Economists for Future Was sind die Grenzen von Staatsschulden?
Die derzeit geltenden rechtlichen Begrenzungen von Staatsverschuldung basieren auf Mythen, die nicht ökonomisch fundiert sind. Sinnvoller wäre es, die Schuldenaufnahme so zu gestalten, dass sie die ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen respektiert.
Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Mittendrin: die Wirtschaft. In den nächsten Jahren wird sich entscheiden, ob wir den Wandel by disaster oder by design schaffen.
Diese Debattenreihe von Economists for Future e.V. widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen. Zum einen werden Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften sowie Leerstellen in der aktuellen Wirtschaftspolitik kritisch-konstruktiv beleuchtet. Zum anderen diskutieren wir Orientierungspunkte für eine zukunftsfähige Ökonomie und geben Impulse für eine plurale Ökonomik, die sozial-ökologische Notwendigkeiten angemessen berücksichtigt.
Die erste Ausgabe der Debattenreihe startete im September 2019. Die mittlerweile fünfte Staffel stellt nun den Aspekt der Grenzen in den Mittelpunkt – seien es planetare Grenzen und soziale Grundlagen, die Grenzen der Machbarkeit und der politischen Durchsetzbarkeit, die Grenzen ökonomischer Theorie oder (ver)altete Leitbilder, die Grenzen des Subjekts, des Raums oder der Zeit. Alle bisher erschienenen Beiträge finden Sie hier.
Das Thema Staatsausgaben und Schuldenbremse in Kombination mit den angeblichen Risiken einer zu hohen Staatsverschuldung ist in aller Munde. Die Debatten zum Bundeshaushalt 2024 und nicht zuletzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds haben gezeigt: Der aktuelle fiskalpolitische Rahmen stammt aus einer anderen Zeit und scheint den Herausforderungen von heute und morgen nicht mehr gerecht werden zu können. Das so dringend notwendige Geld scheint an allen Ecken und Enden zu fehlen. Was steckt dahinter?
Die Art und Weise, wie und in welcher Höhe Staatsausgaben bzw. Staatsschulden begrenzt werden, hat starke Auswirkungen sowohl auf unseren Alltag als auch auf unsere Zukunftsaussichten und das Leben junger Generationen. Klar ist: „Eine zukunftsfähige Finanzpolitik lässt sich nicht von der Angst vor Staatsverschuldung leiten, sondern investiert in unsere Zukunft” (Mühlbach, 2022). Dabei ist nicht nur die Angst vor einer zu hohen Staatsverschuldung in Deutschland unverhältnismäßig. Die derzeit geltenden rechtlichen Begrenzungen von Staatsverschuldung, die als Maß herangezogen werden, sind in Wahrheit fiktiv. Sie basieren nicht auf der Realität, sondern auf Mythen, die nicht ökonomisch fundiert sind und im Folgenden entkräftet werden. Gleichzeitig erschweren solche starren Grenzen den Umgang mit den zentralen Herausforderungen und multiplen Krisen unserer Zeit. Die aktuelle Schuldenbremse hat sich als Investitions- und Zukunftsbremse entpuppt.
Deshalb stellt sich die Frage, welche Grenzen von Staatsverschuldung es stattdessen gibt. Was ist knapp, wenn nicht das Geld? Welche realen Bedingungen unserer Wirtschaft, Gesellschaft und unseres Planeten begrenzen Staatsschulden tatsächlich? Dieser Artikel lädt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den aktuell gesetzten Grenzen der Staatsverschuldung ein und leistet einen Beitrag zur Debatte rund um die dringend notwendige Gestaltung einer zukunftsfähigen Finanzpolitik.
Die rechtlich geltenden Grenzen von Staatsschulden sind fiktiv
Staatsschulden grundsätzlich als absolute Größe zu begrenzen, macht wenig Sinn. Die sogenannte „Schulden-Uhr” vom Bund der Steuerzahler in Berlin gibt die absolute Höhe der Staatsverschuldung in Deutschland an. Wenn man davor steht, kann man beobachten, wie sich die digitale Anzeige stetig verändert. Doch die absolute Höhe der Staatsverschuldung ist wenig aussagekräftig. Die aktuell rechtlich geltenden Grenzen von Staatsschulden, sei es die Schuldenbremse oder sonstige Fiskalregeln, wie der EU-Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung, zielen darauf ab, öffentliche Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu begrenzen. Die sogenannte Staatsschuldenquote (kurz: “Schuldenquote”) gibt demnach das Verhältnis zwischen den Staatsschulden und dem nominalen BIP eines Landes an. Der Stand der öffentlichen Verschuldung wird entsprechend in Prozent angegeben.
Auf europäischer Ebene regelt der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), dass die Mitgliedstaaten ihr jährliches Haushaltsdefizit auf 3% des BIPs und ihre Verschuldung auf 60% des BIPs begrenzen müssen, also auf eine Schuldenquote von maximal 60%. Das sind die sogenannten Maastricht-Kriterien. Darüber hinaus verpflichtet der SWP zur Einhaltung des sogenannten mittelfristigen Haushaltsziels („Medium-Term Objective”, MTO). Bei einer Schuldenquote von über 60% ist demnach ein maximales strukturelles Defizit in Höhe von 0,5% des BIPs vorgesehen. Das strukturelle Defizit soll konjunkturelle Faktoren herausrechnen, die von der jeweiligen Wirtschaftsperiode bzw. Konjunktur eines Landes abhängen, also von Aufschwung oder Rezession. Bei einer Schuldenquote von unter 60% ist ein strukturelles Defizit in Höhe von 1% des BIPs zulässig. Zum Verständnis: Die oben genannten 3% aus den Maastricht-Kriterien beziehen sich auf das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit, also sowohl auf strukturelle als auch auf konjunkturelle Faktoren.
In Deutschland werden die 0,5% auf 0,35% für den Bund (+/- Konjunkturkomponente) und 0,15% für die Bundesländer aufgeteilt, wobei diese auf „ihren Anteil” verzichten. Somit ist die strukturelle Staatsverschuldung bzw. die Nettokreditaufnahme für den Bund auf 0,35% des BIPs begrenzt. Diese „Schuldenbremse” ist in Artikel 109 im Grundgesetz verankert (Bundesministerium der Finanzen, 2022). Im Umkehrschluss müssen die im Bundeshaushalt veranschlagten Ausgaben nahezu vollständig durch zuvor „erwirtschaftete” Einnahmen, insbesondere Steuereinnahmen, gedeckt werden. Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzierungslage erheblich beeinträchtigen, kann vom Bundestag ein Aussetzen der Schuldenbremse beschlossen werden. So wurde die Schuldenbremse im Zuge der Corona-Pandemie ausgesetzt und die Obergrenze für die strukturelle Nettokreditaufnahme überschritten. Seit 2023 ist sie wieder in Kraft und viele notwendige Ausgaben müssen nun aus sogenannten Schattenhaushalten finanziert werden.
Dass diese nationalen und europäischen Schuldenbremsen die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP betrachten, wird in der Regel ökonomisch begründet, ist allerdings nicht ökonomisch fundiert. Im Folgenden wird erläutert, warum die Notwendigkeit von starren Schuldenquoten-Grenzen, die anhand ökonomischer Zusammenhänge gerechtfertigt werden, nicht mit der Empirie übereinstimmt. Somit stellen sich die oft herangezogenen Begründungen für die geltenden Schuldengrenzen als Mythen heraus. Eine Schuldenquote von maximal 60% als allgemeines Kriterium für die sogenannte Schuldentragfähigkeit eines Landes ist wenig sinnvoll, wenn man berücksichtigt, dass die Höhe der Schuldenquote je nach Volkswirtschaft eine ganz unterschiedliche Bedeutung und Aussagekraft hat. Ein anderes bereits überholtes Argument lautet, dass eine niedrige Schuldenquote die Inflation begrenzt und somit für Preis- und Finanzstabilität sorgt. Das Beispiel von Japan mit einer Schuldenquote von 261% im Jahr 2022 verdeutlicht, dass diese Argumentationslinie in der Realität nicht haltbar ist.
Dass durch eine erhöhte Geldmenge Inflation entsteht, ist ein Mythos, der auf der „Geldmengentheorie” basiert. Nach dieser Theorie führt eine höhere Geldmenge, verteilt auf eine unveränderte Anzahl an Gütern, zu höheren Preisen der einzelnen Güter. Doch spätestens im Zuge der Krisen der letzten Jahre hat sich das Gegenteil gezeigt: Einerseits blieben die Inflationsraten trotz expansiver Geldpolitik im Sinne der „whatever it takes”-Logik niedrig. Andererseits steht die aktuelle Inflation nicht im direkten Zusammenhang mit der Geldmenge, sondern unseren fossilen Abhängigkeiten (cost-push inflation) in Kombination mit dysfunktionalen Märkten (sellers’ inflation, Kraken et al., 2023). Höhere Staatsschulden selbst wirken nur dann inflationär, wenn damit inflationär wirkende Ausgaben finanziert werden, sonst nicht.
Auch als Indikator für die Höhe von Finanzierungskosten hat sich die Schuldenquote nicht bewährt. Inmitten eines Niedrigzinsumfeldes ist die Staatsverschuldung der EU-27 seit 2019 gestiegen (Bundeszentrale für Politische Bildung, 2023). Fernab jeglicher ökonomischer Fundierung war die Schuldenquote von 60% zum Zeitpunkt der Verabschiedung des SWP der damalige Durchschnitt der Schuldenquoten der Mitgliedstaaten.
Die ökonomischen Begründungen für die beschriebenen Einschränkungen von Staatsschulden stoßen an ihre Grenzen. Gleichzeitig haben sie weitreichende Konsequenzen, denn Schulden und Investitionen sind im Grunde zwei Seiten einer Medaille. So verbergen sich hinter niedrigen Schuldenständen aktuell hohe Investitionsstaus, die vor allem drohen, sich als Zukunftshemmnisse herauszustellen.
Klar ist, dass der Umbau einer fossilen Wirtschaft hin zu Klimaneutralität und alle weiteren Herausforderungen im Zusammenhang mit der sozial-ökologischen Transformation mit hohen Finanzierungsbedarfen einhergeht. Diese kommen zu den ohnehin hohen Investitionsbedarfen in Deutschland dazu. Außerdem ist die weitere Verschiebung dieser Investitionen in die Zukunft – zur Einhaltung fiktiver Grenzen – mit noch viel höheren Kosten z.B. Klimafolgekosten verbunden (Flaute et al., 2022). Diese werden insbesondere junge Generationen zu spüren bekommen. Daher gilt es, die aktuell geltenden, fiktiven Grenzen der Staatsverschuldung zu überarbeiten und sich an den realen Gegebenheiten zu orientieren bzw. „den rechtlichen Spielraum der Schuldenaufnahme an den ökonomisch sinnvollen Spielraum anzupassen” (Mühlbach, 2022).
Die Begrenzung von Staatsschulden durch reale Bedingungen
Die bisher geltenden Grenzen von Staatsschulden bilden die realen Bedingungen unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt nicht ab. Deshalb liefern wir im Folgenden Anknüpfungspunkte für eine sinnvollere Begrenzung von Staatsverschuldung. Einer davon ist die Leistungsfähigkeit oder das Wachstumspotenzial der Wirtschaft. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie „Leistung” oder auch „Wachstum” definiert wird. Mathematisch betrachtet kann eine niedrigere Schuldenquote auch erreicht werden, indem man „aus den Schulden herauswächst”: Wenn das BIP steigt, verändert sich automatisch das Verhältnis zwischen Staatsschulden und BIP, und die Schuldenquote sinkt. Doch schon seit der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums” (Meadows, 1972), und spätestens mit der aktuellen Wirtschaftskrise und Konjunkturflaute sind die Grenzen des BIP-Wachstums offensichtlich. Es wäre ohnehin besser, Staatsschulden in Zukunft nicht im Verhältnis zum BIP zu betrachten, sondern im Verhältnis zu einem alternativen Wachstums- bzw. Wohlstandsverständnis, welches die sozialen und ökologischen Grenzen respektiert.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die Idee der Vollbeschäftigung, was wiederum stark mit unseren gesellschaftlichen Strukturen zusammenhängt. Zum Beispiel arbeiten viele Frauen „nur” in Teilzeit, weil (unbezahlte) Care-Arbeit immer noch stark ungleich verteilt ist. Klassische MMTler:innen (Modern Monetary Theory) plädieren für eine Begrenzung von Staatsschulden anhand der Verfügbarkeit tatsächlicher Ressourcen, in diesem Fall der Verfügbarkeit menschlicher Ressourcen für Arbeit, und nicht anhand der Finanzierbarkeit. Sie argumentieren, dass erst bei einer Vollauslastung der Wirtschaft – also Vollbeschäftigung – neue Staatsausgaben nicht mehr von der Wirtschaft „absorbiert” bzw. konstruktiv genutzt werden können, und erst dann den Inflationsdruck erhöhen.
Die grundlegendsten Grenzen von Staatsverschuldung sind jedoch die sozialen und ökologischen bzw. planetaren Grenzen. Olk, Schneider und Hickel (2023) ergänzen die klassische MMT: “we suggest integrating insights from degrowth scholarship into MMT, where social and ecological limits to economic activity still constitute a blind spot”. Das ist eng damit verbunden, wofür, und nicht nur in welcher Höhe, Staatsschulden aufgenommen und ausgegeben werden – Schulden sind nicht per se „gut” oder „schlecht”.
Entgegen den oben aufgeführten Mythen erklärt eine differenzierte Perspektive, dass der sinnvolle Einsatz von Staatsschulden z.B. in resilientere Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen sogar Inflationsdruck abbmildern kann und v.a. ökonomisch sinnvoller ist. Frühzeitige, ausreichende und gezielte Investitionen in resilientere Strukturen zahlen sich langfristig aus und können uns sogar – jetzt noch – vor vermeidbar hohen Kosten bewahren. „Instead of ‘deficit reduction’ or interest rate hikes, the solution to these inflationary pressures likely involves larger targeted deficit spending alongside improved public-private coordination” (Bernal, 2021, S. 13). Diese Logik rechtfertigt auch die Forderung nach einer entsprechenden Investitionsagenda (z.B. Isabella Weber, 2023).
Fazit
Übersetzt in eine politische Anwendbarkeit könnte das bedeuten, die Schuldenaufnahme eines Landes so zu gestalten, dass alle notwendigen Investitionen getätigt werden, welche die ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen nicht überschreiten und gleichzeitig ein menschliches Leben auf der Erde innerhalb planetarer Grenzen gewährleisten. Dabei ist klar, dass die Begrenzung von Staatsschulden allein kein Selbstzweck für eine „gute” Haushaltsführung ist.
Zu den Autor:innen:
Carolina Ortega Guttack hat in Wien Social-Ecological Economics and Policy und zuvor Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft in Lüneburg und Paris studiert. Sie war im Netzwerk Plurale Ökonomik aktiv und arbeitet bei FiscalFuture.
Carl Mühlbach hat Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Cambridge und Berlin studiert. Neben einer Tätigkeit im Bundesministerium der Finanzen hat er FiscalFuture gegründet und leitet die überparteiliche Initiative als Geschäftsführer.
Tung Doan studierte Volkswirtschaftslehre und Public Economics in Mannheim und Berlin. Als Gründungsmitglied baute er FiscalFuture mit auf. Mittlerweile arbeitet er hauptamtlich für die Initiative und ist für die Finanzen zuständig.
Zu FiscalFuture:
FiscalFuture ist eine überparteiliche und gemeinnützige Initiative, die sich für eine zukunftsfähige Finanzpolitik einsetzt. Wir machen Finanzpolitik zugänglich, indem wir finanzpolitisches Wissen vermitteln und junge Menschen dafür begeistern, den finanzpolitischen Diskurs mitzugestalten. Unser deutschlandweites Netzwerk engagiert sich für eine Finanzpolitik, die die Interessen zukünftiger Generationen in den Mittelpunkt stellt.
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.
Weiteres:
Öffentlicher Schuldenstand
bpb.de, vom 16.06.2023
In Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), ausgewählte Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 1996 bis 2022
Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Defizit/Überschuss, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten (Stand: 05/2023) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Vor allem Krisen wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 oder die Corona-Pandemie führten zu einer Erhöhung der öffentlichen Schulden der Mitgliedstaaten der EU. Allerdings gingen die Schulden bezogen auf das BIP zwischen 2014 und 2019 fünf Mal in Folge zurück – insgesamt in 23 von 27 EU-Staaten. Und auch nach dem Höhepunkt der Corona-Pandemie sank der relative Schuldenstand der EU-27.
Fakten
In Artikel 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist festgelegt, dass die Mitgliedstaaten der EU übermäßige öffentliche Defizite vermeiden sollen. Dabei überprüft die Europäische Kommission die Entwicklung der Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstands. Insbesondere zwei Kriterien stehen im Mittelpunkt der Überprüfung. Erstens darf das jährliche öffentliche Defizit nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprechen. Zweitens darf der gesamte öffentliche Schuldenstand nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen. Allerdings bestehen für beide Kriterien Ausnahmen. So darf der öffentliche Schuldenstand mehr als 60 Prozent des BIP entsprechen, wenn er hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert.
Bezogen auf das BIP sanken die öffentlichen Schulden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union von Mitte der 1990er- bis Anfang der 2000er-Jahre. Im Euroraum reduzierten sich die Schulden zwischen 1997 und 2002 stetig von 72,8 auf 68,0 Prozent. In der EU-27 lag der Schuldenstand im Jahr 2002 bei 65,4 Prozent. Nachdem sich der Schuldenstand der EU-27 von 2007 auf 2008 moderat von 62,3 auf 65,0 Prozent des BIP erhöhte, stieg der entsprechende Wert – vor allem bedingt durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise – auf 75,7 Prozent im Jahr 2009 bzw. auf 80,4 Prozent im Jahr 2010.
Auch wenn die Entwicklungen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich waren, hat sich der Schuldenstand in den Jahren 2008 bis 2010 in allen EU-Staaten erhöht. Am stärksten in Irland (+43,7 %-Punkte), Griechenland (+38,1 %-Punkte), Lettland (+29,1 %-Punkte) und Portugal (+24,6 %-Punkte). In den Folgejahren weitete sich die Schuldenkrise Europas weiter aus: Zwischen 2010 und 2014 erhöhte sich der Schuldenstand der EU-27 von 80,4 auf 86,9 Prozent des BIP – ein Plus von 6,5 Prozentpunkten. In diesem Zeitraum stiegen die öffentlichen Schulden im Verhältnis zum BIP in 22 der heutigen 27 EU-Staaten.
Zwischen 2014 und 2019 ist der relative Schuldenstand der EU-27 fünf Mal in Folge gesunken. 2019 lag er bei 77,7 Prozent des BIP. In diesem Zeitraum war der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP in 23 EU-Mitgliedstaaten rückläufig – lediglich in Frankreich nahm er nennenswert zu (+2,5 %-Punkte). Bezogen auf das BIP verringerten sich die Schuldenstände zwischen 2014 und 2019 am stärksten in Irland (-47,3 %-Punkte), Malta (-21,8 %-Punkte), den Niederlanden (-19,4 %-Punkte), Zypern (-18,0 %-Punkte), Portugal (-16,3 %-Punkte) und Deutschland (-15,7 %-Punkte).
Trotz der positiven Entwicklung in den Jahren 2014 bis 2019 war die Schuldenkrise in Europa auch vor der Corona-Pandemie nicht vollständig überstanden: Im Jahr 2019 verfehlten immer noch zwölf Staaten die 60-Prozent-Marke. Und um die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie im Jahr 2020 zu mildern, wurden zahlreiche Investitionen getätigt bzw. Hilfsprogramme finanziert. Der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP stieg von 2019 auf 2020 in allen 27 Staaten der EU – entsprechend erhöhte sich EU-weit der Schuldenstand sprunghaft von 77,7 auf 90,0 Prozent des BIP. Allerdings reduzierte sich der relative Schuldenstand von 2021 und 2022 in 23 von 27 EU-Staaten – EU-weit ging der Schuldenstand von 88,0 auf 84,0 Prozent des BIP zurück. In absoluten Zahlen nahm der Schuldenstand der EU-27 von 2019 auf 2020 von 10.895 auf 12.119 Milliarden Euro zu und stieg dann bis zum Jahr 2022 weiter auf 13.273 Milliarden Euro.
In Griechenland lag der öffentliche Schuldenstand im Jahr 2022 bei 171,3 Prozent des BIP. Darauf folgten Italien (144,4 Prozent des BIP), Portugal (113,9 Prozent), Spanien (113,2 Prozent), Frankreich (111,6 Prozent) und Belgien (105,1 Prozent). Weitere sieben Staaten verfehlten die 60-Prozent-Marke ebenfalls: Zypern, Österreich, Ungarn, Finnland, Slowenien, Kroatien und Deutschland. Im Jahr 2022 lag der Schuldenstand in Deutschland bei 2.563 Milliarden Euro – 66,3 Prozent des BIP. 2019 entsprach der Schuldenstand in Höhe von 2.069 Milliarden Euro noch 59,6 Prozent des BIP und lag damit das erste Mal seit 2002 unterhalb der 60-Prozent-Marke. In Estland lag der Schuldenstand im Jahr 2022 bei lediglich 18,4 Prozent des BIP. Darauf folgten Bulgarien (22,9 Prozent), Luxemburg (24,6 Prozent), Dänemark (30,1 Prozent), Schweden (33,0 Prozent) sowie Litauen und Lettland (38,4 bzw. 40,8 Prozent).
Durch die Schuldenstände entstehen vor allem dann Probleme, wenn Staaten trotz hoher Schuldenquote zusätzliche Kredite aufnehmen. Laut der Deutschen Bundesbank gehören dazu "die potenzielle Verdrängung privater Investitionen, Unsicherheiten und Verzerrungen durch erwartete oder tatsächliche künftige Erhöhungen der Abgabenlast oder merkliche Risikoprämien auf den Kapitalmärkten infolge verstärkter Sorgen um die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. Darüber hinaus dürfte bei hohen Schuldenquoten die Wirksamkeit gezielter kreditfinanzierter Maßnahmen zur Abwehr von besonders schweren Krisen zunehmend begrenzt sein. Zudem erhöht sich die Gefahr von Konflikten zwischen Finanz- und Geldpolitik, die gravierende gesamtwirtschaftliche Kosten zur Folge haben, während umgekehrt solide Staatsfinanzen eine stabilitätsorientierte Geldpolitik erleichtern" (Deutsche Bundesbank: Monatsbericht April 2010). Weiter führt die Staatsverschuldung zu Zinsausgaben und damit zu einer Verengung des staatlichen Handlungsspielraums.
Begriffe, methodische Anmerkungen oder Lesehilfen
Informationen zum öffentlichen Finanzierungssaldo erhalten Sie Interner Link: hier...
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden. Das BIP ist gegenwärtig das wichtigste gesamtwirtschaftliche Produktionsmaß.
EU-27 (ab 2020) bezieht sich auf die Zeit nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäische Union ("Brexit"). Zur EU-27 (ab 2020) gehören: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Soweit nicht anders erwähnt, ist im Text und bei der Grafik mit EU-27 die EU-27 (ab 2020) gemeint.
Euroraum (20 Länder): Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien und Zypern.
Weitere Informationen zur Entwicklung des Euroraums erhalten Sie Externer Link: hier…
Öffentlicher Schuldenstand In Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 1996 bis 2022
(Anm.: bei verkleinerter Ansicht besser lesbar)
1 EU-27 (ab 2020) bezieht sich auf die Zeit nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäische Union ("Brexit"). Öffentlicher Schuldenstand = Bruttoschuld des Staates (konsolidiert). Fußnote: 2 Abweichende Quelle bis einschließlich 1999: Eurostat: Online-Datenbank: Defizit/Überschuss, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten [gov_dd_edpt1] (Stand: 07/2013).
Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Defizit/Überschuss, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten (Stand: 05/2023)
Eurostat: Online-Datenbank: Defizit/Überschuss, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten (Stand: 05/2023), abweichende Quelle bei Dänemark bis einschließlich 1999: Eurostat: Online-Datenbank: Defizit/Überschuss, Schuldenstand des Staates und damit zusammenhängende Daten [gov_dd_edpt1] (Stand: 07/2013); Amtsblatt der Europäischen Union: Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (26. Oktober 2012); Deutsche Bundesbank: Monatsbericht April 2010; Statistische Bundesamt: www.destatis.de
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.