gewinnen. Und wir werden an der Seite der Ukraine stehen, solange es dauert.»12 Durchhalteparolen, die die Ukrainer ermutigen sollen, einen aussichtslosen Kampf «bis zum letzten Ukrainer» weiterzuführen.
Offensive der Ukraine gescheitert
Zeitungsartikel und Headlines sollen der Bevölkerung im Westen und in der Ukraine vermitteln, dass der Krieg zu gewinnen sei und man aufs «richtige Pferd» gesetzt habe.
Dass die westlichen Medien bis heute behaupten – natürlich ohne Beweise – die Ukrainer hätten wesentlich weniger Tote und Verwundete als Russland, wird vom ukrainischen Botschafter in London unerwartet deutlich korrigiert: «Wir verlieren Menschenleben links und rechts. Wir hängen das nicht an die grosse Glocke, wie viele Soldaten oder Zivilisten es sind, aber man kann sich vorstellen, dass die Zahlen gewaltig sind, unverdaulich.»13
Obwohl es immer noch Medien gibt, die von geringen Verlusten der Ukrainer sprechen, ist das nach der Stellungnahme des ukrainischen Botschafters kaum mehr haltbar.
«Laut BBC muss die Ukraine ständig Zehntausende Soldaten ersetzen, die im Krieg gegen Russland getötet oder verletzt wurden. Viele Wehrpflichtige versuchen darum, ihrer Einberufung zu entgehen, indem sie das Land verlassen oder andere Wege finden, um nicht an die Front zu müssen.»14
Trotz aller Euphorie, Kriegshysterie und Siegestaumel, der auch durch die manipulative und unseriöse Berichterstattung gewaltig angeheizt wurde, steht die Ukraine – ähnlich wie das Deutsche Reich am Ende des Ersten Weltkriegs – vor einem Desaster. Die kriegstreibenden Medien müssen jetzt zähneknirschend über das Scheitern der Offensive berichten, weil sich die Realität nicht länger verheimlichen lässt und aufgrund der hohen Verluste der Ukrainer ein weiterer Kampf nicht mehr geführt werden kann. Das Erste Deutsche Fernsehen berichtet: «Die ukrainische Offensive liegt eindeutig hinter den ursprünglichen Erwartungen und den operativen Zielsetzungen zurück, die Küste des Asowschen Meers zu erreichen und die Krim von den restlichen russischen Einheiten abzuschneiden. Das ist angesichts der Höhe der Verluste gegenwärtig zumindest unrealistisch.»15
Deutschland setzt weiterhin auf Krieg
Aber noch will man den Krieg nicht verloren geben. «Die Bundesregierung steht laut Finanzminister Christian Lindner mit dem Haushalt 2024 weiter voll an der Seite der Ukraine. Vorgesehen seien acht Milliarden Euro an direkter bilateraler Hilfe, sagte Lindner. Bundeskanzler Olaf Scholz betonte aber: Sollte sich die Situation ‹verschärfen, etwa weil die Lage an der Front sich verschlechtert, weil andere Unterstützer ihre Ukraine-Hilfe zurückfahren oder weil die Bedrohung für Deutschland und Europa weiter zunimmt, werden wir darauf reagieren müssen.›»16
Ob hier ein mögliches Ausstiegsszenario zwischen den Zeilen zu lesen ist, wird sich herausstellen. Wenn die Bundesregierung entscheidet, dass keine Bedrohung für Deutschland mehr von Russland ausgeht, könnte der Ausstieg ohne Gesichtsverlust vollzogen werden.
Die verheerende Entwicklung, die bereits unendliches Leid über viele Menschen gebracht hat – das Sterben im Kugelhagel – wird, solange der Krieg andauert, zunehmen, bis sich die Kriegsparteien gemeinsam an einen Tisch setzen, einen Waffenstillstand aushandeln und mit Friedensverhandlungen beginnen. Dass das alles schon vier Wochen nach Kriegsbeginn in greifbarer Nähe gewesen ist, macht das Sterben noch sinnloser. Wenn der politische Wille im «Westen» vorhanden gewesen wäre, hätte das Töten und Sterben verhindert werden können. Aber der Westen wollte es nicht verhindern, wie sich deutlich beim Abbruch der kurz vor der Unterzeichnung stehenden Friedensgespräche im März 2022 zeigte.