aus e-mail von Doris Pumphrey, 24. August 2022, 13:07 Uhr
(...) Bei der Kritik an Venezuela zeigt sich ein Verhalten, das Domenico
Losurdo bereits in seinem Buch „Der westliche Marxismus“ beschrieb und
das er als typisch für das Verhalten der hiesigen Marxisten ansah: „Auch
die auf intellektueller wie moralischer Ebene Mittelmäßigsten haben
keine Schwierigkeit damit, die Zukunft der ‚freien Entwicklung eines
jeden‘ zu beschwören, von der das Manifest (MEW 4, S. 482) spricht, und
gleichzeitig die politische Macht zu verurteilen oder zu diskreditieren,
die aus der Revolution hervorgegangen ist und (in einer ganz anderen
geopolitischen Lage) berufen war, die ihr drohenden Gefahren abzuwehren.
Die konkrete Geschichte der neuen postrevolutionären Gesellschaft, die
sich zwischen Widersprüchen, Versuchen, Schwierigkeiten und Fehlern
aller Art zu entwickeln sucht, wird dann en bloc als Degeneration und
Verrat an den revolutionären Idealen erledigt. Eine solche Haltung, die
die wirkliche Bewegung im Namen der eigenen Phantasien und Träume
verurteilt und ihre Verachtung für die ’stattfindende‘ und nahe im Namen
der fernen und utopischen Zukunft zum Ausdruck bringt, diese Haltung,
die Marx und Engels völlig fremd ist, beraubt den Marxismus jedes realen
emanzipatorischen Gehalts.“
https://linkezeitung.de/2022/08/24/die-dkp-nicht-laenger-mehr-solidarisch-mit-venezuela/
24.8.2022
*Die DKP – nicht länger mehr solidarisch mit Venezuela?
Über einen irritierenden Artikel in der Zeitung „Unsere Zeit“
*
In der Ausgabe vom 29. Juli 2022 konnte man in „Unsere Zeit –
UZ/„,/ Zeitung der DKP lesen: „Am Donnerstag vergangener Woche griffen
Polizeikräfte Mitglieder und Aktivistinnen der Kommunistischen Partei
Venezuelas (PCV) an, die sich an einer Demonstration der Arbeitenden in
Caracas gegen die Lohnsenkungspolitik der sozialdemokratischen
PSUV-Regierung beteiligt hatten. (…)“
In einer Erklärung des Politbüros der Partei wurden Details zum Vorgehen
der Polizei veröffentlicht: „Jackeline López, Mitglied des
Zentralkomitees der PCV und Vorsitzende der Clara-Zetkin-Frauenbewegung,
wurde von Schlägertrupps in der Kleidung des Bürgermeisteramtes von
Caracas angegriffen, die von der Vereinigten Sozialistischen Partei
Venezuelas (PSUV) koordiniert wurden.“ Die Mitglieder der PCV seien
belästigt, bestohlen und „feige zusammengeschlagen“ worden. Als Täter
wurden „Beamte des Bolivarischen Geheimdienstes (Sebin)“ benannt. Ein
Aktivist sei gar entführt worden. All dies geschah „unter den
mitschuldigen Blicken der Bolivarischen Nationalpolizei, die die
Arbeiterinnen und Arbeiter auch daran hinderte, zur Vizepräsidentschaft
der Republik zu gelangen.“
Die Übergriffe seien nicht überraschend erfolgt. Im UZ-Artikel heißt es:
„Repressionen und Verleumdungen gegen die Mitglieder der Kommunistischen
Partei Venezuelas sind nichts Neues. Die PCV hält in diesem Zusammenhang
fest: ‚Diese Ereignisse zeigen, dass die antikommunistische Kampagne,
die von den Sprechern der PSUV-Führung und ihren politischen Akteuren in
den Medien geführt wird, eine gewalttätige Wendung genommen hat, um
vergeblich zu versuchen, die eindeutige Unzufriedenheit der Bevölkerung
mit dem neoliberalen Anpassungsplan, der von der antikommunistischen
Regierung von Nicolás Maduro umgesetzt wird, zu neutralisieren. (…)’“
Das einst so solidarische Verhältnis zwischen der regierenden PSUV und
der PCV hat sich in ein gegnerisches, ja feindliches verkehrt. Das
Tischtuch zwischen beiden Parteien scheint endgültig zerschnitten.
Gewandelt hat sich ganz offensichtlich aber auch das Verhältnis zwischen
der PSUV, der einst von Hugo Chávez gegründeten Bewegung, und der DKP,
deren Zeitung sich die Sichtweise der PCV zu eigen macht. Sind also die
Zeiten vorbei, in denen die DKP solidarisch an der Seite Venezuelas
stand? Es sieht ganz danach aus, wenn jetzt die bolivarische Regierung
unter Maduro in eindeutig abwertender Diktion als „sozialdemokratisch“
und „antikommunistisch“ bezeichnet wird. Damit würde die DKP der Partei
Die LINKE folgen, die bereits vor Jahren auf Distanz zu Venezuela ging.
So bezeichnete Gabi Zimmer, die Europaabgeordnete der Linkspartei, 2003
Hugo Chávez als „Polithasardeur“
<https://taz.de/Gabi-Zimmer-wird-Antikommunistin/!688708/>.
*Wirtschaftspolitischer Kurswechsel der Regierung Maduro*
Doch was ist der Hintergrund des jetzigen Zerwürfnisses zwischen der
Regierung unter Maduro und der PCV? Aus dem UZ-Artikel erfährt man
darüber so gut wie nichts. Man beschränkt sich auf die Wiedergabe der
Sicht der PCV. Informativer ist da schon ein Artikel vom 3. August 2022
von Ociel Alí López auf RT Deutsch. Ociel Alí López ist Soziologe,
politischer Analyst und Dozent an der Universidad Central de
Venezuela/./ Im RT-Artikel heißt es unter der Überschrift „Eine neue
Rechte in Venezuela?“: „Die Regierung von Nicolás Maduro versucht
gegenwärtig, die Beschränkungen durch die Sanktionen der USA und der EU
zu durchbrechen und eine neue Wirtschaftsentwicklung Venezuelas in Gang
zu setzen. Sie zielt auf eine verbesserte Industrialisierung,
landwirtschaftliche Produktion und Selbstversorgung ab. Maduro will
dafür internationale Investitionen durch Wirtschaftsallianzen vor allem
mit Mitgliedstaaten der OPEC anlocken. Es liegt nahe, dass im Zuge
dieser Entwicklung auch Sozialmaßnahmen und das Lohngefälle unter die
Konkurrenzbedingungen der kapitalistischen ‚Investments‘ fallen.“
Diese neue Wirtschaftspolitik kann nur vor dem Hintergrund der
desaströsen Lage verstanden werden, in der sich Venezuela während der
ersten Amtszeit von Maduro 2013 bis 2018 befand. In diesen Jahren
brachen staatliche Dienste reihenweise zusammen, Millionen Menschen
emigrierten, Mangelernährung war in ganzen Bevölkerungsgruppen
verbreitet. Eine Armee hungriger Menschen drang in die Mülldeponien ein.
Die Inflation entwickelte sich zur Hyperinflation. Selbst Benzin wurde
knapp – und das in einem Land mit einem der größten Erdölvorkommen weltweit!
Über die Ursachen dieses Niedergangs ist oft berichtet worden: Die
harten Sanktionen der USA und der EU wirkten verheerend, die Anlagen zur
Erdölförderung und Verarbeitung konnten deshalb kaum mehr gewartet,
geschweige denn modernisiert werden. Im Kampf um die Macht versuchte die
Bourgeoisie des Landes die Regierung Maduro durch Kapitalflucht und
Investitionsstreiks zu stürzen. Zur tiefen Krise trugen aber auch
Versäumnisse und Fehleinschätzungen der Regierung in Caracas selbst bei:
Die verbreitete Korruption im Staatsapparat, eine überbordende
Bürokratie und nicht zuletzt üppige Sozialprogramme.
Unter der Überschrift* „*Maßnahmen zur wirtschaftlichen Öffnung in
Venezuela: Stabilisierung oder Demontage?*“ *
<beschrieb" rel="noopener">https://amerika21.de/analyse/239838/venezuela-wirtschaftliche-oeffnung>beschrieb
Ociel Alí López im Mai 2020 im Informationsdienst „Amerika 21“ die
Ergebnisse dieses Kurswechsels: „Die Liberalisierungsmaßnahmen haben den
Mangel verringert. Es gibt keine Warteschlangen mehr. Die Inflation ist
nach wie vor hoch, aber die Stellen der von der Opposition
kontrollierten Nationalversammlung verzeichnen für 2019 einen Rückgang
im Vergleich zu 2018 und den Vorjahren. (…)
Die Veränderung ist täglich wahrnehmbar. Selbst in verarmten
Bevölkerungsgruppen ist eine höhere Kaufkraft zu verzeichnen. Der
öffentliche Transport hat sich verbessert. Viele Bereiche des Handels
haben die schlimmsten Jahre der Krise überstanden und beginnen, wieder
aufzuleben. Der Dollar wird in allen Gesellschaftsschichten verwendet.
Es gibt neue Geschäfte und Läden. Der Diskurs über die humanitäre Krise
ist unhaltbar geworden und aus den Mündern der Oppositionspolitiker
verschwunden. (…) Vorbei sind die täglichen Bilder von Plünderungen auf
Straßen und Dörfern im Landesinneren, die wir von 2016 bis 2018 sehen
konnten.“
Als Gründe für diese relativ wirtschaftliche Stabilisierung benennt
López: Der Zufluss harter Devisen durch Geldüberweisungen emigrierter
Venezolaner, die Rückführung von ins Ausland transferiertem Kapital, das
zu neuen Investitionen im Land anregte, eine verstärkte Goldförderung
und der Einstieg in die „Schürfung“ von Kryptowährungen, die in
Venezuela, einem Land mit extrem niedrigen Stromkosten, besonders
lohnend ist.
López verschweigt aber auch nicht die Schattenseiten dieses Schwenks:
„Die drängendste Herausforderung und das Merkmal dieser Zeit ist der
allgemeine Zusammenbruch der öffentlichen Dienste und die Unfähigkeit
des Staates, dagegen anzugehen. Die Regierung kann nicht mehr für die
öffentlichen Dienstleistungen sorgen, was eine Ära der Mikro- und
Makroprivatisierungen einleitet. Wer Geld hat, kann sich auf Gesundheit,
Transport, Bildung, Licht und Wasser verlassen. Wer kein Geld hat, wird
es viel schwerer haben. Die Staatskasse wurde geplündert. Die
Sozialprogramme (misiones sociales), die Chávez‘ erfolgreiche
Sozialhilfepolitik waren, sind deutlich geschwächt worden: Medizinische
Vorzeigezentren wie das in Las Mercedes inmitten der oberen
Mittelschicht von Caracas, sind seit drei Jahren geschlossen; die vielen
kubanischen Ärzte, die dort arbeiteten, haben sich zurückgezogen. (…)
All dies wird zur Zunahme der Armut führen und das Leben des Landes in
den kommenden Jahrzehnten sicherlich beeinflussen; aber vorerst bringt
der wirtschaftliche Wandel direkt oder indirekt etwas Luft für alle
sozialen Schichten.“
Angesichts dieser negativen Begleiterscheinungen kann es kaum
überraschen, dass es zu Protesten und sozialen Unruhen kommt. Die in dem
UZ-Artikel geschilderte Konfrontation zwischen dem venezolanischen
Staatsapparat und der PCV ist Teil dieser Spannungen. Doch ist dies
Grund genug, um der bolivarischen Regierung generell die Unterstützung
zu entziehen, sie als „sozialdemokratisch“ und „antikommunistisch“ zu
verurteilen – wie im UZ-Artikel geschehen?
*Der antikolonialistische Kampf Venezuelas*
Notwendig wäre doch vielmehr, die gesamte Situation in den Blick zu
nehmen: Die von Hugo Chavéz angeleitete Bolivarische Revolution hat
gewiss nicht den von den Linken weltweit erhofften „Sozialismus des 21.
Jahrhunderts“ gebracht. Er blieb eine Schimäre – und wie konnte es auch
anders sein in einem kaum industrialisierten Land, das fast
ausschließlich von seinem Ölreichtum lebte und damit Sanktionen und
internationalen Krisen hilflos ausgeliefert war.
Und doch schlug die Bolivarische Revolution ein neues Kapitel in der
Geschichte des Landes auf, indem es erstmals die breiten Volksmassen zu
Akteuren des geschichtlichen Prozesses bestimmte. Vor allem aber führt
Venezuela einen antikolonialistischen Kampf gegen die westlichen Mächte
USA und EU, die danach trachten die bolivarische Revolution rückgängig
zu machen. Das Land ist weiterhin eng mit Kuba und Nicaragua verbunden,
für deren Volkswirtschaften die günstigen venezolanischen Öllieferungen
überlebenswichtig sind. Venezuela führt weiter die „Bolivianische
Allianz für Amerika (ALBA)“ an, die unter Chávez gegründet wurde, um der
US-amerikanischen Hegemonie etwas entgegenzusetzen. Das von Venezuela
aus sendende „Fernsehen des Südens“ (Televisión del Sur -Telesur),
leistet täglich eine gegenüber den einseitigen Medien des Westens
alternative Berichterstattung. Auf globaler Ebene sieht sich das Land
heute als Verbündeter Chinas und Russlands.
Die bolivarische Revolution ist daher nicht zu Ende. Auch deshalb ist
Venezuela weiterhin harten Sanktionen der USA und der EU ausgesetzt. All
diese Fakten müssen bei der Beurteilung des Landes berücksichtigt
werden. Es reicht nicht aus, lediglich die Positionen einer Partei –
selbst wenn es sich hier um eine kommunistische Partei handelt –
unhinterfragt zu übernehmen und allein auf dieser Grundalge die
Gesamtbewertung des Landes vorzunehmen.
*Eine typische Kritik westlicher Marxisten *
*Bei der Kritik an Venezuela zeigt sich ein Verhalten, das Domenico
Losurdo bereits in seinem Buch „Der westliche Marxismus“ beschrieb und
das er als typisch für das Verhalten der hiesigen Marxisten ansah:*
„Auch die auf intellektueller wie moralischer Ebene Mittelmäßigsten
haben keine Schwierigkeit damit, die Zukunft der ‚freien Entwicklung
eines jeden‘ zu beschwören, von der das Manifest (MEW 4, S. 482)
spricht, und gleichzeitig die politische Macht zu verurteilen oder zu
diskreditieren, die aus der Revolution hervorgegangen ist und (in einer
ganz anderen geopolitischen Lage) berufen war, die ihr drohenden
Gefahren abzuwehren. Die konkrete Geschichte der neuen
postrevolutionären Gesellschaft, die sich zwischen Widersprüchen,
Versuchen, Schwierigkeiten und Fehlern aller Art zu entwickeln sucht,
wird dann en bloc als Degeneration und Verrat an den revolutionären
Idealen erledigt. Eine solche Haltung, die die wirkliche Bewegung im
Namen der eigenen Phantasien und Träume verurteilt und ihre Verachtung
für die ’stattfindende‘ und nahe im Namen der fernen und utopischen
Zukunft zum Ausdruck bringt, diese Haltung, die Marx und Engels völlig
fremd ist, beraubt den Marxismus jedes realen emanzipatorischen
Gehalts.“ [1]<https://www.andreas-wehr.eu/#_edn1>
Die Entsolidarisierung gegenüber dem heute mit ungeheuren ökonomischen,
politischen und sozialen Problemen kämpfenden Venezuela folgt einem
bekannten Muster. Bereits die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik
im revolutionären Russland 1921 und damit die Rückkehr zu
marktwirtschaftlichen Regelungen wurde von vielen westlichen Kommunisten
und Sozialisten als Wiedereinführung des Kapitalismus und damit als
endgültiges Scheitern der Revolution verurteilt. Ähnlich erging es der
Volksrepublik China nach der unter Deng Xiaoping Ende der 70er Jahre
eingeleiteten Wende hin zu einer sozialistischen Marktwirtschaft. Nicht
wenige linke westliche Marxisten versagten später China die Solidarität
als westliche Staaten wegen der angeblichen Unterdrückung der Tibeter
die Absage der Olympischen Spiele in Peking im Jahr 2000 verlangten.
Begründung dafür: Mit dem Beitritt des Landes zur
Welthandelsorganisation habe China bewiesen, dass es endgültig ein
kapitalistisches Land geworden sei. Und mit solch einem Land müsse man
nicht, ja dürfe man nicht solidarisch sein.
Es ist bemerkenswert, dass die UZ ihren Artikel über Venezuela der
österreichischen „Zeitung der Arbeit“ entnommen hat, ein Medium mit
einer sehr übersichtlichen Verbreitung, das Zentralorgan der „Partei der
Arbeit“ – einer Organisation mit einer noch übersichtlicheren
Anhängerschaft – ist. Der größte Fundus dieser Partei besteht darin,
dass die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) – eine Partei mit
echter Verankerung im Volk – sie als Schwesterpartei ansieht. Die KKE
wiederum ist aber dafür bekannt, dass sie China schon seit langem als
kapitalistisches Land bewertet, und Russland im Ukraine-Krieg als
imperialistische Macht verurteilt. Das ist selbstredend auch die
Sichtweise der „Partei der Arbeit“. Es ist besorgniserregend, dass sich
nun auch die DKP solchen Positionen gegenüber
öffnet.[2]<https://www.andreas-wehr.eu/#_edn2>
[1]<https://www.andreas-wehr.eu/#_ednref1> Domenico Losurdo, Der
westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen
könnte“, Köln 2021, S. 248
[2]<https://www.andreas-wehr.eu/#_ednref2> So sieht auch das prominente
DKP-Mitglied Lucas Zeise China als kapitalistisch an. Vgl. Andreas Wehr,
„China ein kapitalistisches Land?“
<https://www.andreas-wehr.eu/china-ein-kapitalistisches-land.html>, .
Auch finden sich in der DKP gegenwärtig immer wieder Stimmen, vor allem
in ihrer Jugendorganisation SDAJ, die das Vorgehen Russlands in der
Ukraine als klassischen imperialistischen Angriffskrieg ansehen.
https://www.andreas-wehr.eu/die-dkp-nicht-laenger-mehr-solidarisch-mit-venezuela.html