16.09.2021

GASTKOMMENTAR:      Die gesellschaftliche Spaltung beenden

wienerzeitung.atvom 08.09.2021, 14:12 Uhr | Update: 08.09.2021, 19:28 Uhr

Ein 10-Punkte-Vorschlag für eine versöhnliche Corona-Strategie.


Das Sars-CoV-2-Virus hat einen Stachel zum Aufschluss von Zellen, aber für die gegenwärtige Spaltung der Gesellschaft ist der politische Umgang mit der Pandemie verantwortlich. Drei Bausteine stehen für die große Division:


1. Ein Thema erhielt über Nacht überproportionale, fast monopolhafte Aufmerksamkeit, die bis heute andauert, obwohl die wissenschaftliche Grundlage für das Maß der Angstmache nicht nachgeliefert wurde. Covid-19 ist weder die größte Gesundheitsgefahr noch die einzige Infektionskrankheit. Im Jahr 2020 starben laut WHO 97 von 100 Menschen nicht an Covid-19. Gegen sechs häufigere Todesursachen wurden keine vergleichbaren Maßnahmen ergriffen. Wieso führt zum Beispiel Luftverschmutzung, durch die im Jahr 2020 laut offizieller Statistik mehr Menschen in der EU gestorben sind als an Covid-19, zu keinem vergleichbaren Gesundheitsschutz?


2. Auf Basis von Angstmache erlassen viele Regierungen unverhältnismäßige Maßnahmen, mitgetragen von einem (verängstigten) Teil der Bevölkerung. Manche davon richten enorme Schaden an. Laut Weltbank sind im Vorjahr 150 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut abgerutscht, zusätzlich sieben Millionen sind akut vom Hungertod bedroht, in Österreich sind 79 Prozent der Kinder Lockdown-geschädigt, in Deutschland starben mehr Kinder durch zusätzliche häusliche Gewalt im Lockdown als an Covid-19.


3. Beim Aufbau des Angst-Narrativs reiht sich Ungereimtheit an Ungereimtheit: von der Tödlichkeit von Covid-19 bis zur Totenzählung, von der Spitälerauslastung bis zur Verlässlichkeit der PCR-Tests, vom Nutzen-Schaden-Verhältnis der Impfung bis zur Geheimhaltung der Milliarden-Verträge. Obwohl praktisch alle Maßnahmen wissenschaftlich umstritten sind, werden Kritikerinnen und Kritiker der Regierungsmaßnahmen diffamiert und nicht auf Augenhöhe am Diskurs beteiligt: Die Punzen "Corona-Leugner", "Verschwörungstheoretiker" oder "rechts" ersetzen den sachlichen Austausch und befördern stattdessen Lagerbildung.

Zwei-Klassen-Gesellschaft mit Ausgrenzung droht

Durch die politische Zuspitzung auf "Impfung vs. Nicht-Impfung" im Herbst droht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft mit Stigmatisierung und Ausgrenzung der neuen Paria aus Teilen des öffentlichen (und damit auch privaten) Lebens (es beginnt bereits mit Geburtstagsfeiern nur für Geimpfte). Die angekündigte "Erhöhung des Kontrolldrucks" wird die Spaltung vertiefen, Stress und Angst auslösen, die polizeiliche Überprüfung, ob Nicht-Geimpfte die "richtige" Maske tragen, ist der Gipfel des bevormundenden Kontrollstaats. Diskriminierung führt nicht zu Solidarisierung. Mehr und mehr Stimmen fordern daher einen grundlegenden Strategiewechsel, so auch 16 Autorinnen und Autoren des Papiers "Covid-19 ins Verhältnis setzen: Alternativen zu Lockdown und Laufenlassen". Eine versöhnliche Strategie würde einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen "Nichtstun" und "Grundrechtseinschränkungen" wählen. Hier sind zehn mögliche Schritte zu einem neuen Umgang mit dem Virus:


1. Verhältnismäßigkeit und relevante Information: 

Gesundheitsministerien und -ämter führen Dashboards mit den zumindest zehn größten Gesundheitsgefahren in einer vergleichenden Übersicht. Dazu die Maßnahmen, die sie aktuell zur Bewältigung dieser Gefahren setzen sowie alle Folgeschäden und -kosten der Maßnahmen. Die einseitige Angstmache durch Corona-only-Dashboards wird eingestellt. Stattdessen wird das demokratische Gesundheitsverständnis der Ottawa-Charter gefördert.


2. Pluralität und rhetorische Abrüstung: 

Alle Punzen - "Verschwörungstheoretiker", "Corona-Leugner", "Aluhutträger", "Covidiot" - werden mit der Roten Karte belegt. Wer sie im öffentlichen Diskurs verwendet, wird aufgefordert, sie durch ein Sachargument zu ersetzen. Ein respektvoller und toleranter Diskurs ist die Voraussetzung für demokratische Lösungsfindungen. Kritikerinnen und Kritiker von Regierungsmaßnahmen unterschiedlicher Disziplinen kommen ausgewogen zu Wort.


3. Solidarität statt Zwang: 

Ende der Test-, Masken- und Impfausweispflicht. Diejenigen, die sich mit einer Maske oder Impfung schützen wollen, sollen diese von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt bekommen. Sobald alle, die es wünschen, ein Impfangebot bekommen haben, werden sämtliche Zwangsmaßnahmen eingestellt (wie ab 10. September in Dänemark, bei einer 7-Tage-Inzidenz von 167; Schweden folgt). Covid-19 ist dann Teil des allgemeinen Lebensrisikos. Der Staat soll die Menschen dazu befähigen und dabei unterstützen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und Risikogruppen steuerfinanziert schützen (zum Beispiel durch kleinteiligere, familienähnliche Pflegeheime).


4. Einstellen des Testens von Gesunden: 

Eine Überprüfung 190.000 positiver PCR-Tests an 160.000 Personen durch die Uni Duisburg-Essen ergab, dass die Mehrheit keine ansteckenden Personen indizierte - was bedeutet, dass viele Grundrechtseinschränkungen fachlich unbegründet waren und die Strategie auf einem fragwürdigen Indikator beruhte. Die Tests sollen dorthin verortet werden, wo sie Sinn ergeben: bei Vorliegen von Symptomen als Teil der ärztlichen Diagnose. So können die 1,8 Milliarden Euro, welche die Tests bisher gekostet haben, eingespart und weitere gigantische Müllberge vermieden werden. Und die 11.000 Kinder, die wegen Testzwangs zu Hause unterrichtet werden, können in die Schulen zurück. Schulen werden normalisiert.


5. Freie, persönliche und geheime Impfentscheidung: 

Impfen sollte nur nach erstens umfassender Aufklärung über mögliche Folgen und zweitens einem Angebot zu einem kostenlosen Antikörper- und Gedächtniszellentest durchgeführt werden, die bei positivem Ergebnis den Status "genesen" bringen. Die natürliche Immunität ist prinzipiell höher zu bewerten als eine Impfung. 1G konterkariert wissenschaftliche Tatsachen: Was zählt, ist nicht die Impfrate, sondern die Immunität. Kollektive Immunität ist ein Zusammenspiel aus Menschen mit starkem Immunsystem, Kreuzimmunität aus vorangegangenen Infekten mit Coronaviren, überstandenen Sars-CoV2-Infektionen und Impfung.


6. Umfassende Gesundheitsaufklärung: 

Es bedarf umfassender Aufklärung über das menschliche Immunsystem, die Rolle von Bewegung, Ernährung, Nähe und Berührung sowie den Abbau von Stress und Angst. Einer aktuellen Studie aus Südkorea zufolge verringert sich das Sterberisiko durch regelmäßige körperliche Betätigung um drei Viertel. Es braucht Narrative, dass das Leben mit dem Virus möglich ist, dass der menschliche Körper aus bis zu hundertmal mehr Viren als Zellen besteht - nur wenige davon sind gefährlich, keines davon ist "in den Griff zu kriegen"; die Sprache verführt.


7. Nachhaltiges Wirtschaften: 

Die Zahl der Zoonosen nimmt aufgrund der nicht nachhaltigen menschlichen Wirtschaftsweise zu. Je einseitiger die Politik auf Symptombehandlungen (wie etwa Impfungen) fokussiert und gleichzeitig die ökologische Zerstörung weiter zulässt, desto mehr Pandemien werden folgen. Eine nachhaltige Wirtschaftswiese ist gleichermaßen Lebensbedingung für die Menschen wie effektive Zoonosen-Prävention: Es ist Zeit für eine Postwachstums-, Kreislauf- und Gemeinwohl-Ökonomie.


8. Kontrolle der Konzerne: 

Öffentliche Förderungen für Pharmafirmen müssen an Zwangslizenzen geknüpft werden. Es kann nicht sein, dass der Staat die Entwicklungskosten von Milliardenpatenten finanziert, sämtliche Rechtskosten für Impfschäden übernimmt und die Verträge, die dieses Unrecht regeln, geheim bleiben.


9. Forschung und Information zu Alternativen: 

Ivermectin, Artemisinin und andere Medikamente sowie Vitaminpräparate und auch Homöopathie sind stärker zu beleuchten, um Alternativen oder Verbündete zur Impfung zu schaffen. Ein Strategieziel sollte sein, dass Erkrankte zu Hause behandelt werden können, sodass das Gesundheitssystem der Belastung standhält. Längst hätten zudem Betten aufgestockt (statt abgebaut) werden müssen, mit einem Bruchteil der Milliarden, die für Tests und Lockdowns benötigt wurden. Auch kurzfristig gab es in Krisensituationen schon bisher Triage-Zelte vor Krankenhäusern, zuletzt 2018 in Kalifornien und Pennsylvania: In einem einzigen Zelt in Allentown waren mehr als 40 Grippepatientinnen und -patienten untergebracht - es nahm nur niemand Notiz davon.


10. Versöhnungstische sowie Bürgerinnen- und Bürgerrat: 

An Runden Tischen werden alle Ängste gleich behandelt: jene vor Covid-19, vor anderen Gesundheitsgefahren, vor den Folgen der Maßnahmen sowie vor dem Verlust der Grundrechte und des demokratischen Diskurses. Auf dieser Grundlage wird ein Bürgerinnen- und Bürgerrat zur Erarbeitung einer neuen Corona-Strategie einberufen. Dieser kann mehrere alternative Szenarien entwickeln, die einer Volksabstimmung unterzogen werden. So wird ein Stück verloren gegangener Demokratie restituiert.


Im Oktober werden mehrere gesellschaftliche Gruppen mit einem weiterentwickelten Vorschlag-Katalog gemeinsam an die Öffentlichkeit gehen.


Christian Felber ist Affiliate Scholar am IASS Potsdam und freier Publizist sowie Tänzer in Wien. Er ist Autor von bisher 15 Büchern zur Reform der Wirtschaft, des Welthandels und des Finanzsektors. Gemeinsam mit 15 Expertinnen und Experten aus Österreich und Deutschland hat er den 66-seitigen Text "Covid-19 ins Verhältnis setzen. Alternativen zu Lockdown und Laufenlassen" verfasst (Download: www.coronaaussoehnung.org).- © Bernd-Hofmeister


Info: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2119699-Die-gesellschaftliche-Spaltung-beenden.html  



Weiteres: 



16.09.2021

Kommentar: Der Wille ist da Weltmachtgelüste der EU

jungewelt.de, 16.09.2021, Seite 8 / Ansichten, Von Jörg Kronauer


Applaus für die Fahne: Ursula von der Leyen am Mittwoch in Strasbourg (Foto) 

Der Name der Rede, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch vor dem Europaparlament hielt, ist »State of the Union Address«. Es ist zugleich der Name für die jährliche Traditionsansprache des US-Präsidenten vor beiden Kammern des US-Kongresses. Als der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso im September 2010 mit der ersten »State of the Union Address« der EU vor das Europaparlament trat, lag der Anspruch, der mit der Wahl des berühmten Namens verbunden war, offen zutage: Es war dasselbe Format wie in den USA. Die EU wollte also auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten wahrgenommen werden. Den Anspruch markiert sie seitdem jedes Jahr im September.


Zitat: Aus Sicht derer, die die EU gerne als Weltmacht sähen, lässt der Zustand der Union ziemlich zu wünschen übrig – und von der Leyen kam denn auch nicht umhin, innere Konflikte anzusprechen, die seit Jahren bestenfalls vor sich hin schwelen, teils gar zu eskalieren drohen: den Streit um die Modalitäten der Flüchtlingsabwehr oder – wie es im verschleiernden Bürokratenjargon der EU heißt – »das neue Migrations- und Asylpaket«. Bei dem gibt es, wie die Kommissionspräsidentin einräumen musste, »nur quälend langsame Fortschritte«. Zudem die erbitterten Auseinandersetzungen um die Rechtsstaatlichkeit mit Ungarn und Polen, die sich stetig zuspitzen und bei denen von der Leyen am Mittwoch auf einer harten Linie bestand. Dem Umstand, dass die EU von immer mehr Zwist erschüttert wird, mag es geschuldet sein, dass die Kommissionschefin ihre Rede (Überschrift: »Die Seele unserer Union stärken«) in peinlichen Phrasen gipfeln ließ: »In all ihrer Unvollkommenheit ist unsere Union doch von schöner Einzigartigkeit und von einzigartiger Schönheit.« Nun ja.


Trotz aller inneren Konflikte: Der Wille zur Weltmacht ist bei den EU-Eliten ungebrochen. Man trete auf globaler Ebene »in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz« ein, urteilte von der Leyen. Da gelte es, bei Bedarf militärische »Missionen« auch »ohne die Beteiligung der NATO oder der UNO« durchzuführen. Die EU werde im Ausland »für Stabilität sorgen«, »in unserer Nachbarschaft und in unterschiedlichen Regionen«. Stabilität? Afghanistan lässt grüßen, in Mali etwa. Und dass die EU laut ihrer neuen Indopazifikstrategie, die am Donnerstag vorgestellt werden soll, dem Vernehmen nach mehr Kriegsschiffe in den Indischen und den Pazifischen Ozean entsenden will, lässt für die Stabilität Asiens Schlimmes befürchten. Um über genügend Truppen und über ausreichende Geschlossenheit für künftige Militärinterventionen zu verfügen, hat die Kommissionspräsidentin nun zum wiederholten Mal eine »europäische Verteidigungsunion« gefordert. »Es ist an der Zeit«, forderte von der Leyen mit Blick auf die Militarisierung der EU, »dass Europa einen Sprung macht.« Die Niederlage in Afghanistan zeigt: Es könnte ein Sprung in den Abgrund sein.

Info: https://www.jungewelt.de/artikel/410519.der-wille-ist-da.html

16.09.2021

Die Epoche der Militärs      Brüssel und Berlin dringen auf beschleunigte Militarisierung der EU. Kramp-Karrenbauer sagt "Epochenwechsel" und stärkere Rolle der Außen- und Militärpolitik voraus.

german-foreign-policy.com, 16. September 2021

BERLIN/BRÜSSEL(Eigener Bericht) - EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer verlangen einen "Sprung nach vorn" bei der Militarisierung der EU. Man trete "in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz" auf globaler Ebene ein, erklärte von der Leyen gestern in ihrer Rede zur Lage der Union; die EU müsse deshalb eigenständig militärisch operieren können - auch "ohne die Beteiligung der NATO oder der UNO". Kramp-Karrenbauer stufte die Forderungen der Kommissionspräsidentin als "wichtig" ein. Erst kürzlich hatte sie für zukünftige EU-Militäreinsätze die Schaffung von "Koalitionen der Willigen" empfohlen, die auch von Berliner Regierungsberatern befürwortet wird. Vergangene Woche hat sie zudem einen aktuellen "Epochenwechsel" diagnostiziert, nach dem "Sicherheitspolitik viel stärker im Mittelpunkt stehen" werde als bisher; mit Blick auf Militäreinsätze müsse sich "Deutschlands strategische Kultur verändern". Im ersten Halbjahr 2022 soll ein EU-Verteidigungsgipfel neue Weichen stellen. Kramp-Karrenbauer schließt einen "robusten" Einsatz in Mali nicht aus.

Zitat: 
"Eine neue Ära verstärkter Konkurrenz"

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am gestrigen Mittwoch in ihrer Rede zur Lage der Union weitere Schritte zur Militarisierung der EU gefordert. Man trete "in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz" auf globaler Ebene ein, erklärte von der Leyen; daher müsse die Union militärisch handlungsfähig sein - und zwar auch "ohne die Beteiligung der NATO oder der UNO". Es gelte, "in unserer Nachbarschaft" und darüber hinaus - "in unterschiedlichen Regionen" - "für Stabilität [zu] sorgen"; dazu sei eine "Europäische Verteidigungsunion" anzustreben.[1] Von der Leyen verlangt nicht nur, die "Interoperabilität" der Streitkräfte in der EU zu stärken. Dazu werde schon jetzt kräftig in gemeinsame Rüstungsprojekte "von Kampfflugzeugen bis hin zu Drohnen" investiert. Die Kommissionspräsidentin schlägt vor, den Aufbau einer eigenständigen EU-Rüstungsindustrie weiter zu beschleunigen durch "eine Mehrwertsteuerbefreiung beim Kauf von Verteidigungsausrüstung, die in Europa entwickelt und hergestellt wurde". Darüber hinaus müsse aber endlich auch eine "Grundlage für unsere gemeinsame Entscheidungsfindung" über EU-Militäreinsätze geschaffen werden; neue Kampftruppen allein genügten nicht.


"Koalitionen der Willigen"

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die von der Leyens Forderungen nun ausdrücklich begrüßt, hatte sich bereits kürzlich ähnlich geäußert. Hintergrund waren Vorschläge, eine rund 5.000 Soldaten umfassende schnelle EU-Eingreiftruppe zu schaffen ("first entry force"), die für ein "sofortiges, kurzfristiges Einsatzszenario" zur Verfügung stehen soll. Kramp-Karrenbauer hatte am 2. September, während eines Treffens mit ihren EU-Amtskollegen, erklärt, dies allein genüge nicht; "die zentrale Frage für die Zukunft" der Außen- und Militärpolitik der EU sei vielmehr, wie man "unsere militärischen Fähigkeiten" tatsächlich nutze.[2] Kramp-Karrenbauer bezog sich damit auf die Tatsache, dass die EU ihre EU-Battlegroups, die seit 2007 voll einsatzfähig bereitstehen, noch nie eingesetzt hat - aufgrund politischer Differenzen, ob bzw. wo dies geschehen soll. Um trotz der divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten künftig rasch intervenieren zu können, schlug Kramp-Karrenbauer "Koalitionen der Willigen" vor. "Deutschland und Frankreich sind bereit, hier voranzugehen", teilte die Bundesverteidigungsministerin gestern mit; "andere Länder unterstützen diesen Plan."[3]


Spaltungsgefahr

Dem schließen sich auch Berliner Regierungsberater an - und stellen zugleich weiterreichende Forderungen. So heißt es etwa in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die militärische "Fortentwicklung der EU" dürfe "nicht länger von einigen wenigen Mitgliedstaaten behindert werden"; die Forderung nach "Koalitionen der Willigen" gehe in die richtige Richtung. Allerdings werde sich "mehr Flexibilität ... nur auszahlen", wenn sich die EU-Mitgliedstaaten außerdem "dazu bereit erklären, verbindliche Streitkräfteziele vorzugeben, um bestehende Fähigkeitslücken zu schließen". Der Ansatz, die Aufrüstung allein den einzelnen Ländern zu überlassen, sei "gescheitert".[4] Die SWP weist zudem darauf hin, dass das Setzen auf "Koalitionen der Willigen" zu neuen inneren Spannungen führen kann. Die Bundesregierung habe "flexiblere, pragmatischere oder auch ad hoc agierende Formate" bislang abgelehnt, da sie "die Gefahr" bärgen, "die EU zu spalten und so zu schwächen", stellt die SWP fest. Berlin müsse daher in Zukunft "eine neue Balance finden zwischen dem legitimen Ansatz, die EU-Integration ... zu vertiefen, und der Notwendigkeit, die EU in die Lage zu versetzen, Schritt zu halten mit den rasanten Veränderungen der internationalen Sicherheitspolitik".


"Vor großen Aufgaben"

Mit Blick auf die globale politische Lage urteilt Kramp-Karrenbauer darüber hinaus, "dass sich Deutschlands strategische Kultur verändern muss".[5] Aktuell stehe ein "Epochenwechsel" bevor, nach dem "Sicherheitspolitik viel stärker im Mittelpunkt stehen" werde "als früher", erklärte die Ministerin bei der Einweihung von IISS Europe, dem "Europabüro" des International Institute for Strategic Studies (London), am Pariser Platz in Berlin. Dabei entstehe "der Eindruck, dass sich die strategische Großwetterlage schneller verändert, als die Einstellung in Deutschland sich anpassen kann oder will". Es komme "viel auf uns zu"; deshalb werde die künftige Bundesregierung - "ganz gleich, wer sie bilden wird" - unmittelbar "vor großen Aufgaben stehen". Bei der "Gestaltung des Epochenwechsels" sei die Bundeswehr "ein Pfund", mit dem man "wuchern kann", erklärte die Ministerin. "Die Bedrohungen an den Außengrenzen Europas und der NATO wachsen", äußerte Kramp-Karrenbauer: im Osten etwa "durch Russland", in der Sahelzone "durch islamistische Extremisten". So werde "schon bald ... die Frage auf uns zukommen, ob wir bereit sind", im Sahel "mit einem robusten Mandat vor Ort in den Einsatz zu gehen".[6]


Europas Sprung nach vorn

Zur Planung konkreter Schritte kündigt EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen einen "Gipfel zur Europäischen Verteidigung" im ersten Halbjahr 2022 an; dann wird Frankreich den EU-Ratsvorsitz innehaben. Es sei "an der Zeit, dass Europa einen Sprung macht", sagte von der Leyen gestern.[7] Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer schloss sich an: "Ein deutlicher Sprung nach vorn für die europäische Verteidigung ist dringend notwendig."[8] Als Hindernis könnte sich freilich erweisen, dass der Gipfel von Frankreich ausgerichtet wird, dessen militärische und militärpolitische Vorstöße seit Jahren von der Bundesregierung systematisch ausgebremst werden. So hat sie bislang die von Paris angestoßene Initiative européenne d'intervention (IEI) - den Versuch, schnelle, flexible EU-Militäreinsätze zu ermöglichen - zugunsten des PESCO-Projekts systematisch ausgebremst (german-foreign-policy.com berichtete [9]) und sich dem französischen Drängen, den Kampfeinsatz in Mali stärker durch EU-Truppen zu unterstützen, verweigert. Ob Berlin sich im Frühjahr gegenüber Paris nachgiebiger zeigen wird oder ob Frankreich erneut zurückstecken muss, wird sich zeigen.

 

[1] Rede der Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union - 2021. ec.europa.eu 15.09.2021.

[2] S. dazu EU-Kriegskoalitionen der Willigen.

[3] Statement der Verteidigungsministerin zur Rede der EU-Kommissionspräsidentin. bmvg.de 15.09.2021.

[4] Ronja Kempin: EU-Sicherheitspolitik: Lehren aus dem Afghanistan-Desaster. swp-berlin.org 14.09.2021.

[5], [6] Annegret Kramp-Karrenbauer zur strategischen Kultur in Deutschland und Europa. bmvg.de 08.09.2021.

[7] Rede der Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union - 2021. ec.europa.eu 15.09.2021.

[8] Annegret Kramp-Karrenbauer zur strategischen Kultur in Deutschland und Europa. bmvg.de 08.09.2021.

[9] S. dazu Die Koalition der Kriegswilligen (II) und Vor neuen Konfrontationen.


Info: 
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8705
16.09.2021

Drohnenangriff in Afghanistan: US-Außenminister Blinken weiß nicht, ob Opfer wirklich Terrorist war

de.rt.com, vom 15 Sep. 2021 13:00 Uhr

US-Außenminister Antony Blinken hat versucht, während einer Anhörung des Senats Fragen zu einem tödlichen US-Drohnenangriff während der Evakuierung in Afghanistan auszuweichen. Bei dem Angriff war ein Mitarbeiter einer NGO in Kabul getötet worden. US-Senator Rand Paul wies darauf hin, das Ziel hätte wohl vor einem solchen tödlichen Angriff bekannt sein müssen. Blinken gab zu, dass er nicht wisse, ob das Opfer IS-Mitglied war oder nicht.

Zitat: US-Senator Rand Paul aus dem US-Bundesstaat Kentucky ist bekannt für seine feste Überzeugung, die US-Verfassung einzuhalten, und in jüngster Zeit auch dafür, dass er Dr. Anthony Fauci wiederholt als Lügner bezeichnet hat, was dessen Wissen über die US-Finanzierung der Gain-of-Function-Forschung im chinesischen Wuhan betrifft.


Medienbericht: USA töteten bei Angriff auf Fahrzeug in Kabul NGO-Mitarbeiter statt Terroristen


Fauci ist der hochrangigste COVID-Berater von US-Präsident Joe Biden. Jüngste Dokumente, die von The Intercept veröffentlicht wurden, zeigen bekanntlich, dass Fauci den US-Kongress in Bezug auf sein Wissen über die Finanzierung tatsächlich belogen hat.


Am Dienstag hatte Senator Paul nun bei einer Anhörung im US-Senat die Gelegenheit, auch dem US-Außenminister Antony Blinken sehr unbequeme Fragen zum katastrophalen US-Abzug aus Afghanistan zu stellen, darunter auch zum jüngsten US-Drohnenangriff in dem Land, bei dem zehn afghanische Zivilisten ums Leben kamen, darunter sieben Kinder.


Insbesondere wollte Paul von der Republikanischen Partei wissen, ob die Biden-Regierung überhaupt wusste, wen sie bei dem Angriff ins Visier genommen und tatsächlich getötet hatte, nachdem Medienberichten zufolge ein humanitärer Hilfsarbeiter getroffen worden war – und nicht ein ISIS-K-Terrorist, wie die US-Regierung bis dahin behauptet hatte.

Paul: "War er ein humanitärer Helfer oder ein ISIS-K-Agent?"

Blinken: "Ich weiß es nicht."

Paul: "Man könnte annehmen, dass man so etwas wissen sollte, bevor man jemanden mit einer Predator-Drohne tötet."


Blinken fügte dann hinzu, dass der Angriff noch geprüft werde.

Pauls scharfe Kritik kam, nachdem die New York Times berichtet hatte, ihre Untersuchung des Vorfalls hätte ergeben, dass der Drohnenangriff einen humanitären Helfer und die Kinder, die ihn begrüßen wollten, getötet hat – und nicht einen ISIS-K-Terroristen samt seiner Autobombe, wie das Pentagon behauptet hatte. Die Zeitung stellte außerdem fest, dass es entgegen den Behauptungen der US-Regierung keine Hinweise auf angebliche "sekundäre Explosionen" gab, die hätten darauf schließen lassen, dass das getroffene Auto wirklich mit Sprengstoff präpariert war.


Der Mitarbeiter vor Ort, Zemari Ahmadi von der US-amerikanischen NGO Nutrition & Education International, hatte lediglich Behälter mit Wasser in seinem Auto. Das US-Militär hingegen bezeichnete den Angriff als "gerecht". Der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte US-General Mark A. Milley sagte, der Schlag habe eine "unmittelbare" Bedrohung durch ISIS-K ausgelöscht.


Einheimische Afghanen, die in dem Kabuler Viertel leben, wo der Angriff stattfand, zeichneten jedoch ein gänzlich anderes Bild. Sie berichteten westlichen Journalisten, dass der Angriff eine der Familien zu Opfern gemacht habe, die sich um ihre Umsiedlung in die Vereinigten Staaten beworben hatten, weil sie befürchteten, die Taliban würden sie für ihre frühere Arbeit für die in den USA beheimatete Hilfsorganisation bestrafen. Wie die US-Nachrichtenseite Daily Beast berichtet, sagte ein afghanischer Überlebender, der seine Familie bei dem Angriff verloren hat:

"Ich habe keine Hoffnung mehr. Alle meine Familienmitglieder wurden gestern getötet. Ich habe niemanden, bei dem ich mich ausweinen kann. Ich habe meine Nichte, Neffen, Cousins und Cousinen, meine eigenen Familienmitglieder verloren. Ich will Gerechtigkeit."

Tucker Carlson angewidert vom US-Establishment: "Wir werden von Deppen geführt"

Trotz der Berichte, in denen die Opfer mit Namen und Alter genannt werden, hat das US-Militär noch immer nicht bestätigt, ob Zivilisten durch den Angriff getötet wurden. Es wird behauptet, die Untersuchung dauere noch an, und das Pentagon verteidigt den Drohnenangriff weiterhin.

Senator Paul war auch bereits früher ein häufiger Kritiker hinsichtlich des Einsatzes von Drohnenangriffen durch die Obama-Regierung und er erhob sogar einen mehrstündigen Einspruch gegen den damals von der Regierung nominierten CIA-Direktor John Brennan. Während seiner intensiven Befragung von Außenminister Blinken stellte Paul fest, dass diese Art des Verhaltens schon seit Jahren die Norm in Washington sei:

"Die Obama-Regierung hat Hunderte und Aberhunderte von Menschen umgebracht, und die Sache ist die, dass das ein Nachspiel hat."

Der Senator fügte hinzu, dass er Fotos von Kindern gesehen habe, die bei dem Angriff ebenfalls getötet worden seien, und sagte weiter:

"Ich meine, ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber ich sehe diese Fotos von diesen wunderbaren Kindern, die bei dem Angriff gestorben sind. Wenn das wahr ist und keine Propaganda, wenn es wahr ist, was glauben Sie dann? Es könnten Hunderte oder Tausende neuer potenzieller Terroristen entstanden sein, weil man die falschen Leute bombardiert hat. Wir können keine Untersuchung durchführen, nachdem wir Menschen getötet haben. Wir müssen eine Untersuchung durchführen, bevor wir Menschen töten."

Paul wies auch darauf hin, dass er sich seit einem Jahrzehnt für die Beendigung des Krieges in Afghanistan eingesetzt hatte. Aber niemals hätte er sich die "kolossale Inkompetenz" vorstellen können, die er jetzt bei der Durchführung des US-Abzugs durch die Regierung Biden erleben musste. Er bezeichnete die Räumung des US-amerikanischen Luftwaffenstützpunkts Bagram mehr als einen Monat vor Beendigung des Abzugs als "eine der schlimmsten militärischen Entscheidungen in unserer Geschichte".


Mehr zum Thema - Analyse: Die Taliban sind jetzt militärisch besser ausgerüstet als viele NATO-Länder

15.09.2021

Linken-Chef Bartsch: NATO-Ablehnung ist für Regierungsbeteiligung egal

de.rt.com, 15 Sep. 2021 14:11 Uhr

Eigentlich hat sich die Linke der Auflösung des westlichen NATO-Bündnisses verschrieben. Doch Vertreter der Linkspartei deuteten in den vergangenen Monaten immer wieder an, dass sie dieses Prinzip für eine Regierungsbeteiligung womöglich über Bord werfen würden.


Foto: Dietmar Bartsch Co-Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und Spitzenkandidat der Partei, diskutiert mit dem Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen, l.) im Boxring bei der Veranstaltung "Politboxen", 11. September 2021


Zitat: Die Linke ist eine Partei des Friedens? In der letzten Zeit scheinen einige führende Politiker dieser Partei an diesem Grundsatz rütteln zu wollen, um eine rot-rot-grüne Koalition ermöglichen zu können. Auch Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linken-Fraktion im Bundestag, springt auf diesen Zug auf. In einem Gespräch mit der Augsburger Allgemeinen erklärte er:

"Nie wird die Situation entstehen, dass wir einen NATO-Austritt zu einer Bedingung eines rot-rot-grünen Bündnisses machen würden."

Vor allem SPD-Politiker hatten in der Vergangenheit die Möglichkeit einer Koalition mit der Linken im Rahmen eines rot-rot-grünen Bündnisses an ein Bekenntnis zur NATO geknüpft. So etwa der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, der Mitte August im TV-Sender Bild verkündet hatte, dass er nur eine Regierung mit Parteien eingehen werde, die ein klares Bekenntnis zur NATO und zu einer starken EU liefern.


Bartsch scheint mit seiner Ansage, diese Vorbedingung der SPD zumindest implizit erfüllen zu wollen. Er verwies auf die Koalition der Grünen mit der SPD im Jahr 1998, die die Kanzlerschaft Gerhard Schröders ermöglicht hatte. Damals hatten die Grünen die Forderung nach der Auflösung der NATO faktisch in ihrem Programm stehen. Bartsch sagte dazu:

"Sie haben trotzdem regiert."

Brisant ist dabei, dass die Grünen damals nicht nur trotzdem regiert, sondern bald darauf den Krieg gegen Jugoslawien mit ermöglicht hatten.

Jedoch erklärte Bartsch auch, dass die Linken in einer Koalition keine höheren Verteidigungsausgaben mittragen würden:

"Was es mit uns nicht geben wird – und das sage ich ganz deutlich – ist die Fortsetzung einer Politik, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen, also mehr als 80 Milliarden für Verteidigung auszugeben."

Auch die Linken-Vorsitzende Janine Wissler, die zum linken Lager der Partei gerechnet wird, forderte neulich ihre Genossen eindringlich dazu auf, die Möglichkeit eines rot-rot-grünen Bündnisses in Betracht zu ziehen:

"Wenn es nach der Wahl eine rechnerische Mehrheit aus SPD, Grünen und Linken gibt, sollten wir sehr ernsthaft darüber reden, wie es zu einem Politikwechsel kommt."

Dennoch stünden die Chancen für ein linkes Bündnis von SPD, Grünen und Linkspartei laut Bartsch eher schlecht:

"Olaf Scholz will vermutlich am liebsten eine GroKo unter seiner Führung."

Doch die Partei hat jetzt ganz andere Sorgen als eine mögliche Regierungsbeteiligung, denn derzeit steht sie in den Umfragen nur knapp über der Fünf-Prozent-Klausel. Der Wiedereinzug der Partei in den Bundestag ist also nicht ganz sicher.´


Mehr zum Thema - Die Linke: Sahra Wagenknecht darf in der Partei bleiben


Mehr zum Thema - "Da schlagen wir 13 Euro vor" – Die Linke wirbt vor der Bundestagswahl für Mindestlohn


Info: 
https://de.rt.com/inland/124115-bartsch-nato-ablehnung-von-linken
15.09.2021

Berlins Linken-Spitzenkandidat Lederer»Wir müssen über eine pazifistische Friedenspolitik hinauskommen«

spiegel.de, 14.09.2021, 01.05 Uhr, Ein Interview von Timo Lehmann

Ist Rot-Grün-Rot ein Modell für den Bund? Absolut, sagt Berlins Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer – und warnt vor »Ritualen der Abgrenzung«. Am außenpolitischen Kurs seiner Partei sieht er Korrekturbedarf.


Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer: »Meine Partei ist regierungsfähig« Foto: F. Sommer / dpa


Zitat: *Ist Rot-Grün-Rot ein Modell für den Bund? Absolut, sagt Berlins Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer – und warnt vor »Ritualen der Abgrenzung«.

Am außenpolitischen Kurs seiner Partei sieht er Korrekturbedarf.

Ein Interview von Timo Lehmann


*SPIEGEL: Herr Lederer, in den Umfragen zeichnet sich die Möglichkeit einer rot-grün-roten Mehrheit im Bund ab. Ist das eine erstrebenswerte Regierung für Deutschland?


Lederer:* Absolut. Die Herausforderungen sind riesig, und wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.

Grundsätzliche Themen sind in den vergangenen Jahren überhaupt nicht angepackt worden. Damit meine ich etwa die soziale Gerechtigkeit oder Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Auch in der Klimapolitik ist viel zu wenig passiert. Das muss sich grundlegend ändern.


*SPIEGEL: Wie könnte denn Ihre Partei in den letzten verbliebenen zwei Wochen des Wahlkampfs noch regierungsfähig werden?


Lederer:* Meine Partei ist regierungsfähig. Wir haben ein Sofortprogramm vorgelegt, in dem es eben nicht um die großen Linien geht, sondern um die Frage: Was könnten wir sofort umsetzen, um das Leben vieler Menschen in diesem Land zu verbessern? Wo sind denn Korridore zwischen SPD , Grünen und Linken? Es ist jetzt an der Zeit zu schauen, wie man sich über gemeinsame Inhalte definieren kann, anstatt Rituale der Abgrenzung vorzuführen. An denen ist Rot-Rot-Grün schon diverse Male gescheitert.


*SPIEGEL: Sie regieren in der Hauptstadt in einem solchen Bündnis. Der Hamburger CDU -Chef Christoph Ploß spricht von einem »gescheiterten rot-rot-grünen Experiment in Berlin«. Was ist bei Ihnen falsch gelaufen?


Lederer*: Gar nichts. Und ich weiß auch nicht, warum an dieser Stelle wieder die alten Ressenti-ments gegen Berlin aufgewärmt werden müssen. Wenn ich mir etwa die CDU-Landesverbände in Thüringen oder Sachsen-Anhalt anschaue, wie dort agiert wurde, muss ich sagen: Die Konservativen sollten vor ihrer eigenen Tür kehren, bevor sie anderen Konstellationen Zensuren erteilen.


*SPIEGEL: Wir haben über Berlin gesprochen.


Lederer:* Unsere Bilanz kann sich durchaus sehen lassen. Wir haben mit einer milliardenschwe-ren Investitionsoffensive in die öffentlichen Infrastrukturen begonnen, die fortgesetzt werden sollte. Wir haben alles unternommen, was uns bislang als möglich erschien, um die aus dem Ruder geratene Mietenentwicklung in den Griff zu bekommen. Wir haben massiv in den öffentlichen Dienst investiert, und wir sind dabei, die Verkehrswende anzugehen. Es ist wünschenswert, dass weiterhin eine progressive Regierung hier in den kommenden fünf Jahren die Stadt gestaltet und wir nicht in die Zeit und den Stillstand von Rot-Schwarz von 2011 bis 2016 zurückfallen.


*SPIEGEL: Finden Sie es richtig, dass sich eine große Mehrheit der Linksfraktion im* *Bundestag enthalten hat, als es um den Rettungseinsatz der Bundeswehr in Kabul ging?


Lederer*: Nein, weil das Signal aus meiner Sicht zu viel Interpretationsspielraum lässt. Wir hätten aus meiner Sicht dieser Rettungsmission zustimmen sollen. Die Kritik an der Politik der

Bundesregierung muss das ja nicht schmälern. Ich nehme allerdings auch zur Kenntnis, dass sich zu einem Zeitpunkt, wo die Linke die Evakuierung der Ortskräfte im Bundestag gefordert hat, sich die regierende Koalition aus Union und SPD mit Überheblichkeit über dieses Ansinnen hinweggesetzt hat. Zudem glaube ich, es ist mal an der Zeit für eine Bestandsaufnahme der Außen- und Sicherheitspolitik der vergangenen 25 Jahre.


*SPIEGEL: Wenn Sie sagen, dass Ihre Bundestagsfraktion die falsche Entscheidung getroffen hat, dann können Sie offenbar gut nachvollziehen, dass es Zweifel an der außenpolitischen Berechenbarkeit der Linken gibt. Korrekt?


Lederer*: Ich habe schon immer gesagt, dass wir über eine sehr holzschnittartige, quasi pazifistische Friedenspolitik hinauskommen müssen. Aber ganz richtig finde ich eine Politik, die auf Abrüstung setzt, die auf Konfliktvermeidung statt kriegerische Auseinandersetzungen setzt, die stärker versucht, ein kollektives Sicherheitssystem zu erreichen. Die alten Militärbündnisse sind aus einer Zeit, die 1989/90 unwiederbringlich zu Ende gegangen ist. Insofern bin ich natürlich überrascht, wenn jemand wie Olaf Scholz anfängt, über Bekenntnisse zur Nato zu fabulieren, wenn im Berliner Programm der SPD 1989 steht, die SPD strebe eine europäische Friedensordnung unter Überwindung der bisherigen Militärbündnisse an.


*SPIEGEL: Die SPD will die transatlantische Partnerschaft erneuern, so steht es im gültigen Grundsatzprogramm, Sie wollen diese Partnerschaft auflösen. Das ist ein Unterschied. Zurück zu Berlin: Ihnen werden Ambitionen auf den Job des Finanzsenators nachgesagt. Haben Sie genug

von der Kulturpolitik?


Lederer*: Kulturpolitik macht mir sehr viel Spaß. Im Übrigen bin ich Spitzenkandidat der Linken und trete an für das Amt des Regierenden Bürgermeisters.


*SPIEGEL: Die Umfragen sprechen nicht für Sie.


Lederer:* Von Umfragen lassen wir uns nicht kirre machen. Ich verweise nur auf die Umfragen in Sachsen-Anhalt vor nicht allzu langer Zeit, die am Wahltag zu großen Überraschungen geführt haben.


*SPIEGEL: Wie wollen Sie denn die Sozialdemokraten überzeugen, mit den Linken weiterzuregieren? Deren Spitzenkandidatin Franziska Giffey blinkt eher Richtung CDU und FDP.


Lederer*: Wir wollen die Wählerinnen und Wähler überzeugen, und das überzeugendste Argument für die Fortsetzung von Rot-Rot-Grün ist eine starke Linke. Ansonsten finde ich, dass die Berliner SPD mit sich selbst ausmachen muss, wohin sie eigentlich will.


*SPIEGEL: Giffey deutete an, ein mögliches Votum der Berlinerinnen und Berliner für die* *Enteignung von Unternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen beim Volksentscheid am 26. September zu ignorieren. Würden Sie das akzeptieren in einer gemeinsamen Regierung?


Lederer:* Da gibt es unterschiedliche Signale aus der SPD, eine Spitzenkandidatin kann das nicht allein entscheiden. Zudem erwarte ich, dass die Ergebnisse direktdemokratischer Entscheidungsprozesse ernst genommen und auch umgesetzt werden.


*SPIEGEL: In Berlin haben die Klubs wieder aufgemacht, obwohl die Inzidenz steigt. Wie sicher ist es, dass sie in den nächsten Wochen nicht gleich wieder dichtgemacht werden?


Lederer:* Sag niemals nie! Das habe ich in der Pandemie gelernt. Aber jetzt haben wir die Chance, auf den Verlauf der vierten Coronawelle noch Einfluss zu nehmen: Die Impfquote muss rascher steigen. Von unserer SPD-Gesundheitssenatorin wünschte ich mir auch mal ein beherztes und sehr gezieltes Vorgehen mit Blick auf niedrigschwellige Angebote in den

bislang unterdurchschnittlich erreichten Bevölkerungskreisen. Ansonsten gilt für mich, dass bei 2G in geschlossenen Räumen, wo Menschen geimpft oder genesen sind, die Leute auch tanzen und feiern dürfen sollten.


Info: 
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/klaus-lederer-die-linke-wir-muessen-ueber-eine-pazifistische-friedenspolitik-hinauskommen-a-359633b2-a2d8-4f7d-948a-830a48cfee15
15.09.2021

Assad trifft Putin: Was bedeutet die Befreiung von Darʿā für Syrien und die Region?

de.rt.com, 14 Sep. 2021 20:18 Uhr

Die endgültige Kontrolle über die Provinz Darʿā wird eine Kräfteverschiebung nicht nur in Syrien, sondern in der ganzen Region auslösen. Während Syrien weiter entschlossen gegen Terroristen und Besatzer vorgeht, steuern der Iran und Israel nach der Rückeroberung von Darʿā nun auf einen neuen Kollisionskurs zu.

Zitat: von Seyed Alireza Mousavi

Der syrische Präsident Baschar al-Assad stattete am Montag Moskau einen Besuch ab und traf sich dabei zu Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Putin bekräftigte die russische Unterstützung für die Rückeroberung der weiterhin von Terroristen und ausländischen Streitkräften (wie USA) besetzten Gebiete durch die legitime Regierung in Damaskus.


Assad zu Besuch in Moskau – Putin kritisiert illegale ausländische Militärpräsenz in Syrien


Vor dem Hintergrund dieses Treffen hatte die syrische Armee mit Vermittlung Russlands kürzlich den Stadtteil Darʿā al-Balad von den Islamisten zurückerobert. Die Stadt Darʿā, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz an der Grenze zu Jordanien, war in den letzten Wochen Schauplatz heftigster Gefechte zwischen den sogenannten Rebellen und der regulären Syrischen Arabischen Armee (SAA).


Die Befreiung von Darʿā ist von großer Bedeutung, da die Stadt lange ein Zentrum der sogenannten Rebellen bzw. Terroristen war. Dort hatte die 2011 im Grunde von außen aufgeputschte und mit brutaler Gewalt aufgeladene Rebellion gegen den syrischen Staat ihren Ausgang genommen. Darʿā wurde daher von den sogenannten Rebellen als Wiege der "Revolution" bezeichnet und war bis zum Sommer 2018 eine Deeskalationszone unter dem Schutz der USA. Die Provinz wurde im Juli 2018 von der syrischen Armee zurückerobert. Im Gegensatz zu anderen Gebieten, in denen sich die Regierungsstreitkräfte wieder durchsetzen konnten, gab es jedoch keine klare Waffenstillstandsvereinbarung und keinen anschließenden Abtransport der Dschihadisten in die nördliche Provinz Idlib nahe der türkischen Grenze.


Syrien: Waffenstillstand in Darʿā unter Russlands Vermittlung beschlossen


Die Rebellen behielten einige Gebiete unter ihrer Kontrolle, darunter den südlichen Teil der Provinzhauptstadt, Darʿā al-Balad, in dem sie die Bürger faktisch als Geisel nahmen. Russland hatte seinerzeit die Regierung in Damaskus zu einem Aussöhnungsabkommen bewegt, wobei es unter anderem die Rekrutierung von Rebellen aus Darʿā für eine neue lokale Schutztruppe beaufsichtigt hatte, die als Fünftes Korps bekannt wurde.


Im Rahmen einer von Moskau vermittelten Waffenstillstandsvereinbarung gelang es kürzlich der syrischen Armee in Begleitung russischer Militärpolizisten in den seit 2018 von der Rebellen kontrollierten Stadtteil von Darʿā einzudringen. Nach der neuen Vereinbarung müssen die Rebellen ihre Waffen niederlegen, und wer von den Terroristen die Waffen nicht an syrische Behörde abgeben will, soll die Stadt geordnet in Richtung Idlib verlassen.

Die endgültige Kontrolle über die Provinz Darʿā wird eine Kräfteverschiebung nicht nur in Syrien, sondern in der ganzen Region auslösen. Die vollständige Befreiung der Stadt und die anschließende Vereinbarung beendeten eine Pattsituation im Südwest Syriens und machten für die syrische Armee den Weg zur Zurückeroberung der letzten Hochburg der dschihadistischen Milizen und Terrorgruppen im Norden des Landes frei.


Lawrow nach Treffen mit Lapid in Moskau: Russland unterstützt Syrien beim Schutz seiner Souveränität


Das sich abzeichnende neue Kräfteverhältnis in der südwestlichen syrischen Provinz Darʿā ist zudem aus dem geopolitischen Blickwinkel entscheidend, denn Darʿā grenzt an die umstrittenen Golanhöhen. Die Provinz an der Grenze Jordaniens gehört zu einem der wichtigsten Standorte zur Vernetzung der Verbündeten des Iran in der Region. Von dort aus ist Teheran in der Lage, Israel durch die Stationierung seiner Elitetruppen sowie die Weitergabe von Rüstungsgütern an die libanesische Hisbollah einzukesseln. In der Stadt Abu Kamal an der Grenze zum Irak, die vom Iran als strategisch wichtiger Grenzübergang in Syrien gesehen wird, haben sich längst iranische Militärfunktionäre positioniert und sich auf eine mögliche groß angelegte militärische Konfrontationen mit Israel vorbereitet. Der Ausbau des sogenannten Schiitischen Halbmonds, eine Landverbindung von Teheran über Bagdad und Damaskus bis nach Beirut, wird insofern mit der möglichen iranischen Militärpräsenz in Darʿā an der Grenze zu Jordanien vervollständigt.


Aus israelischer Sicht war bislang das Haupthindernis für die Konsolidierung des iranischen Projekts die russische Präsenz in der Region Darʿā. Die von Russland unterstützte Achte Brigade – eine Unterabteilung des Fünften Korps – stand in Darʿā faktisch längst direkt unter russischem Kommando. Durch die jüngste Offensive der syrischen Armee zur Befreiung der Stadt wurde jedoch deutlich, dass Russland die weitere Besatzung des syrischen Territoriums und die Beibehaltung des Status quo durch die Milizen angesichts der israelischen Bedenken für seine "Sicherheit" in Darʿā  nicht mehr tolerieren will. 


Meinung

Terroristen-Glückwünsche aus Idlib an die Taliban – Doch wie stehen die Taliban zum IS-Ableger?


Die Darʿā-Offensive wurde von der 4. Division der syrischen Armee angeführt. Sie ist mehrheitlich alawitisch und wird von Berufssoldaten gebildet. Die 4. Division wird de facto von Maher Assad kommandiert, einem Bruder des Präsidenten, der gute Kontakte zur Iranischen Revolutionsgarde pflegt. Die Befreiung von Darʿā al-Balad war grundsätzlich der Entscheidung der Russen zu verdanken, da sie die Zweideutigkeit in Darʿā aufgaben und deutlich machten, dass Russland weitere Operationen der syrischen Regierung unterstützen würde, wenn die sogenannten Rebellenkämpfer den Forderungen der Regierung in Damaskus nicht nachkämen.


Während Russland und der Iran auf Einladung der syrischen Regierung in Syrien interveniert haben, um den Syrern bei der Bekämpfung des Terrorismus zu helfen, haben beide Staaten unter anderem auch unterschiedliche Prioritäten. Während es den Russen in erster Linie darum geht, dass Syrien sich schnell wieder in die Weltgemeinschaft integrieren kann, setzen die Iraner eher darauf, das Land seine Rolle als Hauptkorridor für die sogenannte Achse des Widerstands gegen Israel beizubehalten.


Der russische Außenminister Sergei Lawrow bekräftigte letzte Woche nach dem Treffen mit seinem israelischen Amtskollegen Jair Lapid, Moskau sei dagegen, Syrien zum Schauplatz der Konfrontation zwischen Drittländern zu machen. Dennoch hielt Russlands Top-Diplomat an der russischen Strategie in Syrien fest, dass Moskau verpflichtet sei, Syrien bei der Verteidigung seiner Souveränität zu helfen.


Mit der Befreiung von Darʿā unter Vermittlung Russlands kommt der syrische Staat der Wiedergewinnung seiner vollständigen Souveränität wieder ein Stück näher. Die Rückeroberung von Darʿā wird zudem zu einer Verschiebung des Machtgefüges in der Region führen, da der Iran und Israel nach der Aufhebung der Pattsituation in der Provinz Darʿā faktisch auf einen neuen Kollisionskurs in der Region zusteuern. 


Mehr zum Thema - Syrien: Russland erleichtert Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihre Dörfer in der Provinz Darʿā


Info:
 https://de.rt.com/meinung/124049-assad-trifft-putin-bedeutung-syrien
15.09.2021

Die "Geoökonomie" der Exportwalze  Wirtschaftsverbände sorgen sich trotz Wachstums um Exporte - auch wegen Problemen in den globalen Lieferketten. Denkfabrik legt Papier zur politischen Flankierung der Exporte vor.

german-foreign-policy.com, 15. September 2021

BERLIN (Eigener Bericht) - Das jüngste Exportwachstum der deutschen Industrie löst in Medien und Wirtschaftsverbänden ein geteiltes Echo aus. Einerseits sind die Ausfuhren aus der Bundesrepublik im Juli erneut gestiegen und liegen jetzt um 1,6 Prozent überdem Niveau vom Februar 2020, dem Monat vor dem ersten großen pandemiebedingten Einbruch. Andererseits schwächt sich das Exportwachstum bereits wieder ab; zudem beruht der jüngste Anstieg nur auf inflationsbedingten Preissteigerungen, während die ausgeführte Warenmenge schrumpft; als eine wichtige Ursache dafür gelten wachsende Probleme in den globalen Lieferketten, die dazu führen, dass in manchen Branchen, etwa im wichtigen Maschinenbau, schon fast alle Unternehmen über Materialmangel und Produktionsrückgänge klagen. Die Interessen der Industrie finden Eingang in Überlegungen von Denkfabriken wie etwa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die in einem neuen Strategiepapier unter dem Begriff "Geoökonomie" grundsätzliche Überlegungen zur politischen Flankierung des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells formuliert.


Zitat: 15 Monate Exportaufschwung

Der anhaltende Aufschwung der deutschen Exportindustrie hat ein geteiltes Echo ausgelöst. Wirtschaftsmedien melden, die deutschen Ausfuhren seien im Juli im "15. Monat in Folge" trotz zunehmender Materialengpässe gewachsen.[1] Auch der weitere Ausblick sei aufgrund der guten Weltkonjunktur "freundlich". Konkret seien die Exporte gegenüber dem Vormonat Juni um 0,5 Prozent gestiegen; insgesamt habe der pandemiebedingte Einbruch inzwischen ausgeglichen werden können: Deutschlands Ausfuhren lagen demnach im Juli 2021 um 1,6 Prozent über dem Niveau vom Februar 2020, dem "Monat vor dem Beginn der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie". Im Jahresvergleich ist der Wert der im Ausland abgesetzten Waren im Juli laut Angaben des Statistischen Bundesamts um 12,4 Prozent auf 115 Milliarden Euro angestiegen; dabei kontrastierte ein überdurchschnittlich hohes Absatzplus von 15,7 Prozent in den USA mit einem schrumpfenden Export nach China, der um 4,3 sank. Die Vereinigten Staaten blieben damit im Juli mit einem Volumen von 10,8 Milliarden Euro klar der größte Absatzmarkt der Bundesrepublik, gefolgt von China mit 8,4 Milliarden Euro. Die deutschen Auslandsgeschäfte mit den Ländern der Eurozone konnten ebenfalls im Jahresvergleich kräftig um 22,4 Prozent zulegen. Aufgrund der guten kurzfristigen Aussichten hat der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) seine Exportprognose für dieses Jahr erhöht: Deutschlands Ausfuhren sollen 2021 um acht Prozent wachsen, nachdem sie im Pandemiejahr 2020 um neun Prozent eingebrochen waren.


Materialmangel als Konjunkturbremse

Zugleich monieren Leitmedien allerdings, die Wachstumsdynamik der Exportindustrie schwäche sich ab: Schließlich hätten die Ausfuhren im Juni 2021 noch um 1,3 Prozent gegenüber dem Vormonat zugelegt.[2] Als ein Hauptgrund dafür wurden zunehmende Materialengpässe genannt, unter denen Deutschland als mit "der Weltwirtschaft eng vernetzte Exportnation" besonders stark betroffen sei. Laut Branchenvertretern litten im August 70 Prozent der Maschinenbauunternehmen unter einer unzureichenden Versorgung mit Vorprodukten und Rohstoffen - deutlich mehr als im April, als es noch 40 Prozent gewesen seien. Anfang September hieß es dann, nahezu alle Betriebe seien betroffen. Besonders schwierig gestalte sich die Versorgung mit Stahl und Elektronikkomponenten. Branchenvertreter klagen, die prognostizierte Produktionssteigerung im Maschinenbau von rund zehn Prozent gegenüber dem Krisenjahr 2020 wäre ohne die Lieferengpässe wohl noch größer ausgefallen. Eine angespannte Versorgungslage melden zudem, wie berichtet wird, fast "alle Bereiche des produzierenden Gewerbes" - von der "Autobranche bis zur Möbelindustrie", wo ebenfalls 70 Prozent aller Firmen über ausbleibende Lieferungen an Rohstoffen und Vorprodukten klagten. Tatsächlich ist die gesamte Industrieproduktion im zweiten Quartal 2021 zurückgegangen; erst im Juli folgte wieder ein kleines Plus. Demnach ist auch die exportierte Warenmenge im Juli geschrumpft; der Anstieg der Exportwerte beruht auf der zunehmenden Inflation.


Das Uhrwerk der Lieferketten

Als Warnzeichen für die stockende Zufuhr von Materialien aus dem Ausland gilt, wie es heißt, die "Entwicklung der Importe", die im Juli "überraschend um 3,8 Prozent zum Vormonat" geschrumpft seien. Der mitunter "tröpfchenweise fließende Nachschub an Vorprodukten" werde sich bald "auch in den Exportzahlen niederschlagen". Diese "schwierige Lage" dauere an, doch man hoffe, sie werde sich in den kommenden Monaten substanziell bessern, erklären Konjunkturexperten. Etliche Wirtschaftsverbände äußern sich hingegen skeptisch bezüglich der mittelfristigen Aussichten ihrer Branchen.[3] Der Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnt, die Versorgungsprobleme samt der "temporären Schließungen chinesischer Häfen" wegen pandemiebedingter Lockdowns störten das in der Globalisierung ausgeformte "Uhrwerk der internationalen Lieferketten". Ein BDI-Sprecher moniert, die vollen Auftragsbücher deutscher Konzerne seien "noch keine Garantie für künftige Exporterfolge", da angespannte Lieferketten, "hohe Logistikkosten und ungeklärte Handelsstreitigkeiten" die deutsche Exportwirtschaft ausbremsten. Der Außenhandelsverband BGA sorgt sich insbesondere um die rasch steigenden Importpreise, in denen sich die "großen Probleme in den Lieferketten" spiegelten. Der DIHK warnt bereits vor einer "Flaute", da 42 Prozent der Exportunternehmen ihre "bestehenden Aufträge nicht abarbeiten" könnten und 26 Prozent gar ihre "Produktion drosseln oder gar stoppen" müssten. Laut BDI arbeiten die Konzerne "mit Hochdruck an der Diversifizierung ihrer Lieferketten und alternativen Beschaffungswege".


"Im strategischen Interesse Deutschlands"

Die Klagen der Industrie finden Eingang in Überlegungen deutscher Denkfabriken wie der DGAP, die in einem Mitte August publizierten Strategiepapier unter dem Begriff "Geoökonomie" grundsätzliche Überlegungen zur außenpolitisch-geostrategischen Flankierung des exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodells formuliert. Da die deutsche Industrie eng mit den globalen Handelsströmen verflochten sei und rund "12 Millionen Arbeitsplätze" von der Exportwirtschaft abhingen, liege die Aufrechterhaltung eines offenen und "regelbasierten" Welthandels "im strategischen Interesse Deutschlands", heißt es in dem Papier.[4] Daher müsse Berlin gemeinsam mit Brüssel an einer "Reform der Welthandelsorganisation (WTO)" arbeiten sowie sich mit Hilfe der EU und mittels "Reformen" der "europäischen Handelspolitik" in einem verschärften "geoökonomischen Handelsumfeld behaupten". Die DGAP sieht dabei Freihandelsabkommen als einen zentralen Baustein ihres Konzepts, das Geostrategie bzw. "Geoökonomie" als Mittel der Exportförderung versteht. Neben einer "engen transatlantischen Partnerschaft" müsse Deutschland auf die "Durchsetzung" von "fairen Handelsbeziehungen" mit China drängen und schnellstmöglich das "Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU/Kanada" (CETA) umsetzen. Zu erwägen sei auch die Gründung eines supranationalen "Klimaklubs", um "mögliche Spannungen durch die Festlegung von globalen Mindeststandards für Handel und Klima" zu minimieren und dem Ausbau der deutschen Ökoindustrie näherzukommen.


"Mehr Durchsetzungsfähigkeit"

Die WTO befindet sich laut DGAP in der "tiefsten Krise seit ihrer Gründung". Dies stehe, heißt es, im Zusammenhang mit der "wachsenden geoökonomischen Rivalität zwischen den beiden Wirtschaftsmächten USA und China", die zu "einer Krise des globalen Handelssystems" geführt habe.[5] Die WTO weise ein veraltetes Normensystem auf und sei derzeit nicht in der Lage, eine "Modernisierung der Regeln" und ihre "Streitschlichtungsfunktion" sowie die "Überwachung der Handelspolitik" zu gewährleisten. Dies werfe "Fragen nach der Glaubwürdigkeit und Zukunft der WTO auf". In Reaktion darauf müsse die Handelspolitik der EU neu aufgestellt werden, und zwar "im Hinblick auf mehr Durchsetzungsfähigkeit" im globalen geoökonomischen Konkurrenzkampf; auch sei die "Ratifizierung eines breiten Netzes an ambitionierten Freihandelsabkommen (FTAs)" notwendig. Etwaige Widerstände in der Bevölkerung wie diejenigen gegen CETA sollen laut DGAP durch die verstärkte Berücksichtigung von "Klima- und Umweltaspekten" gedämpft werden. Eine Reform der WTO, die Berlin "ganz oben auf die Agenda" setzen solle, sei freilich nur mit den USA machbar, wobei es Berlin vor allem um eine effiziente "Reform des Streitschlichtungsverfahrens" bei Handelskriegen gehen müsse.


Mit Washington gegen China

Die DGAP spricht sich zudem für eine rasche Normalisierung des Verhältnisses zu den USA aus. Es sei wichtig, heißt es, die "transatlantischen Handelsbeziehungen wiederzubeleben und Vertrauen wiederherzustellen".[6] Mögliche transatlantische Initiativen könnten in einem eng abgestimmten "Vorgehen gegenüber China" und in einer verstärkten "Zusammenarbeit bei der Schnittstelle von Handel und Sicherheit" bestehen. Gegenüber China plädiert die Denkfabrik zudem für eine gemeinsame Haltung der EU, um die bisherige Dominanz "kurzfristiger nationaler Eigeninteressen" zu überwinden. Deutschland komme laut DGAP bei der Ausbildung einer solchen "europäischen" Front gegenüber China eine "besondere Rolle" zu; dies betreffe, heißt es, neben "Wirtschafts-" auch "Sicherheitsfragen". Die Denkfabrik wirft der Volksrepublik vor, ein "zunehmend konfliktreiches geoökonomisches Handelsumfeld" zu schaffen, indem sie neue Märkte erschließe, wirtschaftliche "Zwangsabhängigkeiten" erzeuge und "chinesische technologische Standards und Normen in Eurasien" durchsetze, wodurch deutsche Standards wie die DIN-Norm verdrängt würden. Überdies hätten "marktverzerrende Maßnahmen in China" zu negativen Auswirkungen auf die "Handels- und Investitionsbeziehungen der EU" geführt. Berlin solle daher im Rahmen einer offenen strategischen Autonomie "Partnerschaften mit Verbündeten wie den USA" suchen: Es gelte, "gemeinsame Probleme" anzugehen und "schwierige Partner wie China" mit Hilfe "neue[r] Handelsinstrumente und strengere[r] Durchsetzungsmechanismen" zu "offenem Handel" zu veranlassen.

 

[1] Deutsche Exporte wachsen den 15. Monat in Folge trotz Materialengpässen. wiwo.de 09.09.2021.

[2] Materialmangel trifft Exportnation. tagesschau.de 09.09.2021.

[3] Weniger Wachstum für deutsche Exporte - Verbände in Sorge. bietigheimerzeitung.de 09.09.2021.

[4], [5], [6] Geoökonomie und Außenhandel. Deutschland muss einen offenen Welthandel fördern. DGAP Memo Nr. 1. Berlin, August 2021.


Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8704

14.09.2021

Die amerikanische Küstenwache will ihre Präsenz in den Indischen und Pazifischen Ozean ausdehnen.


deutsche-wirtschafts-nachrichten.de, vom 13.9.2021


*US-Küstenwache: Wir sind jetzt auch für den „Indo-Pazifik“ zuständig


*Die US-Küstenwache hat das größte Schiffbauprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg angekündigt. Zudem soll der Einsatzbereich in den „Indo-Pazifik“ ausgedehnt werden.


Admiral Linda Fagan, die stellvertretende Kommandantin der Küstenwache, begründete die geplante Ausweitung des Einsatzgebietes mit dem Kampf gegen illegale, nicht gemeldete und unregulierte Fischerei. Zudem sollten die Schiffe auch „schlechten Akteuren“ entgegenwirken.


„Präsenz zählt. Es ist wichtig, Schiffe auf dem Meer zu haben. Aber es ist wichtig, ein Regulierungssystem zu haben, die Durchsetzungskapazitäten und -fähigkeiten zu haben“, sagte Fagan diese Woche auf der Konferenz der Indo-Pacific Maritime Security Exchange in Hawaii. „Die US-Küstenwache ist der Region des Indopazifik-Kommandos verpflichtet. Wir sind dabei, unser größtes Schiffbauprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg durchzuführen.“


Mehr als 100 neue Küstenwachschiffe sollen den Plänen zufolge in Dienst gestellt werden, darunter 11 für die nationale Sicherheit, 25 für die Offshore-Patrouille, drei für die Polarsicherheit und 64 Schnellreaktions-Kutter, die in der Lage sind, mehr als 16.000 Kilometer weit zu navigieren, sagte Fagan. „Diese Kapazitäten und Fähigkeiten werden dazu beitragen, unsere Reichweite und unsere Fähigkeit, im Indopazifik zu kooperieren und zu agieren, auszubauen wie es in den Vorjahren noch unmöglich war“, wird Fagan von der South China Morning Post zitiert 


<https://www.scmp.com/news/china/diplomacy/article/3148209/us-coast-guard-modernises-fleet-expands-presence-indo-pacific?utm_medium=email&utm_source=cm&utm_campaign=enlz-china&utm_content=20210910&tpcc=enlz-china&UUID=8930f27106eafabca945a416b7f03451&next_article_id=3148197&tc=19&CMCampaignID=bd6f36b96b52a13c3a9016d96401da1d>.


China hatte Ende August eine neue Regel angekündigt, wonach sich alle ausländischen Schiffe, die in den von China beanspruchten Teil des Südchinesischen Meeres einlaufen, künftig bei den chinesischen Seebehörden registrieren müssen. Die Ausweitung des Aktionsgebiets der US-Küstenwache dürfte deshalb nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der maritimen Konfrontation mit China erfolgen, welche sich in den vergangenen Jahren in zahlreichen gegenseitigen Provokationen im Ostchinesischen und Südchinesischen Meer materialisiert hatte.


Yu Zhirong, der stellvertretende Generalsekretär der chinesischen Denkfabrik Pacific Society of China, sagte, die US-Küstenwache sehe sich zwar als internationale Meerespolizei, die Rechtmäßigkeit ihrer Operationen sei jedoch fraglich, da die USA keine Vertragspartei der UN-Konvention über das Seerecht seien. „Allerdings würde die Durchsetzung ihrer neuen Interessen gegen internationales Recht verstoßen. Die Durchsetzung amerikanischer Interessen kann nur in amerikanischen Gewässern erfolgen. Die Hohe See untersteht nicht der Gerichtsbarkeit der USA.


Info: https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/514530/US-Kuestenwache-Wir-sind-jetzt-auch-fuer-den-Indo-Pazifik-zustaendig?src=live

14.09.2021

US-Spitzengeneral: "Ein Krieg mit Russland und China würde die Welt zerstören"

de.rt.com, 14 Sep. 2021 21:02 Uhr

Da die globalen Nuklearlager anwachsen und Länder ihre Sprengköpfe und Raketen modernisieren, ist es so notwendig wie noch nie, Spannungen zu deeskalieren und ein atomares Armageddon abzuwenden, sagte einer der höchsten Offiziere der USA.


Zitat: In einer Rede, die er am Montag in der Washingtoner Denkfabrik Brookings Institution hielt, warnte der stellvertretende Vorsitzende der gemeinsamen Stabschefs General John E. Hyten vor den Risiken, wenn Konflikte außer Kontrolle gerieten. Hyten äußerte die Hoffnung, dass sich die kühleren Köpfe durchsetzen. "Wir haben nie gegen die Sowjetunion gekämpft", sagte er:

"Was die großen Mächte angeht, so ist es unser Ziel, nie einen Krieg gegen China und Russland zu führen."

Laut Hyten würde ein solches Ereignis "die Welt und die Weltwirtschaft zerstören. Es wäre schlecht für alle, und wir müssen sicherstellen, dass wir uns nicht auf diesen Pfad begeben." In vorangegangenen Abkommen zwischen Moskau und der NATO nach dem Ende der UdSSR sei man jedoch zu dem Schluss gekommen, dass "Russland keine Bedrohung mehr darstellt". Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Russen "ihr gesamtes Nukleararsenal modernisierten". Grund dafür sei, so Hyten, dass "sie sich Sorgen wegen der USA machten, denke ich".


Hyten argumentierte, es gebe Fortschritte bei der Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern, aber es sei noch ein langer Weg bis zu wirklicher Stabilität. Er sagte, Washington sei zunehmend besorgt, weil vergleichbare Schritte mit China fehlten, einem Land, von dem er sagt, es unternehme "eine nie da gewesene nukleare Modernisierung, die jetzt öffentlich wird … Man sieht Hunderte und Aberhunderte fester Silos."


"Und nebenbei, es gibt keine Grenzen dafür, was China in diese Silos stellt", warnte der Top-Offizier des Pentagon:

"Wir haben mit Russland eine Begrenzung auf 1.550 nukleare Gefechtsköpfe vereinbart, also müssen wir entscheiden, wo wir sie einsetzen – in U-Booten, in Interkontinentalraketen … Das setzt die Grenze dessen, was wir haben. China hat keine Grenze … Fragen Sie sich selbst, warum schaffen sie diese ungeheuren, ungeheuren nuklearen Fähigkeiten?"

Im Dezember hatte der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow gewarnt, dass es Washington sei, nicht Moskau, das das Risiko fataler Eskalationen durch die Stationierung von Atomwaffen auf fremdem Boden in Europa erhöhe.


Rjabkow sagte, der Kreml "hofft, dass die Vereinigten Staaten damit aufhören, Atomwaffen mit ihren Alliierten zu 'teilen', und aufhören, Nuklearwaffen in Ländern zu stationieren, die solche nicht besitzen … Das führt offensichtlich zur Destabilisierung; und zusätzlich entstehen neue Risiken."

Gleichzeitig klangen seine Bemerkungen im Akkord mit jenen von Hyten, da er sagte, dass "ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann … Russland ist zur Zusammenarbeit bereit, um diesen Zustand abzuwenden."


Mehr zum Thema - Militärischer Wettlauf im All oder friedlicher Kosmos? – Politikmagazin warnt vor Folgen


Info: https://de.rt.com/international/124078-us-spitzengeneral-krieg-mit-russland-und-china-wuerde-die-welt-zerstoeren

14.09.2021

Interview:    Verfassungsrechtler Papier: „Vorsorgliche Verbote sind nicht mehr zulässig“

berliner-zeitung.deMichael Maier, vom 13.9.2021 - 21:24 Uhr

Hans-Jürgen Papier sagt: Weil viele Menschen geimpft sind, kann der Staat nicht mehr einfach auf Verdacht Maßnahmen verordnen. 


Zitat: Berliner Zeitung: Herr Papier, Sie kämpfen seit vielen Jahren gegen die Aushöhlung der Grundrechte. In den Corona-Zeiten ist die Lage nicht besser geworden. Wie ist die Situation heute?


Hans-Jürgen Papier: Für die vergangenen anderthalb Jahre muss man schon konstatieren, dass diese Zeit eine große Herausforderung für die Rechtsstaatlichkeit gewesen ist. Die Grundrechte stehen nicht nur aus formalen Gründen an der Spitze der Verfassung. Aber natürlich sind sie auch nicht grenzenlos gewährleistet. Die Freiheit des Einzelnen muss mitunter zur Wahrung und Durchsetzung des Gemeinwohls und zur Gewährleistung der Freiheitsrechte anderer zurücktreten. Die Grundrechte dürfen aber nicht beliebig und grenzenlos eingeschränkt werden. Das Grundgesetz setzt dem Staat und seinen Organen enge Grenzen für Einschränkungen. Die hinter uns liegende Zeit war sicher die größte Herausforderung seit Bestehen der Bundesrepublik. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss in jedem Fall gewahrt werden. Und der Staat ist beweispflichtig, wenn er die Freiheitsrechte einschränkt.


Ist es mit den Grundrechten nicht ein wenig so wie mit dem Völkerrecht? Auch dort gibt es hehre Prinzipien, aber allerorten werden Kriege geführt…


Bei den Grundrechten ist es gerade nicht so wie vielfach beim Völkerrecht. Die Freiheitsrechte sind im Grundgesetz festgelegt und stehen nicht nur auf dem Papier. Das ist nicht nur so irgendetwas wie eine verfassungslyrische Verheißung. Die Grundrechte sind Rechtsnormen mit Verfassungsrang, an die Regierung und Verwaltung und selbst der Gesetzgeber gebunden sind. Die Grundrechte sind außerdem einklagbar. Es handelt sich um abgesichertes, materielles Recht. Es gibt eine gerichtliche Durchsetzbarkeit und den Schutz des Bürgers vor ungerechtfertigten Übergriffen des Staates. Die Grundrechte haben in unserer Verfassungswirklichkeit eine hohe Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit, ich würde sagen, sie verfügen über eine große Vitalität. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was wir bei den völkerrechtlichen Normen beobachten.


Aber warum sind die Grundrechte dann doch so gefährdet oder werden eingeschränkt, und man kommt auf dem Klageweg auch nicht weiter?


Das liegt an der großen Herausforderung in einer schwierigen Zeit. Die Aufgabe des Staates und seiner Organe ist es, Leben und Gesundheit der Bevölkerung angemessen zu schützen. Zugleich muss er aber den Grundsatz der Freiheit berücksichtigen und muss sich bei seinen Eingriffsmaßnahmen auf das unmittelbar notwendige Maß beschränken. Wir haben das Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit in ähnlicher Weise beim Terrorismus und der inneren Sicherheit. Auch hier geht es darum, dass der Gesetzgeber und die Exekutive das rechte Maß finden. Wir haben im Übrigen noch keine rechtskräftige Grundsatzentscheidung über Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Bisher liegen im Wesentlichen nur gerichtliche Entscheidungen im Eilverfahren vor. Und da haben die Gerichte die Gefährdungslage der Allgemeinheit als schützenswerter gesehen als drohende Nachteile für den Antragsteller. Eine höchstrichterliche Klärung in der Sache ist noch nicht erfolgt. Klar ist nur, dass die Grundrechte nicht generell und pauschal missachtet oder außer Kraft gesetzt werden dürfen.


Warum haben die Gerichte noch nicht in der Hauptsache entscheiden? Die Pandemie dauert nun schon 18 Monate, da müsste es doch möglich sein, mal zu entscheiden?


Erstens muss gesagt werden, dass die Gerichte überlastet sind. Auch das Bundesverfassungsgericht ist überlastet, da möchte ich niemandem einen Vorwurf machen. Hinzu kommt, dass auch die dritte Gewalt, also die Gerichte, es mit einer ständigen Veränderung der Lage zu tun haben. Daher hat die Rechtsprechung in den Eilverfahren vor allem die Größe der Gefahr im Blick gehabt, und ansonsten gab es sehr viel Ungewissheit.


Können Sie verstehen, dass es in dieser Situation Zweifel am Rechtsstaat gibt?


Die rechtsstaatliche Aufarbeitung hat erst begonnen. Sie ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Das gilt beispielsweise für die sogenannte „Bundesnotbremse“, die im April diesen Jahres unmittelbar durch Gesetz geregelt wurde. Die ist in Karlsruhe angegriffen worden. Sie gilt zwar nicht mehr, aber gleichwohl werden die durch sie aufgeworfenen Grundsatzfragen höchstrichterlich geklärt werden. Es ist wichtig, für künftige, nicht auszuschließende vergleichbare Notsituationen klare rechtsstaatliche Maßstäbe zu entwickeln. Zu Beginn der Pandemie stand die Rechtsprechung der Lage ziemlich unvorbereitet gegenüber. Das gilt selbstverständlich auch für Regierung und Verwaltung.  Nach dem Grundgesetz können die Grundrechte auch in einer Notstandssituation nicht außer Kraft gesetzt werden. Die Rechtslage unter dem Grundgesetz unterscheidet sich ganz grundlegend von der Weimarer Verfassung. Dort konnte der Reichspräsident gemäß Artikel 48 zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit die Grundrechte vorübergehend außer Kraft setzen. In unserer Verfassung, im Grundgesetz, ist das bewusst nicht so geregelt worden. Es gilt immer der Grundsatz: In dubio pro liberate.


Aber die Verwaltungsgerichte wurden deutlich beschnitten, wie sehen Sie das?


Die meisten Maßnahmen sind durch Rechtsverordnungen der Länder ergangen. Daher gibt es auch Normenkontrollklagen vor den Oberverwaltungsgerichten. Das ist anders in Bezug auf die Bundesnotbremse, die als formelles Bundesgesetz erlassen worden ist. Als solches kann sie nur vom Bundesverfassungsgericht wegen Grundrechtswidrigkeit verworfen werden.


Ist das problematisch?


In einer Situation, in der ein Land eine Notsituation zu bewältigen hat, entspricht es dem Wesen einer parlamentarischen Demokratie, wenn der parlamentarische Gesetzgeber – also die vom Volk gewählten Vertreter – selbst die Grenze zwischen Freiheit und Sicherheit ziehen. Spezielle Regelungen durch das Gesetz selbst sind daher grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht kann auch insoweit die Geltung der Grundrechte durchsetzen. Ich habe es immer als misslich empfunden, dass viele für die Bürger sehr einschneidenden Maßnahmen, insbesondere das Herunterfahren nahezu des gesamten öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, nur durch behördliche Verordnungen angeordnet worden sind. Diese Verordnungen sind lange Zeit auf die Generalklausel im Infektionsschutzgesetz gestützt worden, wonach die zuständigen Behörden die „notwendigen“ Schutzmaßnahmen treffen dürfen. Das habe ich immer als sehr problematisch angesehen.


Hält die Regelung der epidemiologischen Lage vor dem Verfassungsgericht?


Die Regelung des Paragraphen 28a in Verbindung mit Paragraph 5 des Infektionsschutzgesetzes ist aus meiner Sicht in keiner Weise hinreichend. Denn das Parlament stellt nur die epidemische Lage von nationaler Tragweite fest. Die eigentlichen Grundrechtsbeschränkungen erfolgen dann nach wie vor allein durch die Exekutive. Das halte ich für höchst fragwürdig. Es reicht nicht, wenn das Parlament die epidemische Lage feststellt, ohne gleichzeitig präzise und dezidiert zu entscheiden, welche Einschränkungen der Grundrechte unter welchen näher umschriebenen Voraussetzungen aufgrund dieser Feststellung erfolgen. Aktuell haben wir weitgehend einen „Freibrief“ für die Exekutive. Das geht in meinen Augen nicht. Wesentliche Entscheidungen über die Grundrechtsverwirklichung hat die vom Volk gewählte Vertretung zu treffen. Es kann nicht sein, dass diese sich verschweigt und alle schwierigen und schicksalhaften Fragen der Exekutive überlässt. Dazu gehört auch die Schaltkonferenz zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten, die entweder in geschlossenen Räumen oder in digitalen Konferenzen solche zentralen Entscheidungen trifft. Das ist einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht angemessen.


Sie haben vorher den Terrorismus angesprochen. Es hat sich ja auch etwas dahin geändert, dass man heute viel schneller ein „Gefährder“ ist, der schon vor der Tat gefasst und bestraft werden soll. Was macht das mit unseren Grundrechten?


Hier muss man Vorsicht walten lassen. Während meiner zwölfjährigen Amtszeit ist die Sicherheitsarchitektur in der Welt und auch in Deutschland grundlegend verändert worden. Es gab neue Instrumente zur Terrorabwehr: Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung, gesteigerte Telekommunikationsüberwachung, erweiterte Befugnisse der Nachrichtendienste, Rasterfahndung, Kfz-Überwachung im öffentlichen Straßenverkehr und so weiter. Das Bundesverfassungsgericht hat strenge Anforderungen gestellt, um beispielsweise die Vertraulichkeit und die Integrität informationstechnischer Systeme zu wahren. Ermittlungen ins Blaue hinein, auf Verdacht, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Die Rechtsprechung ist hier sehr ausgereift. Auch die nachrichtendienstlichen Befugnisse sind erheblich eingegrenzt. Das gilt übrigens auch für die Auslandsaufklärung, auch hier gilt die Grundrechtsbindung. Der Rechtsschutz erfolgt durch die parlamentarischen Kontrollgremien. Man hätte auch trotz notwendiger Geheimhaltung eine richterliche Kontrolle ermöglichen können, aber der Gesetzgeber hat sich für diesen Weg entschieden.


Aber sollte man nicht zuerst eine Tat begehen, ehe man bestraft wird?


Man muss zwischen präventiven Maßnahmen und strafrechtlichen Sanktionen unterscheiden. Das Strafrecht ist an sich repressiver Natur. Aber es ist eine nicht ganz unbedenkliche Vorverlagerung erfolgt, nach der das Strafrecht teilweise schon die Phase der Vorbereitung und der Planung einer Tat erfasst. Es muss aber immer bedacht werden, dass in einem Rechtsstaat das Strafrecht an Taten und nicht an Gesinnungen anzuknüpfen hat. Auch für das Sicherheitsrecht gilt, dass die Behörden beispielsweise eine Online-Überwachung nur vornehmen dürfen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr vorliegen, die ein überragend wichtiges Rechtsgut bedroht.


Es ist allerdings im digitalen Zeitalter möglich, die Vorgänge auch zu manipulieren: Wenn man Ihnen eine Bundestrojaner auf den Computer spielt, merken Sie das gar nicht…


Die Gefahr des Missbrauchs besteht zweifellos. Aber ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung. Eine heimliche Überwachung der informationstechnischen Systeme, also eine präventive Überwachung und verdeckte Ausforschung, ist nur unter strengen und präzise formulierten Voraussetzungen möglich. Als Mittel einer „normalen“ Gefahrenabwehr oder der Verfolgung leichterer oder mittlerer Kriminalität taugen diese Instrumente nicht.


Ist Deutschland hier besonders stark, beim Schutz der Persönlichkeit?


Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat den Schutz der individuellen Persönlichkeitsrechte datenschutzrechtlich genauso streng, wenn nicht sogar zum Teil noch strenger gefasst. Im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung ist der EuGH beispielweise über das Bundesverfassungsgericht sogar noch hinausgegangen.


Wie steht es um den individuellen Datenschutz in der Pandemie?


Im Augenblick steht der Datenschutz noch nicht so im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Aber es ist natürlich denkbar, dass Einzelprobleme hier noch eine Rolle spielen werden. Das gilt etwa, wenn Schutzmaßnahmen nur gegenüber nicht-geimpften Personen bestehen, nicht aber gegenüber geimpften und genesenen Personen. Um solche Differenzierungen durchsetzen zu können, muss man den Status der Person abfragen können. Man muss schon wegen der DSGVO darauf achten, dass die Weitergabe solcher Daten an Dritte strengstens limitiert ist. Denn Gesundheitsdaten genießen einen besonderen Schutz.


Wobei sich ja schon vorher die Frage nach den Kriterien stellt, etwa für Genesene. Die Definition erfolgt jetzt willkürlich und stellt auf einen positiven PCR-Test ab. Ich müsste aber auch in der Lage sein, dem Wirt meinen Antikörper-Spiegel zu überreichen.


Das ist ein großes Problem. Es stellt sich schon die Frage nach der vollständigen Genesung. Das ist eine medizinische Frage. Es muss aber auch nach dem Zweck der Schutzmaßnahmen gefragt werden. Es geht darum, die Ansteckungsgefährdung weitgehend auszuschließen.


Zeigt das nicht, dass es um ziemlich schwammige Regelungen geht, die eigentlich nicht nachzuvollziehen sind – und daher rechtlich gekippt werden müssten?


In der ersten Phase sind viele Gerichte nach dem Motto verfahren: „Wir können es auch nicht besser wissen, also folgen wir dem Gesetz- oder Verordnungsgeber in seiner Gefährdungseinschätzung.“ Mit fortschreitender Zeit sollte sich der Erkenntnisstand allerdings verfestigen. Die Anforderungen an die rechtliche Zulässigkeit staatlicher Regulierungen müssen mit fortschreitendem Erkenntnisstand erhöht werden.


Werden die Gerichte dann vielleicht doch bald einmal tätig? Und können wir darauf hoffen, dass dem Gesetzgeber auch Grenzen aufgezeigt werden, wenn er überschießende Beschlüsse gefasst hat?


Die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der jeweiligen Grundrechtsbeschränkungen müssen in jedem Fall gegeben sein. Der eingreifende Staat ist insoweit beweispflichtig. Vor allem aufgrund der bestehenden und hoffentlich noch zunehmenden Impfungsrate kann nicht mehr allein auf die Inzidenzwerte der gemeldeten Neuinfektionen abgestellt werden. Ganz entscheidend sind auch die Hospitalisierungsrate und die Funktionsfähigkeit der intensivmedizinischen Versorgung der Bevölkerung. Das primäre Ziel ist also, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung und vor einem Kollabieren zu bewahren. Vorsorgliche Verbote allein wegen Überschreitung eines bestimmten Inzidenzwertes im Hinblick auf die gemeldeten Neuinfektionen sind vor allem wegen der erfolgten Impfungen insbesondere bei den Risikogruppen nicht mehr zulässig.


Info: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/verfassungsrechtler-vorsorgliche-verbote-sind-nicht-mehr-zulaessig-li.182522
14.09.2021

Impfung und Ansteckung

heise.de, vom 13. September 2021  

In Deutschland kommt mit der 3G-Regel langsam eine Frage in den Fokus, auf die es beispielsweise in Großbritannien und Israel schon eine Antwort gibt: In welchem Ausmaß können Geimpfte ansteckend sein?

Zitat: Im Januar 2021 stellte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht eindeutig klar:

Solange nicht wissenschaftlich sicher belegt ist, dass die Impfung auch vor einer Weitergabe des Virus schützt, kommt eine unterschiedliche Behandlung von Geimpften gegenüber Nicht-Geimpften nicht infrage.

Offenbar ist dies nun wissenschaftlich sicher belegt, denn der Entschluss der (zumindest teilweisen) Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte und auch Genesene stellt die Grundlage für die bundesweite 3G-Regel dar (ebenso wie die teilweise eingeführte 2G-Regel).


Offizielle Einschätzung

Das RKI bezieht zu dieser Frage eine klare Stellung (Stand: 27. August 2021): Auch wenn eingeräumt wird, dass "die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person trotz vollständiger Impfung PCR-positiv wird, (…) bereits niedrig, aber nicht Null" ist, lautet das Fazit:

Aus Public-Health-Sicht erscheint durch die Impfung das Risiko einer Virusübertragung in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen.

Auch Gesundheitsminister Jens Spahn äußerte sich vor wenigen Tagen ganz in diesem Sinne (Bei 24' 40''):

Die Gefahr eine Weitergabe des Virus durch die Impfung sei nicht Null, aber deutlich niedriger. Spahn betonte, dass es keine Testpflicht für Geimpfte geben solle, denn dann höre die Pandemie nie auf.

Entsprechend sprach Spahn gegenüber Deutschlandfunk auch von einer "Pandemie der Ungeimpften". Sein Argument: "Die Infektionszahlen von Nicht-Geimpften seien zehn bis zwölf Mal höher als unter Geimpften."


Einspruch

Da die Frage, in welchem Maße vollständig Geimpfte die Infektion weitergeben und somit aktiver Teil des Infektionsgeschehens sind, die Kernfrage bildet, an der sich entscheidet, ob Geimpfte Teile der Grundrechte wieder erhalten bzw. im Umkehrschluss zuvor zugestandene Rechte wie der Besuch der Gastronomie nun von 2 bzw. 3 Gs abhängig gemacht werden (denn, so das Argument, Ungeimpfte können schließlich die verlorenen Grundrechte durch die Impfung wieder zurückgewinnen), kommt der wissenschaftlichen Einschätzung hier natürlich eine ganz besondere Bedeutung zu.


Da verschiedene Länder nicht nur deutlich früher mit der Impfung begonnen haben und zudem früher von der Delta-Variante betroffen waren, wie beispielsweise Israel oder Großbritannien, erstaunt es allerdings schon ein wenig, dass die Diskussion in Deutschland kaum mit Blick auf die Erfahrungen in eben diese Länder geführt wird. Insbesondere wenn der sogenannte Impf-Weltmeister Israel wieder zum Hochrisikogebiet erklärt wird.


Alexander Kekulé, Virologe, Epidemiologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle, fällt gerade mit Blick auf die Erfahrung der genannten Länder zur offiziellen Einschätzung, wie beispielsweise des RKI, der Ansteckungsgefahr durch Geimpfte ein eindeutiges Urteil:

Diese Behauptung des RKI ist, man muss es leider so deutlich sagen, vollkommen falsch.

Daher warnt er - ganz im Gegensatz zum Gesundheitsminister - auch dringend vor einer Entbindung der Testpflicht für Geimpfte und damit den 2 bzw. 3G-Regeln:

Während die häufig proklamierte "Welle der Ungeimpften" anhand der Tests und Krankenhauseinweisungen sichtbar und berechenbar ist, rauscht die Welle der Geimpften wie ein Tarnkappen-Bomber durch die Bevölkerung.

Studienlage

Tatsächlich stützen Untersuchungen und Ergebnisse mehrerer Studien der letzten Woche nicht die offizielle Einschätzung des RKI und der Regierung, sondern geben Kekulé recht: In Großbritannien betrug unter der Delta-Variante die Rate der Ansteckung von Geimpften 44 Prozent. Eine Studie in den USA kam zu dem Schluss, dass sich unter den Infizierten sogar drei Viertel doppelt Geimpfte befanden. In Israel sind unter den Menschen, die sich im Krankenhaus im kritischen Zustand befinden, knapp 60 Prozent geimpft (Letzteres lässt zwar keinen genauen Aufschluss über das Ausmaß der sogenannten Impfdurchbrüche zu, offenbart aber durchaus, dass das Problem kaum vernachlässigenswerter Natur ist).


Auch für Deutschland gibt es Zahlen. Diese stehen im deutlichen Widerspruch zur Einschätzung des Gesundheitsministers. Im Wochenlagebericht des RKI vom 2. September 2021 werden folgende Zahlen für Impfdurchbrüche der letzten drei Wochen aufgeführt (S. 19): Für Kinder und Jugendliche: 1,1 Prozent. In der Gruppe 18-59 Jahre: 16,9 Prozent. Bei den über 60-Jährigen mit 40,2 Prozent ein Anteil, der bereits deutlich auf die Situation in Großbritannien oder Israel hinweist.

Hinzu kommt: Die Viruslast infizierter Geimpfter ist vergleichbar mit der Viruslast von Nicht-Geimpften. Allerdings ist bei Geimpften die Phase, in der sie ansteckend sein können, wohl kürzer. Insgesamt kann man beim derzeitigen Wissensstand schlussfolgern, dass Geimpfte sehr wohl Teil des Infektionsgeschehens sind (wenn auch in geringerem Maße) und eine Impfung also keineswegs vor einer Weitergabe der Infektion so eindeutig schützt, wie es die Bundesjustizministerin es als Voraussetzung der Rücknahme der Grundrechtseinschränkungen formuliert hatte.


"Ich denke, der zentrale Punkt besteht darin, dass geimpfte Menschen wahrscheinlich in erheblichem Maße an der Übertragung der Delta-Variante beteiligt sind," erklärt Jeffrey Shaman, Epidemiologe an der Columbia University. Und er schlussfolgert:

In gewissem Sinne geht es bei der Impfung jetzt um persönlichen Schutz - um den Schutz vor einer schweren Krankheit. Die Herdenimmunität ist nicht relevant, da wir viele Beweise für Wiederholungsinfektionen und Durchbrüche sehen.

Persönliches Risiko

Es ist kaum zu bestreiten, dass die Impfung das Risiko eines schweren Krankheitsverlauf senkt und daher gerade für Menschen, die den Risikogruppen angehören, zu empfehlen ist. Wenn aber mit 2G oder 3G eine Situation herbeigeführt wird, die man vermutlich nur mit juristischer Finesse nicht als "Impfpflicht durch die Hintertür" bezeichnen kann, ist dies offenbar kaum mehr rechtlich mit der Gefahrenabwehr begründbar (also dass Menschen sich impfen sollen, um ihre Mitmenschen zu schützen).


Nach der aktuellen Datenlage dient die Impfung insbesondere dem persönlichen Gesundheitsrisiko (laut Aussage von Jens Spahn sind derzeit 90 - 95 Prozent der Covid-Patienten auf Intensiv nicht geimpft) und/oder dem Schutz des Gesundheitssystems, aber nur sehr bedingt der Einschränkung des Infektionsgeschehens und damit der Mitmenschen.


Im Hinblick auf den persönlichen Schutz wäre es aber ein Novum und sehr bedenklich, wenn der Staat paternalistisch das persönliche Risiko als Grundlage für gesamtgesellschaftliche Maßnahmen benutzen würde, schließlich verbietet der Staat auch keine Zigaretten, Alkohol oder Sportboykott mit dem Hinweis auf die gesundheitlichen Folgen für den Einzelnen.


Im Hinblick auf den Schutz des Gesundheitssystems darf aktuell die Frage erlaubt sein, ob dieses so in Gefahr ist, dass derart weitreichende Einschnitte in die persönlichen Freiheitsrechte des Einzelnen vorgenommen werden dürfen. Betrachtet man die Zahlen im Krankenhaus zeigen alle Indikatoren eher auf Entspannung.


Gestützt wird dieser Eindruck auch im Hinblick auf Kinder, der Altersgruppe, in der die Inzidenz gerade explodiert. So erklärt Jörg Dötsch, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln:

Wir können in keiner Weise von einer bedrohlichen Situation sprechen. Im Moment werden bundesweit nach dem Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie zwischen zehn und 15 Kinder pro Woche mit Corona aufgenommen - bei mehr als 300 Kinderkliniken im ganzen Land ist das eine sehr geringe Anzahl.

Die Berliner Zeitung berichtet weiter:

Im gesamten Monat August sei demnach ein Kind mit einem schweren Covid-19-Verlauf auf einer deutschen Intensivstation behandelt worden. In Nordrhein-Westfalen - dem bevölkerungsreichsten Bundesland mit der höchsten Inzidenz Deutschlands - sei die Situation etwas angespannter.

Dötsch erläutert:

In Köln zum Beispiel haben wir in der Altersgruppe der Schulkinder eine Inzidenz von 400. In unserer Klinik muss aktuell ein Kind wegen einer Corona-Erkrankung stationär behandelt werden, aber ihm geht es gut.

Zweifellos wäre aber eine stärkere staatliche Unterstützung des Gesundheitssystems eine ausgesprochen hilfreiche Maßnahme, um das Gesundheitssystem zu schützen.

Offene Frage

Unabhängig davon aber, wie ernst man die Lage in deutschen Krankenhäusern einschätzt - und ein Vergleich mit der zweiten und dritte Welle sollte einen durchaus beruhigen - bleibt die Frage bestehen: Wie kann rechtlich die fundamentale Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften noch begründet werden, wenn offenbar die Voraussetzung nicht zutreffend ist, dass Geimpfte im Prinzip kein Teil des Infektionsgeschehens mehr sind.

P.S.

Eine Presseanfrage an das RKI: "Wie erklären Sie das Fazit des RKI "dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen" angesichts der aktuellen Datenlage?" wurde wie folgt beantwortet:

Die zitierte Passage wird derzeit überprüft. Durch die Delta-Variante hat sich - auch für Geimpfte - die nachweisbare Viruslast im oberen Rachenbereich erhöht. Inwieweit das bei Geimpften zu höheren Übertragungswahrscheinlichkeiten führt, ist noch nicht abschließend geklärt. Dennoch tragen die Impfstoffe aus Public Health Sicht deutlich zu einer Verbesserung der Epidemiologie bei. Vermutlich wird durch die Impfstoffe bei Vorliegen der Delta-Variante das Zeitfenster für die Ansteckungsfähigkeit verringert.

Eine Presseanfrage an das Bundesjustizministerium:

Durch die 3G-Regel ist nun die unterschiedliche Behandlung von Geimpften und Nicht-Geimpften eingeführt worden. Aktuell meldet das RKI in Deutschland in der Gruppe der über 60-jährigen 40,2 Prozent Impfdurchbrüche. Mehrere Studien belegen, die Viruslast bei infizierten Geimpften vergleichsweise hoch ist, wie bei nicht Geimpften. Daher stellt sich die Frage: Auf welcher wissenschaftliche Grundlage, die sicher belegt, dass die Impfung auch vor einer Weitergabe des Virus schützt, stützt sich die Einführung der 3G-Regel?

Wurde wie folgt beantwortet:

Das Konzept dieser 3G-Regel zeichnet sich im Vergleich zu einer "2G-Regel" (Zugang nur für geimpfte und genesene Personen) dadurch aus, dass auch Personen, die weder geimpft noch genesen sind, ein Zugang zu den Einrichtungen oder Leistungen ermöglicht wird, wenn sie einen negativen Test auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorweisen können.


Die gegenwärtige wissenschaftliche Datenlage stützt die Einschätzung, dass die Gefahr einer Übertragung des Coronavirus SARS-CoV-2 bei geimpften oder genesenen Personen - wenigstens für eine gewisse Zeit - erheblich vermindert ist.


Nach den Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) ist durch die Impfung das Risiko einer Virusübertragung in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen.

Als Beleg wird auf die in diesem Artikel zitierte Einschätzung des RKI verwiesen, die das RKI derzeit überprüft. Leider wird in keiner Weise auf die aktuellen Zahlen der Impfdurchbrüche reagiert, die eben diese Einschätzung infrage stellen. Eine Presseanfrage an das Bundesgesundheitsministerium blieb bisher unbeantwortet.


Info: https://www.heise.de/tp/features/Impfung-und-Ansteckung-6190192.html


Teil 2: 

G ist nicht gleich G


heise.de, 14. September 2021  

Die Gruppe der Genesenen findet aktuell kaum Beachtung in der öffentlichen Diskussion. Wie die wissenschaftliche Forschung aber zeigt, ist dies ein Fehler


Zitat: Bei den sogenannten 3G bzw. 2G-Regeln steht ein G selbstverständlich für Geimpfte. Ein weiteres für Genesene. Zwar erlauben beide Gs den Zugang zum digitalen Impfpass, jedoch mit einem wichtigen Unterschied: Während Geimpfte ein Jahr lang die Vorteile genießen dürfen, fallen Genesene genau sechs Monate nach der festgestellten Erkrankung aus dieser Gruppe heraus und dürfen dann bei einer 2G-Regel draußen vor der Tür bleiben oder bei einer 3G-Regel sich durch einen bald selbst zu bezahlenden Test freitesten.

Teil 1: Impfung und Ansteckung


Verfallsdatum und ungültige Nachweise

Im Gegensatz zu sonstigen Infektionen ist bei Covid-19 für Genesene per Verordnung nach sechs Monaten gleichsam ein Verfallsdatum eingebaut. In der "Covid-19-Schutzmaßnahmenverordnung" vom 8. Mai 2021 heißt es:

Als Genesenenausweis ist ein positiver PCR-Test mit entsprechendem Datum anzusehen. Die Durchführung eines Antikörpertests reicht nicht aus, um als genesene Person zu gelten.

Dies ist aber gerade im Hinblick auf die hohe Anzahl der asymptomatischen Infizierungen erstaunlich, denn diese Menschen wissen schlicht nicht, dass sie Genesene sind (Studien schwanken in ihrer Einschätzung des Anteils der asymptomatisch Erkrankten zwischen 4 und 81 ProzentEine Meta-Studie beziffert den Durchschnitt mit 17 Prozent).


So akzeptiert die Bundesregierung nicht nur, dass die offizielle Zahl der Infektionen das Infektionsgeschehen nur sehr ungenau abbildet, sondern viele Menschen gelten schlicht nicht als Genesene, obwohl sie infiziert waren, die Krankheit überstanden und Antikörper gebildet haben, was entsprechende Antikörpertests belegen können. Die wiederum allerdings nicht als Beleg für eine Erkrankung anerkannt werden und somit auch nicht zum digitalen Impfpass führen.


Die Frage muss erlaubt sein, warum ein Antikörpertest nicht anerkannt wird, gerade wenn es offensichtlich ist, dass dadurch nicht als Genesene anerkannt werden, obwohl sie es in medizinischer Hinsicht sind.


Erstaunliche Wirksamkeit

Die offizielle Wirksamkeit der aktuell benutzten Impfstoffe dürfte hinreichend bekannt sein. Aber wie hoch ist die Wirksamkeit durch eine überstandene Infektion und den dadurch gewonnen Antikörpern? Jutta Blume schrieb hierzu vor wenigen Tagen auf Telepolis:

Das Deutsche Ärzteblatt berichtet über mehrere Studien zu Reinfektionen, die in den USA, Großbritannien und Dänemark durchgeführt wurden. Sie stimmten darin überein, dass Genesene zu rund 80 Prozent vor einer Reinfektion geschützt waren. Bei den erneut Infizierten war die zweite Infektion in der Regel von kürzerer Dauer und sie verlief mit milderen Symptomen oder symptomlos.

Erstaunliche Dauer

Deutlich weniger bekannt als die Wirksamkeit der Impfstoffe dürfte die Dauer der Wirksamkeit sein. Zwar gilt rechtlich der Impfschutz ein Jahr (und damit doppelt so lang wie nach einer Genesung), doch zeigen Studien, dass eine Impfung keineswegs ein Jahr lang einen sicheren Schutz bietet. Schon gar nicht im Bereich von über 90 Prozent.


Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die klinische Studie von Biontech und Pfizer. Da Pfizer (ebenso wie Moderna) im Frühjahr 2021 den Probanden der ungeimpften Kontrollgruppe ein Impfangebot gemacht hatte und dies nur sieben Prozent (im Fall von Moderna sogar nur zwei Prozent) abgelehnt haben, gibt es ein Problem mit der Kontrollgruppe. Sie verschwindet fast vollständig. So kommt die klinische Studie im Hinblick auf die Langzeitwirkung bereits ab sechs Monaten zu keinem wirklich validen Ergebnis. (Zu der komplexen ethischen Diskussion, inwiefern man Probanden der Kontrollgruppe in der konkreten Situation des Frühjahrs ein Impfangebot machen sollte und die Unsicherheit der Ergebnisse damit in Kauf nimmt, siehe hier und hier).


Peter Doshi, Mitherausgeber des renommierten British Medical Journalskritisiert dieses Vorgehen aufs Schärfste:

Am 28. Juli 2021 veröffentlichten Pfizer und BioNTech aktualisierte Ergebnisse für ihre laufende Phase-3-Studie mit dem Impfstoff Covid-19. Der Vorabdruck erfolgte fast auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn der historischen Studie und fast vier Monate, nachdem die Unternehmen Schätzungen zur Wirksamkeit des Impfstoffs mit "bis zu sechs Monate" bekannt gegeben hatten. Daten zur Nachbeobachtung nach 10 Monaten werden Sie hier jedoch nicht finden. Der Vorabdruck ist zwar neu, aber die darin enthaltenen Ergebnisse sind nicht besonders aktuell.


Tatsächlich basiert das Papier auf demselben Stichtag (13. März 2021) wie die Pressemitteilung vom 1. April, und das Hauptergebnis der Wirksamkeit ist identisch: 91,3 Prozent (95 Prozent CI 89,0 bis 93,2) Wirksamkeit des Impfstoffs gegen symptomatisches Covid-19 bei einer Nachbeobachtungszeit von "bis zu sechs Monaten". Auch ein ganzes Jahr nach Beginn der Studien gibt es damit also keine validen Daten über die Wirkung Impfstoffes über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus.

Im Hinblick auf die mit der Dauer abnehmende Wirkung des Impfstoffs schreibt er bezugnehmend auf die Daten des israelischen Gesundheitsministeriums im Juli:

Anfang Juli berichteten sie, dass die Wirksamkeit gegen Infektionen und symptomatische Erkrankungen "auf 64 Prozent gesunken ist." Ende Juli war sie auf 39 Prozent gesunken, als die Delta-Variante vorherrschend war. Das ist sehr niedrig. Zum Vergleich: Die FDA (Die "Food and Drug Administration" der USA) erwartet für jeden zulassungsfähigen Impfstoff eine Wirksamkeit von "mindestens 50 Prozent".

Studien belegen diese Einschätzung: Die Impfung löst in den ersten zwei, drei Monaten eine starke Abwehrreaktion aus. Anschließend finden Studien aber einen schnellen Rückgang der Wirksamkeit. Eine aktuelle Studie verglich die Entwicklung der Antikörper bei Geimpften und Genesenen. Das Ergebnis ist eindeutig:

Bei geimpften Personen sanken die Antikörpertiter in jedem Folgemonat um bis zu 40 Prozent, während sie bei Genesenen um weniger als 5 Prozent pro Monat abnahmen. Sechs Monate nach der BNT162b2-Impfung wiesen 16,1 Prozent der Probanden Antikörperspiegel unterhalb der Seropositivitätsschwelle von <50 AU/mL auf, während nur 10,8 Prozent der Genesenen 9 Monate nach der SARS-CoV-2-Infektion unter der <50 AU/mL-Schwelle lagen.

Betrachtet man nun die Dauer des Schutzes durch eine überstandene Infektion, werden signifikante Unterschiede erkennbar. Bereits im Herbst letzten Jahres ging der Virologe Christian Drosten davon aus, dass fast alle Patienten, die eine Infektion durchgemacht haben, bis geschätzt Ende 2021 als immun gelten können. Also gut 15 Monate.

Im Mai diesen Jahres schrieb die Weltgesundheitsorganisation, dass Genesene sicherlich sechs bis acht Monate immun wären. Wohlgemerkt richtet sich hier also die Entscheidung bei der Rechtsgrundlage für den digitalen Impfausweis an der Untergrenze aus. Im Gegensatz zu den Impfungen.


Die bereits zitierte Studie zeigt, dass nach neun Monaten 90 Prozent der Genesenen noch Antikörper haben, die gemäß der FAO als Beleg für die Wirksamkeit gefordert wird. Eine weitere aktuelle Studie spricht davon, dass Genesene "mindestens ein Jahr" geschützt sind.


Eine Studie: mit dem sprechenden "Titel Had COVID? You’ll probably make antibodies for a lifetime", die in Nature erschien, kommt zu einer noch positiveren Einschätzung der Wirksamkeit der natürlichen Immunität. Auch im Hinblick auf Menschen, die nur eine leichte Erkrankung überstanden haben, sehen die Forscher eine hohe Wirksamkeit der Abwehrkräfte:

Menschen, die sich von einer leichten COVID-19-Erkrankung erholen, verfügen über Knochenmarkzellen, die jahrzehntelang Antikörper produzieren können, obwohl virale Varianten den Schutz, den sie bieten, teilweise abschwächen könnten.

Bei Kindern ist die Immunantwort nach einer überstandenen Krankheit noch stärker als bei Erwachsenen. So das Ergebnis einer Studie deutscher Wissenschaftler. Diese zeigt zudem, dass Kinder sich innerhalb der Familien deutlich seltener ansteckten als Erwachsene und der Verlauf meist deutlich milder war.


Erstaunlicher Schutz

Vergleicht man die Wirksamkeit der Antikörper durch eine Genesung und durch eine Impfung im Hinblick auf die Gefahr einer Reinfektion bzw. eines sogenannten Impfdurchbruchs sind die Unterschiede mehr als bemerkenswert: Eine israelische Studie, die Arno Kleinebeckel in Telepolis ausführlich vorstellte, vergleicht den Schutz durch eine Impfung und durch eine Genesung. Diese schützt 13 Mal besser als eine Impfung vor einer Neu-/Ersterkrankung.

Sciene kommentiert:

Der natürliche Immunschutz, der sich nach einer SARS-CoV-2-Infektion entwickelt, bietet einen wesentlich besseren Schutz gegen die Delta-Variante des pandemischen Coronavirus als zwei Dosen des Impfstoffs von Pfizer-Biontech.

Auch wenn man sicherlich berücksichtigen muss, das aufgrund der demographischen Unterschiede zwischen der Gruppe der Geimpften und der Genesenen dieses Zahlen nicht absolut zu nehmen sind, so dürfte doch an dieser Stelle mehr als hinreichend klar sein, dass eine Genesung ein deutlich unterschätzter Schutz gegen die Ausbreitung des Virus darstellt, der offenbar stärker ist als durch eine Impfung. (Selbstverständlich sollte man weder daraus nicht schließen, dass eine freiwillige Ansteckung eine vernünftige Lösung ist, noch übersehen, dass Impfungen die Zahl lebensgefährlicher Krankheitsverläufe deutlich reduziert)


Anzahl der Genesenen: Es herrscht Nebel

Sobald erkennbar wird, wie wichtig eine Genesung im Kampf die Ausbreitung des Virus darstellt, wird es unverständlich, dass die deutsche Bundesregierung bisher keine Anstrengung unternommen hat, die Zahl der Genesenen möglichst genau zu erfassen. Stattdessen wird sich einzig auf die Zahl der Impfungen fokussiert. Ebenso unverständlich ist, warum nicht schon lange eine repräsentative Antikörperstudie durchgeführt wurde und den Bürgern ein kostenloser Antikörpertest angeboten wird.


Nach offiziellen Angaben gelten in Deutschland derzeit 3,7 Millionen Menschen als Genesene. Cornelia Stolze kommentiert hierzu in der Berliner Zeitung:

Zu Anfang der Pandemie wurden (…) nur 10 Prozent der Infektionen entdeckt. 90 Prozent aller Fälle gingen also überhaupt nicht in die Statistik des RKI ein. Knapp ein Jahr später lag die Dunkelziffer noch immer bei 30 Prozent. Rein rechnerisch könnten demzufolge ohne weiteres 7 bis 8 Millionen Menschen in Deutschland inzwischen auch ohne Impfung gegen SARS-CoV-2 geschützt sein.

Eine Antikörper-Studie aus Magdeburg kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass nicht weniger als jede zweite Infektion unbemerkt bleibt. Bei all diesem Nebel, den die Zahl der Genesenen umgibt, würde die Regierung sehr gut daran tun, möglichst schnell den Nebelscheinwerfer einzuschalten, anstatt die Zahl der Genesenen den Geimpften in jeder Hinsicht unterzuordnen.


Eine Frage des Rechts

Aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Lage ergibt sich glasklar eine zentrale Frage: Aufgrund welcher nachprüfbarer Tatsachen wird die rechtliche Entscheidung getroffen, dass Genesene Geimpften gegenüber rechtlich schlechter gestellt (Art. 3 Abs. 1 GG) und mithilfe des digitalen Impfausweises einen wesentlichen Teil ihrer Freiheitsrechte (Art. 2 Abs. 1 GG) nur sechs Monate lang zurückerhalten und danach wieder nachhaltigen Beschränkungen unterworfen werden?


P.S.

Eine Presseanfrage an das Bundesjustizministerium wurde mit dem Hinweis beantwortet, dass für die hier thematisierte Einschätzung von Geimpften und Genesenen das Bundesgesundheitsministerium zuständig sei. (Andreas von Westphalen)

Info: https://www.heise.de/tp/features/G-ist-nicht-gleich-G-6190470.html

14.09.2021

K. Leukefelt zu 9/11, Irak. Afghanistan und die neue Regierung im Libano

aus E-Mail von Doris Pumphrey, vom 13.09.2021, 20:32

 

*Karin Leukefeld zu 9/11 Irak Afghanistan

*Ein ausführliches Gespräch mit der deutschen Journalistin und Nahostexpertin Karin Leukefeld.

Hier: https://www.youtube.com/watch?v=67L2IcKHcPs


https://de.rt.com/der-nahe-osten/123991-neue-regierung-im-libanon/

13.9.2021

*Neue Regierung im Libanon – eine Analyse

*/Eine Analyse von Karin Leukefeld/


Der libanesische Präsident Michel Aoun und der designierte Ministerpräsident Najib Mikati haben sich auf die Aufstellung einer neuen Regierung geeinigt. In Anwesenheit von Parlamentssprecher Nabi Berri unterzeichneten die beiden Politiker am 10. September 2021 ein

entsprechendes Dekret. Die Zustimmung des Parlaments gilt als sicher.


Der Multimilliardär Mikati zählt zu den reichsten Männern im Libanon. Als Abgeordneter vertritt Mikati die nordlibanesische Hafenstadt Tripoli, die zu den ärmsten Städten des Landes gehört. Nach der Ermordung von Rafik Hariri im Jahr 2005 war Mikati für wenige Monate bis zu den Neuwahlen als geschäftsführender Ministerpräsident im Amt. Von 2011 bis 2014 war er Ministerpräsident.


Die Lage sei schwierig, sagte Mikati, der Journalisten zufolge bei der Pressekonferenz im Präsidentenpalast Baabda geweint habe. Man werde "mit Hoffnung und Entschlossenheit" arbeiten und zu "allen internationalen Institutionen Kontakt aufnehmen, um die lebensnotwendigen Versorgungsgüter" sicherzustellen. Die neue Regierung sei da, "um dem

ganzen Land zu dienen", niemand werde ausgelassen. Er werde "an dieTüren der arabischen  Länder klopfen, weil wir die verbrannten Brücken wieder aufbauen müssen", so Mikati. "Libanon gehört zu dieser arabischen Welt".


*Das Diktat des Geldes*

Vorrangiges Ziel der neuen Regierung wird es sein, den wirtschaftlichen Absturz des Zedernstaates zu bremsen. Das Land sei "in einem Flugzeug, das eine Notlandung machen" müsse, so Mikati. "Jeder muss seinen Sicherheitsgurt anschnallen und darauf hoffen, dass wir bald den Kurs dieses Flugzeugs ändern können." Die Geldressourcen des Landes seien

"ausgetrocknet" und es sei nichts mehr da, um Subventionen zu bezahlen, bereitete Mikati die Bevölkerung auf weitere Einschränkungen vor. "Wir müssen die Politik vergessen und nur für unser Volk arbeiten", appellierte Mikati an Parteien, Opposition und Gruppen der

Zivilgesellschaft, die zusätzlich zu den wirtschaftlichen Problemen das Land seit Ende 2019 mit Straßenblockaden und Massendemonstrationen stillgelegt haben. "Es gibt eine Menge zu tun. Wir müssen die Moral unseres Volkes aufmuntern, ein freundliches Wort kann Wunder bewirken."


Nach UN-Angaben gelten Dreiviertel der Bevölkerung des Libanon als arm. Für rund 500.000 dieser Personen, die mittellos gelten, wird aktuell eine Scheckkarte vorbereitet, mit der die Inhaber zukünftig Lebensmittel und Medikamente erhalten können, die nicht mehr vom Staat, sondern von internationalen Gebern und UN-Hilfsorganisationen subventioniert werden

sollen. Ende August hatte Riad Salameh, der Direktor der libanesischen Zentralbank, ein Ende von Subventionen für Benzin angekündigt. Inzwischen sind fast alle Tankstellen im Libanon geschlossen*.*


*Die neue Regierung*

Dem neuen Kabinett gehören 23 Minister und eine Ministerin an. Die einzige Frau in der neuen Regierung heißt Najla Riashi und wird das Ministerium für Administrative Entwicklung leiten. Finanzminister soll mit Yousef Khalil ein leitender Angestellter der umstrittenen Zentralbank werden. Ausgebildet in Frankreich und Großbritannien leitete Khalil als Direktor die Finanzoperationen der Zentralbank und gilt als enger Vertrauter von Riad Salameh, der der Zentralbank seit 20 Jahren als Direktor vorsteht. In Frankreich, Großbritannien und in der Schweiz laufen gegen Salameh Untersuchungen wegen Geldwäsche, Veruntreuung und Betrug.


Sobald das Parlament der neuen Regierung das Vertrauen ausgesprochen hat, werde man die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder aufnehmen, erklärte Mikati. Die USA, Frankreich und Deutschland hatten wiederholt den Libanon aufgefordert, seine

ineffektiven, aber wertvollen Wirtschaftszweige – Strom, Wasser, Telekommunikation und die zukünftige Gasförderung – zu "reformieren", um mit dem IWF eine Vereinbarung über Kredite zu erzielen. IWF-Vereinbarungen sehen allerdings die Privatisierung von staatlichen

Wirtschaftszweigen und den Abbau staatlicher Subventionen vor. Die USA,die im IWF die Stimmenmehrheit hält, hat signalisiert, im Falle von "Reformen" einem IWF-Kredit für das Land zuzustimmen.


In den USA, Frankreich und Deutschland sowie von der EU wurde die Regierungsbildung von Najib Mikati begrüßt. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin forderte rasche und spürbare Fortschritte von der neuen Regierung und die "Wiederaufnahme der Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds."


*Innerlibanesische Stimmen*

Die Kommunistische Partei des Libanon kritisierte die neue Regierung als "Kopie der vorherigen Regierungen". Keine Partei und keine Regierung werde eine Lösung im Sinne der Libanesen erreichen, solange nicht das konfessionelle System überwunden werde. Die größte Partei in der neuen Regierung sei die "Partei von Banken und Kapital", hieß es in der KP-Erklärung. Die Libanesen sollten "ihren Gürtel enger schnallen", um "die Interessen der Milliardäre, Banker und Großanleger" zu schützen.


Der Vorsitzende der Hisbollah, Hassan Nasrallah meldete sich erst nach Redaktionsschluss am Montagabend zu Wort.


Der Vorsitzende der ultrarechten Libanesischen Kräfte, Samir Geagea, bezweifelte, dass die neue Regierung das Land aus dem Sumpf retten könne. Der Libanon sei von der Freien Patriotischen Bewegung (FPM, Michel Aoun) und der Hisbollah in den Abgrund gesteuert worden. Das werde auch eine Mikati-Regierung nicht rückgängig machen können. Den  bisherigen Ministerpräsidenten Hassan Diab griff Geagea als Versager an. Er sprach sich für umgehende Neuwahlen aus.


Parlamentswahlen sind turnusgemäß im Libanon im Mai 2022 vorgesehen. Mikati bekräftigte seine Absicht, die Wahlen fristgemäß am 8. Mai durchzuführen. Das Gleiche gelte für die Kommunalwahlen. Gefragt, ob die neue Regierung mit Syrien kommunizieren werde, sagte Mikati, die Regierung habe die Aufgabe, den Interessen des Libanon zu dienen: "Wir

werden mit jedem kommunizieren, außer mit Israel."


*Politische Neuordnung der Region*

Unabhängige und parteipolitische Beobachter zeigten sich überzeugt, dass die Bewegung, die in den letzten Wochen in die festgefahrenen regionalen Beziehungen der arabischen Staaten mit Iran und der Türkei gekommen waren, die Regierungsbildung im Libanon ebenso beschleunigt hatten, wie die Niederlage von USA und NATO in Afghanistan.


Bereits Anfang September hatte der libanesische Nachrichtensender /Al Mayadeen/ von einem Telefonat zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem neuen iranischen Präsidenten Ephraim Raisi berichtet. Laut iranischem Präsidentenpalast sei über Libanon, Afghanistan und die Verhandlungen in Wien gesprochen worden. Teheran habe die Unterstützung einer raschen Regierungsbildung im Libanon zugesagt, während Paris bekräftigt habe, sich für die Aufhebung von Sanktionen gegen Libanon und Iran einzusetzen.


*Regionale Wirtschaftskooperation oder IWF-Diktat*

Ende August hatte die libanesische Hisbollah offen den US-Sanktionen getrotzt und Öllieferungen aus Iran für den Libanon angekündigt, um die massive Benzin- und Treibstoffkrise im Land zu lindern. Die US-Regierung hatte daraufhin zugestimmt, dass Ägypten Strom und Gas über Jordanien und Syrien in den Libanon liefern könne. Finanziert werden soll die ägyptische Lieferung über die Weltbank, wofür eine Zustimmung der USA als größtem Geldgeber erforderlich ist. Libanon schickte zum ersten Mal seit dem Jahr 2011 eine offizielle Regierungsdelegation nach Damaskus und einigte sich mit der syrischen Regierung auf den Transfer des ägyptischen Stroms durch das syrische Netzwerk. Notwendige technische

Wartungsarbeiten am Stromnetzwerk der Länder könnten die Umsetzung der Vereinbarung aber noch um Wochen verzögern.


Während manche Analysten den westlichen Druck in den Vordergrund stellten, mit dem eine zukünftige Regierung des Libanons gezwungen werden sollte, Reformen unter dem Diktat eines IWF-Kredits einzuleiten, analysieren andere Beobachter, dass gerade der westliche Druck und die Sanktionen, sowie der US-Rückzug aus dem Mittleren Osten die Region enger habe zusammenrücken lassen. Der Westen habe Bedingungen für die Zustimmung zu Krediten von IWF und Weltbank gefordert, dagegen hätten China und Russland dem Libanon schon vor einem Jahr Unterstützung ohne jegliche Vorbedingungen angeboten. Das chinesisch-iranische

25-Jahres-Abkommen für den Auf- und Ausbau wichtiger Infrastruktur wird auch den arabischen Partnerländern  Irans, vor allem Irak, Syrien und Libanon nutzen. Die Mikati-Regierung hat Gespräche mit dem IWF, aber auch mit arabischen Ländern angekündigt, um finanzielle Unterstützung zu erhalten.


*Deutsches Militär will das strategische "Dreieck stabilisieren"*

Während die Verhandlungen um die neue libanesische Regierung in die letzte Runde gingen, forderte der Generalinspekteur der Bundeswehr mehr Engagement der Truppe in der Levante. Die Spannungen in der Region seien durch Streit um Bodenschätze und Grenzen groß, das östliche Mittelmeer sei ein Pulverfass, zitierte die /Deutsche Presseagentur/ den

"ranghöchsten Soldat der Bundeswehr" Eberhard Zorn bei einem Besuch deutscher Truppen der UNIFIL-Mission im südlichen Libanon am 09. September.


Ein Kontingent von 130 deutschen Soldaten und Soldatinnen leitet den seeseitigen Einsatz der UNIFIL-Mission, die seit dem Jahr 2006 die "Blaue Linie", eine Waffenstillstandslinie, zwischen dem südlichen Libanon und Israel kontrollieren. Der Seeeinsatz soll Waffenschmuggel in den Libanon verhindern. Das UNIFIL-Mandat müsse "aktualisiert" werden, sagte Zorn. "Wertvolle Güter wie Öl und Benzin werden außer Landes geschmuggelt. Flüchtlinge aus Syrien werden durch das Land geschleust und mit Booten in Richtung Zypern gebracht." Die Lage sei ähnlich wie in Libyen.


Die libanesischen Streitkräfte müssen besser ausgerüstet werden, forderte Zorn. Die Marine brauche neue Patrouillenboote "mit robuster Technik", Drohnen zur Überwachung und Anlagen zur akustischen Überwachung des Seegebiets. Deutschland hat eine Radaranlage mit zehn

Stationen entlang der Küste bezahlt und zur Ertüchtigung des libanesischen Militärs 23 Millionen Euro bereitgestellt.


Zorn bezeichnete die deutsche Beteiligung an der UNIFIL-Mission für "unverändert wichtig" und begründete das mit dem Krieg in Syrien, Schläferzellen des Islamischen Staates im Libanon und dem Streit um die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Er halte es für wichtig, dass "wir

die Stabilität im Dreieck Libanon-Israel-Jordanien bewahren", sagte Zorn. Aus strategischen Gründen solle Deutschland "am besten auf See" präsent bleiben. Sollte in dem Dreieck dieser Staaten "ein Vakuum entstehen ... würde der IS nachstoßen, wie in allen anderen Ecken dieser

Welt."


Die libanesischen Streitkräfte werden bisher von den USA und deren Partnern in der Region und in der NATO finanziert. Damit soll sichergestellt werden, dass der Libanon waffentechnisch den

hochgerüsteten Israelischen Streitkräften – Partner von USA und NATO – unterlegen bleibt. Die einzige Kraft, die den Israelischen Streitkräften Einhalt gebieten kann, ist die libanesische Hisbollah. USA und NATO streben deren Entwaffnung an.

14.09.2021

Besatzungsökonomie ohne Besatzer       Afghanistans Wirtschaft liegt nach 20 Jahren westlicher Besatzung am Boden und steht nach dem Stopp westlicher Hilfszahlungen vor dem Kollaps.

german-foreign-policy.com, 14. September 2021

BERLIN/KABUL(Eigener Bericht) - Nach dem Abzug des Westens aus Afghanistan suchen die Vereinten Nationen die Bevölkerung des Landes mit dem Nötigsten zu versorgen. Eine UN-Geberkonferenz in Genf konnte am gestrigen Montag Hilfszusagen von mehr als einer Milliarde US-Dollar einwerben; die Bundesrepublik stellte 100 Millionen Euro in Aussicht. Hintergrund ist, dass es dem Westen während der 20-jährigen Besatzungszeit nicht gelungen ist, die afghanische Wirtschaft aufzubauen: Sie blieb von umfangreichen Zahlungen aus dem Ausland abhängig, die bestimmte Sektoren aufblähten - etwa Dienstleistungen für westliches und Regierungspersonal -, aber nicht für den Aufbau einer auch nur annähernd eigenständigen Produktion sorgten. Während korrupte Regierungsfunktionäre unter den Augen des Westens Milliardensummen nach Dubai schleusten, verarmte die Bevölkerung zusehends; bereits vor dem Abzug des Westens war gut die Hälfte der Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dass die Hilfsgelder nach der Machtübernahme der Taliban nicht mehr fließen und die USA Sanktionen in Kraft gesetzt haben, versetzt der afghanischen Wirtschaft den Todesstoß.


Zitat:  In Abhängigkeit von Hilfsgeldern

Afghanistans wirtschaftliche Lage war bereits vor der blitzartigen Übernahme der Macht durch die Taliban katastrophal. Nach fast 20 Jahren westlicher Besatzung machten laut Berechnungen der Weltbank humanitäre Hilfe, westliche Entwicklungsgelder und westliche Ausgaben für das Militär immer noch rund 43 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus; drei Viertel der Regierungsausgaben wurden aus Unterstützungsprogrammen finanziert.[1] Der hohe Mittelzufluss hielt die afghanische Wirtschaft in Abhängigkeit: Er blähte diejenigen Sektoren auf, die, etwa Dienstleistungen, von westlichem Personal genutzt und vom Westen finanziert wurden, führte aber dazu, dass andere wichtige Branchen, vor allem industrielle, vernachlässigt wurden. Zugleich war die Währung, der Afghani, wegen des stetigen Mittelzuflusses überbewertet, was sowohl Exporte verteuerte und damit erschwerte als auch Importe erleichterte; auch das schwächte die afghanische Produktion. Hinzu kam, dass die afghanische Rentenökonomie Korruption begünstigte, wogegen wiederum die westlichen Mächte nicht ernsthaft einschritten: Die Regierung in Kabul wie auch die in den Provinzen herrschenden Warlords waren in der Lage, aus den auswärtigen Hilfszahlungen stets gewaltige Summen für sich abzuzweigen.


Krasse Korruption, bittere Armut

Diese Summen haben Analysen zufolge Milliardenbeträge erreicht. Schlagzeilen machten zuletzt Berichte, Ex-Präsident Ashraf Ghani habe bei seiner Flucht aus Kabul in die Vereinigten Arabischen Emirate große Mengen an Bargeld mit sich geführt; von weit über 100 Millionen US-Dollar war die Rede. Ghani streitet dies ab. Tatsache ist jedoch, dass bereits zuvor Fälle bekannt geworden waren, bei denen afghanische Regierungsfunktionäre mit Millionenbeträgen etwa nach Dubai einreisten. Laut einer Untersuchung, die im Juli 2020 von der Carnegie Endowment for International Peace mit Hauptsitz in Washington publiziert wurde, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Kontext mit Korruption Milliarden US-Dollar aus Afghanistan nach Dubai abgeflossen.[2] Gleichzeitig nahm die Armut im Land immer mehr zu. Der Bevölkerungsanteil der Afghanen, die unterhalb der Armutsschwelle lebten, stieg von 33,7 Prozent im Jahr 2007 auf 54,5 Prozent im Jahr 2016.[3] Bereits im Juli appellierten die Vereinten Nationen an wohlhabende Staaten, zusätzliche Mittel für Afghanistan zur Verfügung zu stellen: Rund 18 Millionen Afghanen, die Hälfte der Bevölkerung, seien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ein Drittel der Bevölkerung sei unterernährt, die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sogar akut.[4]


Ausbleibende Gehälter

Der Abzug des Westens trifft die afghanische Wirtschaft, die ohnehin unter einer der schlimmsten Dürrekatastrophen und der Covid-19-Pandemie leidet, in gleich mehrfacher Hinsicht schwer. Zum einen waren westliche Soldaten, Mitarbeiter von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie weiteres Personal schon an sich ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, da sie Unterkünfte anmieteten, Dienstleistungen in Anspruch nahmen und anderes mehr. Unmittelbar weggefallen sind die Mittel, die der Westen für den Unterhalt der - offiziell - rund 300.000 afghanischen Soldaten zahlte; und auch wenn ein erheblicher Anteil von ihnen nur auf dem Papier existierte und ihr Sold abgezweigt wurde: Eine sechsstellige Zahl an Afghanen steht nun ohne Einkommen da. Ähnliches gilt, dies beschreibt das Afghanistan Analysts Network (AAN) in einer umfassenden Analyse, für viele der rund 420.000 Staatsangestellten, denen die Taliban ohne ausländische Hilfe keine Löhne zahlen können.[5] Dies hat Folgen für den gesamten Dienstleistungssektor, der sich zu erheblichen Teilen aus ihren Ausgaben finanzierte. Die AAN-Analyse zitiert eine Studie der Weltbank, der zufolge rund 2,5 Millionen Afghanen zuletzt im Dienstleistungs- oder im Baugewerbe tätig waren - gut 77 Prozent aller Beschäftigten in den Städten.


US-Sanktionen

Hinzu kommen von den Vereinigten Staaten verhängte Strafmaßnahmen sowie Sanktionen gegen die Taliban. Die Biden-Administration hat bereits im August die afghanischen Devisenreserven, soweit sie Zugriff auf sie hat, eingefroren. Von den insgesamt neun Milliarden US-Dollar liegen allein sieben - in Form von Bargeld, Gold oder Anleihen - bei der US-Zentralbank; über sie kann Kabul nun nicht mehr verfügen.[6] Dies gilt auch für weitere im Ausland gelagerte Gelder. Den Taliban werde es allenfalls gelingen, 0,2 Prozent der Devisenreserven anzuzapfen, heißt es. Weil Washington zudem Sanktionen gegen die Taliban aufrechterhält, sind alle Lieferungen nach Afghanistan, insbesondere auch humanitäre, durch US-Repressalien bedroht; und auch wenn die Biden-Administration bekundet hat, humanitäre Hilfe sei von den Sanktionen ausgenommen, so wird dennoch, ähnlich wie bei Hilfslieferungen nach Iran [7], von schwerer Verunsicherung berichtet. Das wiegt besonders schwer, da Afghanistan aufgrund der spezifischen ökonomischen Entwicklung unter westlicher Besatzung massiv von Importen abhängig ist: Über ein Viertel des Reisbedarfs, bis zu 40 Prozent der Zutaten für Brot und mehr als drei Viertel des elektrischen Stroms müssen laut AAN durch Einfuhren gedeckt werden.[8]


Hunger, Flucht und Terror

Die Lage ist hochbrisant - vor allem aus humanitärer, für den Westen besonders aus politischer Perspektive. Bleiben die Sanktionen gegen die Taliban in Kraft und die westlichen Zahlungen aus, droht eine humanitäre Katastrophe; die Vereinten Nationen schlossen zuletzt nicht aus, dass 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung Mitte 2022 unter die Armutsschwelle rutschen könnten.[9] Das brächte immenses menschliches Leid. Der Westen sucht, davon unbeeindruckt, sein Geld als Druckmittel gegen die Taliban einzusetzen. Außenminister Heiko Maas bekräftigte auf der Afghanistan-Geberkonferenz der Vereinten Nationen am gestrigen Montag in Genf, Berlin werde sich auf "reine Nothilfe" für die Bevölkerung beschränken; sämtliche weiteren Zahlungen blieben ausgesetzt. Sollte damit die Spekulation verbunden sein, ein Ausbleiben der gewohnten Gelder werde die Bevölkerung veranlassen, den Druck auf die Taliban zu erhöhen und sie womöglich zu stürzen, dann könnte dies - darauf weist etwa das AAN hin - nicht nur zu einer Massenflucht in Richtung Europa führen, sondern auch die Bereitschaft der Taliban zunichte machen, Terroristen, etwa diejenigen des ISKP (Islamic State Khorasan Province), von Angriffen auf westliche Ziele abzuhalten.[10]


Kampf um Einfluss

Vor diesem Hintergrund haben die Vereinten Nationen gestern Zusagen für Hilfen im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar erhalten; die Bundesrepublik hat einen Beitrag von bis zu 100 Millionen Euro in Aussicht gestellt.[11] Nach UN-Schätzungen würde dies, sofern die Zahlungen tatsächlich eintreffen - das ist in vergleichbaren Fällen oft nicht geschehen -, eine Weile für das Nötigste reichen. Alles weitere ist Gegenstand von Sondierungen und Verhandlungen, die gerade erst begonnen haben und bei denen nicht die afghanische Bevölkerung, sondern das westliche Bestreben, Einfluss auf die neue Regierung in Kabul zu nehmen, im Vordergrund steht.

 

[1] Hannah Duncan, Kate Clark: Afghanistan's looming economic catastrophe: What next for the Taleban and the donors? afghanistan-analysts.org 06.09.2021.

[2] Brian George: The Kabul to Dubai Pipeline: Lessons Learned From the Kabul Bank Scandal. carnegieendowment.org 07.07.2020.

[3] S. dazu Der Zwanzigjährige Krieg.

[4] Afghanistan: Funding shortfall amid deepening humanitarian crisis. news.un.org 15.07.2021.

[5] Hannah Duncan, Kate Clark: Afghanistan's looming economic catastrophe: What next for the Taleban and the donors? afghanistan-analysts.org 06.09.2021.

[6] Taliban ohne Zugriff auf Devisenreserven. tagesschau.de 18.08.2021.

[7] S. dazu Auf Zeit gespielt.

[8] Hannah Duncan, Kate Clark: Afghanistan's looming economic catastrophe: What next for the Taleban and the donors? afghanistan-analysts.org 06.09.2021.

[9] Rick Gladstone: Afghanistan is at risk of 'universal poverty' by mid-2022, U.N. warns. nytimes.com 09.09.2021.

[10] Hannah Duncan, Kate Clark: Afghanistan's looming economic catastrophe: What next for the Taleban and the donors? afghanistan-analysts.org 06.09.2021.

[11] Milliardenhilfe für Afghanistan zugesagt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.09.2021.


Info: 
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8702

13.09.2021

Fruchtbarer Boden für Jihadisten   Die Rolle Saudi-Arabiens, eines engen Verbündeten Berlins, bei den Anschlägen am 11. September 2001 ist weiter ungeklärt. In den 1980er Jahren förderten beide Länder Jihadisten am Hindukusch.

german-foereign-policy.com, 13. September 2021

WASHINGTON/RIAD/BERLIN(Eigener Bericht) - 20 Jahre nach dem 11. September 2001 bleibt die Rolle Saudi-Arabiens, eines der engsten Verbündeten Deutschlands am Persischen Golf, bei der Vorbereitung der damaligen Anschläge ungeklärt. Unter wachsendem Druck von Angehörigen der Opfer, die sich gerichtlich um Aufklärung bemühen, hat US-Präsident Joe Biden angekündigt, eine Reihe von Dokumenten zu veröffentlichen, die Aufschlüsse geben sollen, ob und inwieweit saudische Stellen die Attentäter unterstützten. Das erste, am Wochenende publizierte Papier liefert keine entscheidenden Informationen. Die US-Regierung behindert die Aufklärung seit Jahren. Inzwischen liegen jedoch Hinweise vor, denen zufolge ein Mitarbeiter der saudischen Botschaft in Washington weitere saudische Staatsangestellte mit der Betreuung zweier Attentäter beauftragte. In den 1980er Jahren förderten Riad und Washington gemeinsam Jihadisten in Afghanistan, darunter Usama bin Ladin; beteiligt war auch Bonn. Nach Recherchen der US-Opferanwälte hat auch die Botschaft Saudi-Arabiens in Bonn bzw. Berlin bis 2001 Al Qaida-Strukturen unterstützt.


Zitat: 
"Mit erheblicher Regierungsförderung"

Dass Personen und Organisationen aus Saudi-Arabien eine tragende Rolle bei Vorbereitung und Durchführung der Anschläge vom 11. September 2001 innehatten, ist seit langem bekannt. 15 der 19 Attentäter waren Staatsangehörige der Golfmonarchie. Die offizielle 9/11-Kommission, die im Dezember 2002 vom US-Kongress eingesetzt worden war, bestätigte in ihrem Abschlussbericht vom 22. Juli 2004: "Al Qaida fand fruchtbaren Boden für die Beschaffung von Geld in Saudi-Arabien, wo extreme religiöse Auffassungen verbreitet sind".[1] Zwar äußerte die Kommission, man habe "keinen Beweis gefunden, dass die saudische Regierung als Institution oder höhere saudische Staatssbeamte individuell die Organisation finanziert haben"; allerdings hat die präzise Wortwahl - "saudische Regierung", "höhere Regierungsbeamte" - stets den Verdacht genährt, es könnten weniger exponierte Beamte involviert gewesen sein, zumal es gängiger Praxis enspricht, dass Spitzenfunktionäre heikle Aktivitäten nicht selbst übernehmen, sondern sie der Ausführung durch andere überlassen. Außerdem räumte die 9/11-Kommission eine "Wahrscheinlichkeit" ein, "dass Wohltätigkeitsorganisationen mit erheblicher Förderung durch die saudische Regierung Gelder an Al Qaida umgeleitet haben".


Die Administration mauert

Die US-Regierung hat jahrelang alles dafür getan, Erkenntnisse über eine etwaige Mittäterschaft saudischer Stellen zu unterdrücken und gerichtliche Untersuchungen zu unterbinden. So wurde ein Teil des 9/11-Kommissionsberichts im Umfang von 28 Seiten mehr als ein Jahrzehnt lang strikt geheimgehalten und erst nach anhaltend massivem Druck am 15. Juli 2016 teilweise freigegeben. Gerichtsprozesse, die Angehörige der Opfer angestrengt hatten, um eine etwaige Mittäterschaft saudischer Stellen aufzudecken und Riad zur Rechenschaft zu ziehen, scheiterten immer wieder an einem Gesetz aus dem Jahr 1976, das fremden Staaten Immunität vor US-Gerichten zuspricht. Der Justice Against Sponsors of Terrorism Act, der dieses Gesetz - unter eng definierten Umständen - aushebelt, musste am 28. September 2016 vom US-Kongress gegen ein Veto des damaligen US-Präsidenten Barack Obama verabschiedet werden. Seither wird - auf Klagen von Angehörigen der Opfer - gerichtlich umfassend ermittelt. Allerdings berichten Kläger unverändert, die Regierung in Washington mauere bei der Freigabe von Dokumenten; Behörden wie das FBI erklärten immer wieder, sie seien außerstande, wichtige Beweismittel - darunter selbstverfasste Berichte - aufzufinden.[2]


Auftraggeber in der Botschaft

Durch wachsende öffentliche Kritik von Angehörigen der Opfer unter Druck geraten, hat US-Präsident Joe Biden kürzlich angekündigt, weitere Dokumente öffentlich zugänglich zu machen; das erste davon wurde am Wochenende publiziert. Es ist an zahlreichen Stellen geschwärzt und bringt keinen Durchbruch, bestätigt aber bestehende Vorwürfe. Bereits bekannt ist etwa, dass zwei der Attentäter, als sie im Januar 2000 nach Kalifornien einreisten, dort umgehend Unterstützung durch zwei saudische Funktionäre erhielten: durch Fahad al Thumairy, einen Angestellten des saudischen Ministeriums für islamische Angelegenheiten, der damals als Diplomat beim Konsulat Saudi-Arabiens in Los Angeles akkreditiert war, sowie durch Omar al Bayoumi; von ihm heißt es, er sei für den saudischen Geheimdienst tätig gewesen, und dies wird durch Indizien gestützt. Al Bayoumi hat die zwei Attentäter mit Geld versorgt, ihnen eine Wohnung verschafft sowie die Eröffnung eines Bankkontos ermöglicht. Im Mai 2020 wurde durch ein Versehen des FBI die Identität von Mussaed Ahmed al Jarrah enthüllt, des Mannes, der laut dem FBI Thumairy sowie Bayoumi beauftragt hatte, den beiden Attentätern zu helfen. Jarrah war damals an Saudi-Arabiens Botschaft in Washington angestellt und unmittelbar dem Botschafter, Prinz Bandar bin Sultan al Saud, berichtspflichtig.[3] Dass Bandar bin Sultan, ein Mann mit besten geheimdienstlichen Verbindungen, über den Auftrag zur Unterstützung für die Attentäter nicht informiert gewesen sei, sei undenkbar, wird ein ehemaliger FBI-Ermittler zitiert.[4]


Feste Verbündete

Die Frage, ob die Regierung, Staatsfunktionäre oder Geheimdienstler aus Saudi-Arabien in die Vorbereitungen für die Anschläge involviert waren, ist für die Vereinigten Staaten nicht nur heikel, weil das Land ihr wohl engster Verbündeter im Mittleren Osten ist. Washington und Riad haben in der Vergangenheit gemeinsam Jihadisten unterstützt - in den 1980er Jahren am Hindukusch. Die US-Administration förderte damals zunächst unter Jimmy Carter, dann verstärkt unter Ronald Reagan die Mujahedin, zu denen nicht nur afghanische, sondern auch arabische Jihadisten zählten, darunter Usama bin Ladin. In der saudischen Botschaft in Washington war der ab 1983 dort als Botschafter tätige Bandar bin Sultan mit den Unterstützungsaktivitäten befasst.[5] In Riad und vor Ort in Afghanistan koordinierte insbesondere Prinz Turki al Faisal bin Abdulaziz al Saud die gemeinsamen Hilfsleistungen für die Mujahedin, für die allein die Vereinigten Staaten im Lauf der 1980er Jahre Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellten. Turki al Faisal traf dabei zuweilen mit Usama bin Ladin zusammen, von dem er später erzählte: "Er sprach wenig und erhob nie seine Stimme. Kurzum, er war ein netter Kerl."[6] Der Afghanistanexperte und Publizist Ahmed Rashid hat Turki al Faisal und Bin Ladin einst rückblickend als "feste Freunde und Verbündete in einer gemeinsamen Sache" eingestuft.[7]


Jihadisten in Oberbayern

Turki al Faisal war damals auch ein Bezugspunkt für die Bundesrepublik: Er stand von 1977 bis 2001 an der Spitze des saudischen Geheimdienstes GIP (General Intelligence Presidency), der zu den Kooperationspartnern des Bundesnachrichtendienstes (BND) gehörte. Der BND wiederum leistete ebenfalls Unterstützung für die afghanischen Mujahedin - unter anderem, indem er in Oberbayern, wie es in einem Standardwerk über den Geheimdienst heißt, arabische Afghanistan-Freiwillige trainierte.[8] Der damalige GIP-Chef Turki als Faisal hält noch heute Kontakt nach Deutschland: als Mitglied des Advisory Council der Münchner Sicherheitskonferenz.


Geld für Al Qaida

Die Frage nach einer etwaigen Beteiligung saudischer Stellen an Vorbereitungen für die Anschläge am 11. September 2001 ist für Deutschland nicht nur deshalb von Bedeutung, weil das Land einer der engsten Verbündeten Berlins im Mittleren Osten ist. Treffen Vorwürfe der Opferanwälte zu, die aktuell vor US-Gerichten eine Aufklärung über die saudische Rolle anstreben, dann sind aus der Golfmonarchie nicht nur - von 1996 bis 2001 - Mittel an Al Qaida-Strukturen in Deutschland geflossen, die der Rekrutierung von Mitgliedern dienten, unter anderem der Hamburger Zelle, der mehrere Attentäter angehörten. Zudem sollen zwei Mitarbeiter des saudischen Ministeriums für islamische Angelegenheiten in ihrer Funktion als Botschaftsmitarbeiter in Bonn bzw. Berlin rund 800.000 US-Dollar aus Botschaftsmitteln an das Al Qaida-Netzwerk in Deutschland gezahlt haben: bis unmittelbar vor den Anschlägen in den USA.[9]

 

[1] The 9/11 Commission Report.

[2] Marty McGinley, Dennis McGinley: The 9/11 attacks, 20 years on: A victim's family reflects on justice delayed. nbcnews.com 11.09.2021.

[3] Michael Isikoff: In court filing, FBI accidentally reveals name of Saudi official suspected of directing support for 9/11 hijackers. news.yahoo.com 12.05.2020.

[4] Nikolaus Steiner: Die Hintermänner von 9/11: Welche Rolle spielte Saudi-Arabien? wdr.de 09.09.2021.

[5] Steve Coll: Ghost Wars. The Secret History of the CIA, Afghanistan and bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2001. London 2004.

[6] Der meistgesuchte Mann der Welt. zeit.de 02.05.2011. S. auch Gute Jungs, böse Jungs.

[7] Ahmed Rashid: Taliban. Militant Islam, Oil and Fundamentalism in Central Asia. New Haven 2000. S. auch Verbündete in gemeinsamer Sache.

[8] Peter F. Müller, Michael Mueller mit Erich Schmidt-Eenboom: Gegen Freund und Feind. Der BND: Geheime Politik und schmutzige Geschäfte. Reinbek 2002. S. auch Alte Verbündete.

[9] United States District Court, Southern District of New York. Consolidated Complaint. 03 MDL 1570 (GBD)(SN)


Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8701
13.09.2021

Bürgermeisterkonferenz fordert die USA auf, den Atomwaffenverbotsvertrag zu billigen und jetzt zu handeln, um Atomkriege zu verhindern und Nuklearwaffen abzuschaffen

pressenza.com, vom 06.09.2021 - Pressenza New York

Zum Abschluss der 89. Jahrestagung, die aufgrund der anhaltenden COVID-19-Pandemie virtuell am 31. August 2021 stattfand, verabschiedete der Exekutivausschuss der Konferenz der Bürgermeister der Vereinigten Staaten (United States Conference of Mayors – USCM) einstimmig eine kühne neue Resolution, in der die USA aufgefordert werden, den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen [AVV] zu billigen und jetzt zu handeln, um einen Atomkrieg zu verhindern und Atomwaffen abzuschaffen.

In der Resolution wird die Regierung der Vereinigten Staaten aufgefordert, „den Vertrag als einen positiven Schritt zur Aushandlung eines umfassenden Abkommens über die Erreichung und dauerhafte Erhaltung einer atomwaffenfreien Welt zu begrüßen“. Weiter heißt es: „Die Bürgermeisterkonferenz der Vereinigten Staaten begrüßt die gemeinsame Erklärung von Präsident Biden und dem russischen Präsidenten Putin vom 16. Juni 2021, in der sie ‚den Grundsatz bekräftigen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf‘, und fordert die Biden-Regierung auf, die nuklearen Spannungen durch intensive diplomatische Bemühungen mit Russland und China abzubauen und sich aktiv um ein überprüfbares Abkommen zwischen den atomar bewaffneten Staaten zu bemühen, um ihre Atomwaffenarsenale in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Völkerrechts zu beseitigen, das dem AVV um Jahrzehnte vorausgeht.“

Laut einem Bericht der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) gaben die neun nuklear bewaffneten Staaten im Jahr 2020 72,6 Milliarden Dollar für Atomwaffen aus, wobei die USA mit 37,4 Milliarden Dollar oder 70.881 Dollar pro Minute an der Spitze lagen“, beginnt die USCM-Resolution mit einer deutlichen Warnung des Bulletin of the Atomic Scientists:


Am 27. Januar 2021 verkündete das Bulletin of the Atomic Scientists, dass es die Zeiger seiner Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht stellt, so nah wie nie zuvor an der globalen Vernichtung, mit der Aussage: „Nach unserer Einschätzung hat sich das Potenzial, dass die Welt in einen Atomkrieg stolpert – eine allgegenwärtige Gefahr in den letzten 75 Jahren – im Jahr 2020 erhöht“: „Die existenziellen Bedrohungen durch Atomwaffen und den Klimawandel haben sich in den letzten Jahren durch einen Bedrohungsmultiplikator verschärft: die fortschreitende Korruption der Informationsökosphäre, von der Demokratie und öffentliche Entscheidungsfindung abhängen… Die COVID-19-Pandemie ist ein Weckruf.“

Die USCM-Resolution unterstreicht, dass „die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sowie zwischen den Vereinigten Staaten und China dramatisch zugenommen haben, mit Krisenherden in der Ukraine und Taiwan, die potenziell zu nuklearen Konfrontationen führen könnten.“ Die USCM bringt ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass „Präsident Bidens Haushaltsantrag für das Haushaltsjahr 2022 die Militärausgaben um 11 Milliarden Dollar erhöht und die Finanzierung aller Upgrades für nukleare Sprengköpfe und Trägersysteme aus dem Haushalt seines Vorgängers sowie die massiven Investitionen in die Kernwaffeninfrastruktur verlängert, um die Erforschung, Entwicklung, Produktion und den Einsatz von Kernwaffen bis weit ins 21. Jahrhundert zu projizieren, was einen Verstoß gegen die Abrüstungsverpflichtungen der Vereinigten Staaten gemäß dem Atomwaffensperrvertrag von 1970 darstellt.


Die USCM-Resolution berichtet, dass „der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) am 22. Januar 2021 in Kraft getreten ist und den Ländern, die ihn ratifiziert haben, die Entwicklung, den Erwerb, den Besitz, den Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen untersagt.“ Die USCM weist jedoch darauf hin, dass „während der AVV die vollständige Ablehnung von Atomwaffen durch die meisten Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, darstellt, haben die Vereinigten Staaten, die acht anderen nuklear bewaffneten Staaten und fast alle Länder unter dem US-Atomschutzschirm die Verhandlungen boykottiert und sind dem Vertrag nicht beigetreten.“

Die USCM gibt in ihrer neuen Resolution mehrere konkrete politische Empfehlungen:

„Sie fordern die Biden-Regierung auf, die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vereinigten Staaten in Bezug auf den Nicht-Einsatz und die Abschaffung von Atomwaffen vollständig in die bevorstehende Überprüfung des nuklearen Dispositivs einzubeziehen“;

„Sie fordern den Präsidenten und den Kongress auf, den Plan, das gesamte US-Atomwaffenarsenal durch verbesserte Waffen zu ersetzen, zu streichen und die derzeit für Atomwaffen und ungerechtfertigte Militärausgaben bereitgestellten Mittel umzuleiten, um die jahrzehntelange Untätigkeit in Bezug auf Infrastruktur, Armut, die wachsende Klimakrise und die zunehmende Ungleichheit anzugehen“; und

„Sie fordern den Präsidenten und den Kongress auf, die Rüstungskontrolle und Abrüstung durch die Wiedereinführung der Agentur für Rüstungskontrolle und Abrüstung zu einer Priorität auf Bundesebene zu machen“.


In der Resolution heißt es: „Mayors for Peace, 1982 gegründet und angeführt von den Bürgermeistern von Hiroshima und Nagasaki, setzt sich für eine Welt ohne Atomwaffen, sichere und widerstandsfähige Städte und eine Kultur des Friedens als wesentliche Maßnahmen zur Verwirklichung eines dauerhaften Weltfriedens ein“; und „Mayors for Peace ist auf 8.043 Städte in 165 Ländern und Regionen angewachsen, mit 219 Mitgliedern in den USA, die insgesamt über eine Milliarde Menschen vertreten“.

Die USCM stellt fest, dass „die Bürgermeisterkonferenz der Vereinigten Staaten seit sechzehn aufeinanderfolgenden Jahren einstimmig Resolutionen von Mayors for Peace angenommen hat“ und „alle ihre Mitglieder auffordert, sich Mayors for Peace anzuschließen, um das Ziel von 10.000 Mitgliedsstädten zu erreichen“.


Die USCM-Resolution 2021 wurde von Frank Cownie, Vizepräsident von Mayors for Peace U.S., Bürgermeister von Des Moines, Iowa, unterstützt und von Nan Whaley, Bürgermeisterin von Dayton, Ohio und derzeitige Präsidentin der USCM, Steve Benjamin, Bürgermeister von Columbia, South Carolina und ehemaliger Präsident der USCM, Patrick L. Wojahn, Bürgermeister von College Park, Maryland; Roy D. Buol, Bürgermeister von Dubuque, Iowa; J. Christian Bollwage, Bürgermeister von Elizabeth, New Jersey; Jon Mitchell, Bürgermeister von New Bedford, Massachusetts; und William Peduto, Bürgermeister von Pittsburgh, Pennsylvania.


Die United States Conference of Mayors ist die offizielle überparteiliche Vereinigung von mehr als 1.400 amerikanischen Städten mit mehr als 30.000 Einwohnern. Die auf den jährlichen Versammlungen verabschiedeten Resolutionen werden zur offiziellen Politik der USCM.

Klicken Sie hier, um die vollständige Resolution in Englisch zu lesen.


Info:  https://www.pressenza.com/de/2021/09/buergermeisterkonferenz-fordert-die-usa-auf-den-atomwaffenverbotsvertrag-zu-billigen-und-jetzt-zu-handeln-um-atomkriege-zu-verhindern-und-nuklearwaffen-abzuschaffen
12.09.2021

ERMITTLUNGEN                                                                                                                        FBI gab nach Biden-Dekret erstes Dokument zu 9/11-Ermittlungen frei

derstandard.at, 12. September 2021, 08:15

Das Dokument enthält keine Beweise für eine Beteiligung oder Mitwisserschaft der saudi-arabischen Regierung


Am Samstag gedachten die USA den rund 2.500 Getöteten und mehr als 20.000 Verletzten der Anschläge vom 11. September 2001. Foto: Reuters / Amr Alfiky


Zitat: Washington – Die US-Bundespolizei FBI hat das erste Dokument in Zusammenhang mit ihren Ermittlungen zu den Anschlägen am 11. September 2001 und mutmaßlichen Verwicklungen der saudi-arabischen Regierung freigegeben. Das FBI befolgte am Samstag damit eine Anweisung von US-Präsident Joe Biden, von dem Angehörige der Opfer diesen Schritt gefordert hatten. Saudi-Arabien hatte immer wieder erklärt, es habe keine Rolle bei den Anschlägen gespielt.


In dem teils geschwärzten, 16-seitigen Dokument werden Kontakte zwischen den Entführern der vier Passagiermaschinen und saudi-arabischen Beamten skizziert. Es gibt aber keinen Beweis dafür, das die Regierung in Riad an den Anschlägen beteiligt war, bei denen fast 3.000 Menschen getötet wurden. Ihrer gedachten die USA am Samstag anlässlich des 20. Jahrestages der Anschläge.


15 von 19 Entführern aus Saudi-Arabien

Die saudi-arabische Botschaft in Washington gab zunächst keine Stellungnahme zu der FBI-Veröffentlichung ab. In einer Erklärung vom 8. September hatte sie mitgeteilt, Saudi-Arabien habe sich stets für Transparenz in Bezug auf die Ereignisse am 11. September 2001 eingesetzt und begrüße in diesem Zusammenhang die Freigabe von Verschlusssachen durch die USA. Frühere Ermittlungen hätten keinerlei Beweis erbracht, dass die saudi-arabische Regierung oder ihre Mitarbeiter im Voraus über die Anschläge informiert oder in irgendeiner Weise involviert gewesen wären.


15 der 19 Entführer der Flugzeuge stammten aus Saudi-Arabien. Zu den Anschlägen hatte sich die Al-Kaida von Osama bin Laden bekannt. Dieser stammte aus Saudi-Arabien. Eine Kommission der US-Regierung fand keine Beweise dafür, dass Saudi-Arabien, ein enger Verbündeter der USA, Al-Kaida direkt finanziell unterstützt hätte. Offenblieb aber, ob einzelne Beamte in dem Königreich dies taten.


Die Angehörigen von rund 2.500 der Getöteten und mehr als 20.000 Verletzten sowie etliche Unternehmen und Versicherer haben Saudi-Arabien auf mehrere Milliarden Dollar verklagt. In einer Stellungnahme im Namen der Organisation 9/11 Families United erklärte Terry Strada, deren Ehemann Tom bei den Anschlägen getötet wurde, das vom FBI veröffentlichte Dokument beseitige alle Zweifel an einer saudi-arabischen Mittäterschaft. "Jetzt sind die Geheimnisse der Saudis aufgedeckt, und es ist längst an der Zeit, dass das Königreich sich der Rolle seiner Beamten bei der Ermordung Tausender auf amerikanischem Boden stellt." (APA, 12.9.2021)


Info: https://www.derstandard.at/story/2000129587716/fbi-gab-nach-biden-dekret-erstes-dokument-zu-911-ermittlungen



Weiteres: 


20 Jahre nach den Anschlägen    FBI gibt Dokument zu 9/11-Ermittlungen frei


tagesschau.de, Stand: 12.09.2021 09:07 Uhr

20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September hat die US-Bundespolizei FBI ein bisher unter Verschluss gehaltenes Dokument freigegeben. Al-Kaida ruft unterdessen in einem neuen Video dazu auf, den Westen zu bekämpfen.


Zitat: Die US-Bundespolizei FBI hat das erste Dokument in Zusammenhang mit ihren Ermittlungen zu den Anschlägen am 11. September 2001 und mutmaßlichen Verwicklungen der saudi-arabischen Regierung freigegeben. Das FBI befolgte damit eine Anweisung von US-Präsident Joe Biden, von dem Angehörige der Opfer diesen Schritt gefordert hatten. In dem teilweise geschwärzten 16-seitigen Dokument werden Kontakte zwischen den Entführern der vier Passagiermaschinen und saudi-arabischen Beamten skizziert. Es gibt aber keinen Beweis dafür, dass die Regierung in Riad an den Anschlägen beteiligt war, bei denen fast 3000 Menschen getötet wurden.

Frühere Ermittlungen brachten keine Beweise für Verwicklung

Saudi-Arabien hatte immer wieder erklärt, es habe keine Rolle bei den Anschlägen gespielt. Seine Botschaft in Washington gab zunächst keine Stellungnahme zu der FBI-Veröffentlichung ab. In einer Erklärung vom 8. September hatte sie mitgeteilt, Saudi-Arabien habe sich stets für Transparenz in Bezug auf die Ereignisse am 11. September 2001 eingesetzt und begrüße in diesem Zusammenhang die Freigabe von Verschlusssachen durch die USA. Frühere Ermittlungen hätten keinerlei Beweis erbracht, dass die saudi-arabische Regierung oder ihre Mitarbeiter vorab über die Anschläge informiert oder in irgendeiner Weise involviert gewesen wären.


15 der 19 Entführer der Flugzeuge kamen aus Saudi-Arabien. Zu den Anschlägen hatte sich die Al-Kaida von Osama bin Laden bekannt. Dieser stammte aus Saudi-Arabien. Eine Kommission der US-Regierung fand keine Beweise dafür, dass Saudi-Arabien, ein enger Verbündeter der USA, Al-Kaida direkt finanziell unterstützt hätte. Offen blieb aber, ob einzelne Beamte in dem Königreich dies taten. Die Angehörigen von rund 2500 der Getöteten und mehr als 20.000 Verletzten sowie etliche Unternehmen und Versicherer haben Saudi-Arabien auf mehrere Milliarden Dollar verklagt.

Hohe Erwartungen von Angehörigen an Aufklärung

In einer Stellungnahme im Namen der Organisation 9/11 Families United erklärte Terry Strada, deren Ehemann Tom bei den Anschlägen getötet wurde, das vom FBI veröffentlichte Dokument beseitige alle Zweifel an einer saudi-arabischen Mittäterschaft. "Jetzt sind die Geheimnisse der Saudis aufgedeckt, und es ist längst an der Zeit, dass das Königreich sich der Rolle seiner Beamten bei der Ermordung Tausender auf amerikanischem Boden stellt."

Al-Kaida-Chef Al-Sawahiri meldet sich zu Wort

Al-Kaida hat unterdessen eine neue Videobotschaft ihres Anführers Aiman al-Sawahiri veröffentlicht. In dem am Samstag über die sozialen Medien verbreiteten Film ruft Al-Sawahiri seine Anhänger dazu auf, die Staaten im Westen und ihre Verbündeten im Nahen Osten zu bekämpfen. Das rund 60 Minuten lange Video zeigt die erste Ansprache des Al-Kaida-Chefs, seitdem es Ende vergangenen Jahres unbestätigte Gerüchte über seinen Tod gegeben hatte.


Analysten sehen in der neuen Aufnahme Hinweise, dass Al-Sawahiri zumindest noch zu Beginn dieses Jahres am Leben war. So erwähne er einen Angriff auf das russische Militär im Nordwesten Syriens am 1. Januar, twitterte die Direktorin der auf Propaganda von Extremisten spezialisierten Site Intelligence Group, Rita Katz. Auch auf den Abzug des US-Militärs aus Afghanistan geht Al-Sawahiri ein. Die USA verließen das Land nach 20 Jahren Krieg "gebrochen und geschlagen", erklärt er.

Al-Sawahiri bezichtigt arabische Staaten des "Verrats"

Die Anschläge vom 11. September seien "eine Verletzung", wie sie die USA niemals erlebt hätten, sagte Al-Sawahiri. Die Annäherung mehrerer arabischer Staaten an Israel bezeichnet er als "Verrat". Dabei handele es sich um einen "Kreuzzug", der von Amerika angeführt werde: "Und Israel ist eines der wichtigsten Werkzeuge dieses Kreuzzuges." Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, der Sudan und Marokko hatten sich im vergangenen Jahre mit Israel geeinigt, ihre diplomatischen Beziehungen zu normalisieren.


Der Ägypter Al-Sawahiri ist Nachfolger von Osama bin Laden, der als Kopf der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA galt. Bin Laden wurde 2011 in Pakistan von einer US-Spezialeinheit getötet. Die USA haben auf Al-Sawahiri ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar (rund 21 Millionen Euro) ausgesetzt. Fachleute gingen bisher davon aus, dass er sich im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan versteckt.


Info: https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/fbi-al-kaida-101.html

11.09.2021

Kontroverse Themen und Partei-Grüne Positionen mit Diskussionsbedarf

  • IMPFPFLICHT EINFÜHREN
  • DEUTSCHLAND NICHT ERWÄHNEN
  • DIREKTE DEMOKRATIE ABLEHNEN
  • FEINDBILD RUSSLAND PFLEGEN
  • ENERGIE VERTEUERN
  • MASSENEINWANDERUNG FÖRDERN
  • WAFFEN AN DIE UKRAINE UND NATO-PARTNER LIEFERN
  • RECHTE AN EUROPA ABTRETEN OHNE DORT ÄHNLICHE DEMOKRATISCHE RECHTE ZU HABEN
  • NATO LEGITIMIEREN
  • 5 G EINFÜHREN
  • DIGITALISIERUNG FÖRDERN
  • ANGRIFFSKRIEGE FÜHREN UND NICHT AUFARBEITEN (JUGOSLAWIENKRIEG)
  • RENTE KÜRZEN UND NICHT AUFARBEITEN (ZUSAMMEN MIT SCHRÖDER)
  • MINIJOBS EINFÜHREN UND NICHT AUFARBEITEN (ZUSAMMEN MIT SCHRÖDER)
  • EINEN ATOMAUSSTIEG BESCHLIEßEN BEI DEM EIN ATOMWAFFENFÄHIGER REAKTOR - FRM2 ANS NETZ GEHT (UNTER FISCHER-SCHRÖDER)
  • BAHN-PRIVATISIERUNG FÖRDERN (STATT STAATSBAHN BELASSEN)
  • GENTECHNIK FÖRDERN (IM RAHMEN DER IMPFUNG)
  • ANDEREN DEMOKRATISCHE GRUNDRECHTE VERWEIGERN (Z.B. DAS DEMONSTRATIONSRECHT )
  • GENDER GAGA VORANBRINGEN
  • NORMALE FAMILIE DELEGITIMIEREN
  • PLASTIKMÜLL ALS WAHLKAMPFGESCHENKE VERTEILEN
  • EINE KANDIDATIN - DIE DAS "KOBOLD" IN DEN BATTERIEN ZUM NACHDENKEN BRINGT, ABER NICHT DAS WASSER, WAS IN SÜDAMERIKA FÜR DIE LITHIUMFÖRDERUNG ANDEREN MENSCHEN GEKLAUT WIRD
  • SONDERMÜLLPRODUKTION IN FORM VON TAUSENDEN AUTOBATTERIEN FÖRDERN
  • BRAUCHT ES NOCH MEHR GRÜNDE GEGEN GRÜN?


11.09.2021

Nach Truppenabzug     NATO untersucht Afghanistan-Einsatz

tagesschau.de, Stand: 11.09.2021 09:02 Uhr

Der Afghanistan-Einsatz soll nach Angaben des NATO-Generalsekretärs in einer Untersuchung aufgearbeitet werden, aus der das Bündnis Lehren ziehen will. Ähnliche Militäreinsätze schloss Stoltenberg für die Zukunft nicht aus.


Zitat: Die NATO hat nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg eine umfassende Untersuchung zum desaströs geendeten Afghanistan-Einsatz eingeleitet. "Die Ereignisse der letzten Wochen waren tragisch für die Afghanen und erschütternd für alle, die sie unterstützen", schrieb Stoltenberg in einem Gastbeitrag für die "Welt am Sonntag". Es gebe viele schwierige Fragen bezüglich des NATO-Engagements, die man sich nun ehrlich stellen müsse. "Wir müssen Lehren daraus ziehen."


Der Kampfeinsatz in Afghanistan sei "ein langer und schwieriger Einsatz, der mit vielen Opfern und hohen Kosten verbunden war", gewesen, schrieb Stoltenberg. Zugleich sei es gelungen, das Terrornetzwerk Al-Kaida "erheblich zu schwächen und zu verhindern, dass Afghanistan als Ausgangsbasis für Terroristen dient, die uns dann angreifen". Seit dem 11. September "hat es keine in Afghanistan organisierten Terrorangriffe mehr in unseren Heimatländern gegeben."


Trotz der dramatischen Entwicklungen am Hindukusch hält Stoltenberg aber auch in Zukunft ähnliche Militäreinsätze des westlichen Bündnisses für sinnvoll. "Afghanistan wird nicht die letzte Krise sein, in der Nordamerika und Europa gemeinsam, mithilfe der NATO, handeln müssen", erklärte der Generalsekretär. Militäreinsätze seien "grundsätzlich das letzte Mittel, manchmal aber doch die einzig vernünftige Antwort".

"NYT" zweifelt Version der US-Armee zu Drohnenangriff an

Dabei ist der US-Armee noch in den letzten Tagen des Afghanistan-Einsatzes nach Informationen der "New York Times" offenbar ein tödlicher Fehler unterlaufen. Demnach wurde beim Drohnenangriff am 29. August in Kabul nach Recherchen der Zeitung nicht ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug getroffen, sondern ein mit Wasserkanistern gefüllter Wagen eines Mitarbeiters einer Nichtregierungsorganisation (NGO). Die Zeitung beruft sich auf eine Auswertung von Aufnahmen aus Überwachungskameras berichtete.


Laut "NYT" arbeitete Esmarai Ahmadi, der Fahrer des Autos, als Ingenieur für die in Kalifornien ansässige NGO Nutrition and Education International (dt. Ernährung und Bildung International). Auf den Aufnahmen sei zu sehen, wie er und ein Kollege den Wagen mit Wasserkanistern beluden. Pentagon-Sprecher John Kirby sagte der "NYT" auf Anfrage, die Ermittlungen würden fortgesetzt. Er versicherte, dass "kein Militär der Welt so sehr darauf bedacht ist, zivile Opfer zu vermeiden (wie die USA)". Der Angriff habe auf "guten" Geheimdienst-Erkenntnissen basiert, "und wir glauben weiterhin, dass damit eine unmittelbare Bedrohung des Flughafens verhindert wurde".


Laut den US-Streitkräften galt der Drohnenangriff einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat", das eine unmittelbare Bedrohung für den Flughafen von Kabul dargestellt habe. Sie räumten den Tod von drei Zivilisten ein.


  • Afghanistan
  • NATO
  • Untersuchung

  • Info: https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan/nato-untersuchung-afghanistan-101.html


    Kommentar:  Trotz einer Untersuchung, wobei der Afghanistan-Einsatz aufgearbeitet werden soll um Lehren daraus zu ziehen, schließt das Nato-Kriegsbündnis ähnliche Militäreinsätze auch für die Zukunft, schon mal vorab, nicht aus.  

    Am zwanzigsten Jahrestag des Kriegs-Terrorangriffs  auf die Zivilgesellschaft  eines ganzen Landes am Beispiel Afghanistans sowie auf die USA, zuzüglich des Besatzungsregimes und der hier wegbereitenden politischen Kriegsparteien, inmitten unserer Demokratie, könnte die künftige  Abkehr  von alledem ein Zeichen für die friedlichere Zukunft sein, statt die weitere Vasallentreue zur NATO als Voraussetzung für Koalitionsgespräche zu erklären.  Thomas Bauer 

    11.09.2021

    Zum 11. September und seiner 50-jährigen Geschichte • Von Klaus Wagener   Scheitern auf der ganzen Linie


    Setzten sich für eine menschliche Gesellschaft im Hinterhof des US-Imperialismus ein: Fidel Castro und Salvador Allende. Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär mit Unterstützung der USA die Zukunft hinweg und machte das Land zum Labor für neoliberale Wirtschaftspolitik. (Foto: CUBANET/Archiv)

    unsere-zeit.de,  
    Der 11. September markiert verschiedene historische Wendepunkte. Am 11. September 1973 stürzte das chilenische Militär mit Unterstützung der US-Regierung den gewählten Präsidenten Salvador Allende, am 11. September 2001 stürzten drei Türme des World Trade Center (WTC) in New York ein und am 11. September 2021 sollte der US-Kampfeinsatz in Afghanistan zu Ende gehen.

    Zitat: Diese Ereignisse stehen nicht nur in einem formalen, sondern auch in einem inhaltlichen Kontext. Die Daten markieren den Beginn und das Ende einer Ära. Es sind die Phasen des Aufstiegs des US-Imperialismus zur unangefochtenen Weltmacht, seiner Hybris, seiner Überdehnung und seines inneren wie auch äußeren Verfalls.


    1973 begann der Rückzug des US-Militärs aus Vietnam. Das Pentagon hatte de facto seine Niederlage eingestanden. Gleichzeitig wollten die US-Strategen einen Aufschwung der Befreiungsbewegungen – insbesondere in Lateinamerika, aber auch in anderen Regionen der Dritten Welt – verhindern. Che Guevara hatte 1966 in seiner Botschaft an die Tricontinental-Konferenz gefordert: „Amerika, ein vergessener Kontinent in den letzten Befreiungskämpfen, hat nun angefangen, sich durch die Tricontinental Gehör zu verschaffen. Und mit der Stimme der Avantgarde seiner Menschen hat heute die kubanische Revolution eine Aufgabe von sehr viel größerer Relevanz: das Gestalten eines zweiten oder dritten Vietnam, oder des zweiten oder dritten Vietnam der Welt.“


    Der Comandante war 1967 ermordet worden, aber seine Ideen bewegten weiter die im Aufbruch befindliche Dritte Welt. Die US-Strategen dagegen wollten nach Vietnam eine weitere Niederlage um jeden Preis verhindern. Schon die US-Atomkriegsplaner der 1950er- und 1960er-Jahre hatten klargestellt, dass es ihnen auf ein paar Hundert Millionen Tote mehr oder weniger nicht ankam. Das allerdings verhinderte die sowjetische Bombe.


    Mit dem 11. September 1973, dem Militärputsch in Chile, begann gleichzeitig die Phase der konterrevolutionären Offensive und der neoliberalen Gegenreformation. In gewisser Weise wurde mit dem Putsch das Startsignal zur militärischen, geheimdienstlichen und finanzpolitischen Rückeroberung der in den kolonialen und neokolonialen Befreiungskämpfen verlorenen Gebiete für den US- und europäischen Imperialismus gegeben.


    Mit Vietnam war zwar ein weiterer großer Krieg für das Imperium verloren gegangen, aber ein noch weit wichtigerer war gewonnen worden: Die VR China war durch das Gespann Nixon/Kissinger zu einem De-facto-Alliierten des Imperialismus geworden. Lateinamerika versank im Blut der US-gestützten Militärputsche und Todesschwadronen. Dies und die CIA-gestützte „Operation Condor“ – der gezielte Mord an mehr als 50.000 Menschen sowie die Einkerkerung weiterer Hunderttausender in den Folterverliesen des Kontinents – sorgten für Jahrzehnte der Friedhofsruhe und der ungehemmten Ausplünderung der arbeitenden Menschen Lateinamerikas.


    Nach dem Zu-Tode-Rüsten der Sowjetunion steigerte sich das globale Herrschaftsprojekt des US-Imperialismus zum offenen Eroberungskrieg. Mit dem herbeigelogenen „Zweiten Golfkrieg“ machten die US-Geostrategen schon 1991 klar, dass sie – da sie kein militärisches Veto der Sowjet­union mehr fürchten mussten – Anspruch auf den Nahen und Mittleren Osten – ein Gebiet, in dem 70 Prozent der globalen Fossilenergie-Ressourcen lagerten – erhoben. 2001 kam mit dem 11. September, mit „9/11“, das von den US-Neokonservativen (Neocons) herbeigesehnte „katastrophische und katalysierende Ereignis“, das „Neue Pearl Harbor“, wie es in ihren zuvor geschriebenen Dokumenten hieß. Der Einsturz der drei WTC-Türme – der Einsturz von WTC-7 wird gern schamhaft verschwiegen, da er ja nicht von einem Flugzeug getroffen wurde, aber ebenso mustergültig einstürzte – lieferte den Vorwand und die Generalermächtigung für die seit Anfang der 1990er-Jahre intensiv vorbereiteten Kriege im Nahen und Mittleren Osten.


    Diese Kriege um die Eroberung und Neugestaltung der mit „Greater Middle East“ bezeichneten Großregion im Sinne einer durch die westlichen Großmächte handhabbaren und profitabel ausbeutbaren „Balkanisierung“ erforderten eine ungeheure Aufrüstung der imperialen Militärmaschine und eine innere Zurichtung der westlichen Gesellschaften auf die permanente Kriegführung, den „Global War On Terror“ (GWOT), die „extralegalen Tötungen“ und die systematische Folter. Das Ziel hieß „Full Spectrum Dominance“. Seither befinden sich die westlichen Gesellschaften im permanenten Kriegs- und Ausnahmezustand. Deutschland wurde am Hindukusch und in Mali „verteidigt“. Der seither „eingebettete“ (embedded) Journalismus sieht sich als Transmissionsriemen und kampagnenfähiger Verstärker der Regierungspropaganda. Die Meinungs- und Bewusstseinsindustrie ist zu ungeheuren Dimensionen aufgerüstet worden. Die Kriegs- und Formierungspropaganda läuft „24/7“, nahezu pausenlos rund um die Uhr. Wie schon „Wilhelm Zwo“ kennt auch der imperiale Kriegs- und neoliberale Krisenstaat „keine Parteien mehr“. Alle Parteien, die es im westlichen Parlamentarismus zu etwas bringen wollen, sind bei Strafe des medialen Exorzismus auf das Ausplünderungs- und Kriegsprojekt festgelegt und gleichgeschaltet. Wählbar sind allenfalls Gesichter, die imperialistische Politik ist es nicht. Seither hat es das private, öffentliche und geheimdienstliche Überwachungs- und Beeinflussungsprogramm geschafft, eine nahezu komplette digitale Überwachung des öffentlichen und privaten Raumes zu errichten und die Menschen zu gläsernen Personen zu machen, deren privateste Empfindungen erfasst, gespeichert, zusammengeführt und ausgewertet werden. Diese Überwachung und Kontrolle ist im Zuge der Corona-­Krise bis hin zu Kontakt- und Ausgangssperren und einer Offenlegungspflicht für den Gesundheitsstatus ausgeweitet worden. Der angloamerikanische Geheimdienstapparat der „Five Eyes“ hat den erklärten Anspruch, alles, was global digital verfügbar ist, aufzuzeichnen, zu speichern und operativ verfügbar zu halten. Daneben sind die mit den Diensten eng verbundenen US-amerikanischen IT-Konzerne zu allmächtigen Zensur- und Kontrollinstanzen avanciert, die sogar einen US-Präsidenten zensieren können. Deutlicher lässt sich die unbeschränkte Herrschaft des Großen Geldes und seines geheimdienstlich-militärisch-medial-industriellen Komplexes kaum illustrieren.


    Mit dem 11. September 2021 – genauer: wenige Tage zuvor – geht die 20-jährige Phase des GWOT zu Ende – mit einem geostrategischen Paukenschlag. Der nahezu kampflose Sieg der Taliban, die das Land in nur elf Tagen nach einem ebenso chaotischen wie fluchtartigen US-Abzug im Saigon-Style unter Zurücklassung von militärischem Gerät im Wert von 90 Milliarden US-Dollar übernehmen konnten, hat die Entscheidung der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung – einschließlich der Afghanischen Nationalarmee (ANA) – für ein Ende der jahrzehntelangen imperialen Kriege, der Zerstörungen, der Korruption, der Razzien, der Drogen und des Sterbens klargemacht. Und wenn die Taliban die Kraft sind, die dieses „Wunder“ vollbringen kann, dann eben mit den Taliban. Ironie der Geschichte: Die Unterstützung der kommunistischen Saur-Revolution 1978 sollte nach dem Wunsch des US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski für die Sowjetunion zum Vietnam werden. Die Finanzierung und Bewaffnung der „Mudschahedin“ und die Erschaffung der Taliban haben indes in der Konsequenz auch zu einem zweiten Vietnam des US-Imperiums geführt – ein zweites Vietnam sicher nicht im Sinne Che Guevaras, aber zumindest mit ähnlichen geopolitischen Konsequenzen.


    Mit der Rückkehr des Islamischen Emirats von Afghanistan, den Niederlagen im Irak und in Syrien, mit den Debakeln in Somalia und im Jemen und mit dem zugrunde gerichteten Libyen ist das „Greater Middle East Project“ krachend gescheitert – trotz des gigantischen Aufwands, trotz der Billionen von US-Dollar, trotz der mächtigsten Kriegsmaschine der Geschichte. Die US-Neocons haben zwar ein blutiges und zerstörerisches Chaos produzieren können, aber die Welt hat drastisch vor Augen geführt bekommen, dass das US-Imperium zu einer konstruktiven Aufbauleistung völlig unfähig ist und was die „westlichen Werte“ und die „regelbasierte Weltordnung“ eigentlich bedeuten. Mit dem Ergebnis, dass immer mehr Menschen ein „Neues Amerikanisches Jahrhundert“, wie es von den US-Neocons so euphorisch gefordert wurde, dankend ablehnen.


    Die USA sind seit dem 11. September 1973 – infolge der neoliberalen Offensive und der in ihrem Rahmen geführten permanenten Kriege – zu einem überschuldeten, heruntergekommenen Land mit einer korrupten Elite, einer hypertrophen Militärmaschine und extremen sozialökonomischen Widersprüchen geworden. Das Abräumen des New-Deal- und Bretton-Woods-Regelwerks, die neoliberale Reichenbereicherung und die kapitalistische Durchdringung des Globus bescherten den „0,1 Prozent“ hohe „Globalisierungs“-Profite. Aber es gab keinen „Trickle Down“-Effekt, kein Heruntersickern des Reichtums zu den Armen, zur werktätigen Bevölkerung. 80 Prozent der zur ehemals relativ gut gestellten US-amerikanischen Arbeiterklasse gehörenden Menschen existieren heute von der Hand in den Mund. 50 Millionen US-Bürger – fast jeder sechste – leben in Armut. Das Land ist zugunsten einer ausufernden Finanzindustrie weitgehend deindustrialisiert. Seine Infrastruktur verrottet. Was das US-Imperium neben Tod und Vernichtung zu exportieren vermag, ist eine ins Extrem getriebene Variante der eigenen Entwicklung.


    Mit der neoliberalen Offensive steigerten sich die Ungleichgewichte der kapitalistischen Wirtschaft seit 1973 rapide. Weltweit leben mehr als 700 Millionen Menschen von weniger als 1,95 US-Dollar pro Tag – und das, obwohl in der VR China 700 Millionen aus der extremen Armut befreit werden konnten. Die westliche Antikrisenpolitik hat mit Billionen frisch gedruckter US-Dollar, Euro, Pfund oder Yen die immer dramatischer werdende Überakkumulation und Überschuldung weiter angeheizt. Die nicht mehr in der Realwirtschaft profitabel anlegbaren Kapitalien drängten in den virtuellen Raum, die Börse und ähnliche fiktive Anlageformen. Eine ausgeprägte überkapitalisierte und überschuldete „Boom-Bust-Ökonomie“ ist entstanden, die seither das sozialökonomische Geschehen dominiert. Mit der „Dotcom-Krise“ im Jahre 2000 ist diese Verwertungsform in eine strukturelle Große Krise eingetreten mit massiven Krisenausbrüchen in den Jahren 2007 und 2019, jeweils mit Folgejahren. 2021 stehen die neoliberale Offensive und die imperiale Kriegs- und Besatzungspolitik erneut vor einem Wendepunkt. Die Hegemonie- und Integrationsfähigkeit des Westens ist weitgehend zusammengebrochen. In den maßgeblichen Zentren und Konferenzen des Großen Geldes wie in Davos wird nach dem Motto „Lass keine Krise ungenutzt vorübergehen“ über eine strategische Neuausrichtung, einen „Great Reset“, debattiert.


    Die verheerende Niederlage in Afghanistan hat weitreichende Wirkungen für die innenpolitische Situation im US-Imperium selbst, in seinen Bündnisbeziehungen und in seiner Machtprojektion. US-Präsident Joseph Biden hat sich in seiner Rede zum Fall von Kabul – sehr zum Unmut seiner menschenrechtsinterventionistischen europäischen „Partner“ – ausdrücklich von Demokratie-Promotion und Nationbuilding-Projekten verabschiedet. Es gehe um „vitale (US-)amerikanische Interessen“. Aber was sind die „Sicherheitsgarantien“ des US-Imperiums dann noch wert? Was wird aus Taiwan, was aus der Ukraine? Was wird aus der NATO? Und was aus Deutschland und dem von ihm geführten Europa?


    Natürlich hat die komplett kreditfinanzierte und zunehmend kopfloser agierende US-Kriegsmaschine auch weiterhin die Fähigkeit, schwache Länder zu überfallen und in Schutt und Asche zu legen. Aber was kommt dann? Wenn es in 20 Jahren nicht gelingt, schlecht ausgebildete Kämpfer zu besiegen, die kaum mehr als Kalaschnikows und Toyota-Pick-ups besitzen, die weder über eine Luftwaffe noch über potente ausländische Unterstützung verfügen, dann wird der imperiale Herrschaftsanspruch zu einer ausgesprochen fragwürdigen Angelegenheit.


    Russland und die VR China sind dabei, das Projekt einer eurasischen Integration nun auch mit Afghanistan voranzutreiben – was hinsichtlich dieses Landes ein komplizierter und durchaus nicht mit Erfolgsgarantie versehener Prozess ist. Vor 50 Jahren war es Washington gelungen, diese Integration zu zerstören, eine schwache Volksrepublik gegen eine zwar militärisch starke, ökonomisch aber zunehmend mit Problemen kämpfende Sowjetunion auszuspielen. Dies dürfte dem weitgehend bankrotten US-Imperium heute nicht mehr gelingen. Die Volksrepublik hat die USA realökonomisch längst überholt. Die „Belt and Road Initiative“ ist selbst für G7-Mitglieder so attraktiv, dass sie sich ihr nicht mehr zu entziehen vermögen. Hier spielt in Zukunft die Musik. Seine verrotteten und brennenden Städte, die endemische Armut, das katastrophale Missmanagement in der Corona-Krise sowie das völlige Scheitern des „Greater Middle East Project“ haben dem „American Way of Life“ jegliche Attraktivität genommen.


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