aus e-mail von Irene Eckert, 22. April 2024, 9:22 Uhr
Ein ausgezeichnetes, weil für unser Land aufschlussreiches und nützliches
Interview. Was wir dringend brauchen sind mehr solche präzisen,
nüchternen Informationen. Dank an Cornelia. Im Übrigen sind alle
gestellten Fragen wichtig und führen zu erhellenden Erklärungen. Irene
Eckert
*Deutsche WirtschaftsNachrichten 20.04.2024 *
*„Russland kann weder bezwungen noch eingeschüchtert werden.“ *Sergej J.
Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland, äußert
sich im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten über den
Terroranschlag in der „Crocus City Hall“ bei Moskau, den Konflikt in der
Ukraine, die russisch- deutschen Beziehungen und die Frage, ob
Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland wieder aufgenommen werden
könnten - sofern das gewollt wäre.
*Moritz Enders **DWN:* *Herr Botschafter, der schreckliche Terroranschlag
am 22. März 2024 im Konzertsaal „Crocus City Hall“ bei Moskau hat uns alle
tief bestürzt. Wie schätzen Sie die Reaktion der deutschen Seite ein?*
*Botschafter Netschajew:* In diesen tragischen Tagen haben uns zahlreiche
Kondolenzschreiben und Beileidsbekundungen erreicht, insbesondere von dem
Bundespräsidenten, dem Bundeskanzler, Mitgliedern des Kabinetts,
Bundestagsabgeordneten und diversen zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Die Tragödie in Krasnogorsk hat Tausende deutsche Staatsbürger und unsere
Landsleute in Deutschland zutiefst bewegt. Die Menschen zeigten ihr
Mitgefühl, indem sie zu den russischen Auslandsvertretungen Blumen,
Kinderspielzeug und Kerzen brachten, um der Opfer dieses grausamen
Terroranschlags zu gedenken. Zahlreiche ausländische Diplomaten in Berlin
haben in der Botschaft kondoliert. Wir haben gespürt, dass viele über diese
abscheuliche Tat erschüttert waren und gemeinsam mit uns trauerten. Von
Herzen danken wir allen für ihre Anteilnahme, Unterstützung und
Verurteilung dieses niederträchtigen Terroranschlags und ihre Solidarität
mit Russland und dem russischen Volk.
*DWN:* *Am 17. März fanden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Doch
auch bei Ihnen in der Botschaft konnten russische Bürger ihre Stimme
abgeben. Wie ist das verlaufen?*
*Botschafter Netschajew:* Am 17. März 2024 hat in den Wahllokalen in der
russischen Botschaft in Berlin sowie im Generalkonsulat in Bonn die
Stimmabgabe bei den Wahlen des Präsidenten der Russischen Föderation
stattgefunden. Im Unterschied zu den vorherigen Jahren wurde nur in zwei
russischen Vertretungen abgestimmt, weil die deutsche Seite ihre Zustimmung
zum Betrieb von vier der insgesamt fünf russischen Generalkonsulate in
Deutschland widerrufen hat. Deswegen hat man in Frankfurt am Main, Hamburg,
Leipzig und München anders als früher keine Wahllokale geöffnet, wodurch
die Botschaft und das Generalkonsulat in Bonn einer deutlich stärkeren
Belastung ausgesetzt waren und Unannehmlichkeiten für unsere Mitbürger
entstanden. Vor allem für diejenigen, die weit entfernt von unseren
Vertretungen wohnen.
Leider wurde am Wahltag trotzt etlicher Ersuchen der Botschaft nicht für
eine allgemein übliche Wahlkampfruhe gesorgt, die auch ein Verbot von
Wahlwerbung bedeutet hätte, vor allem in unmittelbarer Nähe der Wahllokale.
Nichtsdestoweniger ist es uns gelungen, die Abstimmung nach Maßgabe der
russischen Rechtsvorschriften durchzuführen, wobei alle notwendigen
Sicherheitsmaßnahmen eingehalten wurden. Wir bedanken uns bei den deutschen
Polizeibeamten, die ihre Aufgaben professionell erfüllt haben. Es wurden
keine Zwischenfälle bzw. Rechtsverstöße an den Wahllokalen festgestellt,
keine Beschwerden von Wählern bzw. Wahlbeobachtern eingereicht. Alles
verlief offen und transparent. An beiden Wahllokalen hat der amtierende
Präsident Wladimir Putin einen deutlichen Sieg für sich verbucht.
*DWN:* *Die russisch-deutschen Beziehungen sind so schlecht wie noch nie.
Halten die deren Verbesserung mittel- bis langfristig für möglich? Und,
wenn ja: Unter welchen Voraussetzungen?*
*Botschafter Netschajew:* Mir fällt es schwer, die gegebene Lage, als
normal zu bezeichnen. Der politische Dialog fehlt. Der zwischenstaatliche
und -behördliche, parlamentarische und gesellschaftliche Austausch ist auf
Initiative der deutschen Seite auf Eis gelegt worden. Man hat den
Dienststellen in Deutschland auf allen Ebenen empfohlen, sämtliche Kontakte
mit russischen Vertretern zu vermeiden. Rund um unser Land wird künstlich
eine toxische Atmosphäre geschürt. Es ist mittlerweile gang und gäbe, dass
gegenwärtige Probleme Deutschlands durch „russische Einflussnahme“ und als
Folge russischer Politik erklärt werden.
Es ist bedauernswert, dass Berlin den Weg der Konfrontation mit Russland
gewählt hat. Das umfangreiche und einzigartige Erbe der deutsch-russischen
Beziehungen, Jahrzehnte der positiven Kooperationserfahrung und die
besonderen vertraulichen Verbindungen zwischen unseren Ländern und Völkern
sind verworfen. Manche in Berlin träumen sogar davon, Russland „eine
strategische Niederlage“ zuzufügen, seine Wirtschaft und sein Finanzsystem
zu zerstören und immer neue Sanktionspakete einzuführen, die aber vor allem
Deutschland selbst spürbar schaden. So was gab es nicht mal während der
heißesten Phasen des Kalten Krieges.
Wir können auch nicht erkennen, dass man in dieser äußerst gefährlichen
Haltung umzudenken versucht. Ich meine unter anderem die Einlassungen
einiger deutscher Politiker, man müsse sich auf einen Krieg mit Russland
vorbereiten und sein Territorium und seine Infrastruktur angreifen. Diese
Rhetorik ist inakzeptabel. Sie führt nur zu einer weiteren Eskalation.
Solange im Westen nicht begriffen wird, dass Russland weder bezwungen noch
eingeschüchtert werden kann, sind reale Wege zur Besserung der Lage
eigentlich nicht in Sicht.
*DWN:* *Auf dem Weltjugendfestival, das kürzlich in Sotschi stattgefunden
hat, hat Präsident Putin gesagt: „Wenn Russen und Deutsche ihre Kräfte
vereint haben, gab es immer goldene Zeiten“. Können Sie dafür Beispiele
geben?*
*Botschafter Netschajew:* Um nicht zu tief in die Geschichte einzutauchen,
lassen Sie mich ein Beispiel aus der Nachkriegszeit anführen. Es ist wohl
bekannt, dass die Aussöhnung zwischen unseren Völkern nach dem Zweiten
Weltkrieg, die Ostpolitik von Willy Brandt, der Aufbau der umfassenden
Wirtschaftsbeziehungen mit der UdSSR, unter anderem im Energiebereich,
massiv dazu beigetragen haben, dass Deutschland zur führenden
Wirtschaftsnation Europas aufgestiegen ist, hohe soziale Standards erreicht
und sein Ansehen auf der Weltbühne als Brücke zwischen Ost und West erhöht
hat. Ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, dass Deutschland seine
Wiedervereinigung vor allem der UdSSR zu verdanken hat. Nachdem Deutschland
und Russland die Block-Konfrontation überwunden hatten, setzten sie die
Intensivierung der Beziehungen in sämtlichen Bereichen fort. Der Austausch
in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Bildung und
Zivilgesellschaft erhielt damals einen mächtigen Auftrieb. Unsere Länder
ergänzten sich gut, rückten näher zusammen und diese Kooperation bedeutete
eine gegenseitige Bereicherung. Natürlich waren nicht alle im Westen mit
dieser Entwicklung zufrieden. Gegenwärtig ist das einzigartige Tragwerk der
bilateralen Beziehungen bis auf die Grundmauern zerstört. Wer profitiert
bitte davon? Bestimmt nicht die Deutschen.
*DWN:* *Bislang profitierte die deutsche Wirtschaft enorm von den
Gaslieferungen, die über die „Nord Stream 1“-Pipeline erfolgten (während
„Nord Stream 2“ zum Zeitpunkt der Sprengung noch nicht in Betrieb genommen
war). Halten Sie eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen für denkbar?*
*Botschafter Netschajew:* Erstens wurde einer der beiden Stränge von Nord
Stream 2 nicht beschädigt und steht für den Start von Gaslieferungen
jederzeit zur Verfügung. Man muss es nur wollen. Das hat der russische
Präsident mehrmals betont. Zweitens gibt es eine Jamal-Europa-Pipeline, die
durch das polnische Territorium führt. Warschau hat den Gastransport
gestoppt, aber die Infrastruktur ist weiterhin intakt. Letztendlich gibt es
eine Transitroute durch die Ukraine. Zunächst hat Kiew eine der beiden
Gasleitungen dicht gemacht. Jetzt erklärt die ukrainische Regierung, sie
habe keine Absicht, den bald auslaufenden Transitvertrag zu verlängern.
Technisch sind Gaslieferungen also möglich, der politische Wille ist jedoch
nicht vorhanden. Ein Beispiel dafür sind die stockenden Ermittlungen zu den
Terroranschlägen auf die beiden Nord-Stream-Pipelines, die vor allem die
deutschen und russischen Interessen beeinträchtigt haben. Bedenken Sie:
Über Nordstream 1 wurden mehr als 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr
nach Deutschland geliefert und über Nordstream 2 wäre noch einmal die
gleiche Menge in Ihr Land geströmt. Es wäre ein großer Vorteil für den
Industriestandort Deutschland gewesen.
*DWN:* *Die deutsche Bundesregierung erklärt hingegen, Russland bzw.
„Gazprom“ habe den Gashahn bereits vor der Sprengung der Pipelines de facto
zugedreht. Können Sie dem zustimmen? *
*Botschafter Netschajew:* Natürlich nicht. Sie sprechen über eine Episode,
zu der es seitens Gazprom mehrmals ausführliche Erläuterungen gegeben hat.
Kurzum, Nord Stream 1 konnte damals nur begrenzt genutzt werden, weil nur
eine der insgesamt sechs Siemens-Turbinen auf der Verdichterstation
Portowaja in Betrieb war. Die anderen mussten repariert und planmäßig
gewartet werden. Siemens Energy hat aber nur eine der Turbinen repariert
und dabei die Vertrags- und Garantiebedingungen verletzt, indem die Turbine
aus seiner Werkstatt in Kanada nicht direkt nach Russland, sondern nach
Deutschland verschickt wurde. Tatsache ist, dass Russland seine
Vertragspflichten in Bezug auf die Gaslieferungen immer voll eingehalten
hat. Das kann niemand bestreiten.
Letztendlich wurde Deutschland gezwungen, auf die langjährige, gegenseitig
nutzbringende Energiepartnerschaft mit Russland zu verzichten. Dabei wurde
den Deutschen versprochen, die Gaslieferungen aus Russland würden durch LNG
aus den USA ersetzt werden. Das ist teuer und umweltschädlich. Jetzt treten
aber auch damit Probleme auf. Doch es war nicht unsere Entscheidung.
Inwieweit sie dem gesunden Menschenverstand und den nationalen Interessen
Deutschlands entspricht, ist eine andere Frage, die jemand anderer
beantworten müsste.
*DWN:* *Die Lieferung der Siemens-Turbine aus Kanada nach Deutschland und
nicht nach Russland erfolgte aus Sorge, man könne gegen Sanktionen
verstoßen, die der Westen gegen Russland verhängt hat. Wie kommt Ihr Land
denn generell mit diesen Sanktionen klar?*
*Botschafter Netschajew:* Die Idee der westlichen Politiker, die russische
Wirtschaft mit all diesen illegalen Sanktionen zu „zerfetzen“, war von
Anfang an zum Scheitern verdammt. Unserer Wirtschaft geht es gut. Sie hat
sich an die neuen Umstände konsequent angepasst. Beispiel Bausektor: Im
letzten Jahr wurden in Russland 110 Millionen Quadratmeter Wohnfläche durch
den Bau neuer Wohnungen geschaffen und in diesem Jahr rechnen wir mit einem
ähnlichen Erfolg. Auch der Landwirtschaft geht es bestens. Im letzten Jahr
haben wir eine Rekordweizenernte eingefahren. Unsere Überschüsse können wir
exportieren oder in einigen Fällen auch an Länder des globalen Südens
verschenken. Die Produktvielfalt hat ebenfalls zugenommen und die Qualität
der Produkte lässt nichts mehr zu wünschen übrig.
Ich will nicht sagen, dass uns die Sanktionen anfänglich nicht auch ein
paar Probleme bereitet hätten – die aber haben wir inzwischen gelöst. Die
Nischen westlicher Unternehmen, die auf Forderung der Politiker, den
günstigen russischen Markt verlassen haben, werden vom russischen Business
sowie befreundeten Staaten erfolgreich neubesetzt. Einheimische Produzenten
beseitigen die Defizite effizient. Notwendige Importe aus westlichen
Ländern konnten wir durch Einfuhren aus anderen Ländern problemlos ersetzen
– und in diese Richtung strömt jetzt auch vermehrt unser Öl und unser Gas.
Unser Bruttoinlandsprodukt ist im letzten Jahr um 3,6% gestiegen. Russland
ist gemessen an der Kaufkraftparität inzwischen die fünftgrößte
Volkswirtschaft der Welt und sie wird sich weiter diversifizieren und
weiterhin wachsen.
*DWN:* *In Deutschland und dem Westen wird der russische Einmarsch in die
Ukraine als „unprovozierter Angriffskrieg“ bezeichnet. Mögen Sie unseren
Lesern die russische Sichtweise der Geschehnisse darlegen?*
*Botschafter Netschajew:* Es ist verwunderlich, dass so eine Frage nach
mehr als zwei Jahren Militäroperation in der Ukraine gestellt wird. Der
Präsident der Russischen Föderation, der russische Außenminister sowie
andere Regierungsvertreter haben mehrmals detailliert die Zusammenhänge von
Geschehnissen in der Ukraine dargelegt. Die Antworten auf alle Fragen sind
frei zugänglich. Unter anderem im jüngsten Interview von Wladimir Putin mit
dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson.
Zu den heutigen Entwicklungen in der Ukraine wäre es niemals ohne die
konsequente Politik des Westens, insbesondere der USA, gekommen. Die NATO
mit ihrer Infrastruktur wurde kontinuierlich nach Osten ausgedehnt,
entgegen allen Zusagen und bekannten Versprechen. Unsere grundlegenden
Sicherheitsinteressen wurden missachtet und ignoriert. Es wurde auch nach
dem Ende des Kalten Krieges aktiv versucht, Russland dauerhaft zu schwächen
und zu destabilisieren. Das lässt sich nicht bestreiten.
Im Rahmen dieser Politik wurde die Ukraine systematisch darauf vorbereitet,
ihre engen Verbindungen mit Russland zu kappen, auf den eigenen
Neutralitätsstatus zu verzichten und der NATO beizutreten. Auf diesem Weg
gab es mehrere Stationen. Damit meine ich unter anderem die vom Westen
vorbereiteten und gut bezahlten „Farbrevolutionen”. Es sollten in Kiew neue
“Eliten” an die Macht kommen, deren Hauptaufgabe darin bestand,
Russenfeindlichkeit in der Gesellschaft zu verbreiten, den ukrainischen
Nationalismus zu schüren und Andersdenkende zu unterdrücken. Die
ukrainische Zukunft sollte dabei nur und ausschließlich mit dem Westen
verbunden sein. Der Höhepunkt dieser Fehlentwicklung war der sogenannte
Maidan, der von den USA finanziert wurde und im Februar 2014 in einen
blutigen Staatsstreich mündete. Das passierte direkt nach der
Unterzeichnung einer Vereinbarung zur Lösung der politischen Krise zwischen
dem Präsidenten der Ukraine Janukowitsch und den Oppositionsführern. Die
Hohen Vertreter aus Deutschland, Frankreich und Polen haben als Vermittler
den Putsch nicht verurteilt und nicht zur Aufrechterhaltung der
verfassungsmäßigen Ordnung in der Ukraine aufgerufen. Der Staatsstreich
wurde von Nationalisten und Neonazis unter russenfeindlichen Parolen
angeführt. Die Situation ist über den rechtlichen Rahmen hinausgegangen.
Der legitime Präsident wurde verfolgt und musste fliehen. Im Donbass und in
anderen Teilen der russischsprachigen Ukraine kam es zu blutigen
Auseinandersetzungen. Ein innerstaatlicher Konflikt brach aus.
Später stellte es sich heraus, dass Kiew und seine westlichen Schirmherren
auch das Minsker Abkommen, das das Blutvergießen stoppen und dem Donbass
einen Sonderstatus innerhalb der Ukraine verleihen sollte, dazu
missbrauchten, für die Ukraine Zeit zu gewinnen, sie mit Waffen
vollzupumpen sowie die ukrainischen Streitkräfte auf einen Krieg
vorzubereiten. Dies haben übrigens die deutschen und französischen
Vermittler im Nachhinein offen eingestanden.
Wolodymyr Selenskyj, der sich als Gegenpol zum prowestlich orientierten
Petr Poroschenko während der Wahlkampagne präsentierte und mit den Stimmen
der russischsprachigen Regionen der Ukraine an die Macht gekommen war,
versprach, den Konflikt schnell beizulegen und die Interessen der
russischsprachigen Bevölkerung zu verteidigen. Jedoch hat er die Menschen
schlichtweg verraten, indem er dann den Russen selbst das Recht
verweigerte, im eigenen Land als Stammvolk bezeichnet zu werden. Er
versuchte, alles zu zerstören, was unsere Brudervölker jahrhundertelang eng
miteinander verbunden hatte: die gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte,
Traditionen und sogar den Glauben. Die Andersdenkenden wurden verfolgt. Der
Willkür der Neonazi-Bataillone stand er ohnmächtig gegenüber und setzte den
früheren Kurs hin zu einem NATO-Beitritt der Ukraine gehorsam fort. Denn
das haben die Drahtzieher aus Übersee von ihm verlangt.
Glauben Sie wirklich, dass all das die nationalen Interessen und die
Sicherheit Russlands auf keine Weise beeinträchtigt hat? Die Ziele unserer
Spezialoperation sind klar: wir müssen den blutigen Konflikt beenden, den
Kiew 2014 gegen den Donbass entfesselte, die Wurzeln des Neonazismus in der
Ukraine ausrotten und die Sicherheit Russlands gewährleisten, indem die
Ukraine entmilitarisiert wird und zu ihrem ursprünglichen blockfreien
Status zurückkehrt. Diese Ziele hätten noch im Frühling 2022 erreicht
werden können. Nach einigen Gesprächsrunden war Kiew bereit, ein Abkommen
zu unterzeichnen, aber eine friedliche Lösung war nicht Teil der westlichen
Pläne. Und wir sehen, dass dies auch heute nicht der Fall ist.
*DWN:* *Kürzlich wurde dem russischen Sender RT der Mitschnitt eines
Telefongesprächs zugespielt, in dem hochrangige Bundeswehroffiziere einen
möglichen Angriff auf die Kertsch-Brücke mit Taurus-Raketen diskutieren.
Lässt sich die Eskalationsspirale noch aufhalten?*
*Botschafter Netschajew:* Zunächst einmal: Ohne Beteiligung der
NATO-Mitgliedstaaten wäre dieser Konflikt längst beendet worden. Kiew ist
heute auf die Lieferungen von westlichen Waffen, Militärtechnik und
Munition sowie die Finanzierung, Satellitenbilder,
Geheimdienstinformationen, Militärberatung völlig angewiesen. Schon lange
gibt es in der Ukraine nichts außer Soldaten. Doch auch diese Ressourcen
sind begrenzt.
Und es ist natürlich besorgniserregend, dass hochrangige Vertreter der
Luftwaffe mögliche Lieferungen von Marschflugkörper Taurus an die
ukrainischen Streitkräfte besprechen, sowie eventuelle Hilfe bei deren
Einsatz gegen Ziele in Russland, einschließlich Objekte ziviler
Infrastruktur. Das beweist ein weiteres Mal, dass Berlin in den
Ukraine-Konflikt tiefer verwickelt ist als es offiziell zugeben möchte. Wir
haben diesbezüglich von der deutschen Seite eine offizielle Erklärung
gefordert.
*DWN:* *Was – und bis wann – möchte Russland in der Ukraine konkret
erreichen und droht nach einem Ende des Konflikts ein Rückfall in die
Zeiten des Kalten Krieges?*
*Botschafter Netschajew:* Die Ziele der Militäroperation habe ich bereits
erwähnt. Ihre Dauer hängt von mehreren Faktoren ab. Unter anderem davon,
wie schnell der kollektive Westen begreift, dass seine Linie, Russland eine
„strategischen Niederlage“ zuzufügen und die grundlegenden Interessen
Russlands zu ignorieren, in eine Sackgasse führt.
Was die Rückkehr zu den Zeiten des Kalten Krieges angeht, ist die heutige
Situation meiner Meinung nach viel gefährlicher als damals. Frühere
Generationen hatten den Zweiten Weltkrieg noch gut in Erinnerung. Sie
verstanden, dass die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen zwei
Systemen absolut real war. Viele heutige Politiker im Westen, die s.g.
„neuen Eliten“, sind sich hingegen sicher, dass sie noch lange den Einsatz
in ihrer Konfrontation mit Russland erhöhen können. Es ist
verantwortungslos und bringt die Gefahr mit sich, dass die Situation aus
dem Ruder läuft.
*DWN:** Einflussreiche Intellektuelle in Russland wie Sergey Karaganov
befürworten eine Abkehr Russlands vom Westen und eine Hinwendung nach
Eurasien. Finden seine Überlegungen Widerhall in der russischen Politik? *
*Botschafter Netschajew:* Russland ist eine eurasische Großmacht und ein
Zivilisationsstaat, ein Land mit vielen Völkern und Religionen. Wir sind in
alle Himmelsrichtungen offen. Wir werden uns jedoch nicht unterordnen
lassen und niemanden kopieren. Denn unser historischer Pfad ist
einzigartig. Die russische Interessensphäre beschränkt sich nicht auf
Eurasien. Wir haben gute Beziehungen zu den Ländern Asiens, Afrikas, des
Nahen Ostens, Lateinamerikas. Wir schränken uns in unseren Kontakten nicht
ein. Der Bruch mit dem Westen erfolgte auch nicht auf unsere Initiative,
aber ließ uns daraus bestimmte Schlüsse ziehen und so manche Illusionen
verwerfen.
*Zur Person:*
*Sergej J. Netschajew, Jahrgang 1953, ist Absolvent der Moskauer
staatlichen Lomonossow-Universität und der Diplomatischen Akademie des
Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. Seit 1977 ist er im
diplomatischen Dienst tätig: Von 1977 bis 1980 war er Mitarbeiter der
Botschaft der UdSSR in der DDR, von 1982-1986 Mitarbeiter des
Generalkonsulats der UdSSR in Erdenet, Volksrepublik Mongolei und in den
Jahren 1992-1996 sowie 1999-2001 Mitarbeiter der Botschaft der Russischen
Föderation in der Bundesrepublik Deutschland. 2001-2003 war Netschajew
Generalkonsul der Russischen Föderation in Bonn, Bundesrepublik
Deutschland, 2010 bis 2015 Botschafter der Russischen Föderation in der
Republik Österreich, 2015 bis 2018 Direktor des Dritten Europäischen
Departements des Außenministeriums der Russischen Föderation. Am 10. Januar
2018 wurde er per Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation zum
Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland
ernannt.* *Sergej J. Netschajew hat den diplomatischen Rang des
außerordentlichen und bevollmächtigten Botschafters, ist verheiratet und
hat einen erwachsenen Sohn.*
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Termine: <https://www.nachdenken-in-berlin.de/termine>
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.