04.12.2022

Ex-Botschafter und Geheimdienstler aus Großbritannien: EU droht katastrophale Wirtschaftsentwicklung

meinungsfreiheit.rtde.life, vom 3 Dez. 2022 23:04 Uhr
Der RT-Moderator von "Going Underground", Afshin Rattansi, hat sich mit Alastair Crooke über die Krise in der EU unterhalten. Crooke ist ehemaliger britischer Diplomat, war kurzzeitig für den britischen Geheimdienst tätig. Er galt nicht nur dort als hochrangige Persönlichkeit, sondern auch in der EU-Diplomatie. Heute leitet er das von ihm gegründete und in Beirut ansässige Conflicts Forum.


Link zum Video https://vk.com/video-134310637_456260994  Dauer 4:49 min


Crooke meint, dass bezüglich der Krise in der EU der schlimmste Geheimdienstfehler unserer Ära begangen worden sei. Nämlich, dass man annahm, man könne Russland einfach wirtschaftlich zerschlagen. Tatsächlich habe die EU damit jedoch ihre eigene Selbstzerstörung eingeleitet und sich in eine doppelte Sackgasse manövriert. Während sie selbst ohne Energie dastehe, sorgten Entwicklungen in den USA dafür, dass die Industrien aus Europa abwanderten. Crooke warnt vor einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation, die entstehen werde.

Mehr zum Thema - Kalte Winter in Europa, oder: Der Plan B der USA

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Info: https://meinungsfreiheit.rtde.life/kurzclips/video/156247-ex-botschafter-und-geheimdienstler-aus


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

04.12.2022

Der globale Süden bringt ein neues bahnbrechendes Zahlungssystem hervor 

seniora.org, 04. Dezember 2022, Von Pepe Escobar 30. November 2022 - übernommen von thecradle.co Die Eurasia Economic Union fordert das westliche Währungssystem heraus und führt den globalen Süden zu einem neuen gemeinsamen Zahlungssystem, um den US-Dollar zu umgehen.


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Bildnachweis: Die Wiege

 
Die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) beschleunigt ihre Gestaltung eines gemeinsamen Zahlungssystems, das seit fast einem Jahr mit den Chinesen unter der Leitung von Sergey Glazyev , dem für Integration und Makroökonomie zuständigen Minister der EAWU, eng diskutiert wird.


Durch ihre Regulierungsbehörde, die Eurasische Wirtschaftskommission (EWG), hat die EAWU gerade einen sehr ernstzunehmenden Vorschlag an die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) übermittelt, die vor allem bereits auf dem Weg sind, sich zu wandeln BRICS+ : eine Art G20 des globalen Südens.


Das System wird eine einzige Zahlungskarte umfassen   – in direkter Konkurrenz zu Visa und Mastercard   –, die die bereits bestehende russische MIR, Chinas UnionPay, Indiens RuPay, Brasiliens Elo und andere zusammenführt.


Das wird eine direkte Herausforderung für das westlich entworfene (und durchgesetzte) Geldsystem darstellen, frontal. Und es folgt den BRICS-Mitgliedern, die ihren bilateralen Handel bereits in lokalen Währungen abwickeln und den US-Dollar umgehen.


Diese EAWU-BRICS-Union war lange im Entstehen   – und wird nun auch einen weiteren geoökonomischen Zusammenschluss mit den Mitgliedsstaaten der Shanghai Cooperation Organization (SCO) vorwegnehmen.


Die EAWU wurde 2015 als Zollunion von Russland, Kasachstan und Weißrussland gegründet, der ein Jahr später Armenien und Kirgisistan beitraten. Vietnam ist bereits ein Freihandelspartner der EAWU, und das kürzlich verankerte SCO-Mitglied Iran schließt ebenfalls ein Abkommen ab.

Die EAWU wurde entwickelt, um den freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Arbeitnehmerverkehr zwischen den Mitgliedsländern zu verwirklichen. Die Ukraine wäre ein Mitglied der EAWU gewesen, wenn nicht der Maidan-Putsch im Jahr 2014 gewesen wäre, der von der Barack Obama-Regierung geleitet wurde.


Wladimir Kowaljow, Berater des Vorsitzenden der EWG, fasste es gegenüber der russischen Zeitung „ Iswestija“ zusammen. Der Fokus liegt auf der Schaffung eines gemeinsamen Finanzmarktes, und die Priorität liegt auf der Entwicklung eines gemeinsamen „Austauschraums“: „Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht, und jetzt konzentriert sich die Arbeit auf Sektoren wie Banken, Versicherungen und den Aktienmarkt.“


Eine neue Regulierungsbehörde für das vorgeschlagene gemeinsame EEU-BRICS-Finanzsystem wird in Kürze eingerichtet.


Unterdessen hat die Handels- und Wirtschaftskooperation zwischen der EAWU und den BRICS allein in der ersten Hälfte des Jahres 2022 um das 1,5-fache zugenommen.

Der BRICS-Anteil am gesamten Außenhandelsumsatz der EAWU hat 30 Prozent erreicht, verriet Kovalyov auf dem BRICS International Business Forum am vergangenen Montag in Moskau:

„Es ist ratsam, die Potenziale der makrofinanziellen Entwicklungsinstitutionen der BRICS- und EAWU-Staaten, insbesondere der BRICS New Development Bank, der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), sowie nationaler Entwicklungsinstitutionen zu kombinieren. Dadurch können Synergieeffekte erzielt und synchrone Investitionen in nachhaltige Infrastruktur, innovative Produktion und erneuerbare Energiequellen sichergestellt werden.“

Hier sehen wir wieder einmal die fortschreitende Konvergenz nicht nur der BRICS und der EAWU, sondern auch der Finanzinstitute, die stark an Projekten im Rahmen der von China geführten Neuen Seidenstraßen oder Belt and Road Initiative (BRI) beteiligt sind.


Das Zeitalter der Plünderung stoppen

Als ob das alles nicht bahnbrechend genug wäre, erhöht der russische Präsident Wladimir Putin den Einsatz, indem er ein neues internationales Zahlungssystem auf der Grundlage von Blockchain und digitalen Währungen fordert.


Das Projekt für ein solches System wurde kürzlich auf dem 1. Eurasischen Wirtschaftsforum in Bischkek vorgestellt.


Auf dem Forum billigte die EAWU einen Abkommensentwurf über die grenzüberschreitende Platzierung und den Umlauf von Wertpapieren in den Mitgliedstaaten sowie geänderte technische Vorschriften.


Der nächste große Schritt besteht darin, die Tagesordnung für ein entscheidendes Treffen des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrates am 14. Dezember in Moskau zu organisieren. Putin wird dort sein   – persönlich. Und es gibt nichts, was er mehr lieben würde, als eine bahnbrechende Ankündigung zu machen.


All diese Schritte gewinnen noch mehr an Bedeutung, da sie mit dem schnell wachsenden, ineinandergreifenden Handel zwischen Russland, China, Indien und dem Iran in Verbindung stehen: von Russlands Bestreben, neue Pipelines für den chinesischen Markt zu bauen, bis hin zu Russland, Kasachstan und Usbekistan, die über eine Gasunion diskutieren sowohl für Inlandslieferungen als auch für Exporte, insbesondere zum Hauptkunden China.


Was sich langsam aber sicher herausbildet, ist das Gesamtbild einer unwiederbringlich zerbrochenen Welt mit einem dualen Handels-/Umlaufsystem: Das eine wird sich um die Überreste des Dollarsystems drehen, das andere wird aufgebaut, zentriert auf die Vereinigung von BRICS, EAEU, und SCO.


Weiter unten auf der Straße, die kürzlich von einem kitschigen Eurokraten-Chef geprägte erbärmliche Metapher: Der „Dschungel“ löst sich mit aller Macht vom „Garten“. Möge der Bruch andauern, da ein neues internationales Zahlungssystem   – und dann eine neue Währung   – darauf abzielen wird, das westlich zentrierte Zeitalter der Plünderung endgültig zu stoppen.


Pepe Escobar
Pepe Escobar

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die von The Cradle wider.

Quelle: https://thecradle.co/Article/Columns/18975

Mit freundlicher Genehmigung von TheCradle.co

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Info: https://seniora.org/politik-wirtschaft/geld-dollarkrise/der-globale-sueden-bringt-ein-neues-bahnbrechendes-zahlungssystem-hervor?acm=3998_1586

04.12.2022

Putins Heilmittel: Eine zersplitterte, zahnlose Ukraine, getrennt durch ein 100 Kilometer breites Niemandsland

globalresearch.ca,vom 01. Dezember 2022, Von Mike Whitney


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Thema:


Ausführlicher Bericht:


Zitat: „Es scheint wahrscheinlich, dass Russland eine Lösung durchsetzen wird. Wenn, wie erwartet, klar wird, dass der Westen nicht verhandeln kann oder will, wird es an Russland liegen, eine maximalistische Lösung umzusetzen. Oder Russland „handelt“, indem es zeigt, dass es in der Westukraine eine beliebig große Todeszone schaffen kann. Wenn die Ukraine und ihre US-Aufpasser nicht zur Besinnung kommen, wird diese tote Zone schrecklich groß sein.“ Yves Smith, Nackter Kapitalismus

Wie endet das?

Wie schafft Russland eine „neutrale“ Ukraine, die von Moskaus Feinden nicht bis an die Zähne bewaffnet ist?

Wie hindern sie Kiew daran, gemeinsame militärische Übungen mit der NATO durchzuführen oder Raketenstandorte an der Grenze zu Russland zu errichten?

Wie hindern sie die ukrainische Armee daran, ethnische Russen im Osten zu beschießen oder rechtsextreme Paramilitärs auszubilden, um so viele Russen wie möglich zu töten? Wie verwandelt Putin die Ukraine in einen guten Nachbarn, der keine Sicherheitsbedrohung darstellt und der keinen antirussischen Hass und Bigotterie schürt?

Und schließlich: Wie löst man den Konflikt friedlich, wenn eine Seite sich weigert, mit der anderen zu verhandeln? Schauen Sie sich diesen Clip aus einem Artikel bei Mint News an:

„Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Dienstag ein Dekret unterzeichnet, mit dem er offiziell die „unmögliche“ Aussicht auf Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ankündigte …

„Er (Putin) weiß nicht, was Würde und Ehrlichkeit sind. Deshalb sind wir bereit für einen Dialog mit Russland, aber mit einem anderen Präsidenten Russlands“, sagte Selenskyj am Freitag. ( Mint-Nachrichten)

Die Tatsache, dass Selenskyj nicht mit Putin verhandeln wird, bedeutet nicht, dass es keine Einigung geben wird. Es bedeutet nur, dass Selenskyj bei dem Ergebnis keine Stimme haben wird.

Als mächtigeres Land war es Russland immer möglich, eine Regelung durchzusetzen, die seine grundlegenden nationalen Sicherheitsziele erreicht, und genau das wird Putin tun.

Die Einigung wird weder ideal sein noch die Feindseligkeiten vollständig beenden, aber sie wird eine Schutzschicht vor Russlands Feinden bieten , die angesichts der Umstände das Beste ist, was man sich erhoffen kann.

Bedauerlicherweise wird der Vergleich auch die Existenz der Ukraine als lebensfähiger, zusammenhängender Staat beenden . Und – nachdem Russland seine spezielle Militäroperation beendet hat – wird die Ukraine einer düsteren Zukunft als deindustrialisiertes Ödland entgegensehen, das für sein Überleben vollständig von seinen Verbündeten im Westen abhängig ist.


Karte von John Helmer







































Karte von John Helmer

Hier ist ein Auszug aus einem Artikel des in Moskau ansässigen Journalisten John Helmer, der glaubt, dass die russische Armee in ihrer bevorstehenden Winteroffensive ein riesiges Gebiet der Zentralukraine räumen wird und dass ein Großteil dieses Landes Teil einer 100 Kilometer breiten demilitarisierten Zone werden wird (DMZ), die Russland vor ukrainischen Raketen- und Artillerieangriffen schützen wird. Wie Helmer anmerkt, ist das Modell für diese vom Militär aufgezwungene Regelung „der Waffenstillstand von Panmunjom vom 27. Juli 1953, der den Koreakrieg beendete …. Auf dem Boden innerhalb der UDZ (Ukraine Demilitarized Zone) gibt es möglicherweise keinen Strom, keine Menschen, nichts außer den Mitteln zur Überwachung und Durchsetzung der Waffenstillstandsbedingungen.


Hier noch mehr von Helmer:

Putins Vorschlaghammer

Militärische Quelle:…. Sobald die Zerstörung dieser Ziele abgeschlossen ist, werden die Überreste der Infrastruktur abgebaut und das Gebiet mit Sensorgeräten bepflanzt. Die Armeen werden dann einen schnellen, schrittweisen Rückzug hinter die russischen Linien beginnen, wo der Prozess der Befestigung und Verschanzung bereits begonnen hat.“

„Zivilisten und entwaffneten ukrainischen Truppen – mit Ausnahme der Ukro-Nazi-Einheiten – werden ein oder zwei Korridore zugewiesen, durch die sie die Zone verlassen dürfen. Sie sollten besser nicht trödeln.“…

Die Quellen stimmen darin überein, dass es vor dem Tauwetter im nächsten Frühjahr eine neue militärische Demarkationslinie geben wird ; Sie unterscheiden sich darin, wie es jetzt gezeichnet wird und wie es nächsten April aussehen wird. „Im Moment wird die Linie am Dnjepr verlaufen, wobei sich die Zone vom Westufer bis in die Rumpfukraine erstreckt – ich schätze, sie liegt in einer Tiefe von nicht weniger als 100 km. Dies wird russisches Territorium aus der Reichweite der meisten ukrainischen Artillerie bringen. Eine 100 km tiefe Zone wird den russischen Streitkräften auch Zeit geben, alles im Flug zu entdecken und abzufangen …

„Im nördlichen Sektor – das ist von Kramatorsk und Slowjansk bis Charkow … das sind Garnisonen und Aufmarschgebiete des Hasses an oder in der Nähe von Russlands Grenzen; sie werden nicht verschont bleiben … (und) haben sie für die Entelektrifizierung, Entvölkerung und Entnazifizierung qualifiziert.“


„Der zu betonende Punkt, insbesondere bei den russischen Operationen im Norden … wird kein Territorium erobern und halten. ... Es geht nicht darum, das Territorium dauerhaft zu besetzen, geschweige denn zu verwalten. Das Ziel wird es sein, Feinde zu zerstören, die ihre Köpfe erheben, und die Infrastruktur, auf die sie sich verlassen; Minen und Sensoren legen; und sich dann zurückziehen.“


„Sobald die zugewiesenen Transport- und Logistikknoten eingenommen wurden, beginnt die Aufgabe, sie durch Ingenieureinheiten zu zerstören. Brücken, Straßen, Eisenbahnen, Rangierbahnhöfe, rollendes Material, Flugplätze, Treibstofflager und Abgabestellen, Umspannwerke, Sende- und Kommunikationsmasten, Zentralbüros, Lagerhäuser, Liegeplätze, landwirtschaftliche Geräte – alles, was möglicherweise zur Unterstützung der ukrainischen NATO verwendet werden könnte Bemühungen östlich der Westgrenze der Zone werden zerstört. Das wird auch die Aufgabe der Bodentruppen sein – umfassender und gründlicher, als es Raketen- und Drohnenangriffe leisten können.“


„Zivilisten und entwaffnete Kämpfer ohne ihre motorisierte Ausrüstung dürfen die Zone zu speziell vorbereiteten Bussen (unter Aufsicht von Surovikin in Syrien) mit allem, was sie auf dem Rücken tragen können, verlassen …. Jeder, der sich dafür entscheidet, innerhalb der Zone zu bleiben, wird ausdrücklich per Funk, Flyer und Lautsprecher darüber informiert, dass er als feindlicher Kombattant gilt und entsprechend angegriffen wird. Nach einer vorgeschriebenen Zeitspanne werden die „goldenen Brücken“ für die austretende Bevölkerung zerstört . Für die Verbliebenen werden sie keine Stromversorgung, sanitäre Einrichtungen oder Kommunikation gehabt haben …“ ( „Ukraine Armistice – How the UDZ of 2023 will trennt the Armies like the Korean DMZ of 1953“ , John Helmer, Dances With Bears


Karte von John Helmer

Karte von John Helmer


Helmer bringt es auf den Punkt. Putin wird im Zentrum der Ukraine ein riesiges, unbewohnbares Niemandsland schaffen, das den Osten vom Westen trennen und die Existenz der Ukraine als lebensfähiger, zusammenhängender Staat beenden wird. So sieht eine vom Militär aufgezwungene Siedlung aus. Es ist nicht ideal und es beendet nicht unbedingt alle Kämpfe, aber es spricht Russlands grundlegende Sicherheitsanforderungen an, die Washington ignoriert hat.


Seien Sie versichert, dass Washington diese Regelung nicht mögen und den neuen Grenzen niemals zustimmen wird . Aber die Vereinigten Staaten werden in dieser Angelegenheit nicht das letzte Wort haben, und das ist äußerst wichtig, weil Washingtons Rolle als „Garant der globalen Sicherheit“ nun der Vergangenheit angehört. Russland wird die Grenzen der Ukraine festlegen und so wird es sein.Also, ja, wir können damit rechnen, das Zähneknirschen im NATO-Hauptquartier und der UNO und im Weißen Haus zu hören, aber mit wenig Wirkung. Die Angelegenheit ist erledigt, es sei denn natürlich, die USA und die NATO wollen Bodentruppen für den Konflikt einsetzen, was unserer Meinung nach eine Spaltung der NATO herbeiführen wird, die unweigerlich zu ihrem Zusammenbruch führen wird. Wie auch immer, das Schicksal der Ukraine wird in Moskau und nicht in Washington entschieden, und diese Realität wird einen erheblichen Einfluss auf die Verteilung der globalen Macht haben. Es gibt einen neuen Sheriff in der Stadt und er ist definitiv kein Amerikaner.


Fazit: Wir halten Helmers Analyse für das wahrscheinlichste Zukunftsszenario.

Putin hat bis zu diesem Punkt bewundernswerte Zurückhaltung gezeigt, aber nach 9 Monaten sinnloser Plackerei und Gemetzel ist es an der Zeit, diese Sache abzuschließen. Moskau hatte schon immer einen Vorschlaghammer in seinem Werkzeugkasten und wird ihn jetzt einsetzen . Wir hätten es vorgezogen, wenn es nicht so enden würde, aber es hat keinen Sinn, über vergossene Milch zu weinen. Washington wollte diesen Krieg so lange wie möglich in die Länge ziehen, um Russland auszubluten, damit es seine Macht nicht über seine Grenzen hinaus projizieren oder die US-Pläne, sich „nach Asien zu bewegen“, behindern konnte. Aber Putin vereitelte diesen Plan. Er ist nicht in Washingtons Falle getappt und er wird kein Blut und kein Geld in ein schwarzes Loch pumpen. Er wird diese Angelegenheit ein für alle Mal regeln und damit fertig sein . Dies ist aus einem Interview mit Colonel Douglas MacGregor:


„Dieser gesamte Konflikt hätte vermieden werden können, wenn wir einfach die legitimen Interessen Moskaus an dem, was in der Ukraine passiert, anerkannt hätten …. Was in der Ukraine passiert, ist den Russen wichtig…. Wir hätten also frühzeitig eingreifen und sagen können: „Lasst uns einen Waffenstillstand haben und reden“, wir hätten den Russen in den letzten 10 oder 20 Jahren zuhören können, was ihre Besorgnis über die Geschehnisse in der Ukraine betrifft. Und ich denke, jetzt sehen wir mit dem Zelensky-Regime eine sehr gefährliche Regierung, die Russland gegenüber unheilbar feindselig ist (und) die ausschließlich auf Anweisungen aus Washington reagiert – die entschieden hat, dass sie Russland auf jede erdenkliche Weise tödlich schwächen will …Die Lösung dafür ist – sich nicht diesem vergeblichen und sinnlos zerstörerischen Krieg mit Moskau anzuschließen – (sondern) den Menschen in der Regierung in Kiew etwas Verstand einzuflößen.“ Colonel Douglas MacGregor, „Die Ukraine steht kurz davor, vernichtet zu werden“, You Tube; 2:10 Minuten-Marke

IMO, die Entscheidung ist bereits gefallen. Die Ukraine wird in zwei Teile gespalten, ob es Washington gefällt oder nicht. So ist es nun einmal..


Dieser Artikel wurde ursprünglich auf The Unz Review veröffentlicht .


Michael Whitney  ist ein renommierter geopolitischer und sozialer Analyst mit Sitz im US-Bundesstaat Washington. Er begann seine Karriere als unabhängiger Bürgerjournalist im Jahr 2002 mit einem Engagement für ehrlichen Journalismus, soziale Gerechtigkeit und Weltfrieden.

Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Center for Research on Globalization (CRG). 

Das ausgewählte Bild stammt von TUR


Die ursprüngliche Quelle dieses Artikels ist Global Research

Urheberrecht © Mike Whitney , Global Research, 2022


Info: https://www.globalresearch.ca/putin-remedy-fragmented-toothless-ukraine-separated-100-kilometer-wide-no-man-land/5800921


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

04.12.2022

Multinationale Agrarkonzerne und die Great Food Transformation

globalresearch.ca, vom 02. Dezember 2022, Von Dr. Birsen Filip


Thema: Biotechnologie und GVO


Im Juli 2022 kündigte die kanadische Regierung ihre Absicht an, „die Emissionen aus der Anwendung von Düngemitteln bis 2030 um 30 Prozent gegenüber dem Niveau von 2020 “ zu reduzieren . Im Vormonat hatte die niederländische Regierung öffentlich erklärt, sie werde Maßnahmen umsetzen, die darauf abzielen, die „ Stickstoffbelastung einiger Gebiete bis 2030 um bis zu 70 Prozent “ zu senken, um die Vorgaben des europäischen „ Green Deal “ zu erfüllen, der darauf abzielt „ die Klima-, Energie-, Verkehrs- und Steuerpolitik der EU fit zu machen, um die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu reduzieren .“


Als Reaktion darauf sagten niederländische „ Bauernhof- und Landwirtschaftsorganisationen, die Ziele seien nicht realistisch und riefen zu einem Protest auf“, was dazu führte, dass sich Landwirte und ihre Unterstützer im ganzen Land erhoben. Der künstlich gestaltete Green Deal ist eines der Ziele der Agenda 2030 , die 2015 von 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (UN) verabschiedet wurde.


Neben den Vereinten Nationen wird die Agenda 2030 auch von einer Reihe anderer internationaler Organisationen und Institutionen unterstützt, darunter die Europäische Union, das Weltwirtschaftsforum (WEF) und die Bretton-Woods-Institutionen, zu denen die Weltbank und die Internationale Währung gehören Fund (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Es wird auch von einigen der mächtigsten multinationalen Agrarkonzerne der Welt wie BASF, Bayer, Dow Chemical, DuPont und Syngenta unterstützt, die zusammen mehr als 75 Prozent des globalen Marktes für landwirtschaftliche Betriebsmittel kontrollieren. In den letzten Jahren haben „die Übernahme von Syngenta durch ChemChina und die Fusion von Bayer und Monsanto“ „die globale Saatgutindustrie umgestaltet“. Darüber hinaus wurde „ DuPont de Nemours durch die Fusion von Dow Chemical und DuPont im Jahr 2017 gegründet.“ Allerdings „wurde das Unternehmen innerhalb von 18 Monaten nach der Fusion in drei börsennotierte Unternehmen mit folgenden Schwerpunkten aufgeteilt: Landwirtschaft mit Corteva, Materialwissenschaft mit Dow und Spezialprodukte mit DuPont .“


In den letzten Jahren haben alle diese Unternehmen Erklärungen abgegeben, die darauf hindeuten, dass der Agrarsektor in den kommenden drei Jahrzehnten große Veränderungen erfahren wird, und dass sie sich verpflichtet haben, ihren Teil dazu beizutragen, den Übergang zu einer sogenannten grünen Politik zu beschleunigen. Dementsprechend plädieren sie dafür, dass die Regierungen die öffentlichen Finanzen weg von der konventionellen Landwirtschaft und hin zu einer regenerativen Landwirtschaft und alternativen Proteinquellen, einschließlich Insektenzucht und Fleisch aus dem Labor, umlenken.


Darüber hinaus sind BASF, Syngenta und Bayer Mitglieder der „ European Carbon+ Farming Coalition “, die eine Reihe von „Organisationen und Interessenvertretern entlang der Lebensmittelwertschöpfungskette“ umfasst, wie etwa „ COPA-COGECA, Crop In, European Conservation Agriculture Federation (ECAF ), European Institute of Innovation & Technology (EIT) Food, HERO, Planet Labs“, „Swiss Re, University of Glasgow, Yara, Zurich and the World Economic Forum “. Ursprünglich entstand diese „Koalition als Partnerschaft zwischen der Plattform 100 Millionen Landwirte des Weltwirtschaftsforums und ihrer CEO Action Group for the European Green Deal “.

Sein Ziel ist die „Dekarbonisierung des europäischen Ernährungssystems“, indem die Transformation der Landwirtschaft und der landwirtschaftlichen Praktiken beschleunigt wird. Genauer gesagt strebt die European Carbon+ Farming Coalition an, bis 2025 eine Bruttoausdehnung der Anbaufläche für die Lebensmittelproduktion auf Null zu erreichen, bis 2030 die für die Viehzucht genutzten Flächen um etwa ein Drittel zu reduzieren und eine daraus resultierende Freigabe von fast 500 Millionen Hektar Land für die Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme bis zum selben Datum .“ Laut WEF werden solche Änderungen nicht nur der Umwelt zugute kommen, sondern auch wirtschaftlich vorteilhaft sein, da „eine Änderung der Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren und konsumieren , neue Geschäftsmöglichkeiten in Höhe von 4,5 Billionen US-Dollar pro Jahr schaffen könnte “.


Ernährung, Landwirtschaft und Menschlichkeit neu erfinden: Die Dystopie des Ökomodernismus

Um die Transformation der Landwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten zu beschleunigen, fordert BASF, „ Landwirte dazu zu verpflichten, ihre Umweltauswirkungen zu verringern “, indem sie „die CO2-Emissionen pro Tonne Ernte um 30 Prozent “ reduzieren und „ digitale Technologien auf mehr als 400 Millionen Hektar anwenden“ . von Ackerland .“ BASF unterstützt auch den breiten Einsatz einer Reihe neuer Produkte, darunter „Produkte zum Stickstoffmanagement“, Herbizide, „neue Pflanzensorten“, „biologische Impfstoffe und innovative digitale Lösungen“, um die Landwirte „ kohlenstoffeffizienter und widerstandsfähiger gegen flüchtige Stoffe “ zu machen Wetterbedingungen .” Es wird geschätzt, dass solche Änderungen „ wesentlich zum Ziel der BASF-Gruppe von 22 Milliarden Euro Umsatz bis 2025 beitragen würden“ .


Unterdessen konzentriert sich Syngenta , das zweitgrößte agrochemische Unternehmen der Welt (nach Bayer), das einem chinesischen Staatsunternehmen namens ChemChina gehört, auf „kohlenstoffneutrale Landwirtschaft“ unter dem Vorwand, „den Klimawandel zu bekämpfen“. Genauer gesagt unterstützt es die „ Bereitstellung von Technologien, Dienstleistungen und Schulungen für Landwirte “ sowie die Weiterentwicklung von neuem gentechnisch verändertem Saatgut, das den Ausstoß von CO2 senken würde. Laut Syngenta werden „geneditierte Nutzpflanzen“ „ bis 2050 “ weltweit weit verbreitet sein und angebaut werden.


Dieses Unternehmen fördert auch „ eine Transformation hin zu einer regenerativen Landwirtschaft “, von der behauptet wird, dass sie „ zu mehr Nahrung führt, die auf weniger Land angebaut wird; reduzierte landwirtschaftliche Treibhausgasemissionen; erhöhte Biodiversität; und verbesserte Bodengesundheit “, obwohl es kaum wissenschaftliche Beweise oder Langzeitdaten gibt, um diese Behauptungen zu untermauern. Nichtsdestotrotz argumentiert Syngenta, dass die Welt „ Regierungen und Medien … braucht, um die weit verbreitete Übernahme “ regenerativer Praktiken durch so viele Landwirte wie möglich zu fördern.


Bayer setzt sich auch für eine regenerative Landwirtschaft ein, um „Landwirten dabei zu helfen , die Menge an Treibhausgasen, die ihre Betriebe emittieren, erheblich zu reduzieren und gleichzeitig Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu entfernen “. Es wird weiter behauptet, dass es notwendig sei, „ zu einem regenerativen Ansatz überzugehen und Nutzpflanzen widerstandsfähiger gegen Klimaauswirkungen zu machen “. Darüber hinaus unterstützt Bayer, ähnlich wie Syngenta, die Entwicklung „ neuer Genbearbeitungstechnologien “, um „den ökologischen Fußabdruck der globalen Landwirtschaft“ zu verringern. Mit Blick auf die Zukunft sieht Bayer voraus, dass „ Biotechnologie in der Landwirtschaft ein entscheidender Faktor sein wird“, der genutzt wird, um „ die 10 Milliarden Menschen zu ernähren, die bis 2050 auf dem Planeten leben werden, und gleichzeitig die Auswirkungen des Klimawandels zu bekämpfen.“


Ähnlich wie Bayer, BASF und Syngenta möchte auch DuPont dazu beitragen, „ die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern und Leben und Umwelt zu schützen “. Seine Reaktion konzentriert sich in erster Linie auf die Erleichterung der Produktion und des Verzehrs alternativer Proteinquellen, die „ die Textur und das Aussehen von Fleischfasern reproduzieren und zur Erweiterung oder zum Ersatz von Fleisch oder Fisch verwendet werden können “. DuPont wies darauf hin, dass „die Amerikaner im Jahr 2016 etwa 26 kg Rindfleisch pro Kopf verzehrten, wovon mindestens die Hälfte in Form eines Hamburgers gegessen wurde. Das Ersetzen von nur der Hälfte von Amerikas Burgerfleisch durch SUPRO® MAX-Protein“, das einen bis zu achtzig Mal geringeren CO2-Fußabdruck hat als Milch- und Fleischproteine , ist gleichbedeutend mit dem Entfernen von „mehr als 15 Millionen Mittelklassewagen von der Straße .“


Einige der mächtigsten multinationalen Agrarkonzerne der Welt haben immens von internationalen Handelsabkommen profitiert, die ihre Interessen über die der kleinen und mittleren Betriebe sowie der Massen stellen, wenn es um die Umgestaltung des Lebensmittel- und Landwirtschaftssektors geht. Insbesondere das 1994 verabschiedete Abkommen der Welthandelsorganisation über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) spielte eine große Rolle bei der Zerstörung der Lebensgrundlagen vieler Landwirte und erwies sich gleichzeitig als lukrativ für Agrarchemie-Giganten wie BASF, Bayer, Dow Chemical, DuPont und Syngenta. Dies liegt hauptsächlich daran, dass TRIPS die Patentierung von Saatgut und Pflanzen ermöglicht hat.

Infolgedessen wurden einheimische Kräuter und Pflanzen in einer Reihe verschiedener Länder, von denen viele zuvor seit Generationen angebaut wurden, zum alleinigen Eigentum mächtiger multinationaler Agrarkonzerne. Nachdem Pflanzen und Kräuter patentiert wurden, ist es lokalen Bauern verboten, sich an den traditionellen und langjährigen Praktiken des Aufbewahrens und Wiederanpflanzens ihres eigenen Saatguts zu beteiligen. Stattdessen müssen sie die patenthaltenden Unternehmen für dasselbe Saatgut bezahlen, das sie zuvor produziert, gerettet, neu gepflanzt und kostenlos ausgetauscht haben.


Mächtige multinationale Agrarkonzerne haben auch ihre eigenen Interessen und Ziele gefördert, indem sie einen beispiellosen Einfluss auf Forschung und Entwicklung in der Lebensmittelindustrie ausgeübt haben, während sie alle Erkenntnisse ignoriert haben, die zeigen, dass ihre Geschäftspraktiken der natürlichen Umwelt schaden. Insbesondere haben einige dieser großen Agrarchemieunternehmen ihre Bemühungen und Ressourcen auf die Untersuchung „gentechnisch veränderter Organismen (GVO), die Entwicklung stärkerer Pestizide und synthetischer Düngemittel und die Verteidigung der Leistung dieser Produkte“ konzentriert.


Sie haben auch die Ausweitung von GVO-Pflanzen mit dem Wissen unterstützt, dass ihr Anbau „die Anwendung größerer Mengen“ von „synthetischen Düngemitteln und Pestiziden“ beinhaltet, was dazu geführt hat, dass große Mengen giftiger Chemikalien Böden und Wasserquellen verseuchen. Im Grunde genommen waren diese Agrarkonzerne maßgeblich dafür verantwortlich, viele der gleichen Umweltprobleme zu schaffen, von denen sie jetzt behaupten, dass sie dringend durch die Agenda 2030 gelöst werden müssen.


Es besteht die reale Möglichkeit, dass die radikalen und groß angelegten Veränderungen der gesamten Lebensmittelindustrie und der menschlichen Essgewohnheiten, die von den Sozialingenieuren der Agenda 2030 vorangetrieben werden, die Massen zu einem dramatischen Rückgang des Lebensstandards führen. Die Lehren aus den totalitären Regimen des zwanzigsten Jahrhunderts haben gezeigt, dass es sehr schwierig ist, große Fehler zu beheben, die der großangelegten zentralen Planung von Sozialingenieuren zugeschrieben werden, weil dies oft „große soziale Veränderungen“ oder die „Umgestaltung der gesamten Gesellschaft, “, was zu weit verbreiteten unvorhergesehenen Folgen oder Ereignissen, großen destruktiven Ergebnissen und „Unannehmlichkeiten für viele Menschen“ führen kann, wie es Karl R. Popper ausdrückt.


Die intensiven und koordinierten internationalen Bemühungen, eine künstlich gestaltete Transformation der globalen Lebensmittelindustrie auf der Grundlage der Agenda 2030 zu erleichtern, sind ein Zeugnis dafür, dass wir Zeugen der Tatsache sind, dass das zivilisatorische Pendel in vielen fortgeschrittenen Gesellschaften zurückschwingt, wo das Streben nach einem komfortablen Das Leben könnte schnell durch einen Kampf um das Nötigste auf einer niedrigeren Existenzebene ersetzt werden, der in fortgeschrittenen Gesellschaften nicht vorkommen soll.


Den Massen muss klar gemacht werden, dass die Sozialingenieure der Agenda 2030 „falsche Propheten“ sind, die sie bis zu dem Punkt irreführen, an dem sie „vom Hungertod heimgesucht“ werden. Dies könne durchaus zur Entstehung „unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gesellschaft“ führen, wobei Hungerunruhen, Konflikte und Gewalt unweigerlich „zu einer vollständigen Auflösung aller gesellschaftlichen Bindungen führen könnten“, wie es Ludwig von Mises formulierte .

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Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Mises Wire veröffentlicht .


Birsen Filip hat einen Doktortitel in Philosophie und einen Master-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Sie hat zahlreiche Artikel und Kapitel zu einer Reihe von Themen veröffentlicht, darunter politische Philosophie, Geopolitik und die Geschichte des ökonomischen Denkens, mit Schwerpunkt auf der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und der Deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie.


Sie ist Autorin des in Kürze erscheinenden Buches  The Early History of Economics in the United States: The Influence of the German Historical School of Economics on Teaching and Theory  (Routledge, 2022). Sie ist auch Autorin von The Rise of Neo-liberalism and the Decline of Freedom (Palgrave Macmillan, 2020).


Sie schreibt regelmäßig Beiträge für Global Research.

Das ausgewählte Bild stammt von Adobe Stock

Die ursprüngliche Quelle dieses Artikels ist Global Research

Copyright © Dr. Birsen Filip , Global Research, 2022


Info: https://www.globalresearch.ca/multinational-agrichemical-corporations-great-food-transformation/5801078

04.12.2022

Carlo Schmid SPD - Grundsatzrede vor dem Parlamentarischen Rat vom 08.09.1948

Screenshot_2022_12_04_at_09_14_22_Carlo_Schmid_SPD_Grundsatzrede_vor_dem_Parlamentarischen_Rat_vom_08.09.1948


youtube.com, 04.12.2022, 13.907 Aufrufe 17.05.2020

Carlo Schmid (* 3. Dezember 1896 in Perpignan, Frankreich, als Karl Johann Martin Heinrich Schmid; † 11. Dezember 1979 in Bonn) war ein deutscher Politiker (SPD) und renommierter Staatsrechtler.[1]

Schmid gehört zu den Vätern des Grundgesetzes und des Godesberger Programms der SPD; er setzte sich stark für die europäische Integration und die deutsch-französische Aussöhnung ein. Er war Kandidat zum Bundespräsidentenamt 1959 und von 1966 bis 1969 Bundesratsminister. weiter Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Carlo_S...


Info: Video (Standbild) https://www.youtube.com/watch?v=vdQ4GA_UGn4 Dauer 1:57:21 h



Weiteres:



Carlo Schmid ( SPD): Grundsatzrede Vor Dem Parlamentarischen Rat ( 08.09.1948)
by
Dr. jur. Carlo Schmid

Publication date
1948-09-08
Topics
Deutschland, WK2, Diktatur, Freiheit, Alliierte, Grundgesetz, Verfassung, Unabhängigkeit, Unterwerfung
Language
German

This is the speech of Dr. jur. Carlo Schmid https://de.wikipedia.org/wiki/Carlo_Schmid

https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentarischer_Rat

before the Council of Parliament in Germany, 08 September 1948.


The Council prepared the Grundgesetz (Constitution) of the Federal Republic of Germany.


In his speech, which lasted around 2 hours, Schmid rallied for a Constitution which would be independent from the command of any foreign powers.


Addeddate
2018-02-17 19:04:05
Identifier
CarloSchmidSPDGrundsatzredeVorDemParlamentarischenRat08.09.1948
Scanner
Internet Archive HTML5 Uploader 1.6.3

Video  https://ia601706.us.archive.org/23/items/CarloSchmidSPDGrundsatzredeVorDemParlamentarischenRat08.09.1948/Carlo%20Schmid%20%28SPD%29%3A%20Grundsatzrede%20vor%20dem%20Parlamentarischen%20Rat%20%2808.09.1948%29.mp4   Dauer 1:57:22 h


Info: https://archive.org/details/CarloSchmidSPDGrundsatzredeVorDemParlamentarischenRat08.09.1948



Weiteres:



Carlo Schmid (* 3. Dezember 1896 in Perpignan, Frankreich, als Karl Johann Martin Heinrich Schmid; † 11. Dezember 1979 in Bonn) war ein deutscher Politiker (SPD) und renommierter StaatsrechtlerSchmid gehört zu den Vätern des Grundgesetzes und des Godesberger Programms der SPD; er setzte sich stark für die europäische Integration und die deutsch-französische Aussöhnung ein. Er war Kandidat zum Bundespräsidentenamt 1959 und im Kabinett Kiesinger (1966–69) Bundesratsminister.

Carlo Schmid (1963) Foto


Leben und Wirken


Die frühen Jahre

Schmids aus Württemberg stammender Vater Joseph Schmid (1860–1925) war Privatgelehrter und Dozent an der Universität Toulouse, die Mutter Anna Erra (1869–1968) war Französin. Seine Kindheit verbrachte Schmid in Weil der Stadt, wohin die Familie ein Jahr nach seiner Geburt übergesiedelt war. Dort war sein Vater fünf Jahre lang Schulleiter und Lehrer der Realschule. 1908 zog die Familie nach Stuttgart um, wo Schmid das humanistische Karls-Gymnasium besuchte und im Frühjahr 1914 das Abitur ablegte. In seinen letzten Schuljahren wurde Schmid im Wandervogel aktiv, wo er Arnold Bergstraesser kennenlernte.[1]

Schmid nahm von 1914 bis 1918 als Soldat am Ersten Weltkrieg teil und kämpfte unter anderem bei Verdun; sein letzter Dienstgrad war Leutnant der Reserve.

Ein 1919 begonnenes Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen schloss er 1921 mit dem ersten juristischen Staatsexamen ab; das zweite Staatsexamen folgte 1924. 1923 wurde er mit der Arbeit Die Rechtsnatur der Betriebsvertretungen nach dem Betriebsrätegesetz zum Doktor juris promoviert.

Er ließ sich zunächst als Rechtsanwalt in Reutlingen nieder, trat aber schon 1925 als Gerichtsassessor in den Justizdienst des Landes Württemberg ein. Von 1927 bis 1931 war er Richter am Amtsgericht und später Landgerichtsrat in Tübingen.

Von 1927 bis 1928 war er für eine Tätigkeit als Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin beurlaubt. 1929 habilitierte er sich an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes und war dort ab 1930 als Privatdozent tätig.


Während des Nationalsozialismus

1931–1932 übernahm Schmid die Leitung eines Lagers des Freiwilligen Arbeitsdienstes in Münsingen. Arbeitslose Jugendliche arbeiteten zusammen mit Studenten in einem Steinbruch mit dem Ziel, die Jugendlichen durch ihren persönlichen Einsatz vor der radikalen Massenbewegung des Nationalsozialismus zu bewahren. 1933 erhielt Schmids Personalakte aufgrund seiner Tätigkeiten einen Sperrvermerk. Um einer Entlassung zu entgehen, trat er dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bei. Öffentlich bezeichnete er dennoch den Nationalsozialismus als „Philosophie von Viehzüchtern, angewandt am verkehrten Objekt“. Nur durch Unterstützung eines NS-Studentenführers konnten schwerwiegende Konsequenzen verhindert werden.

Schmid wurde 1940 zur Wehrmacht einberufen und war bis 1944 als Kriegsverwaltungsrat[2] (im Rang eines Majors) der Oberfeldkommandantur in Lille/Frankreich zugeteilt. In dieser Funktion hatte er Kontakt zu Helmuth James Graf von Moltke und dem Kreisauer Kreis. In einigen Fällen gelang ihm die Rettung französischer Bürger vor Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht.[3]


Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach Kriegsende änderte Schmid seinen Vornamen in Carlo, um eine Verwechselung mit dem durch seine Nähe zum Nationalsozialismus belasteten Staatsrechtler Carl Schmitt zu vermeiden.[4] Er war maßgeblich an der Wiedereröffnung der Universität Tübingen sowie an der Berufung von Romano Guardini, Wilhelm Weischedel, Eduard Spranger, Alfred Kühn und Adolf Butenandt an die Universität beteiligt. 1946 bis 1953 war er dort Professor für Öffentliches Recht. 1953 folgte er dem Ruf der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main auf den Lehrstuhl für Politische Wissenschaft. Daneben übersetzte er Werke von Machiavelli, Baudelaire und Malraux. Seine Übersetzung von Les Fleurs du Mal aus dem Jahr 1947 gilt bis heute als bahnbrechend.[5]

Für Schmid stand Ende 1946 fest, dass das „Schicksal der europäischen Staaten davon abhing“, ob sie sich zu einer „eigenständigen Kraft“ entwickeln könnten.[6] Er trat deshalb beharrlich für die wirtschaftliche, politische und militärische Integration Europas ein. Führende Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher hielten Schmids bundesstaatliche Europaidee für verfrüht. Ein Grund für diese Zurückhaltung war das starke Engagement des konservativen Briten Duncan Sandys in der Europäischen Bewegung. Dessen ungeachtet suchte Schmid den internationalen Schulterschluss und arbeitete lange in der Union Europäischer Föderalisten mit. 1949 wurde Schmid erster Vize-Präsident der deutschen Sektion der Europa-Union Deutschland. Außerdem war er erster Vorsitzender der „Deutschen Parlamentarischen Sektion der Europäischen Bewegung“. In Frankreich trat er in eine Freimaurerloge ein; er hielt zweimal in der Hamburger Loge Die Brückenbauer eine Rede.[7]

1949 gründete Schmid mit Theodor Eschenburg, dem ehemaligen Hauptabteilungsleiter der Reichsjugendführung Heinrich Hartmann und dem französischen Besatzungsoffizier Henri Humblot den Internationalen Bund (IB), der nach dem Vorbild des Freiwilligen Arbeitskreises Jugendlichen eine Chance zur Weiterbildung ermöglichen soll.

Bereits im August 1948 wirkte Schmid in der Herrenchiemsee-Verfassungskonferenz, die das spätere Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in die Wege leitete, sehr maßgeblich mit. Er widersetzte sich Bestrebungen, die das Asylrecht nur Deutschen gewähren wollten, die wegen ihres „Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Weltfrieden“ im Ausland verfolgt werden. Der Redaktionsausschuss sah ein allgemeines Asylrecht für politische Flüchtlinge als „zu weitgehend“ an, weil es „möglicherweise die Verpflichtung zur Aufnahme, Versorgung usw. in sich schließt“ und daher nicht finanzierbar sei.[8][9][10] Schmid setzte sich gemeinsam mit Hermann von Mangoldt (CDU) gegen diese Bedenken durch und erreichte, dass mit Artikel 16 des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland allen auf der Welt politisch Verfolgten ein Recht auf Asyl garantierte.[8] Diese Formulierung bestand so bis zum Asylkompromiss von 1993, mit dem dieses Recht stark eingeschränkt wurde.


Partei

Carlo Schmid (links) im Gespräch mit Egon Bahr 1976

Nach dem Krieg wurde Schmid SPD-Mitglied und war von 1946 bis 1952 SPD-Landesvorsitzender in Württemberg-Hohenzollern. Von 1947 bis 1970 war er Mitglied im SPD-Parteivorstand. Von 1958 bis 1970 gehörte er außerdem dem Präsidium der SPD an und war maßgeblich an der Ausarbeitung des Godesberger Programms beteiligt. Innerhalb der SPD gehörte er zu den Verfechtern des Mehrheitswahlrechts. Von 1949 bis 1972 gewann er bei den Bundestagswahlen in seinem Mannheimer Wahlkreis immer das Direktmandat für die SPD.

Schmid gehörte mit Fritz Erler, Herbert Wehner und Willy Brandt zum sogenannten Frühstückskartell der SPD, das sich bis 1958 mit seinen Vorstellungen einer Parteireform durchsetzte.

Da Bundespräsident Theodor Heuss nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren durfte, nominierte die SPD Schmid zu ihrem Kandidaten bei der Wahl des deutschen Bundespräsidenten 1959, bei der er dem bisherigen Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Heinrich Lübke (CDU) im zweiten Wahlgang unterlag.

1961 und 1965 gehörte Schmid zur Regierungsmannschaft von Willy Brandt für den Fall eines Regierungswechsels. Er war jeweils als Außenminister vorgesehen.


Parlamentarische Tätigkeit

1947 wurde Schmid in den Landtag für Württemberg-Hohenzollern gewählt, dem er bis zur Eingliederung des Landes nach Baden-Württemberg am 17. Mai 1952 angehörte.

1948/49 war er Mitglied des Parlamentarischen Rates und hier Vorsitzender der SPD-Fraktion und des verfassungspolitisch ausschlaggebenden Hauptausschusses sowie des Ausschusses für das Besatzungsstatut. In einer Grundsatzrede anlässlich der 2. Plenarsitzung am 8. September 1948 legte Schmid seine Ansichten der Ziele und Grenzen des zu schaffenden Grundgesetzes dar. Aufgrund der Erfahrung bei der Beseitigung der Weimarer Verfassung durch die Nationalsozialisten, plädierte er klar für eine repräsentative, im Gegensatz zur plebiszitären Demokratie:

„Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muß man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“

Auf seine Initiative wurden das konstruktive Misstrauensvotum, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und das Recht auf Asyl ins Grundgesetz übernommen.[3][11] Von 1949 bis 1972 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1949 bis 1966 sowie von 1969 bis 1972 war Schmid Vizepräsident des Deutschen Bundestages und von 1949 bis 1953 sowie von 1957 bis 1965 gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. 1949 bis 1953 war Schmid Vorsitzender des Bundestagsausschusses für das Besatzungsstatut und Auswärtige Angelegenheiten, 1953 bis 1956 und 1957 bis 1966 stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

Carlo Schmid (links oben) im September 1955 mit Adenauer in Moskau


1955 trug er in dieser Funktion als Mitglied der Verhandlungskommission unter Konrad Adenauer sehr zum Gelingen der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau bei, aus denen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und die Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen resultierten.[12] Schmid vertrat während seiner gesamten Zugehörigkeit zum Bundestag als direkt gewählter Abgeordneter den Wahlkreis Mannheim I. Vom 12. Oktober 1959 bis 1961 war er Vorsitzender der Unterkommission „Haushalt“ des Bundestagspräsidiums. In seiner letzten Wahlperiode war er nach William Borm (FDP) der zweitälteste Abgeordnete des Bundestages.

1959 gehörte er mit Josef Arndgen (CDU), Walther Kühn (FDP) und Ludwig Schneider (DP) nach dem Unfalltod des Abgeordneten Josef Gockeln zu den Initiatoren einer Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung für Abgeordnete.

Schmid, der sich besonders für die deutsch-französische Aussöhnung einsetzte, gehörte von 1950 bis 1960 sowie von 1969 bis 1973 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg an. Von 1963 bis 1966 war er Präsident der Versammlung der Westeuropäischen Union in Paris, nachdem er zuvor bereits seit 1956 deren stellvertretender Präsident gewesen war.


Öffentliche Ämter

Zur Zeit der französischen Besatzung trat Schmid im Oktober 1945 an die Spitze der provisorischen Regierung (Präsident des Staatssekretariats) des „Staatssekretariats für das französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns“. Gleichzeitig übernahm er das Amt des Landesdirektors für das Unterrichtswesen und die kulturellen Angelegenheiten in der von der französischen Militärregierung eingesetzten Landesverwaltung.


Carlo Schmid 1972 (Foto)


Ab 9. Dezember 1946 war Schmid Justizminister von Württemberg-Hohenzollern und bis zum 8. Juli 1947 übte er gleichzeitig die Funktion des Staatspräsidenten aus. Nach den Landtagswahlen 1947 war Carlo Schmid bis 12. August 1948 stellvertretender Staatspräsident und behielt bis zum 1. Mai 1950 das Amt des Justizministers in der von Lorenz Bock (CDU) bzw. dessen Nachfolger Gebhard Müller geführten Staatsregierung dieses Landes, das er auch beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vertrat.

Nach der Wahl in den Bundestag wurde er bereits in der ersten Legislaturperiode zum Bundestagsvizepräsidenten gewählt, ein Amt, das er von 1949 bis 1966 und erneut von 1969 bis 1972 bekleidete.

Am 1. Dezember 1966 wurde er als Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder in die von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger geführte Bundesregierung der Großen Koalition berufen und war in dieser Eigenschaft Vertreter des Kabinetts im Bundesrat. Nach der Bundestagswahl 1969 schied Schmid am 21. Oktober 1969 aus der Bundesregierung aus.

Von 1969 bis zu seinem Tode war er Koordinator für die deutsch-französischen Beziehungen.


Familie

Schmid heiratete 1921 Lydia Hermes (1897–1984). Mit ihr hatte er vier Kinder[13]: Hans (1925–2019), Martin (1927–2019), Raimund (1935–1956) und Beate (* 1936). Aus der Beziehung zu Irmgard Michael ging 1942 die Tochter Juliane hervor[14]. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Schmid in Orscheid, einem Ortsteil der Stadt Bad Honnef bei Bonn.


Ehrungen

1955 wurde Schmid das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. 1958 wurde er wegen seiner geistreichen und schlagfertigen Reden als Bundestagsvizepräsident mit dem Orden wider den tierischen Ernst geehrt. 1976 erhielt er die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und den von der Baden-Badener Bäder- und Kurverwaltung gestifteten Deutsch-Französischen Übersetzerpreis für seine Übersetzung von André Malraux’ Werk Eichen, die man fällt. Außerdem war er Träger des Hansischen Goethe-Preises der Alfred-Toepfer-Stiftung. Schmid erhielt 1967 den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main.[15] Seit 1970 war er Ehrenbürger von Mannheim und seit 1977 von Tübingen.

Vier Tage nach seinem Tod ehrte der Deutsche Bundestag seinen ehemaligen Vizepräsidenten mit einer Trauerfeier im Plenarsaal. Am 15. Dezember 1979 wurde er mit einem Staatsbegräbnis auf dem Tübinger Stadtfriedhof geehrt.

Sein Nachlass wird im Archiv der sozialen Demokratie verwaltet.

1987 wurde die Carlo-Schmid-Stiftung[16] gegründet, die Personen, Gruppen und Organisationen mit dem Carlo-Schmid-Preis auszeichnet, die sich für Erhaltung und Weiterentwicklung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, eine liberale politische Kultur und die europäische Verständigung einsetzen. Zu seinem 100. Geburtstag gab das Bundesministerium für Post und Telekommunikation am 3. Dezember 1996 eine Sonderbriefmarke im Wert von 100 Pfennig heraus.


Veröffentlichungen (Auswahl)

Schmid war als Wissenschaftler, staatsphilosophischer und politischer Publizist, Essayist, Memorandenautor, aber auch als Übersetzer, Bühnen- und Kabarettautor und Lyriker tätig.

  • Deutschland und der Europäische Rat (Schriftenreihe des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, Nr. 1), Köln 1949.
  • Regierung und Parlament. In: Hermann Wandersleb: Recht, Staat, Wirtschaft. Band 3, Düsseldorf 1951.
  • Vier Jahre Erfahrungen mit dem Grundgesetz. In: Die Öffentliche Verwaltung. 1954, Heft 1, Seiten 1–3.
  • Die Opposition als Staatseinrichtung. In: Der Wähler. 1955, Heft 11, S. 498–506.
  • Macchiavelli, Fischer 1956
  • Der Abgeordnete zwischen Partei und Parlament. In: Die Neue Gesellschaft. 1959, Heft 6, S. 439–444.
  • Der Deutsche Bundestag in der Verfassungswirklichkeit. In: Friedrich Schäfer: Finanzwissenschaft und Finanzpolitik, Festschrift für Erwin Schoettle, Tübingen 1964, S. 269–284.
  • (mit Horst Ehmke und Hans Scharoun): Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main 1969.
  • Politik als geistige Aufgabe; Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Scherz Verlag, Bern/München/Wien 1973.
  • Der Deutsche Bundestag. Ein Essay. In: Der Deutsche Bundestag. Portrait eines Parlaments. Pfullingen 1974, S. 12–17.
  • Das Fundament unserer staatlichen Ordnung. In: Bekenntnis zur Demokratie. Wiesbaden 1974, S. 11–20.
  • Demokratie – Die Chance, den Staat zu verwirklichen. In: Forum Heute. Mannheim 1975, S. 319–325.
  • Europa und die Macht des Geistes. München/Zürich 1976 (Aufsatzsammlung, 410 Seiten).
  • Erinnerungen. Scherz, Bern/München/Wien 1979, ISBN 3-502-16666-8.


Tonträger

  • Erinnerungen – Carlo Schmid im Gespräch mit Emil Obermann. Ausschnitte aus der Veranstaltung am 28. November 1979 in Hoser’s Buchhandlung (1 LP) (Hoser’s Buchhandlung, Stuttgart, ohne Nummer), ISBN 3-921414-04-0.
  • Carlo Schmid: Grundsatzrede über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat vom 8. September 1948.


Literatur

  • Theodor Eschenburg, Theodor Heuss, Georg-August Zinn: Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag. Mohr (Siebeck), Tübingen 1962.
  • Stine Harm: Bürger oder Genossen? Carlo Schmid und Hedwig Wachenheim – Sozialdemokraten trotz bürgerlicher Herkunft. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8382-0104-7.
  • Walter Henkels: 99 Bonner Köpfe. Durchgesehene und ergänzte Ausgabe, Fischer-Bücherei, Frankfurt am Main 1965, S. 218ff. 
  • Frank Raberg: Carlo Schmid (1896–1979). Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 2006 (online).
  • Erich Schmidt-Eenboom, Michael Müller: Die Causa Carlo Schmid. Zwischen französischem Druck und amerikanischer Observation, in: Das Blättchen 20 (2017) Online-Fassung.
  • Petra Weber: Carlo Schmid. 1896–1979. Eine Biographie. Beck, München 1996, ISBN 3-406-41098-7; Suhrkamp-Taschenbuch 2912, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-39412-6.
  • Petra Weber: Carlo Schmid. Demokrat und Europäer. Mannheim 1996 (= Kleine Schriften des Stadtarchivs Mannheim Nr. 4).
  • Petra Weber: Schmid, Carlo. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 23, Duncker & Humblot, Berlin 2007, ISBN 978-3-428-11204-3, S. 151 f. (Digitalisat).
  • Nadine Willmann: Carlo Schmid et la puissance d’occupation française dans le Wurtemberg durant l’immédiat après-guerre (= Schmids Verhältnis zur frz. Besatzungsmacht in Württemberg in der unmittelbaren Nachkriegszeit). In: Catherine Maurer (Hrsg.): Revue d’Allemagne et des pays de langue Allemande. 1, 2017, ISSN 0035-0974, S. 289–304 (französisch).


Kabinette


Weblinks


Commons: Carlo Schmid – Sammlung von Bildern


Wikiquote: Carlo Schmid – Zitate


Einzelnachweise

  1. Carlo-Schmid-Stiftung
Ausklappen Bundesratsminister der Bundesrepublik Deutschland

Ausklappen Kabinett Kiesinger – 1. Dezember 1966 bis 21. Oktober 1969

Ausklappen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags aus der SPD-Fraktion

Ausklappen Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages

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04.12.2022

Carlo Schmid (SPD)  Zitate aus Grundsatzrede vor dem Parlamentarischen Rat vom 08.09.1948

.. "Was heißt denn parlamentarischer Rat was heißt denn Grundgesetz? Wenn in einem souveränen Staatswesen, das Volk eine verfassunggebende Nationalversammlung einberuft, ist deren Aufgabe klar und braucht nicht weiter diskutiert zu werden. Sie hat eine Verfassung zu schaffen.


Was heißt aber eine Verfassung? Eine Verfassung ist die Gesamtentscheidung eines freien Volkes über die Formen und die Inhalte seiner politischen Existenz. Eine solche Verfassung ist dann die Grundnorm des Staates. Sie bestimmt in letzter Instanz, ohne auf einen dritten zurückgeführt zu werden brauchen, die Abgrenzung der Hoheitsverhältnisse auf dem Gebiet und dazu hin bestimmt sie die Rechte der Individuen und die Grenzen der Staatsgewalt. Nichts steht über ihr, niemand kann sie außer Kraft setzen, niemand kann sie ignorieren. Eine Verfassung ist nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheit eines Volkes. Darin liegt ihr Pathos und dafür sind die Völker auf die Barrikaden gegangen.


Wenn wir in solchen Verhältnissen zu Wirken hätten dann bräuchten wir die Frage worum handelt es sich denn eigentlich nicht zu stellen. Dieser Begriff einer Verfassung gilt in einer Welt die demokratisch sein will, die die Gesetze der Demokratie als ihre Lebensgesetze anerkennen will, unabdingbar. Freilich weiß jeder von uns, dass man auch Ordnungsgesetze anderer Art schon Verfassungen genannt hat z. B. die oktroyierten Verfassungen der Restaurationszeit so von 1814 ab.

Diese oktroyierten Verfassungen waren zweifellos technisch gelegentlich nicht schlecht und die Fürsten die sie gegeben haben, mochten dann und wann durchaus gute Absichten haben. Aber das Volk hat diese Dinge nie als Verfassungen betrachtet und die Revolutionen von 1830 sind nichts anderes gewesen als der Aufstand der Völker Europas gegen oktroyierte Verfassungen, die nicht im Wege der Selbstbestimmung der Völker entstanden, sondern die auferlegt worden sind. Es kam in diesen Revolutionen die Erkenntnis zum Ausdruck, das eine Verfassung in einer demokratischen Welt etwas mehr sein muss als ein bloßes Reglement als ein bloßes Organisationsstatut.


Die Ordnung des Behördenaufbaus, die Ordnung der Staatsfunktionen, die Abgrenzung der Rechte der Individuen und der Obrigkeit, sind durchaus vorstellbar und das hat es gegeben im Bereich der organischen Artikel des absolutistischen Obrigkeitsstaates und auch im Bereich der Fremdherrschaft.

Man wird aber da nicht von Verfassung sprechen, wenn Worte ihren Sinn behalten sollen, denn es fehlt diesen Gebilden der Charakter des keinem fremden Willen unterworfenen Selbstbestimmungsrechts. Es handelt sich dort um Organisation und nicht um Konstitution.


Ob eine Organisation selber vorgenommen wird oder ob sie der Ausfluss eines fremden Willens ist macht keinen prinzipiellen Unterschied, denn bei Organisationen kommt es wesentlich darauf an und ausschließlich darauf an, ob sie gut oder schlecht funktionieren.

Bei einer Konstitution aber ist das anders. Dort macht es einen Wesensunterschied, ob sie selbst vorgenommen wurde oder ob sie der Ausfluss fremden Willens ist, denn eine Konstitution ist nichts anderes als das ins Leben treten als politischer Schicksalsträger aus eigenem Willen. Dies alles gilt auch von der Schaffung eines Staates.


Sicher, Staaten können auf die verschiedenste Weise geschaffen werden, sie können sogar durch äußeren Zwang geschaffen werden. Staat ist aber dann nichts anderes als ein Ausdruck für Herrschaftsapparat. So wie etwa die Staatstheoretiker der Frührenaissance von „il stato“ sprachen. Il stato, das ist einfach der Herrschaftsapparat gewesen der irgendwo in organisierter Weise Gewalt ausgeübt hat. Aber das ist ja gerade der große Fortschritt auf den Menschen hin gewesen den die Demokratie getan hat, dass sie im Staat etwas anderes zu sehen begann als einen bloßen Herrschaftsapparat. Staat ist für sie immer gewesen das in die eigene Hand genommene Schicksal des Volkes, Ausdruck der Entscheidung des Volkes zu sich selbst.


Man muss wissen was man will, wenn man von Staat spricht. Ob denn bloßen Herrschaftsapparat, der auch einem fremden Gebieter zur Verfügung stehen kann, oder eine lebendige Wirklichkeit, eine in sich aus eigenem Willen geübte Demokratie." ..

04.12.2022

Kant, Fukuyama, Makei und der Krieg in der Ukraine

seniora.org, 03. Dezember 2022, 02. Dezember 2022 Autor: Ralph Bosshard - übernommen mit Dank von Globalbridge.ch(Red.) Am vergangenen Samstag starb völlig überraschend der Außenminister der Republik Belarus, der 64-jährige Wladimir Makei, offiziellen Angaben zufolge an einem Herzinfarkt (1). Natürlich schossen sofort Spekulationen über einen unnatürlichen Tod Makeis ins Kraut (2).

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Der verstorbene belarussische Außenminister Wladimir Makei (Foto RIA Novosti, 26.11.2022)


In diesen Tagen hätte Makei am jährlich stattfindenden Ministerrat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE teilnehmen sollen.   – Nachdem Globalbridge.ch am vergangenen Montag Wladimir Makeis letzten eigenen Artikel in deutscher Übersetzung publiziert hat, wirft Ralph Bossart nun einen genaueren Blick auf diese für Osteuropa äusserst wichtige Persönlichkeit.


Nachdem er von 2008 bis 2012 als Leiter der Präsidialadministration der Republik Belarus gedient hatte, wurde Wladimir Makei im Jahr 2012 zum Außenminister seines Landes ernannt. Unter der Devise der „multivektoralen Außenpolitik“ leitete Makei eine Tauwetterperiode in den Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen ein, in deren Verlauf er die Aufhebung des Gros der westlichen Sanktionen gegen sein Land zu erwirken vermochte. Er selbst erklärte in regelmäßigen Abständen, dass diese Annäherung ohne Diktat und Druck erfolgen müsse (3).

Im Jahr 2013 stellte Wladimir Makei gar eine 180-Grad-Wende in der Außenpolitik seines Landes in Aussicht: Belarus könne die Integration in die Europäische Union einleiten, ohne aber aus der Allianz mit Russland auszuscheren (4). Das geschah zu einem Zeitpunkt, als man auch in Kiew noch glaubte, die Rolle eines Brückenbauers zwischen Ost und West spielen und gleichzeitig gute Beziehungen zu Brüssel und Moskau aufrechterhalten zu können. Der Umsturz in der Ukraine nach den Protesten auf dem Maidan Nezalezhnosti in Kiew im Jahr 2014 setzte auch diesen Träumen ein Ende. 

Angesichts der landesweiten Proteste nach der Präsidentschaftswahl in Belarus im August 2020 erklärte Makei, dass das Land Veränderungen brauche, aber nicht durch Revolutionen. Im Nachgang der Unruhen leitete Makei eine Säuberungsaktion im belarussischen Außenministerium ein, als er die Mitarbeiter des Ministeriums aufforderte, entweder der Regierungspolitik zuzustimmen, oder aber ihre Plätze zu räumen (5). Noch weiter ging er im November 2020 als er damit drohte, die Zusammenarbeit mit dem Europarat einzustellen und die diplomatischen Beziehungen zur Europäischen Union abzubrechen, falls erneut Sanktionen verhängt würden (6). 

In seiner Rede vor der alljährlich stattfindenden Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York machte Makei im vergangenen September den kollektiven Westen mitverantwortlich für den Krieg in der Ukraine und lehnte dessen Führungsanspruch in der Weltpolitik ab (7). 


Kurswechsel?

Wie aber ist der vermeintliche Kurswechsel von Wladimir Makei nach 2020 zu erklären? Im kurz vor seinem Tod erschienenen Artikel „Liberal International Order: Can It Be Saved in Today’s Non-Hegemonic World?“ wies sich Makei als Kenner europäischer Geistesgeschichte aus und ließ uns tief in seine Geisteshaltung blicken, die für weite Kreise auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nicht untypisch sein dürfte (8). Die Kenntnis dieser Geisteshaltung erlaubt es uns, gewisse Verhaltensweisen der Länder des Ostens in der Vergangenheit nachzuvollziehen und in einem gewissen Maß ihre Handlungen in der Zukunft zu antizipieren. Wie man diese Handlungen werten will, ist eine andere Frage. Es geht hier deshalb nicht darum zu entscheiden, ob Makei nun recht oder unrecht hatte, sondern zu erkennen, dass auch die, im Konflikt mit dem Westen befindliche östliche Seite ihre Handlungen auf rationale Überlegungen abstützt, mit denen man sich vertraut machen sollte, bevor man sich in einen Atomkrieg stürzt.


Der „demokratische Friede“   – Krieg um des Friedens willen?

Anlässlich der erwähnten Rede vor der UN-Generalversammlung verortete Makei die wahren Ursachen des aktuellen Kriegs in der Ukraine im geopolitischen Chaos, das beim Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren entstanden sei. Heute müssen wir uns fragen, ob es dem Westen 1991 an Ideen für die Gestaltung der Zukunft nach dem Zerfall des kommunistischen Blocks fehlte. 

Mit der Bemerkung, die Geschichte habe kein Ende, wie in den Neunzigerjahren noch gedacht, nahm Makei Bezug auf die Theorien des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, der in seinem Artikel „The End of History“ und in seinem Buch „The End of History and the Last Man“ das Ende der Geschichte prophezeit hatte, insoweit diese aus einer Abfolge von Kriegen, Rivalität und Konfrontation bestehe. Fukuyamas Theorien stießen schon damals auf Kritik (9). Auch Fukuyama selbst musste inzwischen zugeben, dass der rasante wirtschaftliche Aufstieg der autoritär geführten Volksrepublik China seinen Theorien widerspreche (10). Der Glaube an das Ende der Geschichte basiert auf ideologischen Überzeugungen von Liberalen. Insofern ist ein neuer ideologischer Gegensatz entstanden, der nicht primär wirtschaftlich bedingt ist   – d.h. dem Gegensatz zwischen Markt- und Planwirtschaft   – sondern politisch. 

Trotz aller Kritik an den Thesen Fukuyamas machte der Westen sich daran, diese umzusetzen, denn man sah den Zerfall des kommunistischen Blocks als Höhepunkt des „American Century“ (11) und als Gelegenheit, die Theorie des „demokratischen Friedens“ in die Tat umzusetzen. Diese Theorie fußt wesentlich auf Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ und besagt, dass politische Gebilde, in denen der Wille der Bevölkerung relevant sei, friedlicher seien, als Monarchien, in denen sich die Herrschenden für Krieg und den daraus resultierenden Verlust an Menschenleben und Vermögen nicht zu rechtfertigen brauchten. Diese Theorie ist aber nicht ganz unumstritten (12). 

Mangels demokratischer Legitimation rechtfertigen Autokraten heutzutage ihre Herrschaft oftmals mit den Erfolgen, die ihre Politik erzielt. Der Verlust von Menschenleben und Volksvermögen in großem Ausmaß lässt sich in der heutigen Informationsgesellschaft weder geheim halten noch als Erfolg verkaufen. Hierin liegt ein begrenzendes Moment, das Autokraten zuweilen davor zurückschrecken lässt, beim geringsten Anlass zur Waffe zu greifen. Insofern kommt man nicht umhin, Makei zuzustimmen, wenn er sagt, dass das von Kant generierte Bild der Konfrontation von Demokratien mit Autokratien der Komplexität der heutigen Welt nicht gerecht werde (13). Insbesondere der Versuch, die zahlreichen Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mit der unvollständigen Demokratisierung der Mehrzahl ihrer ehemaligen Teilrepubliken zu begründen, dürfte zu wenig weit greifen.

Nicht zu vergessen ist auch die unterschiedliche Einstellung gegenüber militärischer Gewaltanwendung in der damaligen und der heutigen Zeit. Zur Zeit Kants war diese eine rechtspositivistische: Der Monarch als Inhaber der höchsten Rechtsbefugnisse im Land hatte in Konflikten die Wahlfreiheit zwischen Verhandlungen und militärischer Gewaltanwendung. Schon nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs waren die Zeitgenossen nicht mehr dieser Auffassung, wie der Briand-Kellog-Pakt von 1928 zeigte (14). Nach dem noch verheerenderen Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg, in welchem das Überleben der Menschheit als Ganzes auf dem Spiel stand, lehnen wir heute eine solche Wahlfreiheit gänzlich ab. 

Ganz sicher geht es zu weit, Kants Theorien als Rechtfertigung für die Verbreitung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten mit Feuer und Schwert heranzuziehen, zumal Kant in erster Linie wohl in Monarchien die wahrscheinlichsten Aggressoren erblickte. Selbst demokratisch bemäntelte Interventionen stießen in jüngster Zeit auch in nicht-demokratischen Gesellschaften auf Widerstand, wie beispielsweise der Krieg in Afghanistan zeigte. Ferner bleibt bei solchen Interventionen immer der Verdacht, dass die Wahl der Aggressionsobjekte, gegen welche der kollektive Westen gerade vorgehen will, eher geopolitischen oder geoökonomischen Kriterien gehorche, als Kriterien von Demokratie, Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit. Das Ganze soll uns dann unter dem Label des Kampfs des Guten gegen das Böse verkauft werden 

Den verschiedenen Demokratie-Indizes zufolge sind längst nicht alle Staaten der Erde vollständige Demokratien. Genau genommen umfasst diese Gruppe eine Minderheit der Staaten weltweit und selbst die USA gelten nicht immer als vollständig demokratisch (15). Allein daraus wird klar, dass der Führungsanspruch der USA, den gerade die Administration Biden wieder erhob, eher mit den Ressourcen des Landes begründet ist, als mit der Qualität der dortigen Demokratie. Wenn die circa 30 vollständig demokratischen Staaten der Erde permanent den Rest bekämpfen, dann resultiert ein globales Catch-As-Catch-Can: ein Ringen ohne Regeln. Es würde dem Geist Kants widersprechen, wenn die selbsternannten Hüter der Demokratie nach Belieben jene angreifen, die als etwas weniger demokratisch gelten.


Führungsanspruch des Westens

In seinem Artikel definierte Makei seine Vorstellungen einer internationalen Ordnung, die er eher als informellen Mechanismus betrachtet denn als Regelwerk, das von selbsternannten Führungsmächten erstellt wurde. In der Tat wurde die liberale internationale Ordnung LIO am Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Basis der Werte und der Interessen der USA aufgebaut. Der Begriff des „American Century“ kommt nicht von ungefähr.

Als Ursprung der heutigen Weltordnung sieht Makei aber vor allem den Westfälischen Frieden von 1648, welcher dem Dreißigjährigen Krieg ein Ende setzte. In diesem verzichteten die Kriegsparteien auf Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der ehemaligen Gegner. Damals ging es natürlich in erster Linie um die Religionszugehörigkeit der Untertanen. 

Vielsagend ist auch der Hinweis Makeis auf den Wiener Kongress von 1815, dem es gelungen sei, die ehemaligen Gegner in ein System internationaler Sicherheit zu integrieren, das über Jahrzehnte Bestand gehabt habe. Tatsächlich ging der Wiener Kongress weit über die Rückgängigmachung der Eroberungen des revolutionären und napoleonischen Frankreichs hinaus, indem er Frankreich wieder in das Konzert der Großmächte aufnahm und das auf Gleichgewicht ausgerichtete System der Pentarchie schuf. 

Ein ungerechter und für eine Seite erniedrigender Friede   – so Makei   – trage den Samen für neue Konflikte in sich. Nach 1990 hätten die selbsternannten Sieger des Kalten Kriegs aber den Mechanismus von 1919 gewählt. Auf die negativen Folgen des Versailler Friedens von 1919 muss man wohl kaum eigens hinweisen. Nach 1991 hätten die neuen unabhängigen Republiken der ehemaligen Sowjetunion keine andere Wahl gehabt, als zu neuen Satelliten des Westens zu werden. Heute träfen unvereinbare Vorstellungen einer konzentrischen, westlich geprägten und einer polyzentrischen Welt ohne Kontrollzentrum aufeinander (16).

Gerade diejenigen Länder, die in der Vergangenheit bei ihrem Kampf um Unabhängigkeit von den Kolonialmächten auf die Unterstützung der Sowjetunion bauen durften, sind heute nicht geneigt, sich um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte willen dem Willen Washingtons oder Brüssels unterzuordnen. Und die unabhängigen Republiken, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden, sind nicht bereit, die Weisungen Brüssels entgegenzunehmen, nachdem sie sich 1991 aus der Bevormundung Moskaus lösen konnten. Alle diese Länder sind als potenzielle Unterstützer Russlands und Chinas anzusehen, wenn diese sich als Verfechter einer multipolaren Welt zu profilieren suchen. Zu diesen Ländern zählt auch die Republik Belarus   – unabhängig davon, ob deren Staatspräsident Alexander Lukaschenko heißt oder anders. Die Administration Biden kalkulierte möglicherweise nicht mit ein, dass die weniger demokratischen Staaten der Erde auf westliche Blockbildung ihrerseits mit Blockbildung reagieren würden. Hier zeigt sich, dass die selbsternannten Gewinner des Kalten Kriegs nicht genug aus der Vergangenheit gelernt haben (17).

Und der Westen lernte in einem Vierteljahrhundert auch nicht dazu: Im Jahr 2016 bot Makei anlässlich des OSZE-Außenministerrats in Hamburg an, in Minsk eine Plattform für offene Gespräche zwischen Vertretern westlicher Länder, Russlands und Chinas über die Ursachen der Krise in den internationalen Beziehungen zu schaffen (18). Der Vorschlag wurde ebenso wenig angenommen wie 2009 der Vorschlag Russlands für einen europäischen Sicherheitsvertrag und der belarussische Vorschlag für einen globalen Sicherheitsvertrag von 2017 (19). 

In New York forderte Makei ein umfassendes Friedensabkommen im Geist von San Francisco (d.h. der Gründung der Vereinten Nationen 1945), in welchem die Bewegung der Non-Aligned-States und die BRICS einen angemessenen Platz finden müssten (20). Das ist bemerkenswert, denn es ist kaum anzunehmen, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow vor dem Hintergrund des eigentlichen Stellvertreterkriegs, der momentan in der Ukraine in Gang ist, solches gefordert hätte. Das wäre ihm in einer Atmosphäre, in welcher Verhandlungsangebote als Schwächezeichen interpretiert werden, sofort als Kapitulation ausgelegt worden. Offenbar ist aber die belarussische Seite durchaus bereit, die Ordnung von San Francisco von 1945 zu bewahren, während viele westliche Experten diese schon als unrettbar betrachten. Eine solche Neuauflage dürfe allerdings nicht unbestritten zu den Konditionen des Westens erfolgen, sondern müsse die Interessen einer Mehrheit von Staaten, die sich nicht dem Westen zuordnen lassen wollen, berücksichtigen, forderte Makei: Ordnung ja, Gehorsam nein (21).


Liberale Wirtschaftsordnung und Wirtschafssanktionen

In wirtschaftlicher Hinsicht, so räumte Makei ein, habe die liberale internationale Ordnung LIO den Entwicklungsländern durchaus einen Vorteil gebracht, weil weltweit tätige Wirtschaftsunternehmen die Produktion von Gütern weitgehend in Länder verlegt hätten, in denen der Faktor Arbeit kostengünstiger sei, als in den Industrienationen. Die der liberalen Wirtschaftsordnung inhärente Problematik des Entstehens sozialer Ungleichheit habe der Kommunismus zu überwinden versucht. Heute verfolge der Westen durch seine Wirtschaftssanktionen eine Strategie, die auf Hungerrevolten in den Zielländern setze. Kuba aber habe sechs Jahrzehnten westlicher Sanktionen widerstanden (22).

Eine derartige Strategie kommt einer Erniedrigung der Bevölkerung in all jenen Ländern gleich, in denen „Farbige Revolutionen“ mit Wirtschaftssanktionen kombiniert werden. Die liberale Weltwirtschaftsordnung wird uns immer dann in Erinnerung gerufen, wenn es westlichen Ländern zum Vorteil gereicht. Auf der anderen Seite mindert der Westen mit seinen inflationär zunehmenden Wirtschaftssanktionen die Attraktivität der liberalen Wirtschaftsordnung selbst.


Makeis Vermächtnis

Die in seiner Rede in New York und seinem letzten Artikel vorgebrachte Kritik Makeis am Westen beinhaltet Hinweise auf eine mögliche Ordnung für die Zukunft. 

In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht erscheint vielen der nicht-demokratischen Regierungen der Welt der „chinesische Weg“ attraktiver als der russische Weg der Neunzigerjahre, als kommunistische Funktionäre sich flugs zu Geschäftsleuten wandelten und die sowjetische bzw. russische Wirtshaft nach Belieben plünderten. Die Rubel- und Wirtschaftskrise in Russland 1998 war sicherlich auch Wladimir Makei in ebenso lebhafter Erinnerung wie vielen seiner Landsleute. Diese Klientel wird eine gewisse politische und wirtschaftliche Stagnation einem Experiment nach Art der Ukraine voraussichtlich vorziehen. 

Seit 2020 steht insbesondere Belarus vor einem Scheideweg: Soll es seine Wirtschaft liberalisieren, auf die Gefahr hin, dass wie im Russland der Neunzigerjahre alle noch rentablen Staatsbetriebe für einen Spottpreis an ausländische Investoren verscherbelt werden, die bis dato schon genug in die „Demokratie“ im Land investiert haben? Oder soll es auf dem aktuellen Stand verharren? Eine Entwicklung wie in der Ukraine wird wohl den wenigsten Menschen in Belarus als Vorbild vorschweben.

Die wenigsten Länder der ehemaligen Sowjetunion haben eine Tradition westlicher Demokratie und sie sind auf dem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterschiedlich weit vorangeschritten. Es ist verständlich, dass sich diese Länder nicht ständig mit der Nase auf ihr Demokratiedefizit stoßen lassen wollen. Insofern hat jedes Land Anrecht auf seinen eigenen Weg. Der Westen wird lernen müssen, mit etwas weniger demokratischen Ländern der Welt adäquat umzugehen. 

Heute fragt sich, ob die Entourage Bidens und die Fraktion der Demokratischen Partei in den USA bereit sind, ihr nach 1991 aufgebautes Imperium ebenso gewaltlos preiszugeben, wie es seinerzeit Michail Gorbatschow mit dem Sowjetimperium tat. 

Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.


Zum Autor: Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee und arbeitete 25 Jahre als Berufsoffizier (Instruktor). Er absolvierte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz und Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe tätig war.


Anmerkungen: 

  1. Belarussisch Uladzimir Makei. Sein Lebenslauf findet sich auf der Homepage des belarussischen Außenministeriums https://mfa.gov.by/en/ministry/senior_staff/. Siehe „СМИ: причиной смерти Макея стал инфаркт“, bei Argumenti i Fakti AIF.ru, 26.11.2022, online unter https://aif.ru/politics/smi_prichinoy_smerti_makeya_stal_infarkt
  2. Vgl. „Смерць Макея: рука Масквы, помста Лукашэнкі ці проста інфаркт?“, bei Nasha Niva, 26.11.2022, online unter https://nashaniva.com/304053. Der Berater des ukrainischen Innenministers Anton Gerashchenko twitterte, dass Makei vergiftet worden sei. Gerashchenko betrachtete ihn als einen der wenigen belarussischen Beamten, die nicht unter russischem Einfluss standen und sah ihn schon als möglichen Nachfolger von Staatspräsident Lukaschenko. Siehe Twitter: https://twitter.com/gerashchenko_en/status/1596524311275503616.
  3. Siehe „Налаживал отношения с Западом, устраивал праздники вышиванки и оправдывал репрессии. Чем запомнится глава МИД Владимир Макей“ bei Зеркало, 26.11.2022, online unter https://news.zerkalo.io/economics/27011.html. Der Artikel bei Wikipedia.ru basiert im Wesentlichen auf diesem Beitrag.
  4. Ebd.
  5. Siehe „Два сотрудника МИД Белоруссии поддержали протестующих“, bei Lenta.ru, 17.08.2020, online unter https://lenta.ru/news/2020/08/17/bel_mid/
  6. Siehe „Макей: Беларусь готова прекратить любое сотрудничество с Советом Европы“, bei Nasha Niva, 26.11.2020, online unter https://nashaniva.com/?c=ar&i=263728&lang=ru und „Макей пригрозил разрывом дипотношений в качестве крайней меры при введении Евросоюзом санкций“, bei Tut.by, 18.09.2020, online unter https://web.archive.org/web/20201128093449/https://news.tut.by/economics/701019.html. 
  7. Siehe Statement by Foreign Minister Vladimir Makei at the 77th Session of the UN General Assembly (September, 2022), in englischer Übersetzung online unter https://mfa.gov.by/en/press/video/e7217c2af0410e89.html, russisch unter https://mfa.gov.by/press/video/f8e9cf64af0339d0.html.
  8. Siehe Vladimir Makei: Liberal International Order: Can It Be Saved in Today’s Non-Hegemonic World?, bei: Russia in Global Affaitrs, 10.11.2022, online unter https://eng.globalaffairs.ru/articles/liberal-international-order/, eine deutsche Übersetzung findet sich bei GlobalBridge: „Vladimir Makei, der weissrussische Aussenminister, wusste, wovon er sprach“, 27.11.2022, online unter https://globalbridge.ch/vladimir-makei-der-weissrussische-aussenminister-wusste-wovon-er-sprach/
  9. Eine Zusammenfassung der Kritik durch Stefan Jordan: Francis Fukuyama und das „Ende der Geschichte“, Version 1.0, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), H. 1, S. 159-163, online unter https://docupedia.de/images/f/fd/Fukuyama,_Ende_der_Geschichte.pdf. 
  10. Siehe das Interview von Michael Thumann und Thomas Assheuer mit Francis Fukuyama: „Demokratie stiftet keine Identität“, ist das Modell des Westens am Ende? Ein Gespräch mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, bei Zeit Online, 17.03.2016, online unter https://www.zeit.de/2016/13/francis-fukuyama-politikwissenschaftler-populismus-usa/komplettansicht.
  11. Vgl. hierzu Paul Kennedy: Das Jahrhundert der Imperien, 1. Supermacht USA, in: Der Spiegel 46/1998, 08.11.1998, online unter https://www.spiegel.de/politik/supermacht-usa-a-87618b7b-0002-0001-0000-000008030968?context=issue
  12. Zur Kritik daran siehe Matthew White: Democracies Do Not Make War on One Another …or Do They? online unter http://users.erols.com/mwhite28/demowar.htm
  13. Siehe Statement by Foreign Minister Vladimir Makei at the 77th Session of the UN General Assembly, a.a.O.
  14. Englischer Text des Pakts auf der Webseite der Yale-Universität, online unter https://avalon.law.yale.edu/20th_century/kbpact.asp, deutsche Übersetzung: „Briand-Kellogg-Pakt 1928   – Materialien zum Völkerstrafrecht“, auf der Website der Juristischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München, online unter https://www.jura.uni-uenchen.de/fakultaet/lehrstuehle/satzger/materialien/kellogg1928d.pdf
  15. Gemäß dem Demokratie-Ranking der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, online unter https://www.demokratiematrix.de/ranking, gibt es weltweit 35 funktionierende Demokratien. Vgl. René Bocksch: Der Stand der Demokratie, basierend auf dem Economist Democracy Index, 11.02.2022, online unter https://de.statista.com/infografik/20599/economist-democracy-index/. Gemäß der Economist Intelligence Unit sogar nur deren 20. Siehe Economist Intelligence UnitDemocracy Index 2021: the China challenge, online unter https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy-index-2021/. Der Freedom Index des Freedom House:  Freedom in the World, online unter https://freedomhouse.org/report/freedom-world. Zu Demokratie-Indizes allgemein siehe Demokratie­Barometer: Die Ratingagenturen politischer Systeme, bei: Addendum, 18.10.2017, online bei https://www.addendum.org/demokratie/demokratie-barometer/. Vgl. auch Hauke Hartmann, Peter Thiery: BTI Transformation Index, Globale Ergebnisse, Abnehmende Resilienz, bei: Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2022, online unter https://bti-project.org/fileadmin/api/content/de/downloads/BTI_2022_Globale_Ergebnisse_DE.pdf. Eine gewisse Vorsicht im Umgang mit solchen Indizes ist folglich angebracht. 
  16. Siehe Statement by Foreign Minister Vladimir Makei, a.a.O.
  17. Siehe Statement by Foreign Minister Vladimir Makei, a.a.O., Minuten 3   – 5.
  18. Siehe „Налаживал отношения с Западом, устраивал праздники вышиванки и оправдывал репрессии. Чем запомнится глава МИД Владимир Макей“ bei Зеркало, 26.11.2022, online unter https://news.zerkalo.io/economics/27011.html
  19. Siehe Statement by Foreign Minister Vladimir Makei, a.a.O.
  20. Siehe Makei: Liberal International Order, a.a.O.
  21. Eigentlich widerspricht die sicherheitspolitische Tätigkeit einer supranationalen Organisation wie der EU einer der Hauptforderungen Kants, wonach das Völkerrecht auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein solle. Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Mit den Passagen zum Völkerrecht und Weltbürgerrecht aus Kants Rechtslehre. Kommentar von Oliver Eberl und Peter Niesen, Frankfurt/M. 2011, S. 237.
  22. Siehe Statement by Foreign Minister Vladimir Makei, a.a.O., Minute 10f.

    Quelle: https://globalbridge.ch/kant-fukuyama-makei-und-der-krieg-in-der-ukraine/
    Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.ch


Info: https://seniora.org/politik-wirtschaft/kant-fukuyama-makei-und-der-krieg-in-der-ukraine


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

04.12.2022

Vladimir Makei, der weissrussische Aussenminister, wusste, wovon er sprach

globalbridge.ch, 27. November 2022 Autor: Redaktion in Geschichte, Politik, Wirtschaft

(Red.) In einer Zeit, in der, nicht zuletzt in Westeuropa, gewisse Aussenministerinnen deutlich mehr Einbildung als Ausbildung vorzuweisen haben, gibt es auch Aussenminister, die von der Ideen- und Geistesgeschichte dieser Welt noch eine Ahnung haben – oder eben, leider, hatten: Am Samstag ist der weissrussische Aussenminister Vladimir Makei überraschend verstorben. Nur zwei Wochen vor seinem Tod hat er auf der Website «RUSSIA IN GLOBAL AFFAIRS» einen Artikel zum Thema Weltordnung veröffentlicht, in dem er aufzeichnet, warum die «Liberale Internationale Ordnung» (LIO) als von allen Seiten zu akzeptierende Weltordnung ausgedient hat. (cm)

(Kleine Vorwarnung: Die Zeitschrift «RUSSIA IN GLOBAL AFFAIRS» richtet sich, ähnlich wie die US-amerikanische Zeitschrift «Foreign Affairs», in erster Linie an professionelle Politologen, an eine akademisch ausgebildete, politisch und vor allem auch geopolitisch interessierte Leserschaft. Die Redaktion von Globelbridge.ch bringt diesen Beitrag aus aktuellem Anlass. Der zum Verständnis des Artikels erforderliche historische Background kann nicht von jedermann erwartet werden. Stil und Länge des Beitrags sollen auf Globalbridge.ch eine Ausnahme bleiben. Red.)

(Red.) Zuerst die Zusammenfassung des Artikels von Vladimir Makei, geschrieben von ihm selbst:

Es ist allgemein bekannt, dass die «Liberale Internationale Ordnung» (LIO) nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren erreichte, als ihr Hauptvertreter – die USA – eine hegemoniale Position auf der globalen Bühne einnahm. Die wahren Wurzeln der LIO sind jedoch viel früher zu suchen, nämlich im späten 18. Jahrhundert, als sich in der europäischen Politik zwei unterschiedliche Richtungen herausbildeten, die wirtschaftliche und die politische. Beobachter neigen dazu, den dualen Charakter der LIO zu übersehen, der sich aus diesen beiden Richtungen ergibt, und übersehen dabei das ihr innewohnende Hauptproblem. Während die wirtschaftliche Schiene der LIO für alle akzeptabel sein mag, dient ihre politische Schiene, die im Konzept des Demokratischen Friedens verkörpert ist, nur dazu, die Welt zu polarisieren. Wichtig ist, dass der derzeitige Diskurs über die LIO in einer posthegemonialen Zeit geführt wird. Diejenigen, die immer wieder auf der Möglichkeit bestehen, die LIO zu retten, die für eine kurze liberale Hegemonialzeit relevant war, verkennen, dass die heutige vielfältige Welt eine neue Art von internationaler Ordnung erfordert.

(Red.) Und ab hier sein in englischer Sprache veröffentlichter Beitrag, ins Deutsche übersetzt:

In den letzten zehn Jahren hat das Interesse am Thema der so genannten «Liberalen Internationalen Ordnung» LIO allmählich zugenommen, insbesondere in der westlichen akademischen Gemeinschaft. Die Hauptursache für diesen allgemeinen Trend scheint der unaufhaltsame Aufstieg Chinas und der immer deutlicher werdende Niedergang der USA zu sein. Viele Experten argumentieren, dass der Aufstieg Chinas eine langfristige existenzielle Bedrohung für die LIO darstellt, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Werten und Interessen der USA – der damals dominierenden Macht – aufgebaut wurde. Dieser Argumentation zufolge ist China, wenn es auf der Weltbühne zu einer dominanten Macht wird, dazu bestimmt, die liberale Ordnung durch eine internationale Ordnung zu ersetzen, die besser zu seinem eigenen politischen und wirtschaftlichen System passt. Es ist also eine „autoritäre“ internationale Ordnung im Entstehen begriffen. Folglich waren die westlichen Akademiker im Allgemeinen eher pessimistisch, was die Aussichten der LIO betrifft.

Die Debatte über die LIO wurde in den Jahren 2016-2017 vor dem Hintergrund der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, des Brexit Großbritanniens aus der Europäischen Union, der Massenmigration aus dem Nahen Osten nach Europa und des zunehmenden Populismus und Rechtsnationalismus in einigen westeuropäischen Ländern besonders brisant. Sehr bezeichnend für diesen Trend war der Titel der Januar-Februar-Ausgabe 2017 von «Foreign Affairs» – „Out of Order: The Future of the International System“ (Die Zukunft des internationalen Systems), die sehr aufschlussreiche Beiträge von anerkannten westlichen Experten enthielt.

Außerdem fand eine höchst interessante intellektuelle Debatte über die Zukunft der LIO zwischen zwei renommierten westlichen politischen Experten, dem Briten Niall Ferguson und dem Amerikaner Fareed Zakaria, statt (The Bridgehead, 2017). Fast zwei Stunden lang stritten sie in einer Fernsehsendung um eine Antwort auf die Frage: „Ist die liberale Weltordnung vorbei?“, wobei Ferguson für ihr nahes Ende und Zakaria dagegen argumentierte. Die meisten Zuschauer stimmten für Fergusons pessimistische Sicht auf die Zukunft der LIO.

Das jüngste Interesse an der LIO entstand im Zusammenhang mit Russlands militärischer Sonderoperation in der Ukraine, die am 24. Februar 2022 begonnen hat. Wieder einmal schien die Debatte in den westlichen Medien stärker zu sein. Der Westen vertritt allgemein die Auffassung, Russlands Vorgehen in der Ukraine habe der LIO einen tödlichen Schlag versetzt, die durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und seine zunehmend selbstbewusste Außenpolitik sowie durch einige anhaltende transnationale Herausforderungen wie den Klimawandel, die öffentliche Gesundheit und vieles Andere bereits geschädigt worden sei. Diesem Gedankengang zufolge gibt es keine Hoffnung auf eine Wiederbelebung der LIO.

Auch nicht-westliche Politiker und Politikwissenschaftler beteiligen sich seit fast einem Jahrzehnt an der Debatte über die LIO, wenn auch scheinbar in kleinerem Rahmen. So äußerte sich beispielsweise der russische Präsident Wladimir Putin in einem Interview mit der «Financial Times» im Juni 2019 zu diesem Thema und argumentierte, die liberale Idee habe ihren Zweck überlebt und die LIO sei obsolet geworden, da sie mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Menschen [in der Welt] in Konflikt geraten sei (Financial Times, 2019). Auch «Russia in Global Affairs» hat sich regelmäßig an der Debatte beteiligt.

In der Debatte über die LIO wurden die so genannten „Demokratien“ gegen „Autokratien“ ausgespielt, da die LIO mit den ersteren in Verbindung gebracht wird, während die Bedrohung für die LIO angeblich von den letzteren ausgeht. Für diese Begriffe gibt es keine allgemeingültigen Definitionen. Nichtsdestotrotz wissen wir alle, wofür sie stehen. In groben Zügen verstehen wir unter „Demokratie“ eine Form des Regierens, bei der die Macht dezentralisiert und mehr oder weniger gleichmäßig auf die verschiedenen Zweige verteilt ist, während „Autokratie“ eine Form des Regierens ist, bei der die Macht zentralisiert ist und bei der die Rolle der Exekutive ziemlich ausgeprägt ist. Ein Autokrat an der Macht würde beispielsweise niemals dem berühmten Ausspruch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zustimmen: „Die Regierung ist nicht die Lösung für unser Problem, die Regierung ist das Problem“ (Reagan, 1981). Jeder „Autokrat“ würde sicherlich für das Gegenteil einstehen.

Dieser Artikel ist ein Versuch, einen bescheidenen Beitrag zur Debatte über die LIO aus der Perspektive eines „autokratischen“ Staates zu leisten – Belarus, wie es vom Westen in diese Kategorie eingeordnet wird und der Autor dieses Artikels ist zufällig belarussischer Außenminister. Mit diesem Versuch erhebe ich gewiss nicht den Anspruch, die Sicht aller „Autokratien“ darzustellen; vielmehr biete ich meine eigene Sichtweise an, die auf der langjährigen Erfahrung als hoher Beamter in einem „autokratischen“ Land beruht. Wichtig ist, dass ich den Begriffen „Demokratie“ und „Autokratie“ keine pejorative Bedeutung beimesse; sie werden in diesem Papier lediglich der Einfachheit halber verwendet, um ihrer breiten Verwendung im außenpolitischen Diskurs zu folgen.

Entstehung, Substanz, Herausforderungen

Was ist eine internationale Ordnung und warum wird die derzeitige Ordnung als liberal angesehen?

Eine internationale Ordnung kann im Allgemeinen als ein dominantes Muster des weltpolitischen Engagements ihrer Akteure betrachtet werden. Wie es im Verlaufe der Geschichte immer der Fall war, hat ein führendes oder hegemoniales Land die Schlüsselrolle bei der Schaffung einer internationalen Ordnung gespielt. Dieses Land versucht stets, auf der internationalen Bühne bestimmte Verhaltensregeln aufzustellen, denen andere freiwillig oder unfreiwillig folgen. Eine internationale Ordnung ist also eher ein informeller Mechanismus, der in Ermangelung einer solchen Regierung die Rolle einer Weltregierung übernehmen kann.

Wann hat sich die heutige LIO entwickelt? Die gängige Meinung besagt, dass diese Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise entstand, als die USA mit Unterstützung anderer westlicher Länder eine Reihe von Institutionen, Regeln und Normen förderten, die eine Wiederholung der Fehler der 1930er Jahre vermeiden und stattdessen Frieden, Wohlstand und Demokratie fördern sollten. So kam es, dass die LIO schließlich auf internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation, Sicherheitsbündnissen wie der NATO, informellen Gruppierungen wie der G7 und der G20, zahlreichen internationalen Verträgen und Konventionen sowie vielen anderen formellen und informellen Vereinbarungen und Instrumenten beruhte. Zusammengenommen beeinflussen diese Strukturen fast jeden Aspekt des Lebens in der Welt.

So stützt sich die LIO auf folgende Schlüsselelemente: Freihandel, freier Kapitalverkehr, demokratische Regierungsform, die auf der Trennung und Ausgewogenheit der verschiedenen Gewalten beruht, Engagement für die Menschenrechte, einschließlich verschiedener individueller bürgerlicher und politischer Rechte, und das Recht auf Eigentum. Die Befürworter nannten sich jeweils „Demokratien“, offensichtlich um die eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich die Möglichkeit hat, Behörden zu wählen und durch gewählte Vertreter zu regieren.

Die LIO entstand im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg. Daher wurde sie natürlich von der Sowjetunion und ihren Verbündeten in Frage gestellt. In der Tat stellte der Sowjetblock mit seinen alternativen Versionen der politischen und wirtschaftlichen internen Organisation eine Art vorübergehende Alternative zur westlich geführten Ordnung dar. Der Zusammenbruch des Blocks zu Beginn der 1990er Jahre und die Übernahme „liberaler“ Werte durch seine ehemaligen Mitglieder veranlasste einen sehr berühmten politischen Analysten, das „Ende der Geschichte“ auszurufen (gemeint ist der Politikwissenschafter Francis Fukuyama. Red.). Seiner Logik zufolge konnte es nach dem Sieg des Liberalismus über den Kommunismus keine Alternative mehr zur LIO geben, und folglich war die Geschichte, wie wir sie kannten, d. h. die Geschichte der Kriege, Rivalitäten und Konfrontationen, endlich vorbei.

Eine weitere ideologische Herausforderung für die LIO, wenn auch nur von kurzer Dauer, kam von den Entwicklungsländern inmitten des Kalten Krieges in den frühen 1970er Jahren. Die Entkolonialisierung der 1960er Jahre brachte viele neue Entwicklungsländer auf die Weltbühne, die sich in der LIO und insbesondere im Freihandel mit den westlichen Industriestaaten im Nachteil sahen.

Also stellten sich die Entwicklungsländer einer gemeinsamen Herausforderung. Ihre Initiative mit der Bezeichnung „Neue Internationale Wirtschaftsordnung“ (New International Economic Order) wurde im Schlussdokument des Gipfels der Blockfreien Bewegung 1973 formell festgehalten und 1974 als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter demselben Titel angenommen. Das Programm sah Maßnahmen vor, die darauf abzielten, die bestehenden internationalen Wirtschaftsbeziehungen in einer Weise zu verändern, die für die Dritte Welt vorteilhafter wäre. Die Umsetzung der Initiative hing jedoch vom guten Willen des Westens ab, der sie ablehnte.

So hatte die LIO in den 1990er Jahren scheinbar alle vorübergehenden Herausforderungen überstanden und war so stark und widerstandsfähig geworden, wie sie nur sein konnte. Doch was ist nur wenige Jahrzehnte später schief gelaufen (aus historischer Sicht ja nur ein flüchtiger Moment)? Was führte dazu, dass sich der weltweite Diskurs über die LIO von strahlendem Optimismus in sauren Pessimismus verwandelte? Um diese Fragen zu beantworten, erscheint es sinnvoll, die LIO als solche näher zu betrachten und zu prüfen, ob sie einige inhärente Fehler aufweist, die ihr unvermeidliches Scheitern vorherbestimmt haben.

Markenzeichen und übergeordnetes Prinzip

Wenn Politikwissenschaftler sagen, die LIO sei nach 1945 entstanden, haben sie sowohl Recht als auch Unrecht. Sie haben Recht, wenn sie dieses Datum als den Beginn der praktischen Arbeit am Aufbau der mit der LIO verbundenen Strukturen bezeichnen. Sie liegen falsch, wenn sie nicht weiter in die Vergangenheit schauen, um Ereignisse und Entwicklungen zu finden, die die Entstehung der LIO in der Mitte des 20. Jahrhunderts ermöglichten.

In seinem Buch «World Order» (2014) behauptet der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, es habe nie eine wirklich globale „Weltordnung“ gegeben und das, was in unserer Zeit als Ordnung gilt, sei vor fast vier Jahrhunderten in Westeuropa entwickelt worden. Kissinger zufolge wurde der Westfälische Friede von 1648, der auf einem System unabhängiger Staaten beruhte, die sich nicht in die inneren Angelegenheiten der anderen einmischten und die Ambitionen der anderen durch ein allgemeines Machtgleichgewicht kontrollierten, zum Markenzeichen eines neuen Systems internationaler Ordnung (Kissinger, 2014, S. 3).

Eine weitere wichtige Einsicht in den Ursprung der LIO lieferte der britische kritische Historiker Eric Hobsbawm in seinem bahnbrechenden Buch «The Age of Revolution» (1962), dem ersten einer Trilogie seiner Bücher über das „lange 19. Jahrhundert“. Eric Hobsbawm entwickelte den Begriff der Doppelrevolution, womit er die britische industrielle Revolution, die Ende des 18. Jahrhunderts stattfand, und die französische Revolution von 1789 meinte.

Hobsbawm zufolge setzte die Industrielle Revolution um 1780 ein und dauerte zwanzig Jahre, wobei das revolutionäre Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung seitdem zur Norm wurde. Die Französische Revolution, die von den Idealen der Aufklärungsphilosophie inspiriert war, setzte die Verbreitung von Ideen wie Demokratie, Nationalismus und Liberalismus in Gang. In der Tat wurde der Liberalismus in der Zeit nach der Französischen Revolution zu einer dominierenden Bewegung. Die Liberalen glaubten an die Pressefreiheit, die Redefreiheit, die Bürgerrechte, faire Wahlen, die Religionsfreiheit und das Privateigentum. So bezeichnete Hobsbawm die Industrielle Revolution als eine wirtschaftliche Revolution, während die Französische Revolution als politische Revolution angesehen wurde. Zusammengenommen bilden sie die „doppelte Revolution“.

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Schlüsselelemente der heutigen LIO – Liberalismus, Freihandel und Demokratie – aus der doppelten Revolution an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stammen. Wenn also der Westfälische Friede von 1648 das Markenzeichen der LIO war, kann die «Doppelte Revolution» sicherlich als ihr übergeordnetes Prinzip und ihr Wegbereiter angesehen werden.

Die «Doppelte Revolution» hat sich schließlich zur LIO entwickelt. Aber der Weg der «Doppelten Revolution» zum Ziel der «Liberalen Internationalen Ordnung» LIO war nicht eben und einfach. Während die wirtschaftliche Schiene der «Doppelten Revolution» von den Eliten der damals führenden Staaten begrüßt wurde, geriet ihre politische Schiene unter Beschuss durch den Konservatismus, der mit der 1815 von Österreich, Preußen und Russland geschmiedeten Heiligen Allianz verbunden war, um die Ideen des Liberalismus, des Nationalismus und der Demokratie auf dem europäischen Kontinent zu bekämpfen.

Auf politischer Ebene hatte die «Doppelte Revolution» erst nach dem Ersten Weltkrieg eine Chance, als US-Präsident Woodrow Wilson versuchte, sein Versprechen einzulösen, „die Welt sicher für die Demokratie zu machen“, das er abgegeben hatte, um den Kriegseintritt der USA zu rechtfertigen. Die Bemühungen schlugen jedoch fehl, nicht zuletzt, weil es Wilson nicht gelang, im eigenen Land Unterstützung für seine globale „demokratische“ Nachkriegsagenda zu gewinnen.

Was die Wirtschaft betrifft, so war die Bilanz der «Doppelten Revolution» bis vor einigen Jahrzehnten eher gemischt. Einerseits hat die industrielle Revolution sicherlich den menschlichen Fortschritt gefördert, da sie der Menschheit dank des Freihandels und einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung im Inland half, aus der so genannten Malthusianischen Falle auszubrechen. Andererseits brachte sie auch zwei negative Entwicklungen mit sich. Auf internationaler Ebene führte sie zu einem Freihandelsregime, das die Industrienationen gegenüber den rückständigen Gesellschaften begünstigte, während sie auf nationaler Ebene zu großer sozialer Unzufriedenheit führte, da die Reichen versuchten, den Armen so viel wie möglich wegzunehmen, um in die weitere wirtschaftliche Expansion zu investieren. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die kommunistische Ideologie in Europa genau als Reaktion auf den letztgenannten Trend entstanden ist.

Es ist rätselhaft, warum Meinungsforschungsexperten, die sich mit der LIO befassen, diese eindeutige Doppelnatur nicht erkennen, zumal das Problem der LIO, wie weiter unten gezeigt wird, genau in ihrer Doppelnatur liegt.

Entwicklung

Wie bereits erwähnt, war die LIO im 20. Jahrhundert in der Lage, zwei ideologischen Herausforderungen zu widerstehen, die vom sozialistischen Lager bzw. der Dritten Welt ausgingen. Doch die LIO ist nicht unversehrt geblieben, sondern hat sich weiterentwickelt. Eine wichtige Entwicklung fand auf wirtschaftlicher und eine andere auf politischer Ebene statt. Beide veränderten die LIO in einer Weise, die sie gleichzeitig „humaner“ und auch „aggressiver“ machte.

Die wichtigste Entwicklung, die in den 1970er Jahren an der wirtschaftlichen Front begann, war positiver Natur, da sie die LIO „humaner“ machte. Diese Entwicklung war das so genannte „Outsourcing“ – die Verlagerung der Produktion vom Westen in die Entwicklungsländer. Die wirtschaftliche Logik liegt hier auf der Hand: Durch die „Verlagerung“ ihrer Produktion ins Ausland senken transnationale Konzerne (TNK) die Produktionskosten aufgrund billigerer Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern und steigern ihre Gewinne, während ausländische Direktinvestitionen in den aufnehmenden Entwicklungsländern diese in die Lage versetzen, exportorientierte Volkswirtschaften aufzubauen und so einen Entwicklungssprung zu machen.

China steht hier als die größte Erfolgsgeschichte. Dank seiner wirtschaftlichen Offenheit und seiner Bereitschaft zum freien Handel konnte China ausländische Direktinvestitionen anziehen und durch sein exportorientiertes Wachstum eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung erreichen, die Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit und das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gemacht hat. Experten sind sich einig in ihrer Einschätzung, dass China bald wieder den Titel der größten Volkswirtschaft der Welt erlangen wird, den es vor der industriellen Revolution jahrhundertelang innehatte. Viele andere Entwicklungsländer, vor allem in Ostasien, treten in Chinas Fußstapfen.

Diese positive Entwicklung bedeutet nicht, dass die LIO in wirtschaftlicher Hinsicht völlig „human“ geworden ist. Für die am wenigsten entwickelten Länder, die von der Globalisierung „abgekoppelt“ sind, bleibt eine beträchtliche „nicht integrierte Lücke“ bestehen (Barnett und Gaffney, 2003). Aus verschiedenen Gründen sind diese Länder nach wie vor in hohem Maße von der öffentlichen Entwicklungshilfe und anderen Formen der internationalen Hilfe abhängig.

Wie geht es also den „Autokratien“ in diesem veränderten globalen Wirtschaftsumfeld? Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie im Allgemeinen vom wirtschaftlichen Arm der LIO profitieren. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass sie alle wollen, dass der Westen seine Wirtschaftssanktionen aufhebt, wenn diese gegen „Autokratien“ verhängt werden, denn Sanktionen schränken die Möglichkeiten für Vorteile ein, die sich aus dem freien Handel und dem freien Kapitalverkehr ergeben.

Darüber hinaus profitieren alle „Autokratien“ vom Zugang zu den Verbrauchermärkten in den „demokratischen“ Ländern und vom Technologietransfer aus den „Demokratien“, der größtenteils von den im Westen ansässigen transnationalen Unternehmen im Rahmen des Outsourcing durchgeführt wird. Darüber hinaus streben alle „Autokratien“ die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) an, um die Vorteile des Freihandels voll ausschöpfen zu können. Im Allgemeinen scheinen die „Autokratien“ also stark in die wirtschaftlichen Prozesse und Strukturen der LIO integriert zu sein und streben eine noch stärkere Integration an.

Diese Tatsachen lassen den Schluss zu, dass die „Autokratien“ keine ernsthaften Probleme mit der LIO auf wirtschaftlichem Gebiet haben, d.h. mit dem freien Handel und dem freien Kapitalverkehr. Daher scheinen die „Autokratien“ gegenwärtig nicht daran interessiert zu sein, den „wirtschaftlichen“ Status quo durch die Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung zu ändern; zumindest wäre eine Einigkeit über eine solche Initiative unter ihnen derzeit unwahrscheinlich.

Dennoch haben die „Autokratien“ einen „Vorbehalt“ in diesem wirtschaftlichen Bereich. Ein solcher Zustand in der Wirtschaft ist für die „Autokratien“ auf internationaler Ebene akzeptabel, sofern sie im Inland ihre eigene Wirtschaftspolitik unter stärkerer staatlicher Kontrolle verfolgen können. Dieses Phänomen, das als „staatlich gelenkter Kapitalismus“ bezeichnet wird, wird in vielen „autokratischen“ Ländern erfolgreich praktiziert. In der Tat haben „Autokratien“ guten Grund, eine solche Haltung einzunehmen, da sie sich gut daran erinnern, dass das Fehlen solcher Kontrollen und die Unterordnung unter den vom Westen geführten Washingtoner Konsens eine hoch akute Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien 1997-1998 und in Russland 1998 auslöste.

Die „Autokratien“ haben jedoch ein Problem mit der LIO auf der politischen Schiene, da der Westen versucht, dem Rest der Welt seine spezifische politische Regierungsform, d.h. die „Demokratie“, aufzuzwingen. Warum ist das so? Dieser Trend wird am überzeugendsten von der liberalen Schule der Theorien der internationalen Beziehungen durch das Konzept des Demokratischen Friedens erklärt.

Die liberale Theorieschule geht davon aus, dass die internationalen Beziehungen von den Absichten der Staaten und nicht von ihren Fähigkeiten bestimmt werden. Mit anderen Worten: Wenn einige Länder gute Absichten gegenüber anderen Ländern haben, besteht für sie keine Notwendigkeit, ihre militärischen Fähigkeiten auszubauen und Kriege zu führen. Aber wie kann man eine Situation erreichen, in der alle Länder nur gute Absichten gegenüber den anderen haben? Offensichtlich, indem man sie alle gleich macht. Aus dieser Überzeugung heraus entstand die Theorie des Demokratischen Friedens – die Ansicht, dass „Demokratien“ keine Kriege gegeneinander führen, weil „demokratische“ Regierungen im Gegensatz zu „autokratischen“ Regierungen ihrer Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und daher keine feindlichen Absichten gegen andere demokratische Staaten hegen können.

Dieses Konzept geht auf Immanuel Kant zurück, der in seinem Werk „Ewiger Friede“ (1797) die Ansicht vertrat, dass Staaten mit einer republikanischen Regierungsform dem Frieden untereinander eher förderlich sind als mit anderen Ländern. Das Rezept zur Überwindung der Zwänge der internationalen Anarchie bestand demnach darin, alle Länder des Systems in ihrer inneren Struktur ähnlich zu machen, d. h. sie alle republikanisch zu gestalten. Die Verwirklichung dieses Ziels würde die Anhäufung von Macht im Innern und das internationale Gleichgewicht in einer von gleichgesinnten Ländern bewohnten Welt irrelevant und unnötig machen. Auf diese Weise würde schließlich ewiger Frieden in der Welt eintreten.

Zur Zeit Kants wurde die republikanische Staatsform mit sozialem Fortschritt assoziiert, im Gegensatz zu „reaktionären“ Monarchien, die angeblich den Fortschritt der Menschheit aufhielten. Da sich heute die republikanische Staatsform durchsetzt und sowohl „liberale“ als auch „autokratische“ Staaten umfasst, haben die Liberalen das Wort „republikanisch“ in Kants Theorie durch „demokratisch“ ersetzt und damit eine modifizierte Handlungsanleitung für die westliche Politik geschaffen.

Der wichtigste Punkt in der Theorie des Demokratischen Friedens ist, dass „Demokratien keine Kriege gegen andere ‚Demokratien‘ führen, aber es steht ihnen frei, ‚Despoten‘, ‚Tyrannen‘ und ‚Autokraten‘ zu bekämpfen“. Genau so erklärt die Theorie die Kriege des revolutionären Frankreichs gegen die europäischen Monarchien im späten 18. Jahrhundert – als Kriege, die von einem „republikanischen“ („demokratischen“) Land gegen „böse“ Mächte geführt wurden.

Die meiste Zeit seit seiner Entstehung wurde der Demokratische Frieden von anderen globalen Kräften eingedämmt, zum Beispiel vom europäischen Konservatismus im 19. und von der Sowjetunion im 20. Jahrhundert. Bis in die 1990er Jahre hatte er keine Chance, zu einem dominierenden globalen Trend zu werden, weil es keinen hegemonialen „republikanischen“ oder „demokratischen“ Staat in der Welt gab, der fest hinter ihm stand.

„Hegemonie“ wird in diesem Zusammenhang in dem Sinne verwendet, den der italienische politische Denker Antonio Gramsci in den 1920-1930er Jahren entwickelt hat: Er meint nicht die militärische oder wirtschaftliche Dominanz eines Landes über andere, sondern spiegelt vielmehr die Tatsache wider, dass alle Teilnehmer des Systems die Führung, die Autorität und die damit verbundenen Machtstrukturen eines anderen bereitwillig akzeptieren und sie als etabliert, natürlich und legitim ansehen (siehe Cox, 2010).

In den frühen 1990er Jahren wurden die USA zu einer Hegemonialmacht. Als solche hätten sie ihren Status und ihre Macht klüger nutzen können, um die LIO in einer Weise zu gestalten und zu stärken, die allen Teilnehmern am System der internationalen Beziehungen zugute gekommen wäre, wodurch die Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit der LIO gewährleistet worden wäre.

Denn was war die von den USA vorangetriebene NATO-Erweiterung anderes als der Beweis für die Lebensfähigkeit der Theorie des Demokratischen Friedens? Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes gab es keinen Grund mehr für seine weitere Existenz. Doch trotz des Fehlens jeglicher Bedrohung begann das Bündnis unter verschiedenen weit hergeholten Vorwänden zu expandieren, neue „Demokratien“ in seine Reihen aufzunehmen und anderen Ländern in der Welt diese Regierungsform gewaltsam – unter Verletzung des Völkerrechts – aufzuzwingen.

Was waren die so genannten „farbigen Revolutionen“, die vom Westen angeregt und unterstützt wurden, um in anderen Ländern, vor allem in den ehemaligen Sowjetrepubliken, „Demokratie“ einzuführen, wenn nicht die praktische Umsetzung der Theorie des Demokratischen Friedens? Darüber hinaus sind die unrechtmäßigen einseitigen Zwangsmaßnahmen, die die „Demokratien“ der Welt immer wieder gegen die „Autokratien“ ergreifen, um deren Nutzen aus der wirtschaftlichen Komponente der LIO zu begrenzen, ebenfalls Teil ihrer Bemühungen, die Idee des Demokratischen Friedens zu fördern. 


Natürlich wehren sich die „Autokratien“ gegen Versuche, ihnen den „Demokratischen Frieden“ aufzuzwingen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass eine interne Regierungsform in einem Land nicht von außen aufgezwungen werden kann. Die innere Form eines jeden Staates ist ein komplexes „historisches Konstrukt“: Seine Entwicklung wurde durch eine Reihe von ultimativen und zentralen Faktoren wie Geographie, Religion, Kultur und die Geschichte der Beziehungen zu den Nachbarländern beeinflusst. Diese Faktoren bestimmen historisch die Art der Zentralisierung oder Dezentralisierung der Macht in jedem Staat und das Ausmaß, in dem die Exekutive mit anderen Gewalten zusammenarbeitet.

Die „Autokratien“, denen großes Verdienst zukommt, verstehen diesen komplexen historischen Prozess und versuchen nicht, ihre zentralisierte und „autokratische“ Lebensweise den westlichen Gesellschaften aufzuzwingen, die auf dem evolutionären Weg der inneren Entwicklung zu einer dezentralisierten Regierungsform und einem System der gegenseitigen Kontrolle in der Regierung gelangt sind.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Auferlegung von Regierungsformen, die einem bestimmten Staat fremd sind, zu innerem Chaos führt und diesen Staat praktisch zerstört und gleichzeitig einen negativen „Spill-over-Effekt“ in der gesamten Region auslöst. Entwicklungen dieser Art gab es im Zusammenhang mit dem so genannten Arabischen Frühling im Nahen Osten und in Nordafrika.

So dient die politische Schiene der LIO dazu, die LIO selbst zu untergraben und zu diskreditieren und Ideen über die Schaffung einer neuen globalen Ordnung zu wecken.

Eine neue Ordnung?

Man kann den allgemeinen Pessimismus über die Aussichten der LIO nur teilen. Doch die Ursache für diesen Pessimismus wurde im laufenden globalen Diskurs nicht richtig erkannt. Das Problem mit der LIO besteht nicht darin, dass bestimmte Ereignisse wie der Brexit, die Wahl Trumps oder die militärische Operation Russlands in der Ukraine die LIO „untergraben“. Dies sind alles vorübergehende Ereignisse, sie kommen und gehen.

Das Problem mit der LIO ist eher struktureller Natur. Die Geschichte zeigt, dass Weltordnungen (oder eher regionale Ordnungen, wenn man sie aus der historischen Perspektive betrachtet) gedeihen, wenn sie von hegemonialen Staaten gestützt werden. Die moderne Welt befand sich in ihrer hegemonialen Phase ungefähr vom „Fall der Berliner Mauer 1989 bis zum Fall von Lehman Brothers 2007“, wie es der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz formulierte (2010).

Es war in der Tat eine Ära des amerikanischen Triumphalismus, der „unipolare Moment“. Dieser Moment ging politisch mit der imperialen Überforderung der USA im Irak, in Afghanistan und anderswo zu Ende, während er wirtschaftlich durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise beendet wurde, die durch den in den USA herrschenden „Marktfundamentalismus“ ausgelöst wurde.

Die Geschichte zeigt, dass nicht-hegemoniale Perioden von regionalen oder, seltener, ideologischen Ordnungen beherrscht wurden. Ist Regionalismus (oder Ideologie) eine Option für die Welt von heute? Es ist sicherlich eine sehr praktikable Option.

In erster Linie ist es viel einfacher, auf regionaler Ebene eine wirksame Zusammenarbeit zu erreichen als auf globaler Ebene, da die Regionen kohärentere politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheiten darstellen als ein globales Gemeinwesen. In jeder Region gibt es eindeutig einige Hegemonen im gramscianischen Sinne, die in der Lage sind, die regionale Ordnung zu gestalten. Außerdem scheinen die politischen Hauptströmungen in allen Regionen eine solche Entwicklung zu unterstützen. So hat beispielsweise der russische Präsident Wladimir Putin vor einigen Jahren die Idee einer großen eurasischen Partnerschaft geäußert, mit der eine stärkere Zusammenarbeit und Integration in diesem Teil der Welt angestrebt wird.

Es ist also durchaus möglich, eine Weltordnung zu entwickeln, die durch regionale Ordnungen repräsentiert und realisiert wird, die durch eine effektive Zusammenarbeit miteinander verbunden sind.

Die Debatte im Westen spricht jedoch meist für die Rettung der derzeitigen LIO. Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht war ein Artikel mit dem Titel „Last Best Hope: The West’s Final Chance to Build a Better World Order“, der kürzlich in «Foreign Affairs» erschien (Daadler und Lindsay, 2022).

In Anlehnung an die Rede von US-Präsident Biden im März 2022, in der er sagte, dass „der Westen jetzt vor einem Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer auf Regeln basierenden Ordnung und einer, die von roher Gewalt beherrscht wird, steht“, kamen die Autoren auf die Idee, eine G12 zu gründen, um den Westen zu konsolidieren. Sie argumentieren, dass die neue Gruppe keine lose Ad-hoc-Organisation wie die G7 sein sollte, sondern vielmehr ein effektiver Mechanismus, um „den russischen Revanchismus zu vereiteln und mit China zu konkurrieren“. Sie sehen ihre Idee als die letzte Hoffnung, die LIO zu retten.

Was diese Autoren vorschlagen, ist nicht das, was ihnen tatsächlich vorschwebt; vielmehr schlagen sie die Stärkung einer regionalen euro-atlantischen oder, wie man es alternativ nennen könnte, einer ideologischen „demokratischen“ Ordnung vor. Das Mittel, das sie vorschlagen – mehr „Demokratie“ für die Welt – würde sicherlich nicht dazu führen, die LIO als internationales Arrangement zu retten, was sie als Ziel formulieren. Im Gegenteil, wenn diese Idee verwirklicht würde, würde sie den letzten Nagel in den Sarg der LIO schlagen, denn die Konsolidierung des Westens würde andere nur dazu zwingen, das Tempo ihrer eigenen regionalen oder ideologischen Konsolidierung zu beschleunigen.

Infolgedessen würde sich die bestehende Kluft zwischen dem „demokratischen“ und dem „autokratischen“ Lager nur noch vertiefen. Die regionalen oder ideologischen Ordnungen, die sich in diesem Szenario herausbilden würden, wären eher in Rivalität als in Kooperation miteinander verwickelt.

Die LIO als Gesamtphänomen kann schon deshalb nicht gerettet werden, weil sie der Vielfalt der Welt nicht gerecht wird. „Liberalismus“ und „Demokratie“ sind in der Tat in vielen Ländern seit langem etablierte Regierungspraktiken. Dennoch sind sie nicht überall eine allgemein akzeptierte Regierungsform, sondern nur einige unter anderen.

Dennoch ist es möglich, ihre nützlichen Bestandteile zu bewahren und sie in eine neue Ordnung einzubauen. Wie in diesem Artikel gezeigt wurde, ist die wirtschaftliche Komponente der LIO zwar nicht perfekt, aber für die überwiegende Mehrheit der Länder in der Welt von großem Vorteil gewesen. Die Schlüsselelemente des Freihandels und des freien Kapitalverkehrs kommen den meisten Ländern, die sie anwenden, immer noch zugute.

Ist es überhaupt möglich, eine neue, wirklich globale Weltordnung zu schaffen? Hypothetisch schon. Praktisch kann das Ergebnis nicht vorherbestimmt werden, da eine solche Ordnung ohne einen globalen Hegemon, der den Prozess „steuern“ könnte, aufgebaut werden müsste. Diese Bemühungen würden also voraussetzen, dass sich alle Parteien einig sind, was eine schwierige Aufgabe ist.

Ein Ausgangspunkt für Überlegungen zu dieser Möglichkeit könnte die von Henry Kissinger in seinem Buch «World Order» vertretene Position sein: „[Welt-]Ordnung muss kultiviert werden, sie kann nicht aufgezwungen werden. Dies gilt insbesondere in einem Zeitalter der sofortigen Kommunikation und des revolutionären politischen Wandels. Jedes System der Weltordnung muss, um nachhaltig zu sein, als gerecht akzeptiert werden, nicht nur von den Führern, sondern auch von den Bürgern.“ (Kissinger, 2014, S. 8).

In der Tat muss eine neue Weltordnung kultiviert werden. Sind alle Länder der Welt und ihre Bürger heute bereit, eine neue Ordnung aufzubauen, indem sie diesen „kultivierenden“ Ansatz übernehmen? Das ist sehr zweifelhaft. Damit dies geschehen kann, muss eine Revolution in den Köpfen des politischen Mainstreams des Westens stattfinden.

Zuallererst sollten sich die „demokratischen“ Eiferer im Westen die folgende Frage stellen: Wenn der Hegemon schon während seiner fast zwei Jahrzehnte andauernden, allgemein akzeptierten globalen Vorherrschaft nicht in der Lage war, seinen Willen durchzusetzen, wie kann er dann hoffen, seinen Willen jetzt durchzusetzen, wo die globale Konjunktur für den Post-Hegemon viel schlechter ist?

Wenn sie die ehrliche Antwort geben, dass sie nicht darauf hoffen können und sollten, wäre der nächste logische Schritt, die mit der Theorie des Demokratischen Friedens verbundenen Praktiken aufzugeben. In der Tat hat kein einziges Land jemals die Macht, die Führungsstärke, die Widerstandsfähigkeit, den Glauben und die Dynamik gehabt, seinen Willen dauerhaft in der ganzen Welt durchzusetzen. Niemand wird dies jemals tun, insbesondere nicht im Rahmen einer globalen Nichthegemonie. Die Welt ist ein sehr vielfältiger Ort; daher muss eine internationale Ordnung diese Vielfalt widerspiegeln, wenn sie von allen akzeptiert werden soll.

In diesem Sinne möchte ich einen praktischen Schritt vorschlagen, nämlich die Ausarbeitung einer Charta für die Vielfalt der Welt im 21. Jahrhundert durch die Vereinten Nationen, in der alle Mitgliedstaaten gemeinsam einige Schlüsselprinzipien für die Regelung des internationalen Lebens in einer nicht-hegemonialen und sehr vielfältigen Welt festlegen könnten. Ein Bekenntnis zu dieser Idee würde zeigen, dass wir alle es vorziehen, eine neue internationale Ordnung auf der Grundlage der bestehenden Realitäten aufzubauen, anstatt Wunschdenken zu pflegen.

Es scheint lohnenswert, diesen Artikel mit den Worten Immanuel Kants zu beschließen, dessen intellektuelle Einsicht die liberale Theorie des Demokratischen Friedens als Weg zum immerwährenden Frieden hervorbrachte, in der Hoffnung, dass seine Bewunderer im Westen auch seine anderen wirklich lehrreichen Worte inspirierend finden werden: „Der ewige Friede wird schließlich auf eine von zwei Arten in die Welt kommen: durch menschliche Einsicht oder durch Konflikte und Katastrophen von einem Ausmaß, das der Menschheit keine andere Wahl lässt“ (zitiert nach Kissinger, 2011, S. 530).

Es ist noch nicht zu spät, menschliche Einsicht zu zeigen.

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Dieser Artikel von Vladimir Makei erschien zuerst auf «RUSSIA IN GLOBAL AFFAIRS» in englischer Sprache. Chefredakteur Fyodor Lukyanov bewilligte die Übernahme auf Globalbridge.ch. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Christian Müller.


Info: https://globalbridge.ch/vladimir-makei-der-weissrussische-aussenminister-wusste-wovon-er-sprach


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

03.12.2022

"Wir brauchen eine Nato ohne die USA"

seniora.org, 03. Dezember 2022 Florian Rötzer Interview mit Oskar Lafontaine - übernommen von Heise.de, 03. Dezember 2022

Oskar Lafontaine über das nordatlantische Bündnis, den Ukraine-Krieg, eine idiotische Logik in den Medien und eine "faschistoide Stimmung".


Der ehemalige Kanzlerkandidat und Finanzminister der SPD, später dann berühmter Aussteiger bei den Sozialdemokraten und führender Vertreter der Linken, Oskar Lafontaine, dürfte das umstrittenste Buch dieses Winters geschrieben haben.


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Schon der Titel "Ami, it’s time to go!" legt sich quer zum üblichen politischen Ton, wie er im politischen Räsonnement, in Kommentaren und Berichten in einem Milieu angeschlagen wird, das sich als maßgebend versteht. Dass Lafontaine sehr eigene Ansichten hat, gerade gegenüber westlichen Leitideen, ist an sich nichts Neues, aber gegenwärtig ist die politische Situation durch den Ukraine-Krieg, die wirtschaftliche Situation und die Kämpfe in den politischen Lagern besonders angespannt


Dazu kommt, dass seit einiger Zeit die Idee kursiert, dass eine neue Partei gegründet wird, mit Sahra Wagenknecht, der Ehefrau von Lafontaine, als mögliche große Figur. Da eine Zeitschrift der extremen Rechten Wagenknecht aufs Cover gebracht hat, setzt die Querfront-Debatte mit neuer Vehemenz ein.


Florian Rötzer hat sich mit Oskar Lafontaine über sein provokantes Buch und politische Entwicklungen unterhalten.


"Der Lafontaine ist antiamerikanisch"?

Sie haben gerade ein neues Buch mit dem sehr provokativen Titel Ami it's time to go! veröffentlicht. Das schließt natürlich an die Zeiten der 70er-Jahre an, wo das im Rahmen des Vietnamkrieges zum Slogan wurde. Fürchten Sie nicht, dass das jetzt gleich in die Schiene kommt: "Der Lafontaine ist antiamerikanisch", womit man Ihre Gedanken beiseitelegen kann?


Oskar Lafontaine: Ja, das ist der normale Reflex, dennoch muss man immer wieder versuchen, eine Debatte über vernünftige Sicherheitspolitik in Deutschland zu führen. Ich vertrete die Kernthese, dass eine Weltmacht, die die einzige Weltmacht bleiben will und deshalb Handelskriege, verdeckte Kriege, Drohnen- und Bombenkriege führt, niemals ein Verteidigungsbündnis anführen kann.


Deshalb sage ich, wir brauchen eine Nato ohne die USA, eine selbständige europäische Verteidigung. Wohin die USA uns führen, sieht man am Ukrainekrieg, der in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland ist, was alle wissen, die noch nicht völlig von falschen Erzählungen vergiftet und in die Irre geführt worden sind.


"Wer seinem Gegner das Messer an den Hals setzt, betreibt keine Friedenspolitik"

Lassen wir mal die Vorgeschichte des Ukrainekrieges weg, so sagen viele Regierungen, dass man nun die Gefahr, die von Russland ausgeht, sieht. Russland würde auch weitergehen, um seine Einflusszonen zu vergrößern. Deswegen sei die Schutzmacht USA jetzt umso wichtiger, um das abzuwehren.


Oskar Lafontaine: Das ist der klassische Fall, in dem die Wahrheit auf den Kopf gestellt wird. Die USA haben entgegen dem Rat vieler US-Politiker die Nato an die Grenze Russlands geschoben. Jetzt stehen deutsche und US-Truppen an der russischen Grenze.


Das konnte man sich vor einiger Zeit nicht vorstellen. Dazu kommt, dass Raketenbasen in der Nähe der russischen Grenze und bald an der russischen Grenze stehen, deren Raketen eine Flugzeit von fünf Minuten oder weniger nach Moskau haben.


Raketen ohne Vorwarnzeiten sind das Messer am Hals des Gegners. Wer seinem Gegner das Messer an den Hals setzt, betreibt keine Friedenspolitik. Ich möchte, dass sich das in Deutschland herumspricht und dass man über die Fehler nachdenkt, die auch Deutschland macht.

Die Bundesregierung hat verkündet, Deutschland solle auch militärisch eine Führungsmacht werden. Man geht also mit dem großen Wumms von Scholz auch in die Rüstungspolitik hinein und versucht, die Bundeswehr aufzustocken. Es ist aber offenbar nicht so ganz klar, wie weit die Integration in die Nato gehen oder ob ein europäisches Verteidigungsbündnis entstehen soll. Sie plädieren ja, wenn ich es richtig verstanden habe, für ein europäisches Verteidigungsbündnis, das sich von der Nato loslöst.


Oskar Lafontaine: Besser von den USA, weil es in die Irre führt, wenn man hier von der Nato spricht. Viele glauben nämlich, die Nato garantiere unsere Sicherheit. Man muss aber wissen, die Nato ist die USA oder die USA sind die Nato. Und wenn die Nato irgendetwas machen will, braucht sie die Zustimmung der USA.

Die USA haben das Sagen und entscheiden allein, was passiert, das geht bis dahin, dass sie bei wichtigen Dingen die Bündnispartner überhaupt nicht fragen. Sie gehen sogar so weit, dass sie ohne Rücksicht auf ihre Verbündeten - Stichwort Nord Stream 2 - eine zentrale Versorgungsleitung Europas sprengen.


Das waren die USA oder sie haben den Auftrag dazu gegeben oder zumindest gesagt, macht das, wir sind einverstanden. Das zeigt, in welch verheerendem Zustand sich die Nato befindet.


Ukraine-Krieg: "Die Entscheidung liegt bei den USA"

Sie sagen, man braucht eine Friedenslösung und muss diesen Krieg in der Ukraine unterbrechen. Wie stellen Sie sich denn das vor? Russland wird sicher im Augenblick den Krieg nicht stoppen. Und bei der Ukraine hat sich Selenskyj auch in eine Situation gebracht, aus der er nicht heraus kann. Wie soll oder könnte eine Friedenlösung denn funktionieren?


Oskar Lafontaine: Selenskyj ist zwar nach der Meinung vieler eine entscheidende Figur auf dem Schachbrett, aber das ist er nicht. Letztendlich hat er nichts zu sagen, um das in aller Deutlichkeit einmal anzusprechen. Was in der Ukraine passiert, entscheiden ebenfalls die USA, niemand sonst. Deshalb kann es nur einen Frieden geben, der von den USA und Russland ausgehandelt wird.


Die USA finanzieren ja überwiegend den Krieg in der Ukraine. Sie haben seit vielen Jahren Waffen geliefert, sie finanzieren das System. Wenn die USA sagen, in diese Richtung geht es, dann müssen die Ukrainer folgen, ob sie wollen oder nicht.


Natürlich gibt es auch immer wieder Versuche auszubüchsen, wie man jetzt gesehen hat, als eine sogenannte Abwehrrakete in Polen gelandet ist und einige sogar den Verdacht geäußert haben, dass die Ukrainer bewusst diese Raketen nach Polen geschossen haben, um die Nato in den Krieg zu ziehen. Solche Bestrebungen gibt es bei Selenskyj und seiner Entourage wie kürzlich auch die FAZ festgestellt hat.


Aber die Entscheidung liegt bei den USA, das ist gar keine Frage. Dass es Bemühungen gab, den Frieden zu finden, hat Istanbul gezeigt. Darüber wird diskutiert, auch in den Vereinigten Staaten.

Aber dann hat Boris Johnson im Auftrag der USA gesagt, Selenskyj, du darfst keinen Frieden schließen, weil die US-Regierung überzeugt ist, es müsse so lange gekämpft werden, bis Russland am Boden liegt und keinen Krieg mehr führen kann.


Das hat der Kriegsminister der USA, der fälschlicherweise Verteidigungsminister heißt, gesagt. Mit dieser Haltung kann es natürlich keinen Frieden geben. Sie ist aber auch unglaublich zynisch, weil vergessen wird, dass damit jeden Tag Menschen auf den Schlachtfeldern der Ukraine sterben.

Es sterben Ukrainer und es sterben Russen. Beides muss man sehen. Und wenn man Menschenleben retten will, dann muss man morgen mit dem Waffenstillstand beginnen.


"Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas"

Sie reden jetzt von einem "Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas". Und Sie schlagen vor, dass Deutschland und Frankreich zum Kern des Europas werden können, das sich von den USA ablöst. Wenn wir aber auf Europa schauen, dann ist die Anbindung der östlichen Staaten, also der baltischen Staaten, Polen, Rumänien usw., an die USA sehr viel stärker ausgeprägt als im Westen Europas. Sehen Sie denn überhaupt eine Chance, die EU zusammenzuhalten, wenn man so etwas anstreben würde?


Oskar Lafontaine: Es ist richtig beobachtet, was Sie in Ihrer Frage zum Ausdruck bringen. Deshalb sage ich auch, dass Frankreich und Deutschland die Dinge in die Hand nehmen müssen. Die baltischen Staaten sind beispielsweise aufgrund ihrer speziellen Geschichte und Situation ganz vorn dabei, wenn es darum geht, das Feindbild zu verstärken und zum Krieg zu hetzen.


Ich muss das so deutlich sagen. Auch die Polen sind aufgrund ihrer Geschichte immer bereit, Russland als Feindbild zu sehen. Das führt aber zu nichts. Wir haben doch ein gelungenes Experiment. Das war die Entspannungspolitik Willy Brandts. In dieser Zeit gab es keinen Krieg in Europa.


Als man aufhörte, gab es den Jugoslawienkrieg und jetzt den Ukrainekrieg. Jetzt haben wir nicht Entspannungspolitik, sondern Spannungspolitik. Man setzt auf Eskalation.


"Man soll die Rechten nicht zum Richter über das machen, was richtig oder falsch ist"

Sie wissen ja wahrscheinlich auch, dass am Wochenende in Leipzig eine von rechten Kreisen organisierte Demonstration stattfand, mit Compact im Hintergrund, bei der Ihr Leitspruch "Ami go home" als Slogan verwendet wurde. Compact spricht davon, dass die USA der "Hauptfeind Deutschlands" und ein "Besatzungsregime" seien. Würden Sie denn die Nähe zu diesen rechtsnationalen Kreisen begrüßen? Dort wird auch Sahra Wagenknecht zur Galionsfigur für die neue Kanzlerin. Man versucht also, Anschluss an Ihre Positionen zu finden. Wie sehen Sie das?


Oskar Lafontaine: Da kann ich nur an Enzensberger erinnern, der jetzt gerade gestorben ist und einmal gesagt hat: "Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite ist ein Charakteristikum totalitären Denkens." Das heißt also, man kann sich nicht davon abhängig machen, was irgendwelche rechten Grüppchen oder Magazine schreiben.


Und insofern muss man auch über die Rolle der Vereinigten Staaten nachdenken können, ohne Artikel in rechten Magazinen zu berücksichtigen. Der Spruch "Ami go home" stammt ja aus der Bewegung gegen den Vietnamkrieg, und das war ja wohl keine rechte Bewegung.


In den Medien gibt es eine idiotische Logik. Wenn die AfD sagt, wir brauchen gute Beziehungen zu Russland, dann ist derjenige, der das auch sagt, rechts. Nach dieser Logik, die sich leider auch in der Politik ausgebreitet hat, wäre Willy Brandt heute ein Rechter. Wir leben mittlerweile im Irrenhaus, was die Debatte angeht.


Wie kann man denn das für sich selber auseinanderhalten? Einfach weitermachen oder dazu Stellung nehmen?


Oskar Lafontaine: Nein, man soll die Rechten nicht zum Richter über das machen, was richtig oder falsch ist. Dann müsste man jeden Tag versuchen, sich in irgendeiner Form abzugrenzen. Ich halte die eifrigen Journalisten und Politiker, die immer von einer AfD-Nähe sprechen, für die besten Propagandisten der AfD.


Mit dem ständigen Gerede über die AfD-Nähe werten sie sie auf, ob sie das wollen oder nicht. Das heißt, sie sind unfreiwillige Helfer der AfD. Nein, man muss seine eigenen Gedanken vertreten. Und hier bemühe ich noch einmal Enzensberger: "Man darf nicht in totalitäres Denken verfallen, indem man den Beifall von der falschen Seite scheut."


"Faschistoides Denken"

Manche sagen, diese Kriegsstimmung, die in bestimmten Kreisen herrscht, bei den Grünen, auf der Regierungsseite insgesamt, aber auch in den USA, werde von dem Glauben getragen, dass es endlich ein gerechter, guter Krieg gegen einen absolut bösen Gegner ist. Man kann alle anderen Kriege hinter sich lassen und selbst die von Nazideutschland vergessen, weil man endlich in einen neuen, gerechten und guten Krieg zieht. Sehen Sie das auch als einen Hintergrund?


Oskar Lafontaine: Das kann man so sehen, aber ich frage mich natürlich, was da passiert ist, denn das ist für mich faschistoides Denken. Wenn etwa Frau Baerbock sagt, man müsse Russland ruinieren, dann ist das faschistoides Denken. Dieses Denken ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch ausgeklammert wird. Das erlebt man in der jetzigen Debatte in Deutschland.

Von den Menschen, die täglich sterben, tritt selten auf in dem Sinne die Rede, dass man deswegen jetzt einen Waffenstillstand erreichen müsse. Nein, sie reden von einem Siegfrieden. Die Krim muss zurückerobert werden, und wir müssen immer mehr Waffen liefern.


Die deutsche Außenministerin hat sich sogar zu der Behauptung verstiegen - wahrscheinlich weiß sie gar nicht, dass sie damit die Parole der US-Waffennarren übernommen hat -, dass Waffen Leben retten. Wie die Waffen Leben in den USA retten, das kann man immer wieder erleben. Das ist eine Fehlentwicklung, die ich faschistoid nenne.


Deshalb müssen alle, die den Frieden wollen, sich zusammentun und sagen: Wenn wir von einer Wertegemeinschaft reden, dann dürfen wir eben nicht von Begriffen reden, unter denen sich offensichtlich kaum noch jemand etwas vorstellen kann, sondern wir müssen uns einfach dazu bekennen, dass wir in den Menschen unsere Schwestern und Brüder sehen und dass wir alles tun, damit sie nicht ihr Leben verlieren. Das ist das Vorrangige, nicht die Krim zurückzuerobern oder die Russen kleinzubekommen.


Woher kommt diese faschistoide Stimmung, wie Sie es nennen?


Oskar Lafontaine: Das ist schwer zu sagen. Einen Grund hat, wie zuvor besprochen, interessanterweise Frau Merkel im Spiegel genannt: Das Bewusstsein über das Grauen des Krieges verschwindet mit den Zeitzeugen und damit verschwindet auch die Bereitschaft zur Versöhnung. Das mag ein Grund sein, dass man gar nicht mehr so richtig weiß, was damals passiert ist oder man auch die Gefühle nicht mehr entwickelt, die notwendig sind, um zu sagen: Wir wollen alles tun, damit so etwas niemals wieder passiert.


Ich glaube, es gibt noch einen anderen Grund, das ist das Verschwinden des Religiösen. Das hört sich vielleicht aus meinem Munde komisch an, aber schon Dostojewski schrieb: Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt. Auch andere Schriftsteller haben sich dazu geäußert. Malraux beispielsweise, der einmal sagte: Dieses Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein.


Damit meinte er nicht, dass jeder einem Glauben anhängen muss, sondern dass die Werte, die die Religionen vermittelt haben, die Nächstenliebe etwa im christlichen Abendland, das heißt das Mitempfinden mit den anderen, die Grundlage einer friedlichen Welt sind. Wenn dies weg ist, und das kann man an der Absicht, Russland zu ruinieren, sehen, dann ist die Bereitschaft oder die Grundlage zum Frieden nicht mehr gegeben.


Aber das kann doch nicht heißen, dass man jetzt unbedingt wieder neue Kirchen bauen müsste.

Oskar Lafontaine: Nein, die Frage ist, wie kann das Denken überwunden werden, das sich in dem Satz: "Wir müssen immer wieder Waffen liefern, weil Waffen Leben retten" oder in dem Satz "Wir müssen Russland ruinieren" zum Ausdruck bringt.


Das kann nur durch Humanismus, wenn man diesen Begriff nehmen will, überwunden werden. Er hat zur Grundlage, in dem Mitmenschen die Schwester oder den Bruder zu sehen. Kultureller Austausch beispielsweise kann die Menschen zusammenführen und kann die Liebe zur Kultur des jeweils anderen wecken. Deshalb ist es so fatal, dass mittlerweile auch russische Künstler ausgeladen werden. Das ist ein Schritt zur Barbarei.

__

Oskar Lafontaine wurde am 16. September 1943 in Saarlouis geboren. Zwei Jahre später verlor er seinen Vater, der als Soldat im Alter von 29 Jahren ums Leben kam. Im Verlauf seines politischen Lebens war er Oberbürgermeister in Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlandes, Vorsitzender der SPD, Kanzlerkandidat und Bundesfinanzminister.


Im März 1999 legte er alle seine bisherigen politischen Ämter in der SPD aus Kritik am Regierungskurs von Gerhard Schröder nieder. Er war Gründungsvorsitzender der Partei DIE LINKE, die auf seine Initiative hin aus PDS und Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) entstanden ist, Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und Spitzenkandidat bei den saarländischen Landtagswahlkämpfen 2009, 2012 und 2017. Bis zu seinem Parteiaustritt im März 2022 führte er seit 2009 die Fraktion der Linken im saarländischen Landtag.


Florian Roetzer c Edward Beierle 150x150Florian Rötzer, geboren 1953, hat nach dem Studium der Philosophie als freier Autor und Publizist mit dem Schwerpunkt Medientheorie und -ästhetik in München und als Organisator zahlreicher internationaler Symposien gearbeitet. Von 1996 bis 2020 war er Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis. Von ihm erschienen sind u.a. „Die Telepolis“ (1995), „Vom Wildwerden der Städte“ (Birkhäuser 2006) und zuletzt „Sein und Wohnen“ (Westend 2020).

Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Overton-Magazin.

 

Oskar Lafonantaine: Ami it’s time to go. Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas. 64 Seiten. Erschienen im Westend Verlag.


Quelle:https://www.heise.de/tp/features/Wir-brauchen-eine-Nato-ohne-die-USA-7365330.html?seite=all

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Info: https://seniora.org/politik-wirtschaft/wir-brauchen-eine-nato-ohne-die-usa?acm=3998_1585


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

03.12.2022

Fremde Federn    Wall-Street-Horrorkabinett, Bürgergeld, Amazon

makronom.de, vom 30. November 2022, Makrothek In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftpolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.



Das Wallstreet-Horrorkabinett für 2023

piqer:
Rico Grimm

Es war ein wildes Jahr an den internationalen Finanzmärkten. Gelernte Wahrheiten, die Jahrzehnte galten, müssen über den Haufen gekehrt werden, z. B. dass es Sinn macht, Aktien und Staatsanleihen in einem Portfolio zu mischen, weil sich beide Anlageklassen ausgleichen. Das nächste Jahr allerdings wird nicht unbedingt besser werden, wie diese handliche Übersicht zeigt, die ich euch heute empfehle. Darin haben Finanzprofis die Charts mitgebracht, die ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Angefangen bei der „Geisterkurve“ im US-Staatsanleihenmarkt (der Chart sieht aus wie ein Geist), weiter bei den Lohnerwartungen im US-Arbeitsmarkt, Industrieoutput und noch einige Charts mehr.

Alle beziehen sich auf die US-Wirtschaft, dennoch ist es informativ, da die Probleme in Europa zum Teil die gleichen sind. Und alle Charts zeigen Entwicklungen, die noch immer andauern. Wer also wissen will, über welche Entwicklungen die Märkte nächstes Jahr diskutieren werden, sollte diesen Artikel lesen.

bloombergLooking for a Fright? Here Are Some Chilling Markets ChartsAutorinnen: Vildana Hajric & Katherine Greifeld



Die Würde des Menschen ist antastbar, zeigt die Bürgergeld-Debatte

piqer:
Alexandra Endres

Der politische Streit ist beigelegt. Zum kommenden Jahr wird in Deutschland das Bürgergeld eingeführt, das Hartz IV ersetzen soll. Was sich dadurch ändert, beantwortet BR24 hier im Überblick.

Ronen Steinke von der Süddeutschen Zeitung macht sich anlässlich der Reform in einem Essay Gedanken darüber, wie herablassend und gönnerhaft wir in unserem reichen Land mit armen Menschen umgehen. Sein Text ist deshalb so empfehlenswert, weil er die Debatte über Hartz-IV-Sätze und deren kommende Erhöhung um 53 Euro, dann eben unter einem neuen Namen, auf eine höhere Ebene zieht. Ich piqe ihn, obwohl er nur mit einem SZ-Abo zugänglich ist.

Steinke geht es um vom deutschen Grundgesetz garantierte und vom Bundesverfassungsgericht bestätigte grundlegende Rechte aller Menschen, die hier leben – auch der Armen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das steht gleich am Anfang des Grundgesetzes in Artikel 1, Absatz 1, Satz 1. Und vor zwölf Jahren hat das Bundesverfassungsgericht festgelegt, dass der Hartz-IV-Satz stets hoch genug sein muss, damit man sich das Nötigste leisten kann.

Es war deshalb eines der stärksten Urteile des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es die Aussage „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ vor jetzt zwölf Jahren zu einem einklagbaren Versprechen konkretisiert hat. Dieses gute Versprechen lautet: Zumindest sollte niemand frieren, hungern oder ohne ein Mindestmaß an Tampons und Shampoo durchs Leben gehen müssen in diesem reichen Land. Es sind Dinge aus dem Supermarkt, die das „menschenwürdige Existenzminimum“ ausmachen, und darauf besteht – Achtung – ein Recht.

(…) Aber wie bizarr ist dann die Freihändigkeit, mit der in den vergangenen Wochen über eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um 53 Euro verhandelt worden ist (unter einem künftig geschmeidigeren Namen, „Bürgergeld“). So, als sei dies eine freiwillige Geste der Großzügigkeit. Und nicht bloß ein lange überfälliger Ausgleich für einen massiven Verlust an Kaufkraft.

Denn trotz der klaren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, trotz der hohen Inflationsraten ist der Hartz-IV-Satz im laufenden Jahr nicht erhöht worden. Auch in der Pandemie, als das Leben teurer wurde, hielt der Hartz-IV-Satz nicht Schritt. So gut wie kein Sozialgericht hat das beanstandet, kein Gericht legte die Frage, ob unter diesen Umständen noch die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde gewahrt bleibt, dem Bundesverfassungsgericht vor, schreibt Steinke. Und fragt zu Recht:

Die Menschenwürde ist der oberste Wert der Verfassung, und das „menschenwürdige Existenzminimum“ ist ein einklagbares Grundrecht: Was sind solche Sätze wert?

Süddeutsche ZeitungArmes DeutschlandAutor: Ronen Steinke



Was die China-Proteste so besonders macht

piqer:
Rico Grimm

Die Bilder, die uns aus verschiedenen chinesischen Städten erreichen, sind erstaunlich. „Nieder mit Xi Jinping“, rufen da Hunderte Demonstranten und Demonstrantinnen. Ein so direkter Angriff auf die Regierung unter Xi, dass es verwundert, dass diese Demos nicht innerhalb von wenigen Minuten beendet wurden.

Es herrschte generell auch Verwirrung: „Sind Demos in China überhaupt erlaubt?“ Ja, sind sie. Es gibt immer wieder Proteste für und gegen alles Mögliche. Und doch sind diese neuen Proteste, die die Coronaregeln zum Anlass haben, etwas Neues und auch Überraschendes. Das wird in dieser kurzen Analyse von William Hurst klar. Hurst erforscht Proteste in China. Er schreibt: „Was in den letzten 24 Stunden geschah, ist insofern neuartig, als die Demonstranten in mehreren Städten auf die Straße gegangen sind und offensichtlich wussten, was in anderen Teilen des Landes geschieht.“

Das also macht diese Proteste so interessant: Sie sind gerade nicht lokal begrenzt. Wie es nun weitergeht, ist offen. Der Staat könnte die Proteste niederschlagen oder auf etwas setzen, was schon Tausenden anderen Bewegungen vorher passiert ist: Alles verläuft sich im Sand.

TwitterI’ve been studying various aspects of #protest & contentious #politics in #China for 25 years.Autor: William Hurst



Warum Menschen in China protestieren

piqer:
Hasnain Kazim

Zunächst einmal: Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die in China protestieren. Gegen die extrem harten Coronamaßnahmen, aber auch gegen das repressive System. Dieser Text fasst gut zusammen, worum es geht. Wie die Proteste entstanden sind, was die Menschen machen, wie die Regierung bislang reagiert.

Leseempfehlung.

Spiegel„Wir sind Bürger, keine Sklaven“Autor: Christoph Giesen



Ausbeutungsmaschine Amazon

piqer:
Alexandra Endres

Mit einem geschätzten Vermögen von 117,5 Milliarden US-Dollar gilt Amazon-Gründer Jeff Bezos derzeit als der viertreichste Mensch der Welt. Sein Unternehmen erzielte im vergangenen Jahr einen Gewinn von mehr als 33 Milliarden US-Dollar. Bei Amazon zu bestellen, ist ja auch praktisch: Man braucht nur wenige Klicks und in kürzester Zeit wird die Ware geliefert. Deutschland ist mittlerweile der zweitgrößte Markt für den Konzern, gleich nach den USA. Gerade vor Weihnachten boomt das Geschäft.

Möglich ist das aber nur durch Ausbeutung. Wie hoch der Effizienzdruck auf die Beschäftigten in den Amazon-Warenlagern ist, wie sehr die Angestellten dort kontrolliert werden, wurde schon verschiedentlich berichtet.

Correctiv hat sich jetzt die Mühe gemacht, die Arbeitsabläufe entlang der gesamten Logistikkette von Amazon nachzuzeichnen: vom Verpacken im Warenlager über den Transport per Lkw, der die Pakete über größere Distanzen befördert, bis hin zur Kurierfahrt zum Kunden. Dafür hat die Redaktion gemeinsam mit mehreren Lokalredaktionen in ganz Deutschland über sieben Monate hinweg recherchiert.

Wir haben mit mehr als 100 Menschen gesprochen, die in der Logistikkette von Amazon arbeiten oder Einblicke in die Abläufe hatten, Logistik-Angestellte, Lkw-Fahrer und Kuriere. Wir haben Arbeitsverträge und Dienstpläne eingesehen, Chatverläufe gelesen. Und wir haben Dokumente ausgewertet, darunter Kontrollberichte von Arbeitsschutzbehörden und Antworten von Datenschutzbehörden.

Dabei ist das Bild eines Unternehmens entstanden, in dem die Beschäftigten oft nicht mehr sind als Rädchen im Getriebe und die unter allen Umständen funktionieren müssen – selbst wenn ein Kollege neben ihnen stirbt. Deren Arbeitszeit ständig vermessen und verglichen wird, die gezwungen sind, mit Robotern zu konkurrieren, von Computern überwacht, und die aus Angst, dass ihr Vertrag nicht verlängert werden könnte, die Wege im Lager im Laufschritt zurücklegen. Den Lkw-Fahrerinnen- und -Fahrern, die Amazon-Pakete transportieren, ergeht es kaum besser.

Sie berichten von knappen Zeitplänen, langen Wartezeiten an Amazon-Standorten, Druck, Übermüdung. Manche kriegen keinen Urlaub, Pausen haben sie kaum, auch sie folgen dem Takt der Maschine.

Und auch die Kurierfahrerinnen und -fahrer werden engmaschig kontrolliert und arbeiten unter Zeitvorgaben, die nicht zu erfüllen sind. Eine von ihnen war Anna, die in Wahrheit anders heißt, und die nicht mehr bei Amazon bestellt, seit sie für den Konzern gearbeitet hat.

Jeff Bezos hat übrigens vor einigen Tagen angekündigt, den größten Teil seines Vermögens für wohltätige Zwecke zu spenden. Business Insider schreibt dazu:

Bezos sagte, er wolle den größten Teil dieses Vermögens dem Kampf gegen die Klimakrise widmen sowie Menschen unterstützen, die die Menschheit vereinen könnten, zitiert ihn CNN.

Warum solche Spenden-Initiativen undemokratisch sein können, erklärt der Soziologe Frank Adloff im Interview mit ZEIT ONLINE (nur im Abo lesbar). Aber um Demokratie, Teilhabe und Mitbestimmung geht es bei Amazon ganz offensichtlich ohnehin nicht.

correctivDie Maschine AmazonAutoren: Miriam Lenz, Jonathan Sachse, Mohamed Anwar, Thore Rausch, Ole Rockrohr & Svenja Stühmeier



Senegal: Deutschlands Klima-Sündenfall

piqer:
Daniela Becker

Die Internationale Energieagentur (IEA) hat im letzten Jahr im Fahrplan „Net Zero by 2050 A Roadmap for the Global Energy Sector“ gefordert, sofort alle Investitionen in die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen zu beenden. Klimaaktivisten beschwören schon seit Jahren die Formel „Keep it in the ground“, ergo Kohle, Erdöl und Erdgas im Boden zu belassen.


Deutschland hatte in der Glasgow Initiative unterschrieben, im Ausland keine Projekte mit fossilen Energien mehr mit öffentlichen Geldern zu unterstützen. Das ist gerade mal ein Jahr her. Aber viele Dinge, die zumindest auf dem Papier mal längst Klimakonsens gewesen sind, werden durch Putins Krieg und der damit einhergehenden Neuordnung der Energiemärkte offenbar als unwirksam betrachtet. So hat sich Kanzler Olaf Scholz persönlich für die Erschließung eines neuen Gasfelds im Senegal starkgemacht.


Senegal will laut der Regierung in Dakar zunächst 2,5 Millionen Tonnen Flüssigerdgas pro Jahr nach Deutschland liefern, was vier Prozent des hiesigen Verbrauchs entspricht. Bis 2030 könnten es zehn Millionen Tonnen jährlich sein. Im Gegenzug will bzw. muss Deutschland das Land beim Ausbau der Erneuerbaren unterstützen. Wäre der Deal dann halb so schlimm, weil wenigstens dem Senegal geholfen wird, auf klimafreundliche Energieversorgung umzustellen? Wohl kaum.

Auf dem Climate Action Tracker wird in diesem Text ausführlich analysiert, warum das Ausbeuten neuer fossiler Gasfelder in Afrika nicht den erwünschten Wohlstand vor Ort bringt und dass der erneuerbare Pfad auch aus wirtschaftlicher Sicht attraktiver ist.

Zudem wird in dem hier gepiqden Text beschrieben, warum der Deal nicht nur für den Klimaschutz schlecht ist, sondern auch eine Gefahr für die Natur und die lokale Fischerei darstellt.

Sarr warnte unter anderem vor den Folgen des Gasprojekts für die Küstenbevölkerung. Beinahe jede Familie dort sei auf Fischfang angewiesen. Durch die Meereserwärmung gingen die Fischbestände bereits zurück, und mit der Gasförderung drohten noch stärkere Einbußen. Aufgrund der Bohrungen seien einige Meeresregionen komplett gesperrt.

Umweltschutzorganisationen befürchten zudem, dass die geplante Erdgas-Infrastruktur – Bohrplattform, Pipelines, Terminals, Wellenbrecher – die Ökosysteme schädigt.

Die Kritik an diesem Projekt wächst – international und national. Wie glaubwürdig ist Deutschlands Klimaschutz-Engagement noch, wenn es dieses Gasprojekt fortsetzt?

klimareporterDie Senegal-ConnectionAutor: Joachim Wille



Über den Tod des politischen Interviews

piqer:
Lars Hauch

„Der Tod des politischen Interviews“ lautet der Titel des hier gepiqten Artikels. Ganz schön drastisch, andererseits erwische ich mich regelmäßig dabei, wie ich bei Formaten wie Berlin Direkt die Interviews vorspule, weil ich das choreograhierte Aufeinandertreffen von JournalistIn und InterviewpartnerIn als ermüdend empfinde. Dabei geht es nicht bloß um die chatbotartigen Antworten von PolitikerInnen, sondern auch um die teils aggressiv formulierten Fragen, die beim Gegenüber wahrscheinlich selbst dann archaische Verteidigungsreflexe auslösen würden, wenn ihm oder ihr keine PR-Abteilung im Nacken säße.


Ein Kollege des Channel 4-Journalisten Ian Katz, dem Autor,  beschreibt die Sackgasse, in der sich JournalistInnen und PolitikerInnen befinden, folgendermaßen:

I think the worst of you. You play it as defensively as you can. Your strategy of being defensive is justified by me being aggressive and, worst of all, me being aggressive is justified by the obfuscation and nonsense of you being defensive. We’re now locked into the low road. Your strategy justifies mine. My strategy justifies yours.


(deepl.com) Ich denke das Schlimmste von Ihnen. Sie spielen die Sache so defensiv wie möglich. Ihre Strategie der Defensive wird dadurch gerechtfertigt, dass ich aggressiv bin, und, was noch schlimmer ist, meine Aggressivität wird durch die Verschleierung und den Unsinn Ihrer Defensive gerechtfertigt. Wir sind jetzt auf dem Holzweg. Ihre Strategie rechtfertigt meine. Meine Strategie rechtfertigt die Ihre.


Ian Katz hatte 2013 mit einem Freund über ein Interview mit der britischen Labour-Politikerin Rachel Reeves gechattet. Versehentlich twitterte er eine Antwort öffentlich, statt sie als DM zu verschicken. Darin beschrieb er Reeves, als „boring snoring“. Diesen dezent unglücklichen Vorfall nutzt Katz, um sich grundlegend mit der Interviewkultur im Fernsehen auseinander zu setzen. Dabei blickt er einige Jahrzehnte zurück und stellt fest, dass bereits in den 1980ern der Niedergang des Interviews beschworen wurde. Psychologen der York Universität hatte damals analysiert, dass PolitikerInnen im Wahlkampf auf 31 verschiedene Arten Fragen von JournalistInnen auswichen. Margaret Thatcher habe beispielsweise gut funktionierende Techniken entwickelt, um Journalisten zu frustrieren, schrieb der britische Journalist Robin Day im Jahr 1989 in seiner Autobiographie:

Interviews have tended to become a series of statements, planned for delivery irrespective of the question which had been put. This technique has gradually brought about the decline of the major television interview. It is now rarely a dialogue which could be helpful to the viewer.


(deepl.com) Die Interviews haben sich zu einer Reihe von Aussagen entwickelt, die unabhängig von der gestellten Frage vorgetragen werden sollen. Diese Technik hat allmählich zum Niedergang des großen Fernsehinterviews geführt. Es handelt sich nur noch selten um einen Dialog, der für den Zuschauer hilfreich sein könnte.


Es lohnt sich, Katz’ Rückblick zu lesen. Zusammengefasst läuft es darauf hinaus, dass die Anzahl an gehaltvollen Interviews tendenziell stark zurück gegangen sei. Das liege an PolitikerInnen, die in immer extremer durchorganisierten PR- und Medienstrukturen agierten. Gleichzeitig aber auch an JournalistInnen, die zunehmend als Medienstars aufträten:

Journalism that puts the journalist centre stage. It judges itself by how many hits it can rack up against the subject. Any communication by the politician on his or her terms is regarded as a failure.


(deepl.com) Ein Journalismus, der den Journalisten in den Mittelpunkt stellt. Er misst sich daran, wie viele Treffer er gegen das Thema landen kann. Jede Mitteilung des Politikers zu seinen Bedingungen wird als Fehlschlag gewertet


Wie lässt sich das politische Interview retten? Katz schlägt vier Maßnahmen vor. Letztlich geht es bei allen Vorschlägen darum, dass JournalistInnen und PolitikerInnen die ungeschriebenen Regeln ihres Zusammentreffens neu und konstruktiv(er) definieren. Erstmal klingt das gut, bleibt allerdings so lange unrealistisch, wie sich an den Ursachen für derzeit vorherrschende Regeln nichts ändert. Stichwort Aufmerksamkeitsökonomie.

Katz’ Text ist von 2014, also bald eine Dekade alt. Verbessert hat sich die Kultur des politischen Interviews für meinen Eindruck seither nicht. Übereifrige Tweets von Politikerinnen, aber auch JournalistInnen, die zunehmend ihren inhärenten Bias zur Tugend machen, zählen wahrscheinlich nicht. Abseits vom Fernsehen gibt es im Internet und Podcast-Bereich diverse Experimente, Gesprächsführung neu zu gestalten. Jung&Naiv, ein prominentes Beispiel, hat früh angefangen, die etablierten Leitplanken von Interviews mehr oder weniger einzureißen. Die Resultate können sich absolut sehen lassen — andererseits hat natürlich nicht jede/r Zeit und Lust sich 3,5 Stunden Konversation mit Horst Seehofer anzusehen.


Wenn ich an meine frühere journalistische Arbeit denke, trifft Katz’ Analyse ins Schwarze. Beim Erstkontakt haben Interviewte oft die Grundannahme, man wolle ihnen ans Leder. Entsprechend vorsichtig (und boring snoring) fallen Antworten aus. Mittlerweile arbeite ich in einem anderen Bereich, wo ich aber auch viele Gespräche/Interviews mit PolitikerInnen und DiplomatInnen führe. Die Gespräche sind praktisch immer off the record und damit nicht journalistischen Mustern unterworfen. Eine Sache hat sich dennoch nicht geändert: Die gehaltvollsten Gespräche entstehen, wenn es gelingt, sowohl den Gegenstand des Gesprächs als auch den Menschen dahinter zu begreifen. Mauern die GesprächspartnerInnen aus unterschiedlichen Gründen, kommt man damit natürlich nicht unbedingt weiter. Den Versuch ist es aber (fast) immer wert. Denn wenn beide Seiten von Beginn an mauern, bekommt man sich garantiert nicht zu Gesicht.

Financial TimesThe death of the political interviewAutor: Ian Katz


Info: https://makronom.de/wall-street-horrorkabinett-buergergeld-amazon-43067?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wall-street-horrorkabinett-buergergeld-amazon

03.12.2022

Acht Milliarden…

pressenza.com, vom 02.12.22 - CDieser Artikel ist auch auf  Spanisch verfügbar

Screenshot_2022_12_03_at_07_49_32_Acht_Milliarden





Die Weltbevölkerung wächst im gleichen Tempo wie die Ungleichheit.

Wie in einem System kommunizierender Gefäße schlägt sich die Zunahme der Menschen auf der Erde nicht in Wohlstand nieder, sondern in reduzierten Überlebenskapazitäten, niedrigen Wirtschaftswachstumsraten in nicht industrialisierten Ländern, erhöhten Risiken der Erschöpfung natürlicher Ressourcen und stark fallenden Entwicklungsindikatoren für die Nationen des globalen Südens. In diesem Szenario, das sich in all seinen Dimensionen nur schwer messen und erfassen lässt, sind die Menschen, die von diesem Phänomen am meisten betroffen sind, gleichzeitig die Schwächsten.


Das Erreichen dieser symbolischen Zahl zwingt uns dazu, über die äußerst ungerechte Situation nachzudenken, in der die Kinder in der Gesellschaft leben. In den letzten Jahren haben die Auswirkungen der Pandemie besonders stark dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche auf engstem Raum und weit weg von ihrem sozialen Umfeld leben müssen. Viele von ihnen waren häuslicher Gewalt ausgesetzt und sind in der Schule zurückgefallen; sie haben in einer entscheidenden Phase ihres Lebens verheerende Auswirkungen auf ihre körperliche und psychische Entwicklung erlebt. Angesichts der Realität eines politischen und wirtschaftlichen Systems, das ihnen ihre Chancen verwehrt, weil sie nicht in der Lage sind, die Entscheidungen zu beeinflussen, die ihre Gegenwart und Zukunft betreffen – angesichts dieser Realität wurde dieses soziale Segment bezüglich der Erfüllung seiner Grundrechte auf unbestimmte Zeit im Stich gelassen.


In Ländern wie den unseren – dem großen amerikanischen Kontinent voller Reichtum – ist der Verlust des Zugangs für Kinder zu Chancen auf Bildung, Nahrung und Gesundheitsversorgung mehr als offensichtlich. Die Mittel, die unter anderem zur Linderung der chronischen Unterernährung in den ersten Lebensjahren bestimmt sind, haben keine Priorität in Ländern, die von der Konzentration des Reichtums, der Aneignung nationaler Ressourcen durch Private und der Ausbeutung der Arbeitskräfte gemäß den Prinzipien des härtesten Neoliberalismus regiert werden. Diese Faktoren führen nicht nur zu einer schwerwiegenden Marginalisierung der öffentlichen politischen Maßnahmen und sozialer Entwicklungsinitiativen, sondern wirken sich auch auf die Zukunft der Länder aus und behindern ihre Möglichkeiten, voranzukommen.


Das Erreichen der Zahl von 8 Milliarden Menschen, deren Bedürfnisse die Möglichkeiten, sie zu befriedigen, bei weitem übersteigen, führt dazu, dass Ungleichheiten verstärkt und Hass geschürt werden, was die Konsolidierung faschistischer Bewegungen ermöglicht und zu den schlimmsten Momenten der Geschichte zurückführt – mit angeblichen Plänen, die Bevölkerung zu reduzieren, indem die Bedürftigsten beseitigt werden: Migranten, indigene Völker, die von der Entwicklung ausgegrenzt und aus ihren Gebieten vertrieben wurden, und, nebenbei bemerkt, diejenigen, die nicht die Mittel oder die Fähigkeit haben, ihre Rechte zu verteidigen.


Die einzige Möglichkeit, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den herrschenden Systemen und den an der Achtung der Menschenrechte orientierten Entwicklungsmöglichkeiten herzustellen, wäre: die Prioritäten in Richtung gerechte Umverteilung des Reichtums zu verschieben, radikale Massnahmen zur Verringerung der Umweltbelastung durchzusetzen und einen Konsens zwischen den Konzernen herzustellen – deren Dominanz sogar größer ist als die der Staaten – um die Klimakrise zu stoppen.


Alle diese Ziele wurden breit diskutiert, in Dokumenten niedergeschrieben, unterzeichnet und ratifiziert, aber nie umgesetzt.


Der Klimawandel in Verbindung mit dem Bevölkerungswachstum ist eine unmittelbare Bedrohung.


Übersetzung aus dem Spanischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Kategorien: International, Meinungen, Menschenrechte, Originalinhalt


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Carolina Vásquez Araya
Journalistin und Redakteurin mit mehr als 30 Jahren Erfahrung, deren berufliche Erfolge bei der Entwicklung äußerst erfolgreicher Projekte ihre Qualitäten in Bezug auf Führung, Kreativität und Öffentlichkeitsarbeit unterstreichen. Sie hat ihr Wissen in Projekte von Organisationen eingebracht, deren Interessen auf die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des Landes ausgerichtet sind, mit besonderem Schwerpunkt auf den Bereichen Kultur und Bildung, Unternehmertum, Menschenrechte, Justiz, Umwelt, Frauen und Kinder. Die Chilenin in Guatemala. elquintopatio.wordpress.com


Info: https://www.pressenza.com/de/2022/12/acht-milliarden

03.12.2022

Analyse   Linkspartei und Wagenknecht Total zerrüttet

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tagesschau.de, Stand: 03.12.2022 09:57 Uhr, Von Kerstin Palzer, ARD-Hauptstadtstudio

Spekulationen über eine Spaltung umgeben die Linkspartei schon lange. Die Blicke richten sich auf Sahra Wagenknecht - macht sie Ernst und gründet eine eigene Partei? Unter Linken wächst die Nervosität.


Zitat: "Meine Partei ist in einem fürchterlichen Zustand", sagt ein Mann, der es wissen muss, weil er die Linke seit vielen Jahren kennt und an maßgeblicher Stelle für sie arbeitet. Namentlich möchte er aber nicht genannt werden. Steht die Linke also vor einer (Ab-)Spaltung? Die Antwort ist deutlich: "Es gibt einen Riss, so tief wie noch nie, bis tief in die Basis hinein."


Kerstin Palzer ARD-Hauptstadtstudio (Foto)


Wann immer man in den vergangenen Monaten mit Politikerinnen und Politikern der Linken gesprochen hat, stieß man auf Frust und Wut. Jetzt ist da oft nur noch ein Kopfschütteln. Viele in der Partei sind in die innere Immigration gegangen.

Für einige dieser Leute ist Sahra Wagenknecht eine Hoffnungsträgerin. Sie wünschen sich, dass die derzeit populärste linke Politikerin austritt und eine eigene Partei gründet. Der Klassenkampf solle dann wieder im Vordergrund stehen, Einstehen für Arbeiter, Familien Rentnerinnen und Rentner. Dazu noch eine ausgestreckte Hand Richtung Russland und keine Waffenlieferungen an die Ukraine.


Aufmerksamkeit erzielt die Linkspartei gerade vor allem mit Meldungen über Austritte und Streit. Bild: dpa


Potenzial hätte eine Wagenknecht-Partei offenbar. Laut Meinungsforschungsinstitut INSA würden sie zehn Prozent aller Wahlberechtigten deutschlandweit wählen, weitere 30 Prozent könnten es sich zumindest vorstellen. Das wäre eine enorme politische Mobilisierung, meint die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach von der FU Berlin: "Dabei würde man aber womöglich in Kauf nehmen, Stimmen von ganz rechts zu bekommen, denn schon jetzt wird Wagenknecht in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen und damit auch unter vielen AfD-Anhängerinnen und Anhängern gehyped."


Parteigründung ist schwierig

Wagenknecht selbst reagiert nicht ablehnend auf die Frage, ob sie eine eigene, neue Partei gründen will. "Eine vernünftige Partei für Frieden und Gerechtigkeit halte ich für dringend notwendig. Die Linke hat diesen Platz leider weitgehend geräumt. Auch deshalb ist es aktuell vor allem die AfD, die von der zunehmenden Unzufriedenheit profitiert."

Aber eine Partei gründet sich nicht so einfach. Wagenknecht hängt der Misserfolg mit ihrem Projekt "Aufstehen" noch nach. Sie selbst sagt heute, dass "Aufstehen" unvorbereitet war. Diesen Fehler will sie nicht nochmal machen. Und ihr ist auch klar: Organisation ist nicht ihre Stärke. Wer in Deutschland eine Partei gründen will, der muss eine Satzung formulieren, Unterschriften sammeln, viel Bürokratie durchdringen. Das alles gehört nicht zu Wagenknechts Kernkompetenzen. Selbst ihre Gegner sehen in ihr eine begnadete Rednerin mit einem Talent, populäre Meinungen aufzugreifen und zu fokussieren. Aber Gremien leiten, Teamarbeit, Kompromisse finden, das kann Sahra Wagenknecht nicht gut.


Wagenknecht-Partei zur Europawahl?

Politikwissenschaftlerin Reuschenbach hält eine Abspaltung bei der Linkspartei für durchaus möglich: "Das Verhältnis zwischen der Partei und Sahra Wagenknecht und ihren Anhängerinnen und Anhängern ist inzwischen total zerrüttet, daher scheint eine Spaltung tatsächlich nicht mehr ausgeschlossen. Derzeit gibt es Hinweise darauf, dass eine solche Partei erstmals zur Europawahl 2024 antreten könnte. Hat sie da Erfolg, stünden ihr Mittel zu, die für ein Antreten bei der Bundestagswahl 2025 genutzt werden könnten."

Tatsächlich hört man von denen, die eine Abspaltung herbeisehnen, dass sich eine Parteigründung erst im Laufe des nächsten Jahres anbieten würde. Im Herbst 2023 zum Beispiel. Dann wäre noch ausreichend Vorlauf für die Europawahl, bei der es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt.


Wer ginge mit Wagenknecht?

Das mag Zukunftsmusik sein, ganz aktuell aber stellt sich die Frage, wer denn die Bundestagsfraktion gemeinsam mit Wagenknecht verließe. Denn die Linke braucht mindestens 36 Abgeordnete, um eine Fraktion im jetzigen Bundestag zu bilden. Momentan besteht sie aus 39 Abgeordneten. Wenn vier Abgeordnete ausschieden, wäre der Fraktionsstatus verloren. Mitarbeitern müsste gekündigt werden, Rederecht und Gelder wären dahin. "Das wäre dann der Anfang vom Ende", sagt Fraktionschef Dietmar Bartsch. Und fügt sofort hinzu: "Aber das wird nicht sein."

Eine Spaltung in der Mitte sei "Quatsch", meint Bartsch. Wenn überhaupt, käme es zu einer zahlenmäßig kleinen Abspaltung. "Kein Bürgermeister der Linken wird austreten und von den Ländern, in denen wir Regierungsverantwortung tragen, ist keines gefährdet", zeigt er sich überzeugt.

Die Gefahr, dass es eine neue konkurrierende Partei geben könne, sieht allerdings auch Bartsch. Er mahnt denn auch zu Geschlossenheit und erinnert daran, dass es nicht so einfach sei, eine Partei zu gründen. "Ohne Sahra Wagenknecht kann es schiefgehen. Aber eine Wagenknecht-Partei geht gesichert schief."

Bartsch kennt Wagenknecht schon sehr lange. 2017 waren sie zusammen Spitzenkandidaten der Linken und leiteten von 2015 bis 2019 gemeinsam die Fraktion. Noch immer haben sie ihre Büros im Bundestag nebeneinander.


"Ohne Sahra Wagenknecht kann es schiefgehen. Aber eine Wagenknecht-Partei geht gesichert schief": Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch mahnt zu Geschlossenheit. Bild: dpa


"Progressive Linke" gegen "Populäre Linke"

Wagenknecht ist keine, die sich einordnet und abseits des Rampenlichts Ausschuss-Arbeit macht. Sie polarisiert. Wenn man sie fragt, warum sie die Grünen auf ihrem Youtube-Kanal als "gefährlichste Partei" bezeichnet oder im Bundestag davon spricht, dass Deutschland einen "Wirtschaftskrieg gegen Russland" angefangen habe, antwortet sie: "Weil ich das so sehe. Dann muss ich das doch auch sagen."



Sarah Wagenknecht, die Linke | picture alliance/dpa/dpa-Zentral


21.10.2022

Wagenknecht über die Grünen "Die gefährlichste Partei im Bundestag"

Mit dieser Aussage hat Wagenknecht in der Linken erneut Wirbel ausgelöst - und viel Kritik geerntet.



Diejenigen in der Fraktion, die hinter Wagenknecht stehen, sehen sich aus Partei und Fraktion gedrängt. "Die wollen uns rausschmeißen", ist sich ein Abgeordneter sicher. "Die", das sind Abgeordnete und Parteimitglieder, die der Meinung sind, dass Wagenknecht nicht mehr in die Linke gehört. An diesem Wochenende will sich diese Gruppe in Berlin treffen. Man nennt sich die "Progressive Linke". Es mutet fast schon amüsant an, dass ein Aufruf der Wagenknecht-Gefolgsleute "Populäre Linke" heißt und einige schon mal mit den Bezeichnungen durcheinanderkommen.



Lagerkampf um Köpfe und Kurs

Doch der Kampf zwischen den Pro-Wagenknecht-Leuten und dem Contra-Wagenknecht-Lager wird härter. Von Aufräumen ist die Rede, von Säuberungen sogar. Dass man längst nicht mehr miteinander rede und Konsequenzen erlebe, "wenn man nicht auf Kurs ist". Und der Parteikurs ist dezidiert nicht das, was Wagenknecht denkt und sagt.

2022 scheint das Ende einer schwierigen Koexistenz der Lager innerhalb der Linken zu markieren. Die, die sich für Wagenknecht aussprechen, werfen den anderen vor, dass die den Kontakt zur Basis, zu den Leuten, die vielleicht Linke wählen würden, verloren hätten. "Die verwechseln doch ihre Twitter-Blase mit der Bevölkerung. In manchen Landkreisen gehen nicht einmal mehr die Hälfte der Menschen zur Wahl, das kann es doch nicht sein", sagt einer, der sich eine Wagenknecht-Partei gut vorstellen könnte.



Sarah Wagenknecht | HAYOUNG JEON/EPA-EFE/REX


16.09.2022

Linkspartei vor Spaltung Besser ohne Wagenknecht?

Teile der SPD werben schon um Politiker der Linkspartei. Steht die Linke vor der Spaltung?




Parteiführung ist schmallippig

Die Parteiführung spricht nicht gern über das Thema. Man sei im Gespräch mit Wagenknecht, sagt Parteichef Martin Schirdewan schmallippig. Inhaltlich wolle er sich nicht dazu äußern.

Was Wagenknecht von Schirdewan hält, ist bekannt: "Eine Fehlbesetzung" twitterte sie nach seiner Wahl im Juni zum Parteivorsitzenden. Er dagegen hält es für falsch, ihr Redezeit im Bundestag zu geben. Für ihn sprechen die Entscheidungen des Parteitages, für sie ihre große Popularität.


Sie weiß, wenn sie ginge, ginge sie nicht allein. Wer sich in der Fraktion umhört, erfährt, dass es bis zu zehn Abgeordnete sein könnten, die mit Wagenknecht gingen. Selbst wenn es nur die Hälfte ist, wäre das das sichere Ende der Fraktion.

Wagenknecht glaubt nicht daran, dass die Linke sich noch mal berappelt und Menschen begeistert. Sie spricht von einer politischen "Leerstelle." Sie will Nichtwähler mobilisieren und AfD-Wähler zurückgewinnen. Sie könnte auch noch drei Jahre im Bundestag sitzen, in Talkshows gehen und Bücher schreiben. Aber danach klingt sie nicht.



Sahra Wagenknecht | dpa


Analyse 13.09.2022

Streit in der Linkspartei Grabenkämpfe um Wagenknecht

Die Linkspartei kämpft mit schwachen Umfragewerten und sinkender Akzeptanz bei Stammwählern.



Info: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/linkspartei-wagenknecht-105.html

03.12.2022

Lawrow: OSZE ist nicht mehr unparteiisch, sondern steht aufseiten der Ukraine

    meinungsfreiheit.rtde.life, vom 2 Dez. 2022 08:14 Uhr

    Moskau kritisiert die OSZE und insbesondere deren Beobachter im Osten der Ukraine. Die Organisation sei parteiisch. "Geist und Wortlaut der OSZE-Charta sind zerstört", sagte Russlands Außenminister Sergei Lawrow am Donnerstag bei einer Pressekonferenz.


    Lawrow: OSZE ist nicht mehr unparteiisch, sondern steht aufseiten der Ukraine

    Quelle: Sputnik © Russian Foreign Ministry/Sputnik



    Sergei Lawrow während eines Treffens mit dem Präsidenten der Nationalversammlung der Kubas, Esteban Lazo Hernande, in Moskau, 1. Dezember 2022


    Zitat: Russlands Außenminister Sergei Lawrow hat auf einer auch im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz schwere Vorwürfe gegen die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und ihre Beobachter in der Ukraine erhoben, meldet die Nachtichtenagentur dpa.

    Moskau sagt START-Gespräche ab: "Die USA gießen überall Benzin ins Feuer – Nicht mehr hinnehmbar"





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    OSZE als Beobachter oder Helfer in der Ukraine?

    Lawrow machte darauf aufmerksam, dass die im Gebiet Donezk stationierten OSZE-Beobachter noch vor Beginn der russischen Sonderoperation im Februar 2022 die zunehmenden Angriffe der ukrainischen Armee auf die Volksrepubliken Lugansk und Donezk im Osten der Ukraine ignoriert und den ukrainischen Truppen teilweise sogar geholfen haben. Lawrow erklärte:

    "Es sind Fakten entdeckt worden, dass sich die OSZE an der Lenkung des Feuers auf Donezk und Lugansk beteiligt hat."

    Nach der Ausweisung der OSZE-Beobachter seien entsprechende Dokumente gefunden worden.

    Ab 2014 hatte die OSZE den Auftrag, die Konfliktparteien im Donbass voneinander zu trennen und den Waffenstillstand zu überwachen. Ende Februar, nach Beginn der russischen Invasion, beendete sie ihre Mission und zog die Beobachter aus dem Kriegsgebiet ab.

    Lawrows Kritik ging jedoch noch weiter. Der Chef des russischen Außenamtes beklagte, dass die OSZE vom Westen dominiert werde und damit ihre eigene Bedeutung als Vermittler verloren habe. Insbesondere Polen spiele eine negative Rolle:

    "Unsere polnischen Nachbarn haben das ganze Jahr über der OSZE fleißig ein Grab geschaufelt und die Reste der Konsenskultur vernichtet. Das Vorgehen Warschaus ist ein eklatanter Verstoß gegen die Geschäftsordnung und die Beschlüsse der Entscheidungsgremien der Organisation."

    Russland warnt vor möglichem Atomkrieg





    Russland warnt vor möglichem Atomkrieg







    Washingtons Dominanz

    Politiker in der EU versuchten, Sicherheit ohne Russland und Weißrussland zu schaffen, aber Moskau brauche diese Art von "Sicherheit" nicht, zitiert TASS aus der Rede des Ministers:

    "Die gesamte Sicherheit Europas ist jetzt darauf reduziert, den Vereinigten Staaten völlig untergeordnet zu sein".

    Mit Blick auf die OSZE führte Lawrow aus:

    "Ich sollte anmerken, dass eine solch unschöne Linie der OSZE ihre eigene Erklärung hat. Unter Ausnutzung der rechnerischen Überlegenheit in dieser Organisation versucht der Westen seit vielen Jahren, die OSZE zu privatisieren oder besser gesagt zu vereinnahmen, um diese letzte Plattform des überregionalen Dialogs zu unterwerfen. Es gab auch den Europarat, aber der wurde bereits vom Westen lahmgelegt und hat keine Aussicht auf Besserung. Jetzt steht die OSZE im Fadenkreuz. Ihre Befugnisse und Zuständigkeiten werden verwässert und auf enge, nicht einbeziehende Formate verteilt."

    Lawrow äußerte sich außerdem zur Rolle der NATO:

    "Wir erinnern uns, wie die NATO gegründet wurde. Der erste Generalsekretär der Allianz, H. Ismay, hatte seinerzeit eine Formel entwickelt: 'Die Russen aus Europa heraushalten, die Amerikaner in Europa halten und die Deutschen in Europa kontrollieren.' Was jetzt geschieht, ist nichts weniger als eine Rückkehr des Bündnisses zu den vor 73 Jahren entwickelten konzeptionellen Prioritäten. Es hat sich nichts geändert: Die 'Russen' sollen aus Europa herausgehalten werden, die Amerikaner wollen und haben bereits ganz Europa versklavt und kontrollieren nicht nur die Deutschen, sondern die gesamte Europäische Union. Die Philosophie der Vorherrschaft und des einseitigen Vorteils ist seit dem Ende des Kalten Krieges nicht verschwunden."

    Kiews erwartbare Position

    Der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba schien die Vorwürfe Lawrows bestätigen zu wollen und erneuerte die Forderung seines Landes, die OSZE ohne Russland fortzuführen. Am Donnerstag schrieb er auf Twitter:

    "Die OSZE befindet sich auf dem Weg in die Hölle, weil Russland ihre Regeln und Prinzipien missbraucht, obwohl der amtierende Vorsitzende, das Generalsekretariat und die OSZE-Institutionen bemerkenswerte Anstrengungen unternehmen, um sie über Wasser zu halten."

    In Bezug auf Russland sei angeblich alles versucht worden: "Zu gefallen, beschwichtigen, nett sein, neutral sein, sich engagieren, die Dinge nicht beim Namen nennen. Das Fazit: Es wäre besser für die OSZE, ohne Russland weiterzumachen."


    Verweigerte Einreise nach Polen für Lawrow: Russland sieht OSZE beschädigt





    Verweigerte Einreise nach Polen für Lawrow: Russland sieht OSZE beschädigt






    Peskow: OSZE zeigt russlandfeindliche Haltung

    Derweil hat auch Kremlsprecher Dmitri Peskow Russlands Kritik an der OSZE untermauert, wie TASS berichtet. Demnach verliere die OSZE aufgrund ihrer "antagonistischen Haltung gegenüber Russland" an Effektivität und an Fähigkeit, sich tatsächlich mit den Themen zu befassen, die sie behandeln sollte. Peskow resümierte:

    "Dadurch wird die Wirksamkeit dieser Struktur beeinträchtigt. Und natürlich treibt das einen tiefen Keil in die Zukunft dieser Organisation."

    Das zweitägige 29. Treffen des OSZE-Ministerrats begann am Donnerstag in Lodz. Polens Außenministerium verweigerte einer russischen Delegation unter Leitung von Außenminister Sergei Lawrow die Einreise in die Republik. Das russische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als beispiellos und provokativ, unvereinbar mit dem Status des Vorsitzes der Organisation. Die russische Delegation, die zur Veranstaltung in Lodz entsandt wurde, steht unter der Leitung des Ständigen Vertreters Russlands bei der OSZE, Alexander Lukaschewitsch.


    Mehr zum Thema - Bye-bye, Kiew − Hallo, Côte d'Azur: Wie die korrupten Eliten der Ukraine vom Konflikt profitieren


    Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

    Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
    Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
    Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.

Info: https://meinungsfreiheit.rtde.life/international/156062-sergei-lawrow-osze-ist-nicht/


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

03.12.2022

Desinformation  
Russland, Ukraine und Frau Krone-Schmalz  (I von II)










zeitschrift-osteuropa.de, kein Datum, heruntergeladen am 3.12.2022, Franziska Davies· Desinformationsexpertin

Der ehemaligen Moskau-Korrespondentin der ARD Gabriele Krone-Schmalz hat der Bildschirm zu Prominenz verholfen. Teilen der Öffentlichkeit gilt sie als „Russland-Expertin“. Jüngst sprach sie in Reutlingen über „Russland und die Ukraine“ sowie über den Krieg. Ihre Botschaft ist simpel: Der „Westen“ ist schuld, er habe Russlands Interessen ignoriert, die Nato erweitert und Russland zur Reaktion genötigt. Diese These kann sich nicht auf Fakten stützen. Sucht man diese Fakten in Krone-Schmalz Vortrag und Büchern, überprüft man ihre Argumente und die Beweisführung, so finden sich etliche Beispiele für Verdrehungen, Halbwahrheiten, den manipulativen Gebrauch von Quellen sowie Falschaussagen. Empirisch und methodisch sind Frau Krone-Schmalz Einlassungen unhaltbar. Sie betreibt Desinformation.


Am 14. Oktober 2022 lud die Volkshochschule Reutlingen zu einem Vortrag ein. Es sprach Gabriele Krone-Schmalz, von 1987–1991 Korrespondentin der ARD in Moskau. An diesem Abend sollte sie über „Russland und die Ukraine“ informieren. Das ist an sich eine prima Idee. Denn an Aufklärung über die Hintergründe von Russlands Krieg gegen die Ukraine herrscht in der Tat Bedarf.

Doch bereits im Vorfeld der Veranstaltung hatten Fachleute wie der Tübinger Osteuropahistoriker Klaus Gestwa Zweifel angemeldet, ob die Volkshochschule richtig beraten sei, dieser Publizistin die Bühne zu bieten.[1] Zwar wird Frau Krone-Schmalz in der Öffentlichkeit gelegentlich als „Russland-Expertin“ bezeichnet.[2] In der akademischen Osteuropa-Community gilt sie allerdings nicht als „Expertin“, sondern vielmehr als eine Verteidigerin des Putin-Regimes. Frau Krone-Schmalz kann verteidigen, wen oder was sie will. Das ist ihr gutes Recht. Und auch die Volkshochschule Reutlingen soll einladen, wen sie will. Darin besteht ihre Autonomie. Gleichwohl muss sich eine kommunale öffentliche Einrichtung, die der Aufklärung und der Mitwirkung an der politischen Bildung verpflichtet ist, fragen lassen, ob sie diesen Aufgaben gerecht wird. Und eine Referentin, die sich auf ihrer Website mit einem Professorentitel schmückt und damit implizit die Geltung des Wahrheits­gebots der Wissenschaft anerkennt, muss sich einer Kritik stellen, welche die Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die empirische und methodische Seriosität und Solidität sowie die intersubjektive Geltung der Fakten und ihres Urteils überprüft.

In ihrem Vortrag betonte Frau Krone-Schmalz zwar, dass es ihr „in keiner Weise darum gehe, diesen Krieg zu rechtfertigen“.[3] Tatsächlich versuchte sie dann aber Russlands Führung aus der Verantwortung zu entlassen. Ihre Behauptung, dass sie kein „Verständnis“ für diesen Krieg habe, erweist sich als rhetorische Figur. Denn die Kernbotschaft ihres Vortrags lautet: Russland „reagiere“ nur, denn letztlich trage der Westen die Verantwortung. Russland habe den Krieg zwar „ausgelöst“, aber es seien andere, der „Westen“, NATO und die Ukraine, die „ihn unvermeidlich gemacht hätten“.

Diese Behauptung steht im eklatanten Widerspruch zu den Erkenntnissen der Russland- und Ukraine-Forschung der letzten Jahrzehnte. Insofern ist es nicht überraschend, dass Krone-Schmalz unseriös vorgeht, um ihre Behauptung zu unterfüttern. In dem Vortrag finden sich zahlreiche Beispiele für Verdrehungen, Halbwahrheiten, den manipulativen Gebrauch von Quellen sowie Falschaussagen. Das ist kein Einzelfall. In ihren Büchern und Vorträgen seit 2014 geht Frau Krone-Schmalz ähnlich vor. Sie trägt damit zur Desinformation der deutschen Öffentlichkeit über Russland, die Ukraine, die russländisch-ukrainischen Beziehungen sowie über die Annexion der Krim und die Eskalation des aktuellen Kriegs bei.


Halbwahrheiten und Falschaussagen

In ihrem Vortrag behauptet Krone-Schmalz, dass die Toten im Donbas seit 2014 allein von der Ukraine zu verantworten seien. Die Opfer „im Donezker und Lugansker Gebiet vor dem russischen Einmarsch durch die permanenten ukrainischen Angriffe“ seien „bei uns ja eher nicht registriert“ worden. Sie selbst habe bis zum 24. Februar 2022 geglaubt, dass Russland „doch niemals“ die Ukraine angreifen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Russland die Ukraine längst angegriffen und zwar im Jahr 2014: zuerst durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, dann durch die hybride militärische Intervention in der Ostukraine. Es ist zutreffend, dass auch lokale Kräfte im Donbas-Gebiet den Aufstand gegen Kiew mittrugen oder sogar initiierten. Doch ihre Einbindung in russländische ultraorthodoxe, neonazistische oder neostalinistische Netzwerke war bereits damals evident. [4] Ebenfalls war bereits 2014 bekannt, welche Rolle Angehörige russländischer Geheimdienste, russische Nationalisten und irreguläre Truppen aus Russland bei der Entfesselung des Kriege in der Ostukraine spielten.[5] Im August 2014 war es Russlands reguläre Armee, die ein Ende des militärischen Konflikts verhinderte und stattdessen den Krieg durch die Lieferung von Munition, Material und Personal befeuerte, der bis zum 24. Februar fast 15 000 Menschen das Leben gekostet hat.[6]

Diese Falschaussagen über den Donbas verbreitete Frau Krone-Schmalz auch in Reutlingen. Sie behauptete, dass die „Ostukraine“ – die 2014 besetzten Regionen sind lediglich ein kleiner Teil des Donbas – „nach Russland tendieren“ würde. Tatsächlich liegen die Gebiete, in denen prorussländische Positionen in der Ukraine am meisten Rückhalt fanden, in den Regionen Doneck und Luhansk. Mit etwa 18 Prozent im März 2014 war es aber selbst dort nicht einmal die Hälfte, geschweige denn die Mehrheit, die sich für eine Abspaltung von der Ukraine und eine Angliederung an Russland aussprach. [7] Die Forschung hat detailliert rekonstruiert, wie sich die sogenannten „Volksrepubliken“ Doneck und Luhansk zu Gewalt- und Terrorregimen entwickelten, die von Moskau gesteuert wurden.[8] Der Donbas-Experte Brian Milakovsky, der die Intervention Russlands im Jahr 2014 persönlich erlebt hatte, sagte im Sommer 2022 im Rückblich, dass selbst er die eigenständigen Handlungsmöglichkeiten der „Separatisten“ überschätzt habe. Erst mit Russlands großflächiger Invasion im Februar 2022 sei ihm klar geworden, dass es sich dabei um „Hilfstruppen“ (auxiliary forces) Moskaus gehandelt habe.[9]

In ihrem Vortrag behauptet Frau Krone-Schmalz, die Umsetzung der „Minsker Vereinbarungen“, also das Abkommen über die Lösung des Konflikts im Donbas zwischen den vermeintlichen „Separatisten“ und der Ukraine, unterzeichnet am 12. Februar 2015, sei allein an der Ukraine gescheitert: die „Umsetzung von Minsk II“ habe „sehr wohl im russischen Interesse“ gelegen, „keineswegs aber im ukrainischen“. Auch diese Aussage ist falsch. Das Abkommen krankte von Anfang an daran, dass Russland trotz seiner zentralen Rolle im Donbas nicht als Kriegspartei behandelt wurde, sondern nur die von Putin gesteuerten „Separatisten“. Diese wurden damit de facto anerkannt.[10] Es ist richtig, dass es auch in der Ukraine erheblichen Widerstand gegen Minsk II gab und nicht alle Vereinbarungen umgesetzt wurden. Es bestand nicht nur in Kreisen extremer Nationalisten die berechtigte Befürchtung, dass die Ukraine durch das Abkommen Gefahr laufen würde, ein dauerhaftes Einfallstor für Russland in der Ukraine zu schaffen, das Moskau jederzeit zur Destabilisierung des Landes nutzen könnte.[11] Wie soll man „Wahlen“ abhalten, wenn Moskau seine Kämpfer aus Russland, Geheimdienstler, reguläre Armeeangehörige „auf Urlaub“ nicht abzieht, ja, nicht einmal bereit ist einzuräumen, dass sie dort sind? Der politische Newcomer Volodymyr Zelens’kyj gewann die ukrainischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2019 nicht zuletzt durch sein Versprechen, dass er den Krieg im Donbas beenden würde. Trotz erheblicher Widerstände im eigenen Land suchte er tatsächlich nach Kompromissen mit Russland, stieß in Moskau aber auf taube Ohren.[12] Am 21. Februar 2022 nutze Putin die sogenannten „Volksrepubliken“ als Präludium zum Totalangriff auf die Ukraine, indem er sie als unabhängige Staaten anerkannte.[13]

Komplizierter ist die Frage nach der Unterstützung des Vorgehens Russlands gegen die Ukraine auf der Krim. In ihrem Buch „Russland verstehen“, das nach der Annexion der Krim erschien, bezeichnet Krone-Schmalz die Halbinsel als „ureigenes russisches Land“.[14] Mit dieser Charakterisierung übertrifft sie die völkische Ideologie des Kremls, schließlich räumte Putin selbst nach der Annexion noch ein, dass die Krim auch ukrainisch und krimtatarisch sei.[15] Tatsächlich war die Halbinsel Krim, die erst 1783 unter der Zarin Katharina II. annektiert wurde, über Jahrhunderte weder russisch noch russländisch gewesen, sondern ein multiethnischer und multireligiöser Ort, der zunächst muslimisch geprägt war. Die Herrschaft des Zarenreichs ging mit einer fortschreitenden Zurückdrängung der Krimtataren einher, aber erst mit der gewaltsamen Massendeportation durch Stalin im Jahr 1944 wurden die Krimtataren zu einer kleinen Minderheit.[16]

Politisch betrachtet stimmten auch die nichtkrimtatarischen Bewohner der Krim, also die ethnisch russischen und ukrainischen, 1991 mehrheitlich (ca. 54 Prozent) für die Unabhängigkeit der Ukraine. Nach einer kurzen Erfolgswelle Mitte der 1990er Jahre verschwanden die politischen Gruppierungen auf der Krim, die für einen Anschluss an Russland eingetreten waren, in der politischen Bedeutungslosigkeit.[17] Nach den letzten demokratischen Wahlen zum Krim-Parlament im Jahre 2010 kam die Partei Russkoe Edinstvo (Russische Einheit) noch drei von 100 Sitzen.[18] Inwiefern Russlands massive anti-ukrainische Propaganda während des Euromajdan im Winter 2013/14 dazu führte, dieses Meinungsbild zu verändern, müssen künftige Forschungen zeigen. Die weitgehende Billigung der Annexion durch die Bevölkerung der Krim zeugt allerdings davon, dass das Vertrauen in den ukrainischen Staat bei vielen nicht gefestigt war und es ausgeprägte Sympathien für Russland gab. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung der Krim im März 2014 für den Anschluss an Russland auch bei einer demokratischen Wahl gestimmt hätte, möglicherweise die Mehrheit. Dies ändert nichts daran, dass Russland völkerrechtswidrig das Gebiet eines anderen Staates annektierte und seitdem gezielt jene Menschen verfolgt, die sich – wie der ukrainische Filmemacher Oleg Sencov oder der prominente Krimtatare Mustafa Dzhemilev – der gewaltsamen Annexion ihrer Heimat entgegenstellten. Unter Gewaltandrohung inszenierte Moskau ein Pseudoreferendum, bei dem die Option, dass die Krim Teil der Ukraine bleiben sollte, nicht einmal auf den „Stimmzetteln“ zu finden war. Die Annexion der Krim war ein Gewaltakt. In Krone-Schmalz’ Buch ist von diesen gut dokumentierten Fakten nichts zu finden. Stattdessen behauptet sie, dass Putin auf der Krim „keine Landnahme“ vorgenommen, sondern in „Notwehr unter Zeitdruck“ gehandelt habe, den Vorwurf des Völkerrechtsbruchs halte sie „nicht für berechtigt“.[19] Die „russische Militärpräsenz“ habe nur dafür gesorgt, „dass die ukrainischen Soldaten in ihren Kasernen bleiben mussten“ und das „Referendum“ so nicht verhindern konnten, aber die Mehrheit der Krim-Bevölkerung habe ohnehin „mehrheitlich in Richtung Russland tendiert“.[20] Lediglich die bewaffnete Stürmung des Krim-Parlaments erwähnt Krone-Schmalz. Das Gebäude hätten „bewaffnete Kräfte besetzt, über deren genaue Identität gestritten wird“.[21]

Tatsächlich tauchten bereits am Tag nach dem Sturm des Parlaments und der forcierten „Abstimmung“ auf der Krim die Militärs ohne Hoheitsabzeichen, die zu trauriger Berühmtheit gelangten „grünen Männchen“, auf. Insofern war schon 2014 klar, dass Russland die treibende Kraft bei der gewaltsamen Übernahme der Krim war. Statt dies zu sagen, behauptet Krone-Schmalz tatsachenwidrig, dass die Vorgänge im Krim-Parlament in Simferopol’ „analog“ zur Erstürmung des Parlaments in Kiew durch „bewaffneten Kräfte“ seien.[22] Diese Aussage ist schlicht falsch. Eine solche Erstürmung des Parlaments hatte es in Kiew gar nicht gegeben. Frau Krone-Schmalz unterschlägt eine weitere allgemein zugängliche Information. Hätte sie diese erwähnt, wäre der Vergleich zwischen dem Machtwechsel in Kiew und auf der Krim sofort in sich zusammengefallen. In Kiew gelangte eine Übergangsregierung an die Macht, nachdem Präsident Viktor Janukovyč nach monatelangen Massenprotesten gegen seine autoritäre und immer repressivere Politik nach Russland geflüchtet war. Im Mai 2014 wurde Petro Porošenko auf demokratischem Wege zum neuen Präsidenten gewählt, im Oktober 2014 folgte die Neuwahl der Verchovna Rada. Seit der Erstürmung des Krim-Parlaments finden auf der besetzten Krim keine demokratischen Wahlen mehr statt, Oppositionelle, insbesondere Krimtataren werden verfolgt.[23] Die Falschdarstellung der Ereignisse auf der Krim durch Krone-Schmalz ist ungeheuerlich, besonders gegenüber jenen Menschen, die seit 2014 unter Russlands Okkupation leiden, ihr zum Opfer gefallen sin oder fliehen mussten und ihre Heimat verloren haben.[24]

In ähnlicher Weise verfälscht Frau Krone-Schmalz in ihrem Vortrag Russlands Rolle in Syrien. Ihr zufolge habe Russland Assad von der Zerstörung chemischer Waffen überzeugt. Dass geschah tatsächlich, allerdings nur partiell. Mit Russlands Rückendeckung entzog sich das Assad-Regime unter Verweis auf Syriens Souveränität der Zerstörung des gesamten Chemiewaffenarsenals. Russland unterstützte militärisch das Assad-Regime, das systematisch Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an der eigenen Bevölkerung beging. Zugleich waren russländische Stellen maßgeblich an der aggressiven Desinformationskampagne gegen die zivilen Weißhelme beteiligt,[25] die den Opfern des Bürgerkriegs zu helfen versuchten. James Le Mesurier, Mitgründer der Weißhelme, nahm sich im Zuge dieser Hasskampagne das Leben.[26]

Russland bombardierte – so wie heute in der Ukraine – zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Wohngebiete. Krone-Schmalz aber möchte die Zerstörung von Aleppo, die zum Symbol für diese Verbrechen und zur Blaupause des Urbizids von Mariupol wurde, „nicht kommentieren“. Aleppo werde Russland noch „lange nachhängen“. Ein bemerkenswerter Satz, der nahelegt, dass sie primär den Reputationsschaden für Russland bedauert, nicht aber die tausenden ermordeten Menschen in Syrien. Damit sind wir bei einem weiteren integralen Bestandteil jeder Russland-Verteidigung: der Hinweis auf Opfer anderer Staaten oder Kriegsparteien. Dieser „Whataboutism“ hat eine Funktion: er dient zur Relativierung von Putins Verbrechen. In Reutlingen erinnert Frau Krone-Schmalz an die 40 000 Toten, die während des Sturms auf Mossul starben. Es stimmt, dass 40 000 Menschen unter grauenhaften Umständen starben, als die irakische Armee von Oktober 2016 bis Juli 2017 gemeinsam mit kurdischen Einheiten und unterstützt von amerikanischen Kampfbombern die vom Islamischen Staat beherrschte Stadt zurückeroberten. Der Kontext des Sturms bleibt unerwähnt. Anders als Krone-Schmalz suggeriert, starben diese Menschen nicht allein durch US- Bomben. Krone-Schmalz legt nahe, an diese Toten erinnere man in der deutschen Öffentlichkeit nicht, weil Russland und die USA mit zweierlei Maß gemessen würden. Selbst wenn das so wäre, hieße die Konsequenz daraus nicht, intensiver an die Opfer amerikanischer Politik zu erinnern, anstatt sie zur Relativierung oder Verteidigung der kriminellen Praxis Russlands zu nutzen?

Zuletzt sei auf die selektive, bisweilen verfälschende Darlegung der Rüstungskontrollverträge zwischen dem „Westen“ (USA/NATO) und der Sowjetunion/Russland seit 1989 verwiesen. Krone-Schmalz zeichnet das Bild, dass es ausschließlich der Westen gewesen, der diese Verträge zunichte gemacht habe und versucht diese Behauptung anhand des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) und des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty), zu illustrieren. Es stimmt, dass der INF-Vertrag „von Donald Trump am 20. Oktober 2018 einseitig gekündigt“ wurde. Allerdings verschweigt die Referentin die Tatsache, dass Russland den Vertrag in den Jahren zuvor kontinuierlich verletzte. Der am 7. Dezember 1989 ratifizierte Vertrag verbot Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km und legte ein gegenseitiges Inspektionsregime fest. Seit 2010 testete und stationierte Russland vertragswidrig Raketen mit einer Reichweite von über 1000 km.[27]

Zum KSE-Vertrag erklärt Krone-Schmalz, dass sie „es so einfach wie möglich“ machen wolle, „ohne dass es falsch wird“. Tatsächlich zeichnet sie dann ein Bild, das durch Halbwahrheiten und Falschaussagen gekennzeichnet ist. Der Vertrag wurde am 19. November 1990 zwischen der NATO und dem Warschauer Pakts unterzeichnet und diente dem Abbau schwerer konventioneller Rüstung in Europa, verpflichtete die Vertragsparteien zu Transparenz und legte ein Verifikationssystem fest. In den 1990er Jahren wurden die Vertragsbestimmungen nach der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Ende des Ost-West-Konflikts im sogenannten „Anpassungsübereinkommen zum KSE-Vertrag“ der neuen sicherheitspolitischen Lage in Europa angeglichen. Krone-Schmalz erklärt, dass die Nachfolgestaaten der Sowjetunion diesen Vertrag ratifiziert hätten, die NATO-Staaten aber nicht. Das ist in der Sache richtig. Allerdings insinuiert sie, die westlichen Staaten seien gegenüber einem kooperationsbereiten Russland wortbrüchig geworden. Das ist falsch. Tatsächlich waren die meisten der Nato-Staaten nicht mehr bereit, den Anpassungsvertrag zu ratifizieren, da sich Russland – anders als es die Referentin darstellt – weigerte, seinen in Istanbul 1999 eingegangen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, seine Truppen aus Georgien und der Republik Moldau zurückziehen und Russland gleichzeitig den zweiten Tschetschenienkrieg führte und dazu erhebliche konventionelle Truppen im Süden konzentrierte.[28] Hinzu kommt, dass Frau Krone-Schmalz darauf verweist, dass diese sogenannten Istanbul Commitments juristisch „kein Bestandteil des Vertrages“ gewesen seien und suggeriert so, dass Russland diese großmütig dennoch akzeptiert habe. Tatsächlich aber weichten die Istanbul Commitments den ursprünglichen Vertrag auf, indem sie Russland eine höhere Konzentration von Truppen an seinen Flanken zugestanden.

In diesem Zusammenhang bezeichnet Frau Krone-Schmalz Georgien und Moldova als „politisch instabile ehemalige sowjetische Landesteile“, in denen es doch nur sinnvoll sei, wenn dort vorhandene „gut ausgestattete Waffendepots“ von „russischen Militärkräften“ geschützt werden würden. Von welchen „Waffendepots“ die Rede ist, bleibt unklar. Klar aber wird, dass die Referentin allein Russland als entscheidungsberechtigten Staat im postsowjetischen Raum zu akzeptieren bereit ist und mit kolonialer Attitüde auf die anderen Nachfolgestaaten blickt.


Koloniale Arroganz und negative Stereotype

Treu bleibt sich Frau Krone-Schmalz auch darin, über die Ukraine negative Stereotype zu verbreiten, um Russlands Angriff zumindest implizit zu rechtfertigen. Es beginnt mit dem rhetorischen Trick, dass ihre Ausführungen „ja nichts damit zu tun“ hätten, „der Ukraine ihr Existenzrecht abzusprechen“ – obwohl es ganz genau darum geht. Es trifft zu, dass die Ukraine keine lange Tradition eigener Staatlichkeit hat. Das aber hängt nicht zuletzt mit dem russischen Imperialismus zusammen, der die Eigenständigkeit einer ukrainischen Nation im 19. Jahrhundert leidenschaftlich bekämpfte.[29] Nach dem Zerfall des Zarenreiches im Jahr 1917 waren es die Bolschewiki unter der Führung Lenins, die die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Januar 1918 nicht akzeptierten. Die Rote Armee unterwarf im Bürgerkrieg die „Ukrainische Volksrepublik“ und inkorporierte die heutige Zentral- und Ostukraine in die Sowjetunion, deren Gründung sich am 30. Dezember 2022 zum einhundertsten Male jährt.

Das erwähnt Krone-Schmalz nicht. Stattdessen verweist sie darauf, dass die Ukraine „nie ausschließlich von Menschen bewohnt wurde, die sich als Ukrainer begriffen“, dass dort „ethnische und auch religiöse Minderheiten“ lebten und dass „die Ukraine, wie wir sie heute kennen“, erst seit 1991 existiere. All diese Aussagen sind richtig, aber was hat das mit Russlands Angriffskrieg zu tun? All diese Aussagen gelten auch für Russland: Auch hier lebten (und leben) nie ausschließlich Menschen, die sich als Russen begriffen, auch hier lebten (und leben) ethnische und religiöse Minderheiten und auch Russland, wie wir es heute kennen, existiert erst seit 1991.

Freilich ist Krone-Schmalz zu geschickt, um Putins Diktum von der Ukraine als „Anti-Russland“ zu wiederholen und sie zu einem Teil Russlands zu erklären. Aber letztlich macht sie dasselbe wie der Kreml, wenn sie mit einer problematischen Deutung der Geschichte die Intervention Russlands mindestens implizit relativiert. Sie legt damit nahe, dass es die komplexe Geschichte der Ukraine gewesen sei, die etwas mit Russlands Angriff zu tun hat. Tatsächlich müsste sie dafür die innere Entwicklung Russlands in den letzten Jahrzehnten genauer in den Blick nehmen und sich mit den anti-ukrainischen imperialen Traditionen Russlands auseinandersetzten. Die Kieler Osteuropa-Historikerin Martina Winkler wies kurz nach dem Totalangriff Russlands auf die Ukraine zu Recht darauf hin, dass zur Bewertung des russländischen Vorgehens alleine das Völkerrecht gilt.[30] Welche katastrophalen Folgen es hat, wenn Staaten Territorialansprüche durch eine Interpretation der Geschichte legitimieren, dürfte Krone-Schmalz wissen.

Frau Krone-Schmalz Blick auf die Ukraine ist ein kolonialer: Das Land figuriert bei ihr als „gespalten“, die Menschen sind keine Subjekte, sondern in ihren Handlungen durch den „Westen“, insbesondere die USA gesteuert: die Orangene Revolution (2004) sei der „Regie“ des Westens gefolgt.[31] So ist es nur folgerichtig, dass Krone-Schmalz auch die enorme Transformationskraft der ukrainischen Gesellschaft ignoriert, die während des Euromajdan 2013/14 auf die Straße ging, um gegen das kleptokratische und autoritäre Regime von Viktor Janukovyč zu protestieren.[32] Dass sich der Protest regte, nachdem Janukovyč – auf Putins massiven Druck hin – sich überraschend weigerte, das ausverhandelte Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, war nur der Tropfen, der das Fass der Unzufriedenheit und Wut zum Überlaufen brachte.

Frau Krone-Schmalz steht mit ihrem Zugang zum osteuropäischen Raum und ihrem Blick auf die Ukraine in einer fatalen deutschen Tradition: allein die Großmacht Russland zu respektieren. Da verwundert es nicht, wenn in ihrem Vortrag Deutschland und Russland zu „Nachbarn“ werden. Das war das letzte Mal zwischen 1939 und 1941 der Fall, als die Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland Verbündete waren. Hier offenbart sich eine erschreckende Geschichtsvergessenheit. Die deutsch-russische Verständigung hatte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf der Unterdrückung Ostmitteleuropas beruht, die ihren mörderischen Höhepunkt mit dem Hitler-Stalin Pakt von 1939, dem gemeinsamen Überfall auf Polen sowie der Aufteilung und Besatzung Ostmitteleuropas erreichte.

In Reutlingen stellt Frau Krone-Schmalz ihre Ignoranz über die Ukraine auch dadurch unter Beweis, dass sie behauptet, der Ukraine hätte nach 1991 eine „Dezentralisierung“ gutgetan, „die den historischen Entwicklungen Rechnung getragen hätte und dieses Land seine Rolle als Brücke zwischen und Ost und West hätte spielen“ lassen. Ironischerweise war es gerade Russlands Präsident Putin, der 2013 alles daran setzte zu unterbinden, dass die Ukraine diese Brückenfunktion ausüben sollte, indem sie das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnete und ihre Beziehung zu Russland beibehielte.

Und was die „Dezentralisierung“ im Inneren anbelangt, war es in der Ukraine gerade die Stärke der Regionen, die – im Unterschied zu Russland – verhinderte, dass sich eine Machtvertikale mit einem starken Zentrum entwickeln konnte, was die Voraussetzung für autoritäres Herrschaftssystem ist. Und es war die Krim, die in der Ukraine weitgehende Autonomierechte genossen hatte, ehe sie von Russland annektiert wurde.


Manipulativer Gebrauch von Quellen

Frau Krone-Schmalz Nimbus als „Russland-Expertin“ basiert nicht nur darauf, dass viele Medien in Deutschland sie jahrelang als solche präsentierten, sondern auch auf ihren Büchern, die im seriösen C.H. Beck Verlag erschienen. Dieser hat die beiden Titel unterdessen aus dem Programm genommen.[33]

In ihrem Reutlinger Vortrag verweist die „Russland-Expertin“ auf diese Bücher, speziell auf das Buch „Eiszeit“, das über einen „Anmerkungsapparat“ verfüge. Damit, so Krone-Schmalz, handele es sich um eine Publikation, „die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt“. Freilich sind Fußnoten – das sollte uns die Causa des Ex-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg gelehrt haben – kein Ausweis von Wissenschaftlichkeit. Auch im vorliegenden Fall zeigt die Lektüre, dass jener Anmerkungsapparat vor allem dazu dient, den Anschein von Wissenschaftlichkeit und Seriosität zu vermitteln. Bei diesen Fußnoten fällt auf, dass es sich mehrheitlich um deutsch- und englischsprachigen Online-Artikel sowie einzelne Veröffentlichungen aus Wikileaks handelt, die bekanntermaßen bisher keine Dokumente aus Russland veröffentlicht haben. Gerade eine (!) russische Quelle ist im Literaturverzeichnis zu finden. Vor allem ignoriert die „Expertin“ die einschlägige internationale Literatur über Putin und den Putinismus komplett. Dazu zählen die empirisch fundierten Studien von Karen Dawisha und Masha Gessen ebenso wie grundlegende journalistische Arbeiten aus russischer Feder etwa von Michail Zygar und Anna Politkovskaja. Politkovskaja bezahlte ihre investigativen Recherchen über die Verbrechen des Putin-Regimes in Tschetschenien mit ihrem Leben: 2006 wurde sie in Moskau erschossen.

In „Eiszeit“ wurden Quellen und Literatur offensichtlich so ausgewählt, andere aber ausgeblendet, um Behauptungen rückwirkend zu stützen und ihnen so den Anschein von intersubjektiv nachprüfbarer Gültigkeit zu verleihen. Auch hier lautet die Erzählung: Die Verantwortung für Russlands Aggressionen trägt der „Westen“, vor allem auf Grund der NATO-Osterweiterung. Um diese simple Erklärung plausibel zu machen, ignoriert sie wie auch in Reutlingen alles, was gegen diese Theorie spricht. Teilweise verfälscht sie auch hier ihre Quellen, etwa wenn sie behauptet, eine Umfrage aus dem Jahr 2005 hätte gezeigt, dass „nur ein Drittel“ der ukrainischen Bevölkerung der EU beitreten wollte. Prüft man die zitierte Quelle, ist da zu lesen, dass 40 Prozent einen EU-Beitritt befürworteten.[34] Aussagen aus der von ihr zitierten Studie, die ihrer zentralen Deutung widersprechen, ignoriert sie. Das Narrativ, es seien die USA und der „Westen“, die in der Ukraine massiv Einfluss nähmen,müsset Frau Krone-Schmalz zumindest relativieren, wenn sie die russländische Politik in der Ukraine zur Kenntnis nehmen würde. Iryna Pavlenko, die Krone-Schmalz ausschließlich zitiert, um den verhältnismäßig geringen Rückhalt für den Beitritt zur EU in der Ukraine zu belegen:

Die Ukraine ist noch immer gezwungen, nach Russlands Regeln zu spielen. Tatsächlich weigert sich der Kreml komplett, den Dialog in anderer Form zu führen. Der ukrainische Wunsch, mit Russland auf der Basis allgemein anerkannter Grundlagen des Völkerrechts zu verhandeln, ist mit den Plänen des Kreml nicht in Einklang zu bringen.[35]

Pavlenko verweist in ihrer Studie auf die regionalen Unterschiede in der Ukraine, aber arbeitet die Strategie des Kremls heraus, diese regionalen Unterschiede auszunutzen, um das Land zu destabilisieren. Pavlenko vertritt in diesem Text von 2007 bereits die These, dass es die russländische Einflussnahme ist, die in der Zentral- und Ostukraine die Zustimmung zur NATO und zur EU in die Höhe treiben werden. Mit keiner dieser Feststellungen und Thesen setzt sich Krone-Schmalz auseinander. Stattdessen zitiert sie selektiv, wohl mit dem Zweck, die a priori feststehende Ansicht durch einen Literaturverweis zu beglaubigen. Dabei lernt jede Studentin im ersten Semester des Geschichtsstudium, dass die Reihenfolge anders lauten muss. Zuerst werden die relevanten Quellen gelesen, dann die Fachliteratur studiert und analysiert und schließlich auf dieser Basis eine These entwickelt. Alles andere widerspricht der guten wissenschaftlichen Praxis.

Der selektive, manipulative Gebrauch von Quellen findet sich bereits im Buch „Russland verstehen“. Hier macht Krone-Schmalz aus der Lobbyistin des Janukovyč-Regimes Ina Kirsch van de Water eine „Osteuropa-Wissenschaftlerin“, die als Kronzeugin für den zu befürchtenden politischen Einfluss extremer ukrainischer Nationalisten firmiert.[36] Ähnlich irreführend ist der Beleg für ihre Behauptung, der Krieg im Donbas sei ein „innerukrainischer Bürgerkrieg“.[37] Sie verweis auf eine SWP-Studie von Margarete Klein und Kristian Peters, bezieht sich aber nur auf die Stellen, in denen das Autorenduo die am Konflikt beteiligten irregulären ukrainischen Kampfverbände nennt und auf die Rolle des ukrainischen Innenministeriums und des Geheimdienstes verweist. Krone-Schmalz unterschlägt die in der Studie präsentierten Informationen, dass „ethnische Russen aus Russland“ die „meisten Schlüsselpositionen“ in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk einnehmen und es viele Hinweis darauf gebe, dass Russland „direkt militärisch involviert ist“.[38] Diese Informationen befinden sich auf derselben Seite, die Krone-Schmalz zitiert, oder auf der folgenden. Es liegt nahe, dass die Autorin der Leserschaft bewusst die Stellen vorenthält, die zeigen würden, dass ihre Darstellung und Interpretation des Krieges im Donbas unhaltbar ist.

Auch in dieser methodischen Hinsicht bleibt sich Frau Krone-Schmalz treu. In Reutlingen behauptet sie, Zelens’kyj habe im Februar 2021 „ein Dekret erlassen, in dem er die Rückeroberung der Krim quasi angeordnet“ habe. In einer gemeinsamen Erklärung der USA und der Ukraine sei dieses Ziel im November wiederholt worden. Tatsächlich rief Zelens’kyj im Februar 2021 eine „Krimplattform“ ins Leben. Das war aber eine diplomatische (!) Initiative der ukrainischen Regierung, die darauf zielte, die völkerrechtswidrig von Russland besetzte Halbinsel langfristig ins ukrainische Staatsgebiet zu reintegrieren.[39] In der gemeinsamen Erklärung der USA und der Ukraine vom November 2021 ist das Wort „Rückeroberung“ nicht zu finden.[40] Die USA bekräftigten ihr Festhalten am Prinzip der territorialen Integrität der Ukraine. Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich, dass sie die Annexion der Krim durch Russland nicht anerkennen. Außerdem erklärten die USA ihre Unterstützung für die langfristige Integration der Ukraine in die transatlantischen Strukturen. Dass die USA der Ukraine ihre Unterstützung bei ihrem Wunsch zum NATO-Beitritt als Reaktion auf den Aufmarsch der russländischen Armee seit April 2021 an der ukrainischen Grenze versicherten, kann man für einen strategischen Fehler halten. Daraus aber eine gemeinsam von der Ukraine und der USA angekündigte „Rückeroberung“ der Krim zu machen, ist unseriös.

In ähnlicher Manier verfälscht Krone-Schmalz in ihrem Vortrag die zentrale Aussage des im Auftrag der EU erstellten Berichts der Fact Finding Mission über den Krieg zwischen Georgien und Russland im Sommer 2008.[41] Dieser Bericht, so Krone-Schmalz, stelle klar, dass Georgien Russland angriffen habe. Das ist zumindest eine Vereinfachung der über tausend Seiten umfassenden Analyse, die deutlich macht, dass Russland die Konflikte in Georgien provozierte und ausnutzte, um völkerrechtswidrig tief auf georgisches Staatsterritorium vorzudringen. Der Bericht stellt klar, dass Georgien tatsächlich Südossetien angriff – das ist allerdings nicht russländisches Staatsgebiet, sondern eine Region in Georgien, die sich von Tiflis losgesagt hat. Der Bericht schließt sich nicht der Behauptung Georgiens an, dass Georgien mit seinem Angriff auf Südossetien auf einen vorangegangenen russländischen Angriff reagiert habe, weist aber darauf hin, dass es viele Hinweise auf verdeckte militärische Interventionen Russlands in Südossetien vor dem Angriffs gegeben habe.[42]


Rosinenpicken und Ausblendung von zentralen Fakten

Krone-Schmalz beansprucht, dass sie jenseits der verbreiteten Darstellung des „Mainstreams“ eine komplexere Erklärung für die tieferen Ursachen der Totalinvasion anbieten würde. Tatsächlich ist ihre „Erklärung“ ausgesprochen simpel: der „Westen“, die USA, die NATO hätten Russland in die Defensive gedrängt und damit Russlands Angriff provoziert. So hatte sie bereits 2014 argumentiert. Der Kardinalfehler des Westens sei die NATO-Osterweiterung gewesen. Die These, dass es ein Versprechen an die sowjetische Führung gegeben habe, die Nato nicht zu erweitern, und das gebrochen worden sei, verbreitet Krone-Schmalz seit Jahren.[43] Diese These ist ein Legende. Sie ist vielfach widerlegt worden.[44] Die auch von Krone-Schmalz zitierten Zusicherungen des damaligen US-Außenminister James Baker waren mit Washington nicht abgesprochen, das angebliche „Versprechen“ wurde nirgendwo verbindlich fixiert und Michail Gorbačev versicherte 1990, dass die Staaten Ostmitteleuropas das Recht hatten, sich um Aufnahme in die NATO zu bemühen.[45] Die kürzlich erschiene umfassende Studie der Historikerin Mary Sarotte zeigt, wie kompliziert das Ringen um eine europäische Sicherheitsordnung Ende der 1980er Jahre und in den 1990er Jahren war. Weder in Washington noch in Moskau bestand in dieser Frage zu Beginn der 1990er Jahre Einigkeit. Während Gorbačev 1990 das Recht auf freie Bündniswahl auch eines wiedervereinigten Deutschlands betonte, waren seine Berater darüber entsetzt.[46] In ihrem Fazit weist Sarotte zwar darauf hin, dass in den 1990er Jahren eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands scheiterte. Doch sie erinnert daran, dass es Entscheidungen in Moskau in dieser Zeit waren – der Erste Tschetschenienkrieg und die Beschießung des Parlaments 1993 –, die eine sicherheitspolitische Kooperation mit dem Westen erschwerten.

Welche Rolle aber spielte die Osterweiterung der Nato für die Radikalisierung des Putin-Regimes und vor allem für den Überfall auf die Ukraine? Mit den baltischen Staaten traten 2004 zum ersten Mal Staaten der Nato bei, die bis 1991 zur Sowjetunion gehört hatten. Putin reagierte gelassen: Auch wenn er diesen Schritt nicht ausdrücklich befürwortete, so stellte er in einem Radio-Interview von 2001 klar, dass man Staaten in Hinblick auf ihre sicherheitspolitischen Entscheidungen keine Vorschriften machen könne.[47] Das widerlegt die These, dass nach einem Aktions-Reaktions-Modell die NATO-Osterweiterung zu Russlands Angriffskrieg geführt habe. Bleibt die Frage, inwiefern die seit der Präsidentschaft von Viktor Juščenkos (2004–2010) mit wachsendem Nachdruck vorgetragene ukrainische Position, Mitglied der NATO werden zu wollen, zur politischen Radikalisierung und militärischen Eskalation Russlands beigetragen hat. Die einfache These von Krone-Schmalz lautet: Schon der Beitritt Polens, Estlands, Lettlands und Litauens sei ein Fehler gewesen, weil es, so Frau Krone-Schmalz im Vortrag in Reutlingen, „nicht gelungen ist, den historisch verständlichen Ängsten von Polen und Balten auf der einen Seite und den historisch verständlichen Ängsten Russlands“ gleichermaßen gerecht zu werden.

Das ist eine eigentümliche Gleichsetzung. Schließlich war es das Russländische Imperium, das auf dem Gebiet der heutigen Nationalstaaten Ostmitteleuropas herrschte und die baltischen, die polnische und die ukrainische Nationalbewegungen bekämpfte. Und es war die sowjetische Führung in Moskau, welche die Unabhängigkeitsbestrebungen der Balten in den späten 1980er Jahren gewaltsam unterdrückte. Insofern hatten die Ängste der Balten und Polen eine historische Grundlage. Im Falle Russlands aber ging es nicht um konkrete Bedrohungsperzeptionen vor diesen Staaten, sondern vielmehr um die Angst, den eigenen Großmachtstatus zu verlieren, den die Sowjetunion bis 1989 geltend gemacht hatte. Dass russländische Politiker die Nato-Osterweiterung ablehnten, speiste sich weniger aus „Sicherheitsinteressen“ als daraus, dass sie den Verlust imperialer Größe der Sowjetunion und den relativen Abstieg der Russländischen Föderation nicht zu akzeptieren bereit waren.[48] Hinzu kommt, so Kimberly Marten, dass die Beschwörung des Feindbilds der NATO vor allem eine innenpolitische Funktion hatte. Mit der Radikalisierung Russlands unter Präsident Putin gewann dieses Feindbild an Bedeutung im politischen „Mainstream“ und wurde zum integralen Bestandteil der Darstellung des Kremls. Das dürfte auch ein Ergebnis der Einsicht sein, dass die Lesart von der Bedrohung Russlands durch den Beitritt der Ostmitteleuropäer zur Nato in bestimmten politischen Milieus in Westeuropa und den USA auf fruchtbaren Boden fällt. Die Behauptung, der Krieg gegen die Ukraine sei eine logische Folge der NATO-Osterweiterung zeigt einmal mehr, dass Krone-Schmalz Fachliteratur und Quellen nicht berücksichtigt, sondern simple Erklärungsmodelle bedient, die ihrer Verteidigung des Putin-Regimes zupasskommen.

Tatsächlich hat der russische Journalist Michail Zygar bereits 2015 gezeigt,[49] dass Putins Ukraine-Trauma in der Orangenen Revolution vom Winter 2004 wurzelt, als eine offenkundig manipulierte Wahl nach Massenprotesten in Kiew wiederholt werden musste – ein Szenario, dessen Wiederholung das russländische Machtkartell um Putin seitdem fürchtet. Frau Krone-Schmalz verbreitet in Schrift und Ton dagegen die Mär, dass mit Putin 1999 ein offener, moderner Politiker an die Macht gekommen sei, der sich dadurch radikalisiert habe, dass ihn der „Westen“ wiederholt zurückwies. Noch nach Russlands Totalangriff am 24. Februar wiederholt Krone-Schmalz dieses Klischee: „Wir“ hätten diesen Putin „mitgeschaffen“.[50]

Schaut man sich die Forschung und die Publikationen zu diesem Thema genau an, so ist offenkundig, dass sich Putin weitgehend treu geblieben ist und der Putinismus – verstanden als Rezentralisierung, Militarisierung, personalisierte Herrschaft, Unterwerfung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Geheimdienste –, seit den frühen 2000er Jahren systematisch aufgebaut wurde und sowohl die Person Putin als auch der Charakter der Herrschaft eher von Kontinuität als von Wandel bestimmt ist. Bekanntermaßen war Putin als KGB-Agent in Dresden im Einsatz, als die Sowjetunion zusammenbrach. Weniger bekannt – obwohl gut erforscht – ist seine Rolle als enger Mitarbeiter von Bürgermeister Anatolij Sobčak in einem Netzwerk von (Ex-)Geheimdienstlern, Angehörigen organisierter Kriminalität und Oligarchen im St. Petersburg. Putin ermöglichte damals Vertrauten den Zugriff auf billig erworbene Rohstoffe aus dem daniederliegenden Russland und deren Export zu Weltmarktpreisen, wodurch sie sich exzessiv bereichern konnten. Die Protzsiedlung Ozero in der Nähe St. Petersburgs stammt aus dieser Zeit. Nach seinem Aufstieg zuerst an die Spitze des Geheimdienstes FSB wurde Putin dann als „Mann ohne Eigenschaften“ von E’lcin 1999 zum Ministerpräsidenten und schließlich zum Interimspräsidenten gekürt, nachdem er ihm und seiner Familie bei einer Intrige behilflich gewesen war.[51] Kurz nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident begann er den zweiten Tschetschenien-Krieg, den Putin mit äußerster Brutalität auch gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung führte. Die tschetschenische Hauptstadt Groznyj war die erste Stadt, die er von Russlands Truppen in Schutt und Asche legen ließ. Vorwand für diesen Krieg waren Bombenattentate auf Moskauer Hochhäuser, bei denen mehrere hundert Menschen starben. Die Regierung machte dafür tschetschenische Terroristen verantwortlich. Schon damals wiesen russische Medien darauf hin, dass es ernstzunehmende Hinweise für eine False-Flag-Operation des FSB gab. Diese Einschätzung hat sich unterdessen erhärtet. Es steht zu vermuten, dass Putin aus der Erfahrung des Tschetschenienkriegs vor allem lernte, wie er sich erfolgreich von einem weitgehend unbekannten zu einem ziemlich beliebten Politiker mausern konnte: durch die Schaffung eines äußeren Feindes und die Inszenierung als starker Mann. Diese Strategie ging auch 2014 nach der Annexion der Krim auf

Von all diesen Fakten erfährt man bei Krone-Schmalz nichts. Im Gegenteil, in ihrem Buch „Eiszeit“ rückt sie die plausible Vermutung, dass hinter den Anschlägen auf Moskauer Hochhäuser 1999 der FSB steckte, in die Nähe von absurden Verschwörungstheorien über die Anschläge auf das World-Trade-Center am 9.11.2001. John Dunlop, den Verfasser der bisher umfangreichsten Studie zu diesem Thema, kanzelt sie ohne jeden Beleg als Vertreter der angeblichen „Verschwörungstheorie“ ab.[52]

In Reutlingen präsentiert sie Putin in zwei Rollen: als Opfer des Westens und als Politiker, der den Menschen in Russland ihren Stolz zurückgegeben habe. Tatsächlich beschwört Putin ständig die Wiederkehr der imperialen Größe Russlands. Doch dabei handelt es sich um nichts anderes als um eine Ersatzhandlung für die ausbleibende wirtschaftliche, ökonomische und soziale Modernisierung des Landes.[53] Primär ging es Putin und seinem Machtkartell darum, die eigene patrimoniale Herrschaft und den damit verbundenen immensen Reichtum zu verteidigen. Putin hat mitnichten das System oligarchischer Herrschaft in Russland bekämpft, sondern willfährige Oligarchen wie Roman Abramovič von sich abhängig gemacht und jene wie Michail Chodorkovskij, Vladimir Gusinskij oder Boris Beresovskij zerstört, die sich nicht unterordnen wollten.

In ihrem Buch „Russland verstehen“, behauptet Krone-Schmalz gar, Putin sei zu Beginn seiner Amtszeit offen auf die Zivilgesellschaft zugegangen.[54] Das ist sachlich unhaltbar. Die Verfolgung von Kritikerinnen und Kritikern prägte bereits seine Zeit in St. Petersburg.[55] Kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident trieb er die Besitzer von Fernsehsendern aus dem Land und beendete den Meinungspluralismus der wichtigsten Medien.[56] Diese innenpolitischen Entwicklungen blendet Frau Krone-Schmalz vollkommen aus. Das ist die notwendige Voraussetzung dafür, um den Westen und die Ukraine für die Eskalation des Konflikts verantwortlich machen zu können. Richtig ist, dass Putin und sein Regime die Ukraine nicht in der Nato sehen wollten. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass der Grund für Russlands Angriff auf die Ukraine deshalb erfolgt sei, um Russlands (legitime) „Sicherheitsinteressen“ zu wahren und eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu unterbinden. Dies glauben zu machen läuft auf eine unreflektierte Übernahme der Lesart des Kremls hinaus. Das lässt sich nur unter Ausblendung relevanter Fakten und Quellen aufrechthalten. Natürlich ignoriert Krone-Schmalz Putins Blick auf die Ukraine. Putin steht in der Tradition des großrussischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts, der der ukrainischen Nation jedes Recht auf eine eigenständige Sprache, Kultur und Identität abspricht und alles Ukrainische als Teil der großrussischen Nation beanspruchte. Bekanntlich erklärte Putin dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush 2008, dass es sich bei der Ukraine „noch nicht mal um ein richtiges Land handelt.“[57] Weder Putin noch die russländische Elite erkennen die Existenz der Ukraine als ein souveränes, selbstbestimmtes Land an.

Wenige Tage vor Russlands großflächiger Invasion in die Ukraine machte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Moskau deutlich, dass eine Aufnahme der Ukraine in die Nato auf absehbare Zeit kein Thema sei.[58] Auch Putin war das bekannt. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 müsste eigentlich jedem klar sein, dass Russlands Elite sich kaum von einem Land bedroht fühlen konnte, von dem Putin und seine Entourage aus Geheimdienstlern und Militärs annahmen, es in wenigen Tagen unterwerfen zu können. Aus Putins Sicht darf es keine unabhängige, demokratische und selbstbestimmte Ukraine geben. Das ist die eigentliche Ursache dieses Kriegs. Dass Putin der Ukraine ihr Existenzrecht abspricht, ist nichts Neues. In seiner Rede vor der Russländischen Föderalversammlung zur Aufnahme der Krim und Sevastopol’s in die Russländische Föderation im März 2014 erklärte er Ukrainer und Russen zu einem „Volk“ und Kiew zur „Mutter aller russischen Städte“.[59]

Für den Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014 spielte noch ein zweiter Faktor eine wichtige Rolle. Mit dem Majdan hatte eine pluralistische zivilgesellschaftliche Bewegung, in der die von Russlands Propagandisten hervorgehobenen Rechtsextremisten eine marginale Minderheit waren, einen autoritären, kleptokratischen Herrscher ins Exil gejagt und damit Putins Ukraine-Trauma von 2004 neue Nahrung gegeben. Die massive anti-ukrainische Propaganda, die seit dem Beginn des Majdan Ende November 2013 Russlands Medien prägte, hatte nicht zuletzt hier ihren Ursprung: Russlands Bevölkerung sollte ja keine dummen Gedanken in Bezug auf ihren autoritären und kaum weniger kleptokratischen Herrscher Putin entwickeln. Durch die Krim-Annexion gelang es ihm, die eigene Herrschaft in Russland zu stabilisieren, es gelang aber nicht, die demokratische, proeuropäische und transatlantische Orientierung der Ukraine zu brechen – im Gegenteil. Durch Russlands Annexion der Krim und den Krieg im Donbas gewann in Gesellschaft und Politik der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft an Unterstützung und Bedeutung. Die Wahl des politischen Outsiders Volodymyr Zelens’kyj im Mai 2019 zum Präsidenten zeigte zudem, dass sich ungeachtet aller Missstände wie der Korruption und informeller Herrschaft von Oligarchen und ihren Clans, die Demokratie in der Ukraine stabilisiert hatte. Anders als in Russland oder in Belarus lassen sich hier Präsidenten abwählen!

Zur gleichen Zeit war bei Putin eine ideologische Radikalisierung zu beobachten. Zunehmend trat er als „Chef-Historiker“ Russlands auf. Die Ukraine wurde zum zentralen Objekt seines russischen „Imperialnationalismus“. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ im Sommer 2021.[60] Putin brachte in diesem offenen revisionistischen Text zum Ausdruck, dass er die Existenz der Ukraine als Staat für einen historischen Fehler hält und dass die Ukraine eigentlich schon immer Teil Russlands gewesen sei. Nach der Publikation dieses Essays schrillten bei einigen deutschen Beobachtern die Alarmglocken.[61]

Eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Putin sich ausgerechnet im Februar 2022 für den Totalangriff entschied, bleibt die Aufgabe künftiger historischer Forschung. Unmissverständlich formulierte Putin in diesem Text sowie in anderen Dokumenten und Reden einen völkisch russischen Neo-Imperialismus, der die ideologische Grundlage dieses Kriegs bildet. Den ignoriert und negiert Krone-Schmalz. Stattdessen fabuliert sie darüber, dass in der Ukraine ein „Stellvertreterkrieg“ geführt werde. Sie blendet die genozidale Kriegsführung Russlands in der Ukraine aus, auf die Juristen wie der deutsche Völkerrechtler Otto Luchterhandt oder Genozid-Forscher wie Eugene Finkel schon vor Monaten hinwiesen.[62] Dieser Einschätzung schließen sich immer mehr Juristinnen und Juristen an.[63] Russlands Ideologen haben die Vernichtungsabsicht offen erklärt.[64] Ukrainische Eliten, die als Rückgrat des Staats gelten, werden gezielt verfolgt, der öffentliche Raum und das Bildungssystem gewaltsam russifiziert, ukrainische Museen, Denkmäler, Archive und andere Kulturgüter ebenso gezielt vernichtet.[65] Allein die massenhafte Deportation ukrainischer Kinder nach Russland, um sie zu russifizieren, erfüllt die Genozid-Definition der Vereinten Nationen von 1948.[66]

Es ist kein Zufall, dass Frau Krone-Schmalz diese Realität in ihrem Vortrag unerwähnt lässt, würde sie doch ihre Behauptung von den „Sicherheitsinteressen“ Russlands ad absurdum führen. Ginge es nicht um einen grauenhaften Krieg, wäre es fast amüsant, dass Krone-Schmalz in Reutlingen sogar offen zugibt, dass sie sich Russlands Einmarsch in die Ukraine vom Februar 2022 nicht erklären kann. Osteuropa-Experten mit Expertise fällt das weniger schwer.


Info: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/desinformation/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

03.12.2022

Desinformation  
Russland, Ukraine und Frau Krone-Schmalz  (II von II)

Täter-Opfer-Umkehr

Frau Krone-Schmalz Selbstdarstellung als unaufgeregte und sachliche Analytikerin ist ein wichtiger Teil des Erfolgs bei ihrem Publikum. Das ist umso erstaunlicher, als ihre Melange aus Auslassungen, Manipulation und Falschaussagen viel über ihren Blick auf die Opfer der russländischen Politik aussagt, die ermordet, gefoltert, unterdrückt und verschleppt werden. An ihrem Schicksal scheint Krone-Schmalz desinteressiert zu sein. Auch in ihren Büchern spielen die Opfer des Putin-Regimes keine Rolle. Wenn sie überhaupt auf Opfer zu sprechen kommt – in ihrem Vortrag auf die Toten des Donbas – , macht sie dafür andere verantwortlich und zwar ausschließlich die „die permanenten ukrainischen Angriffe“. Schon 2014 äußerte Krone-Schmalz Verständnis für die systematische Diskriminierung und Hetze gegen Homosexuelle in Russland und monierte die übertriebene Aufmerksamkeit für die Frauen von Pussy Riot,[67] die nach einem absurden Schauprozess zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden.[68]

Man kann nur hoffen, dass in Reutlingen keine Opfer des russländischen Regimes anwesend waren, als Krone-Schmalz gegen Ende einmal mehr eine Opfer-Täter-Umkehr vollzog, als sie die Siegesrhetorik von Präsident Zelens’kyj und anderer ukrainischer Politiker als Ausweis dafür sah, dass diese sich nicht „staatsmännisch“ verhielten. Dass Volodymyr Zelens’kyjs Rhetorik die Reaktion auf einen mörderischen Angriffskrieg ist, ließ Krone-Schmalz unter den Tisch fallen. Angesichts des Grauens von Mariupol, Buča, Irpin sind Zelens’kyjs Reden zurückhaltend und weit entfernt von den Hass- und Auslöschungsphantasien, die Politiker wie Dmitrij Medvedev oder der TV-Propagandist Vladimir Solov’ev täglich über die Ukraine von sich geben. Man möchte Frau Krone-Schmalz raten, einmal die kämpferischen Reden des britischen Premierministers Winston Churchill während des Zweiten Weltkriegs nachzulesen. Es waren u.a. diese Reden, die Churchill den Ruf eines Staatsmannes einbrachten und vielen Menschen in Großbritannien Mut und Zuversicht schenkten. Aber diese Empathie hat Krone-Schmalz offensichtlich ebenso wenig wie ein Problem mit der vulgären, aggressiven und menschenverachtenden Rhetorik von Putin und seinen willfährigen Helferinnen und Helfern, die die Propagandamaschine am Laufen halten. Anti-ukrainische Hasspropaganda ist seit 2013/14 in Russland omnipräsent. Phantasien und Aufrufe zum Genozid sind unterdessen keine Einzelfälle mehr.

Auch möchte man Krone-Schmalz an die eindrucksvolle (auf Russisch gehaltene) Ansprache des ukrainischen Präsidenten an die Bürgerinnen und Bürger Russlands am 22. Februar 2022 erinnern, in der er betonte, dass die Ukraine keinen Krieg gegen Russland wolle und die beiden Völker keine Feinde seien.[69] Wenn das keine staatsmännische Rede war, so fragt man sich, welche Vorstellung Krone-Schmalz von einem Staatsmann hegt.

Nicht minder entlarvend ist, was Frau Krone-Schmalz auf eine Frage aus dem Publikum, was es mit dem von Putin propagierten Kriegsziel der „Denazifizierung“ der Ukraine auf sich habe. In ihrer Antwort legitimierte sie diesen perfiden Kampfbegriff als Ausdruck echter Sorge Russlands vor einem Erfolg radikaler Nationalisten in der Ukraine. Dafür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Bei den Präsidentenwahlen seit 2014 erhielten rechtsextreme Kandidaten weniger als zwei Prozent der Stimmen. Und auch bei den Wahlen zum Parlament schnitten ukrainischer Extremisten schwach ab. Präsident Zelens’kyj und die Regierung der Ukraine sind schlicht keine Nazis. Dagegen kämpfen russische Neo-Nazis in der Ukraine. Putin missbraucht das antifaschistische Erbe der Sowjetunion, um den Angriff auf ein friedliches Nachbarland zu rechtfertigen. Sein Krieg gründet auf einem aggressiven völkisch-imperialen Nationalismus, und Krone-Schmalz rechtfertigt diese Ideologie, indem sie die Propaganda des Kremls nahezu gleich wiederholt.


Scheinlösungen und falsche Gegensätze

Abgerundet wird das Ganze durch die Empfehlung, wie dieser Krieg ein Ende finden könne. Waffenlieferungen, welche die Ukraine zu ihrer Selbstverteidigung wünscht und benötigt, findet Krone-Schmalz „schlimm“. Stattdessen empfiehlt sie „Geheimdiplomatie“ und „Verhandlungen“. Die Schwächen dieser Argumentation benennen Expertinnen und Experten seit Februar 2022 immer wieder: Welche Verhandlungsgrundlage kann es geben, wenn Russland erklärtermaßen die Ukraine als Staat und Nation vernichten will und nur die totale Niederlage der Ukraine als einen Ausweg aus diesem Krieg akzeptiert? Die zahlreichen Kriegsverbrechen und die Besatzungspraxis im Südosten der Ukraine mahnen, dass ein „Kompromiss“ zur Etablierung eines russländischen Terrorregimes in weiten Teilen der Ukraine führen würde, in dem die Bürgerinnen und Bürger nicht nur ihre Freiheit und Selbstbestimmung verlieren würden, sondern auch Verfolgung, Verschleppung und Mord an der Tagesordnung wären. Der Mythos, dass mit einem Ende der Kampfhandlungen auch das Sterben vorbei wäre, hält sich hartnäckig. Die zahlreichen Verhandlungsversuche scheiterten bisher an Moskaus Maximalforderungen, die einer Auflösung ukrainischer Staatlichkeit gleichkamen, während zugleich immer klarer wurde, dass auch eine temporäre Abtretung ukrainischer Gebiete an Russland weitere Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung ermöglichen würden.[70]

Zuletzt schließen sich Waffenlieferungen und Diplomatie selbstverständlich nicht aus, sondern hängen zusammen. Nur durch Waffenlieferungen kann die Ukraine in eine Position gebracht werden, aus der heraus sie überhaupt ernsthaft verhandeln kann, ohne ihre Existenz aufzugeben. Diese Tatsache blenden die Gegnerinnen und Gegner von Waffenlieferungen mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit aus. Viele machen sich offenbar nicht klar, wovor uns der ukrainische Widerstand mit geheimdienstlicher und militärischer Unterstützung vor allem der USA bewahrt hat: eine von einem russländischen Terrorregime besetzte Hauptstadt Kiew und die Inhaftierung, gar Ermordung einer demokratisch gewählten Regierung in Europa. Kiew blieb dieses Schicksal nicht durch Verhandlungen erspart. Dass hinter den Kulissen auf diplomatischem Wege trotzdem alles für die Beendigung dieses Kriegs versucht wird, ist zugleich wahrscheinlich. Angesichts dessen, dass Frau Krone-Schmalz einem Land, über das sie seit Jahren negative Stereotype verbreitet und das sie bis heute vom Opfer zum Täter macht, am liebsten die Unterstützung zur Selbstverteidigung verweigern würde und die jetzt geleistete Unterstützung sogar „schlimm“ findet, sind ihre unreflektierten Stellungnahmen zu Sanktionen gegen Russland fast noch harmlos. Es zeugt aber mindestens von historischer Unbildung, wenn sie Sanktionen strikt ablehnt und stattdessen den Marshall-Plan für Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Modell für das heutige Russland empfiehlt. Immerhin geschah die wirtschaftliche, politische und militärische Unterstützung Westdeutschlands nach der totalen Niederlage des NS-Regimes, einer Demokratisierung und einer zumindest offiziellen Entnazifizierung im Kontext der Westbindung des Kalten Kriegs. Kein Politiker bei Verstand hätte Deutschland mitten im Krieg einen solchen Plan in Aussicht gestellt.

Die Analyse des Reutlinger Vortrags und der Bücher von Frau Krone-Schmalz ist eindeutig: Mit Aufklärung und empirisch fundierter Analyse nach den Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens hat das Wirken von Frau Krone-Schmalz nichts zu tun. Es handelt sich um Desinformation. Dass eine Bildungseinrichtung wie die Volkshochschule Reutlingen ein Forum für Desinformation bietet, ist betrüblich. Der Vortrag wurde unterdessen 1,2 Millionen Mal aufgerufen.

Manuskript abgeschlossen am 23.11.2022


[1] „Die Chance zum kritischen Diskurs hat die VHS Reutlingen leichtfertig verspielt“. Interview mit Klaus Gestwa. t-online, 3.11.2022 <www.t-online.de/region/stuttgart/id_ 100072528/-die-chance-zum-kritischen-diskurs-hat-die-vhs-reutlingen-leichtfertig-verspielt-.html>.

[2] Teresa Vena: Markus Lanz reißt bei Russland-Expertin der Geduldsfaden – „Sie verteidigen Putin“. Frankfurter Rundschau, 2.3.2022.

[3] Der Vortrag ist nachzuhören unter <www.youtube.com/watch?v=Gkozj8FWI1w>. Sofern nicht ausgewiesen, stammen alle wörtlichen Zitate in diesem Text von Frau Krone-Schmalz aus diesem Vortrag.

[4] Nikolay Mitrokhin: Transnationale Provokation. Russische Nationalisten und Geheimdienstler in der Ukraine, in: Osteuropa, 5–6/2014, S. 157–174.

[5] Paul Danieri: Ukraine and Russia. From Civilized Divorce to Uncivil War. Cambridge 2019.

[6] Ebd., S. 245–247.

[7] Separatistische Bestrebungen in der ukrainischen Bevölkerung, in: Ukraine-Analysen 132/2014, S. 17–20.

[8] Nikolay Mitrokhin: Diktatur-Transfer im Donbass, in: Osteuropa, 3–4/2017, S. 41–55. – Maksim Aljukov: Von Moskaus Gnaden. Genese und Geist der „Volksrepublik Donezk“, in : Osteuropa, 3–4/2019, S. 123–131.

[9] Life and Death in the Donbas, Sean’s Russia Podcast, 7.6.2022 <https://srbpodcast.org/2022/06/07/life-and-death-in-the-donbas/>.

[10] Sabine Fischer: Der Donbas-Konflikt. Widerstreitende Narrative und Interessen, schwieriger Friedensprozess, SWP-Studie 3/2019.

[11] Robert Golanski: One Year after Minsk II, in: European View, 1/2016, S. 67–76.

[12] Heiko Pleines: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? Ukraine-Analysen 26/2022, S. 20–24.

[13] „Wir erkennen die Volksrepubliken an“. Rede von Vladimir Putin, 21.2.2022, in: Osteuropa, 1–3/2022, S. 119–135. – Online: Vladimir Putin: Rede an die Nation, 21.2.2022 <https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/>. – Im Original: Obraščenie Prezidenta Rossijskoj Federacii. Moskva, 21.2.2022 <http://kremlin.ru/events/president/news/67828>.

[14] Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen. München 2015, S. 21.

[15] Rede von Präsident Putin zur Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation am 18.3.2014, in: Osteuropa 5–6/2014, S. 87–99. – Original: <http://kremlin.ru/events/president/news/20603>.

[16] Kerstin Jobst: Geschichte der Krim: Iphigenie und Putin auf Tauris, Berlin 2020 – Kelly O’Neill: Claiming Crimea: a history of Catherine the Great's southern empire, New Haven 2017. – Gwendolyn Sasse: The Crimea question: identity, transition, and conflict, Crimea, Mass. 2007. – Brian Glyn Williams: The Crimean Tatars: from Soviet genocide to Putin’s conquest. London 2015.

[17] Jan Zofka: Postsowjetischer Separatismus. Die pro-russländischen Bewegungen im Dnjestr-Tal und auf der Krim (1989–1995). Göttingen 2015.

[18] <https://de.wikibrief.org/wiki/Verkhovna_Rada_of_Crimea>.

[19] Krone-Schmalz, Russland verstehen[Fn. 14], S. 21.

[20] Ebd., S. 21.

[21] Ebd., S. 20

[22] Ebd., S. 25.

[23] Uwe Halbach, Repression nach der Annexion. Russlands Umgang mit den Krimtataren, in: Osteuropa, 9–10/2014, S. 179–190. – In Russland inhaftierte Bürger der Ukraine. 88 von OVD-Info recherchierte Fälle, in: Osteuropa, 6/2018, S. 3 48. – Siehe auch: In Russlands Haft: Politische Häftlinge und weitere ukrainische Staatsbürger der Ukraine im Visier der russländischen Justiz <https://zeitschrift-osteuropa.de/ukr-haft-ru/>.

[24] Nataliya Gumenyuk: Die verlorene Insel. Geschichten von der besetzten Krim, Stuttgart 2021.

[25] The Syria Campaign, Report: Killing The Truth. How Russia is fuelling a disinformation campaign to cover up war crimes in Syria, 20.12.2017 <https://diary.thesyriacampaign.org/killing-the-truth/>.

[26] How Syria’s disinformation wars destroyed the co-founder of the White Helmets. The Guardian 27.10.2022.

[27] Gustav Gressel: Under the gun: Rearmament for arms control in Europe, Policy Brief. European Council on Foreign Affairs, 28.12.2018 <https://ecfr.eu/publication/under_the_gun_
rearmament_for_arms_control_in_europe/
>.

[28] Gustav Gressel: Russland und die Türkei als Herausforderung für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, in: Strategie und Sicherheit, 1/2012, S.131–152, hier 141f.

[29] Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 6. überarbeitete und erweitere Auflage. München 2022,[12017]. – Alexey Miller: The Ukrainian Question: Russian Empire and Nationalism in the 19th Century. Budapest u.a. 2003.

[30] Martina Winkler: Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte im Krieg …, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2022. <https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/vom-nutzen-und-nachteil-der-geschichte-im-krieg>. – Zur völkerrechtlichen Würdigung grundlegend: Angelika Nußberger: Tabubruch mit Ansage. Putins Krieg und das Recht, in: Osteuropa, 1–3/2022, S. 51–64, <https://zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/43097/oe220104.pdf>.

[31] Krone-Schmalz, Russland Verstehen [Fn. 14], S. 92.

[32] Zum Ausmaß der Korruption: Serhij Leščenko: Diagnoz Vladi. Viktora Janukovyča. Mežygirskij Syndrom. Kyjiv 2015

[33] Patrick Bahners: Putins Ramsch, in: FAZ, 8.3.2022.

[34] Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit: Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist. München 2017, S. 81, S. 277, Fn. 18.

[35] Iryna Pavlenko, Ukrainian Foreign Policy: Orange leadership prioritiesand potential changes stemming from the country’s 2006 parliamentary elections, in: Martin Malek (Hg.): Die Ukraine: Zerrissen zwischen Ost und West. Eine Bestandsaufnahme der Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Viktor Juschtschenko. Wien 2007. S. 45–61, hier S. 58.

[36] Krone-Schmalz, Russland verstehen [Fn. 14], S. 115. – Zu Ina Kirsch van de Water: Serhij Leschtschenko: Das Brüsseler Geheimnis der Partei der Regionen. Ukraine-Nachrichten, 1.6.2012 <https://ukraine-nachrichten.de/br%C3%BCsseler-geheimnis-partei-regionen_3617>.

[37] Krone-Schmalz, Russland verstehen [Fn. 14], S. 104.

[38] Margarete Klein, Christian Pester: Kiew in der Offensive: Die militärische Dimension des Ukraine-Konflikts. Zustand und Perspektiven der ukrainischen Sicherheitskräfte, SWP-Aktuell 52/2014. – Als das Buch „Russland Verstehen“ 2015 erschien, bestand an der direkten militärischen Intervention Russlands im Donbas kein Zweifel mehr.

[39] <https://crimea-platform.org/en>.

[40] U.S.-Ukraine Charter on Strategic Partnership, 10.11.2022. <www.state.gov/u-s-ukraine-charter-on-strategic-partnership/>.

[41] Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law: Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in German, Volume I-III, 2009 <www.mpil.de/en/pub/publications/archive/independent_international_fact.cfm>,.

[42] Ebd., S. 20.

[43] Krone-Schmalz, Russland verstehen [Fn. 14], S. 74.

[44] Stefan Creuzberger: Die Legende vom Wortbruch. Russland, der Westen und die Nato-Osterweiterung, in: Osteuropa, 3/2015 S. 95–108.

[45] Mary Sarotte: Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate, New Haven 2021.

[46] Sarotte, Not One Inch [Fn. 45], S. 87.

[47] Andris Banka: The Breakaways: A Retrospective on the Baltic Road to NATO, War on the Rocks, 4.10.2019. <https://warontherocks.com/2019/10/the-breakaways-a-retrospective-on-the-baltic-road-to-nato/>.

[48] Kimberly Marten: Reconsidering NATO expansion: a counterfactual analysis of Russia and the West in the 1990s, in: European Journal of International Security, 2/2018, S. 135– 161.

[49] Michail Sygar: Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin“, Köln 2015.

[50] Gabriele Krone-Schmalz: „Ich habe mich geirrt“, Berliner Zeitung, 27.2.2022 <www.berliner -zeitung.de/welt-nationen/putin-kennerin-gabriele-krone-schmalz-ich-habe-mich-geirrt-li.214288>.

[51] Catherine Belton: Putins Netz. Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. Hamburg 2022, S. 148–190.

[52] Krone-Schmalz, Eiszeit [Fn. 34], S. 24, 267, FN 32.

[53] Sergej Medvedev, Park krymskogo perioda. Chronik tret’ego sroka, Moskva 2017, S. 11-13.

[54] Krone-Schmalz, Russland Verstehen [Fn. 14], S. 62-63.

[55] Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin – eine Enthüllung, München 2012, bes. S. 167–183.

[56] Arkardy Ostrovsky, The Invention of Russia. The Rise of Putin and the Age of Fake news, New York 2016.

[57] Daniel Baer: Ukraine’s not a country, Putin told Bush. What’d he tell Trump about Montenegro? Washington Post 19.7.2018.

[58] Wladimir Putin bestreitet jegliche Kriegsabsicht. Manager-Magazin, 15.2.2022 <www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/olaf-scholz-bei-wladimir-putin-weder-krieg-noch-frieden-a-95c513b0-fd5c-4559-8876-c455809246e8>,

[59] Rede von Präsident Putin zur Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation am 18.3.2014, in: Osteuropa 5–6/2014, S. 87–99. Im Original russisch: <http://kremlin.ru/events/president/news/20603>.

[60] Vladimir Putin: Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, in: Osteuropa 7/2021, S. 51–66. – Stat’ja Vladimira Putina: Ob istoričeskom edinstve russkich i ukraincev, 12.7.2012 <http://www.kremlin.ru/events/president/news/66181>.

[61] Der Geist der Zeit. Kriegsreden aus Russland. Osteuropa, 7/2021.

[62] Otto Luchterhandt: Völkermord in Mariupol. Russlands Kriegsführung in der Ukraine, in: Osteuropa, 1–3/2022, S. 65–85. – Eugene Finkel: What’s happening in Ukraine is genocide. The Washington Post, 5.5.2022: <www.washingtonpost.com/opinions/2022/04/05/russia-is-committing-genocide-in-ukraine/.

[63] Franziska Kring: Völkerrechtler diskutieren über den russischen Angriffskrieg: „Russland sollte keinen Platz in den Vereinten Nationen haben“, Legal Tribune Online, 25.10.2022, <www.lto.de/recht/hintergruende/h/krieg-ukraine-tagung-voelkerrecht-gegen-voelkermord-zentrum-liberale-moderne-vereinte-nationen-russland/>.

[64] Timofej Sergejcev: Was Russland mit der Ukraine tun sollte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2022, S. 63–70 – Il’ja Venjavkin: Der De-Ukrainisator. Timofej Sergejcev: „Methodologe“, Polittechnologe, Kriegspropagandist, in: Osteuropa, 4–5/2022, S. 29–44.

[65] Dazu: Widerstand. Ukrainische Kultur in Zeiten des Krieges. Osteuropa, 6–8/2022.

[66] Definition of Genocide by the United Nations.

www.un.org/en/genocideprevention/genocide.shtml.

[67] Gabriele Krone-Schmalz im Dialog mit Alfred Schier. 4.10.2014

<www.youtube.com/watch?v=tpVXv0kOvmY>.

[68] Joachim Willems: Pussy Riots Punk-Gebet: Religion, Recht und Politik in Russland. Berlin 2013.

[69] Volodymyr Zelens’kyj: „Hören Sie auf die Stimme der Vernunft“. Rede an die Bürger Russlands, 23.2.2022, in: Osteuropa, 1–3/2022, S. 137–130. <www.youtube.com/watch?v=kaGFa9XYrxs >.

[70] Sabine Fischer: Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission Possible, SWP-Aktuell, 66/2022.


Info: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/desinformation/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

02.12.2022

Habeck und China: Die zweite Phase der wirtschaftlichen Selbstentleibung

meinungsfreiheit.rtde.life, vom 1 Dez. 2022 20:01 Uhr, Von Dagmar Henn

Die Folgen der Sanktionen gegen Russland hätten eigentlich genügen müssen, um zu lehren, dass dergleichen keine gute Idee ist. Aber Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ließ sich erarbeiten, wie man sich von China entkoppeln könne.


Habeck und China: Die zweite Phase der wirtschaftlichen Selbstentleibung


Quelle: www.globallookpress.com © Florian Gaertner


Zitat: Das Bundeswirtschaftsministerium hat abermals Steuergelder verschwendet, um eine im günstigsten Fall unnütze, im schlimmsten Fall schädliche Studie zu erstellen. Das Thema: wie man die "Abhängigkeit" von China beenden könne. Ein Papier im Umfang von hundert Seiten soll es sein, das zusammengestellt wurde; in der Regierung noch nicht abgestimmt, aber von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck schon einmal abgesegnet.


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Analyse

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Habeck erweist sich wirklich als Experte des ökonomischen Seppuku. Denn wenn die Sanktionen gegen Russland das Kurzschwert waren, das der deutschen Industrie in den Bauch gerammt wurde, wären Maßnahmen, auch noch die Verbindungen nach China zu kappen, dann das Langschwert in den Händen des freundlichen Helfers (den man getrost in Washington verorten kann), mit dem dieser dann dem Selbstmordkandidaten den Kopf abschlägt, falls die bisherigen Bemühungen nicht fatal genug sind.


Das Handelsblatt müht sich in seiner Berichterstattung sogleich, eine Rechtfertigung für die aberwitzigen Pläne mitzuliefern: Im Ministerium rechne man mit "einer Annexion Taiwans durch China bis spätestens 2027". Wobei sich nicht nur die Frage stellt, wie "China" "Taiwan" annektieren könne, wo doch auch die offizielle deutsche Position Taiwan als Teil Chinas sieht und kein Land sich selbst annektieren kann und des Weiteren logisch die Frage folgt, was eine innerchinesische Entwicklung das deutsche Wirtschaftsministerium angeht. Aber nicht nur das – in den Kommunalwahlen, die in Taiwan gerade stattfanden und die von der proamerikanischen Präsidentin zum Plebiszit über das Unabhängigkeitsstreben erklärt wurden, hat die Partei ebendieser Präsidentin so katastrophal schlecht abgeschnitten, dass sie vom Parteivorsitz zurücktreten musste. Sprich, die Bevölkerung der Insel hat das Angebot des Plebiszits angenommen und deutlich erklärt, auf die Rolle einer pazifischen Ukraine keinen Wert zu legen.


Natürlich sind es vor allem die USA, die darauf drängen, die Wirtschaftsbeziehungen zu China zurückzufahren, und Habeck hat nichts Besseres zu tun, als diesem Verlangen zu willfahren. Dabei hat er eben erst wahrgenommen, dass das Gesamtpaket aus Russland-Sanktionen und US-Subventionen für den Wirtschaftsstandort Europa ausgesprochen toxisch ist (wahrscheinlich wurden unter den Mitarbeitern des Bundeswirtschaftsministeriums Streichhölzer gezogen, wer das dem Minister beibringen muss). Bei Menschen mit normaler Vernunft würde eine solche Erkenntnis dazu führen, gegenüber weiteren Wünschen eines Gegenübers, das einen gerade gewaltig über den Tisch gezogen hat, ein gewisses Misstrauen zu entwickeln und deren Bearbeitung auf die Ablage für Schaltjahre zu legen, aber wir reden hier von Robert Habeck.


Wolfgang Bittner: Steinmeier sorgt sich um die Lage  in China und der Ukraine




Meinung

Wolfgang Bittner: Steinmeier sorgt sich um die Lage in China und der Ukraine






Das Bundeswirtschaftsministerium werde künftig, so viel ist aus dem Papier bekannt, die Bürgschaften für einzelne Länder begrenzen, um, so heißt es, die Investitionen zu "diversifizieren". Das klingt nett, geht aber fälschlicherweise davon aus, dass die ganze Welt nur darauf wartet, zum Ziel einer solchen deutschen Investition zu werden. Und zwar unter Bedingungen, die künftig für dieses Land dann nicht nur Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, sondern auch mit China ausschließen.


Selbst in Technologien, in denen Deutschland führend sein wolle, wie bei erneuerbaren Energien, sei China voraus, also ein gefährlicher Rivale, dessen Dominanz es zu bremsen gelte; das berichtet die NZZ über den Inhalt des Papiers. "Die Suche nach neuen Partnern und Märkten wird demnach empfohlen, etwa Asien-Pazifik, Lateinamerika und Afrika."


Und wovon träumt er nachts, der Bundeswirtschaftsminister? Auf welchem Kontinent will er diese Länder finden? Hat ihm jemand einmal die Liste der Länder vorgelegt, die BRICS beitreten wollen? Jedes einzelne dieser Länder hat damit ein Votum für den Fall abgelegt, dass es sich zwischen einem NATO- und einem BRICS-Wirtschaftsblock entscheiden müsse. Brasilien, der wichtigste deutsche Handelspartner in Lateinamerika, ist übrigens das B in BRICS. Nur, falls das Habeck noch niemand erklärt hat.


Die chinesische Global Times hat mit großem Genuss zeitlich passend einen Artikel veröffentlicht: "Mehr Länder und internationale Wirtschaftsorganisationen werden sich der Schädlichkeit der protektionistischen, entkoppelnden Politik der USA bewusst." Die internationale Gemeinschaft nähere sich immer weiter einem Konsens über die wirtschaftliche Schädlichkeit der protektionistischen Politik an, die von den USA und einiger ihrer Verbündeten praktiziert werde, wie über die Notwendigkeit, den freien Handel aufrechtzuerhalten, in dem China eine bedeutende Rolle spiele.


Lawrow: "Gesamte Sicherheitsarchitektur in Europa vollständig den USA unterworfen"





Lawrow: "Gesamte Sicherheitsarchitektur in Europa vollständig den USA unterworfen"






Man kann sich fast sicher sein, dass der chinesische Autor diese Formulierung mit einem breiten Grinsen im Gesicht verfasst hat. Schließlich war es der freie Handel, in diesem Falle mit Opium, den die Briten China einst mit Waffengewalt aufzwangen, in zwei Opiumkriegen, und diverse Familien der US-Ostküstenaristokratie verdanken ihren Reichtum ebendieser umstrittenen Handelsware. Dass nun die USA aus dem weltweiten Handel eine Art Privatgehege heraustrennen wollen, um ihre Schwäche zu kompensieren, kann nur zu Erheiterung führen.


Ausgerechnet die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Kristalina Georgiewa, habe diese Bestrebungen der Deglobalisierung mit der Bemerkung kommentiert, man solle das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, und der Generaldirektor der WTO, Ngozi Okonjo-Iweala, habe einen Rückgang der globalen Wirtschaft um fünf Prozent prognostiziert, würde die Welt in zwei Handelsblöcke zerbrochen.


Die Global Times zitiert dann einen chinesischen Experten mit dem Hinweis, dass die Aussage von Georgiewa nach einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz gefallen sei und sich diese Kritik auch gegen den Unilateralismus und die Entkopplungsbemühungen einiger deutscher Politiker richte.


Selbst Japan und Südkorea, die engsten Verbündeten der USA in Asien, wären zurückhaltend, was die Wünsche der USA nach einer Chip-Allianz angeht, die China ausschließen soll. Die niederländische Handelsministerin Liesje Schreinemacher habe erklärt, die Niederlande träfen ihre eigenen Entscheidungen, wem sie ihre Maschinen zur Chipherstellung verkauften. Auch Bundeskanzler Scholz soll bei seinem Besuch in China zugesichert haben, dass Deutschland gegen eine ökonomische Entkopplung stehe.


Neues Strategiepapier: Bundesregierung sucht die Konfrontation mit China





Analyse

Neues Strategiepapier: Bundesregierung sucht die Konfrontation mit China





Das klingt nicht wirklich nach Harmonie in der Koalition, sondern eher nach anstehendem Streit. Entweder Scholz knickt abermals ein, vor Habeck und den "Freunden" jenseits des großen Teichs, oder im Bundeswirtschaftsministerium darf noch ein Streichholz abgebrochen werden, um zu klären, wer das jetzt dem Minister beibringt. Denn derjenige wird von Habeck dann bestimmt als chinesischer Agent gesehen.


Dabei gäbe es in diesem Ministerium viel wichtigere Arbeiten in Auftrag zu geben als Fantasien über die Abkopplung von China: herauszufinden, wie sich dieses Deutschland in eine Wirtschaft der Gleichen einfügen kann, wenn die kolonialen Machtverhältnisse beseitigt sind. Welche Zweige entwickelt werden sollten, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern, und wie man Alleinstellungsmerkmale wie den hohen Stand der beruflichen Bildung nutzen kann, um einen Platz in einer Welt zu finden, in der man nicht mehr den Herren geben kann, aber auch nicht mehr Knecht sein muss.


Mehr zum Thema - Chinesisches Verteidigungsministerium: "USA höhlen Ein-China-Prinzip aus"


RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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Info: https://meinungsfreiheit.rtde.life/meinung/156020-habeck-und-china-zweite-phase


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.

02.12.2022

Zeitgeschehen im Fokus
Forschen - Nachdenken - Schlüsse ziehen    (I von III)

Artikel in dieser Ausgabe


«Der Westen und die Ukraine stecken in Schwierigkeiten»

«Unsere Medien geben lediglich die ukrainische Propaganda wieder»

Fragen an Jacques Baud* zur aktuellen Lage in der Ukraine

Jacques Baud (Bild thk)

Zeitgeschehen im Fokus Warum hat sich Russland aus der Stadt Cherson zurückgezogen?

Jacques Baud Seit Mai versprach Selenskij eine grosse Offensive auf Cherson, um die Krim zurückzuerobern und den Süden des Landes zu befreien. Im Juli kündigten die Ukrainer sogar an, dass diese Initiative eine Million Mann¹ umfassen würde, doch sie fand nie statt. Natürlich erwähnt man im Westen nur die Offensiven, aber nie deren Ergebnisse! Daher spricht man auch von Russlands «schwieriger Lage». In Wirklichkeit wurden die von unseren Medien angekündigten zahlreichen ukrainischen Offensiven nicht nur alle erfolgreich zurückgeschlagen, sondern systematisch von der russischen Artillerie ohne wirkliche Kämpfe vernichtet. So erlitten die Ukrainer enorme Verluste, ohne Boden gutmachen zu können, während die russischen Verluste sehr gering waren.

Die genaue Anzahl der Toten auf beiden Seiten ist nicht bekannt, da weder die Russen noch die Ukrainer genaue Zahlen nennen. Dennoch deuten Schätzungen von US-Militärexperten darauf hin, dass insgesamt das Verhältnis der Verluste zwischen Ukrainern und Russen 20 – 11:1 betragen könnte. Die Ukraine befürchtet zu Recht, dass die westliche Öffentlichkeit, wenn sie die Zahl der Toten kennen würde, sich der Unterstützung des Krieges durch ihre Regierungen widersetzen würde. Aus diesem Grund geben unsere Medien niemals Schätzungen zu den ukrainischen Verlusten ab und behaupten weiterhin, dass Russland den Krieg verliert. Das ist auch der Grund, warum die Ukrainer, als die Russen den ihnen die Möglichkeit boten, ihre Toten einzusammeln, sich weigerten, dies zu tun – wie in der Stadt Izium.²

Für diejenigen, die den Konflikt ernsthaft analysieren (was unsere Staatsmedien ausschliesst!), haben sich die Russen also nicht unter ukrainischem Druck aus Cherson zurückgezogen.

Offenbar war dieser Abzug seit Ende September Gegenstand langer Debatten in Russland. Das Militär forderte ihn, aber die Politiker waren eher dagegen, und zwar aus zwei Gründen. Der erste war, dass das betroffene Gebiet, auch wenn es nur 40 Prozent des Oblasts Cherson ausmacht, im September formell russisch geworden war; der zweite war, dass der russische Abzug der Ukraine einen leichten Sieg bescheren würde, der von der westlichen Propaganda ausgenutzt werden würde. Bei seiner Kommandoübernahme Anfang Oktober 2022 hatte General Sergej Surowikin angekündigt, dass er schwierige Entscheidungen treffen würde. Dabei bezog er sich eindeutig auf Cherson. Letztendlich setzte sich das Militär durch und selbst «Falken» wie Ramsan Kadyrow begrüssten den Abzug.³

Im Oktober evakuierten die russischen Streitkräfte Zivilisten und brachten russische Denkmäler und Kunstwerke und die sterblichen Überreste des Fürsten Grigori Potjomkin, der Cherson gegründet hatte, und auf russischem Territorium in Sicherheit. Von einem überstürzten Rückzug, wie ihn uns unsere Medien präsentieren, sind wir also weit entfernt. Laut der in Estland ansässigen russischen Oppositionswebsite Meduza waren am 22. Oktober bereits 25 000 Zivilisten evakuiert worden.⁴

Der Grund für den Abzug ist, dass sich die Russen in Cherson im November 2022 in der gleichen Situation befinden wie auf der Schlangeninsel im Juni oder in Charkow im August: Der Aufwand, diese Gebiete zu verteidigen, ist grösser als das strategische Interesse, sie zu erhalten. Was wie eine Niederlage aussieht, ist nur das Ergebnis einer Abwägung zwischen dem strategischen Ziel und den Kosten, um es zu erreichen. Das ist die Definition von Effizienz.

Die russische Operationsführung ist äusserst effizient

Der Grund, warum der Westen und die Ukraine in Schwierigkeiten stecken, ist, dass wir nicht verstehen wollen, wie die Russen funktionieren. Wir glauben nicht nur, dass sie sich so verhalten sollten, wie wir uns in der gleichen Situation verhalten würden, sondern wir unterschätzen auch permanent ihre Fähigkeiten. Es ist interessant festzustellen, dass die «Militärexperten» in den Schweizer oder französischen Fernsehstudios uns die Situation auf der Grundlage ihrer eigenen militärischen Kultur erklären.  Deshalb haben sie sich von Anfang an geirrt!

In Wirklichkeit ist die russische Operationsführung äusserst effizient. Ich erinnere daran, dass Russland in der Ukraine mit einer Stärke intervenierte, die – zusammen mit der der Republiken Donezk und Lugansk – der der Ukrainer im Verhältnis 2 – 3:1 unterlegen war. Unter diesen Umständen erklärt sich ihr Erfolg dadurch, dass sie besser als die Ukrainer in der Lage waren, ihre Kräfte zu erhalten. 

Mitte Oktober erklärte General Surowikin: «Wir streben nicht nach einem hohen Fortschrittstempo, sondern danach, das Leben unserer Soldaten zu schützen und den vorrückenden Feind methodisch zu ‹zermalmen›».⁵

Abzug, nicht Rückzug 

Durch den Abzug ihrer Streitkräfte auf das linke Ufer des Dnepr verkürzten die Russen ihre Frontlänge, erhöhten ihre Truppendichte und gewannen eine stärkere Stellung durch den Fluss. Ausserdem hatte Russland in Cherson eine sehr starke Kampfkraft, insbesondere sehr kampferprobte Fallschirmjägertruppen, die das Militär lieber im Donbas einsetzen wollte, wo deutliche Erfolge zu beobachten sind. 

Im Westen spricht man von einer «grossen Niederlage» für die russische Armee und Putin. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich also um einen Abzug und nicht um einen Rückzug handelt. Technisch gesehen ist ein Rückzug eine Bewegung, die unter dem Druck des Gegners und in ständigem Kontakt mit ihm durchgeführt wird. Ein Abzug ist eine Operation, die darauf abzielt, Kräfte zu bündeln, eine Frontlinie zu straffen oder sich auf eine spätere Aktion vorzubereiten. Im Fall von Cherson waren die Russen jedoch überrascht, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht einmal versuchten, sie zu «verfolgen», sondern in ihren Stellungen blieben, bis die Russen ihre Bewegung beendet hatten! Russland zog sich also aus eigener Entscheidung und nicht unter dem Druck der ukrainischen Streitkräfte zurück. Zur Erinnerung: Russlands Ziel besteht nicht in territorialen Gewinnen, sondern in der Zerstörung der militärischen Bedrohung gegen die Bevölkerung des Donbas («Demilitarisierung»). Im Gegensatz dazu strebt die Ukraine die Rückeroberung ihrer Hoheitsgebiete an, ungeachtet der menschlichen Kosten. Das macht den russischen Abzug zu einem Sieg beider Seiten. Zumindest momentan, denn Russland hat erklärt, dass Cherson russisches Land bleibt.

Davon abgesehen bleibt die russische Entscheidung nicht ohne aussen- und innenpolitische Konsequenzen. 

Aussenpolitisch haben die Ukraine und der Westen natürlich schnell den «Sieg» der Ukraine und die Schwäche Russlands kommuniziert. Das Problem ist, dass man, wie schon seit Beginn der russischen Operation, das Risiko eingeht, die ukrainischen Fähigkeiten zu überschätzen und damit die Idee von Verhandlungen zu verwerfen. 

Putins Popularität steigt auf 79 Prozent

Innenpolitisch konnte man eine Enttäuschung erwarten, die sich in einem Misstrauen gegenüber der Regierung ausdrückte. Doch der russische Generalstab hatte aus dem Abzug aus Charkow Lehren gezogen: Anstatt im Nachhinein die Gründe für die Entscheidung zu erklären, kommunizierte General Surowikin dieses Mal im Voraus. So scheinen die russischen Staatsbehörden das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht verloren zu haben. Laut dem Levada-Zentrum (das in Russland als «ausländischer Agent» gilt) war die Popularität Wladimir Putins im September nach der Ankündigung des Abzugs aus Charkow und der Teilmobilisierung auf 77 Prozent gesunken. Im Oktober (vor dem Abzug aus Cherson) stieg sie jedoch wieder auf 79 Prozent.⁶

Es sei hier daran erinnert, dass das Ziel der Russen ursprünglich nicht die Eroberung von Territorium war. Die Verbindung zwischen russischem Territorium und der Halbinsel Krim wurde im Zuge der Vernichtung der ukrainischen Streitkräfte hergestellt, aber die Russen haben offensichtlich nicht die Absicht, sich an Stabilisierungsmassnahmen jenseits der Sprachgrenze zu beteiligen.

Interessanterweise ist Wolodimir Selenskij zurückhaltender, während der Westen nach der Rückeroberung von Cherson jubelt. Denn in der Tat wissen die Ukrainer, was zwei Monate zuvor in Charkow passiert war: Das Gebiet wurde zu einer Feuerblase, und sie verloren Tausende von Männern, obwohl es keine Kämpfe gab. Wie das Sprichwort sagt: «Das gebrannte Kind scheut das Feuer».

Enorme Verluste und hohe Ineffizienz

Übrigens befindet sich die Ukraine heute in der gleichen Situation wie die Russen und evakuiert die Stadt bereits, nachdem sie versucht hat, Artillerieeinheiten dort zu positionieren.⁷

Wir können aus dem Abzug aus Cherson zwei Lehren ziehen. Die erste ist, dass die russische Operationsführung weniger politisch als militärisch ist und dass es das Militär ist, das die operativen und taktischen Ziele festlegt. Dies steht im Gegensatz zur Ukraine, wo die Operationsführung vollständig politisch ist, was die enormen Verluste und die hohe Ineffizienz erklärt. Diese Ineffizienz (d. h. die Menge an Ressourcen, die zur Erreichung eines bestimmten Ziels eingesetzt werden) lässt sich daran messen, wie schnell die Ukrainer die vom Westen gelieferten Materialien verlieren.

Die zweite Lehre ist, dass wir diesen Konflikt nicht verstehen können, weil wir nicht verstehen wollen, was die Russen tun. Seit Februar versuchen unsere Medien, uns davon zu überzeugen, dass Russland den Krieg verloren hat, dass ihm die Luft ausgeht, dass es enorme Verluste anhäuft, dass es keine Raketen mehr hat⁸ und dass Wladimir Putin schwer krank ist.⁹ Die Ironie ist, dass der Westen beispielsweise so sehr davon sprach, dass Russland keine Luftwaffe und keine Raketen mehr habe, dass er der Ukraine keine Luftabwehrmittel gab und sich auf offensives Material konzentrierte (um die berühmten «Gegenoffensiven» zu führen). Das Ergebnis war, dass die Ukraine im Oktober/November völlig machtlos war, sich gegen die russischen Raketenwellen zu wehren. Unsere Medien tragen daher eine erdrückende Verantwortung für die Unzulänglichkeit unserer Hilfe für die Ukraine, die auch diplomatischer Natur sein sollte.

Seit Februar wird künstlich die Vorstellung aufrechterhalten, die Ukraine befinde sich in einer Siegesdynamik, und daher sei jetzt nicht die Zeit für Verhandlungen. Dies hatten Boris Johnson im August¹⁰ und Ursula von der Leyen im September¹¹ gesagt. Diese Sichtweise resultiert aus der Tatsache, dass unsere Medien lediglich die ukrainische Propaganda wiedergeben. Sie haben beschlossen, dass nur die Ukraine die Wahrheit sagt, obwohl bekannt ist, dass in jedem Konflikt beide Seiten ein unterschiedliches Bild von der Situation haben. Wir sehen also nur eine Seite des Konflikts.

Anwendung illegaler Kriegsmethoden durch Kiew?

Selenskij behauptet trotz dem Dementi der Nato, Russland habe die Rakete auf Polen abgeschossen und nicht die Ukraine. Warum beschwichtigt hier die Nato, obwohl Selenskij nach bekanntem Muster versucht, die antirussische Kriegsstimmung anzuheizen?

Nein, ich würde nicht sagen, dass Selenskij versucht, eine antirussische Kriegsstimmung zu schüren. Ich denke, dass er seit Beginn der russischen Sonderoperation nach einem Weg sucht, die Nato dazu zu bringen, sich in den Konflikt einzumischen. Im März versuchte er, eine «Flugverbotszone» über der Ukraine zu erreichen, indem er die Vorfälle im Krankenhaus¹² und im Theater von Mariupol ausnutzte, um die Nato zum Eingreifen aufzufordern.¹³ Aus diesem Grund bezweifeln viele Experten auf der anderen Seite des Atlantiks, dass Russland für diese Vorfälle verantwortlich ist.

Im Sommer 2022 versuchte Selenskij, den Westen durch Angriffe auf das Atomkraftwerk Saporoshje (das zu diesem Zeitpunkt von russischen territorialen Sicherheitseinheiten ohne schwere Waffen besetzt war) dazu zu bringen, eine Sicherheitszone in der Ukraine einzurichten.¹⁴ Die Idee war, ein Problem zu schaffen, das den Westen so sehr beunruhigt, dass er sich direkt in den Konflikt einmischt. Deshalb behauptet der Westen weiterhin, dass die Russen auf Anlagen schiessen, die unter ihrer Kontrolle stehen, obwohl vor Ort die Wrackteile von Brimstone- und HIMARS-Raketen gefunden wurden.

In diesem Zusammenhang kommt die Affäre um die «schmutzige Bombe» auf, d. h. eine konventionelle Bombe, deren Explosion radioaktives Material verbreiten würde. Sie ist keine Atomwaffe und hat auch nicht deren zerstörerische Fähigkeit. Durch die Verbreitung von radioaktivem Staub könnte sie jedoch die gleiche Wirkung haben wie die Geschosse, die im ehemaligen Jugoslawien von den amerikanischen M-1-Panzern und den A-10-Bodenunterstützungsflugzeugen eingesetzt wurden, die Granaten mit einem Kern aus abgereichertem Uran verwendeten, deren Trümmer ganze Landstriche verseuchten. Die schmutzige Bombe ist eine Waffe, die bereits von tschetschenischen Terroristen in Russland eingesetzt worden war.¹⁵

Im September/Oktober 2022 scheiterten die Offensiven der Ukraine allesamt und waren mit enormen Verlusten verbunden. Sie könnte daher versuchen, den Konflikt eskalieren zu lassen und eine Situation zu schaffen, in der sich die Nato gezwungen sähe, einzugreifen. Ob wahrscheinlich oder nicht, aber das glauben die Russen. In einem Interview, das von der russischen Oppositionswebsite Meduza wiedergegeben wurde, erklärte der neu ernannte General Sergej Surowikin, er habe «Informationen, dass Kiew illegale Kriegsmethoden anwenden könnte».¹⁶ Was genau, wissen wir nicht. 

Am 6. Oktober tauchen in sozialen Netzwerken (auch in der Schweiz) Meldungen über den Einsatz einer in der Ukraine hergestellten Atomwaffe auf, die per Zug nach Russland transportiert und dort aktiviert werden solle. Die Beschreibung weist darauf hin, dass es sich um eine «schmutzige Bombe» handeln könnte. In der Tat sind diese Behauptungen nicht überprüfbar. Die Drohung wurde jedoch in sozialen Netzwerken verbreitet, und das Vorsorgeprinzip zwingt die russischen Behörden dazu, zumindest vor der Gefahr zu warnen und so den Ukrainern «den Wind aus den Segeln zu nehmen», falls sich die Drohung als wahr erweisen sollte.

«Keine Hinweise darauf, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbereitet»

Am 24. Oktober 2022 warnten die russischen Behörden die westlichen Länder, dass «das Regime in Kiew eine Provokation mit einer ‹schmutzigen Bombe› vorbereite».¹⁷ Die Ukraine und der Westen bezichtigten Russland der Lüge. Es braucht nicht mehr, damit Verschwörungstheoretiker die russischen Warnungen aufgreifen und die Theorie verbreiten, dass die Russen, wenn sie solche Behauptungen aufstellten, selbst eine solche Aktion unter falscher Flagge vorbereiteten, um Atomwaffen einzusetzen. Genau das tut die Sendung Geopolitis vom 20. November 2022. Das ist Verschwörungstheorie im wahrsten Sinne des Wortes: Man nimmt Ereignisse, verknüpft sie durch eine willkürliche Logik miteinander und gibt ihnen ein ebenso willkürliches Ziel. Selbst die russische Oppositionswebsite Meduza¹⁸ übernimmt den Wortlaut der «New York Times», in der es heisst, das Weisse Haus habe «auch keine Hinweise darauf, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbereite».¹⁹ Unsere Medien sind also wieder einmal «päpstlicher als der Papst» und erfinden eine völlig spekulative Geschichte, die auf absolut keinen Fakten beruht. Dies entspricht einmal mehr der Definition einer Verschwörungstheorie!

Provokation der Ukraine

Am 15. November, als Russland seine Raketenangriffe intensivierte, meldete Associated Press unter Berufung auf einen «anonymen Beamten», dass zwei russische Raketen in Polen eingeschlagen hätten. Die Tatsache, dass es zwei Raketen waren, scheint einen Unfall auszuschliessen. Wenn es sich um einen vorsätzlichen Akt handelt, ist das Ereignis schwerwiegend und könnte zur Anwendung von Artikel 5 des Nato-Vertrags und zur Möglichkeit eines dritten Weltkriegs führen. Aber unsere Medien – die immer blutrünstig sind – preschen etwas zu schnell vor. Die Nato ist nicht RTS und überprüft zuerst die Informationen, bevor sie Stellung bezieht. Die Nato-Länder überwachen den Luftraum in diesem Grenzgebiet ständig und die Flugbahnen der Raketen sind bekannt. Dank der Fotos, die ein polnischer Feuerwehrmann, der sofort vor Ort war, gemacht hat, wissen wir, dass es nicht zwei, sondern nur eine Rakete gab und dass es sich dabei um eine Boden-Luft-Rakete vom Typ S-300 handelte. Anschliessend sperrten die polnischen Behörden das Gebiet ab und verhängten über die Bilder des Ereignisses eine Nachrichtensperre. Es handelte sich also um eine ukrainische Luftabwehrrakete. Ein polnischer Politiker sprach sogar davon, dass es sich um eine Provokation der Ukraine²⁰ gehandelt haben könnte, um eine westliche Intervention auszulösen. Doch fast unmittelbar danach, am 15. November, erklärte Joe Biden, es sei «unwahrscheinlich, dass die Rakete von Russland aus abgefeuert worden sei».²¹ Tatsächlich handelte es sich höchstwahrscheinlich um eine ukrainische Rakete, die ihr Ziel verfehlte und in Polen landete, wo sie zwei Menschen tötete. 

Es ist nicht nachvollziehbar, welches Interesse die Russen daran gehabt hätten, die Nato absichtlich zu provozieren. Das Problem ist, dass Selenskij weiterhin behauptete, es habe sich um eine russische Rakete gehandelt, mit dem Ergebnis, dass er seine westlichen Verbündeten verärgerte. Seltsamerweise wird auf RTS weiterhin der Ausdruck «Rakete aus russischer Produktion» verwendet, obwohl bekannt ist, dass es sich um eine ukrainische Rakete handelt.²² Das nennt man Propaganda.

Während der Coronavirus-Krise hatte es einen ähnlichen Fall gegeben. RTS hatte weiterhin den Ausdruck «chinesisches Virus» verwendet,²³ obwohl die WHO²⁴ und die wissenschaftliche Gemeinschaft²⁵ empfohlen hatten, diese Bezeichnung nicht zu verwenden, da sie Gewalt erzeuge. Im Ukraine-Konflikt ist das Gleiche zu beobachten: eine einseitige und voreingenommene Darstellung der Fakten, die nicht versucht, die Wogen zu glätten – ganz im Gegenteil.

Die Verurteilung von drei Personen, die für den Absturz der Flugs MH-17 verantwortlich sein sollen, wirft Fragen nach der Seriosität der Untersuchung auf. Auch kommt sie zu einem Zeitpunkt, in dem der Westen sich massiv im Krieg mit Russland befindet. Haben Sie Informationen, wer dieses Flugzeug tatsächlich abgeschossen hat? Gibt es hier klare Beweise? War es am Ende die Ukraine selbst?

Der Fall der MH-17 ist äusserst komplex, hauptsächlich weil es sich um eine technische Frage handelt, die politisch ausgenutzt werden soll. Er war Gegenstand unzähliger Theorien und Erklärungen, von denen jede weniger befriedigend war als die andere. Ausserdem waren die Versionen des Ereignisses, die von den einen und den anderen gegeben wurden, unterschiedlich. 

Nichtsdestotrotz ist das von den niederländischen Richtern gewählte Szenario «abracadabrantes­que» (haarsträubend), wie der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac gesagt hätte.

Man stellte sich vor, dass die Russen einen BUK-Flugabwehrraketenwerfer auf einem zivilen Lastwagen auf der Strasse 200km in ukrainisches Hoheitsgebiet geschickt hätten, um die MH-17 und ihre 298 Insassen abzuschiessen, um dann sofort auf einer anderen Strasse nach Russland zurückzufahren.

Der Vorfall an sich wirft viele Fragen auf, deren Antworten sehr unbefriedigend bleiben. Wenn man davon ausgeht, dass eine Abschussvorrichtung in die Ukraine gebracht wurde, bedeutet dies, dass es eine Absicht gab. Wenn die Absicht bestand, ukrainische Flugzeuge abzuschiessen, warum wurde dann nur ein Trägersystem ins Land gebracht? Tatsächlich besteht das BUK-System normalerweise aus einer mobilen Kommandozentrale, einem Zielerfassungsfahrzeug und einem mobilen Abschussgerät. Um dieses System effektiv zu nutzen, sind mindestens ein Zielerfassungssystem und ein Werfer erforderlich. Wenn nur die Abschussvorrichtung vorhanden ist, muss die Rakete ihr Ziel selbst erfassen, was zur Folge hat, dass sie das Ziel nicht identifizieren kann und das Risiko, es zu verfehlen, sehr hoch ist.

Angenommen, Russland oder die Donbas-Autonomisten hätten die Absicht gehabt, ein malaysisches Zivilflugzeug mit Europäern an Bord abzuschiessen, welches Ziel verfolgten sie dann? Russland war nicht in den Donbas-Konflikt verwickelt und sein Ziel wäre alles andere als klar. Wollte es den Konflikt eskalieren und damit eine ausländische Intervention provozieren, um die Ukraine zu unterstützen?

Russland und Malaysia nicht in Untersuchungen einbezogen

Es gab zwei Untersuchungen in diesem Fall: erstens eine vom niederländischen Amt für Sicherheit (OVV) unter der Schirmherrschaft der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (OPCW) durchgeführte Untersuchung, deren Ziel «die Verhinderung von Unfällen und ähnlichen Vorfällen» und nicht die Feststellung der Verantwortlichkeiten war;  zweitens eine weitere, vom Joint Investigation Team (JIT) unter der Schirmherrschaft von Europol und Eurojust durchgeführte Untersuchung, die strafrechtlicher Natur war und darauf abzielte, die Verantwortlichkeiten für den Vorfall zu ermitteln. In der ersten Untersuchung ist Malaysia von Rechts wegen anwesend; in der zweiten Untersuchung wurde Malaysia jedoch nur aufgefordert, einen Beobachter zu stellen, erhält aber aus unklaren Gründen weder Berichte noch Schlussfolgerungen.²⁶ Warum wurde Malaysia von einer der beiden Untersuchungen ausgeschlossen? Der malaysische Premierminister erklärte selbst, dass die Untersuchung auf Gerüchten basiere.²⁷

Warum wurde Russland nicht in die Ermittlungen einbezogen und warum wurden die von Russland vorgelegten Beweise mit der Begründung, es handele sich um Propaganda, für unzulässig erklärt? Dies gilt auch für die Dokumente, die belegten, dass die gefundenen Trümmerteile von einer BUK-Rakete stammten, die an die ukrainische Armee geliefert worden war. 

In einem Bericht vom 26.September 2016 gab der niederländische Militärgeheimdienst MIVD an, dass er am 17.Juli 2014 kein einsatzbereites BUK-Raketensystem in einem Radius entdeckt habe, der ausgereicht hätte, um die MH-17 abzuschiessen.²⁸

Es gab keine Gegengutachten zu einer Reihe von «Beweisen», insbesondere Videos, von denen einige behaupteten, dass es sich um digitale Montagen gehandelt habe. Fast 2600 Beweisstücke (Projektiltrümmer) wurden vom Gericht ohne seriöse Erklärung abgelehnt. 

Die Amerikaner hatten behauptet, über Satellitenbilder zu verfügen, die während des Raketenabschusses aufgenommen worden waren, die jedoch niemand sehen konnte. Viele Zeugen und Dokumente, die das Gericht zitierte, wurden als geheim eingestuft und waren daher nicht zugänglich.

Der ukrainische Pilot des Suchoi-25-Flugzeugs, den Russland als Schuldigen an der Katastrophe nannte, beging 2018 opportunerweise «Selbstmord».²⁹

Aus diesen Grauzonen ergibt sich, dass das Urteil in der westlichen Welt sicherlich Beifall finden wird, aber es ist nicht sicher, ob der «Rest der Welt» davon überzeugt ist. Da man einen niederländischen Akteur der Untersuchung kannte, kann man sagen, dass das Gericht unter enormem politischen Druck stand. 

Zufällige Tragödie für politische Zwecke ausgenutzt?

Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist. Aber die vorliegenden Erkenntnisse lassen Zweifel an dem vom Gericht angenommenen Szenario zu und lassen mich vermuten, dass der Vorfall auf einen Bedienungsfehler bei Wartungsarbeiten an der Trägerrakete zurückzuführen ist. Eine ukrainische Flugabwehreinheit befand sich tatsächlich im Bereich des Vorfalls und Einheiten wurden gewartet. Mein Eindruck ist, dass es sich um eine rein zufällige Tragödie handelt, die jedoch für politische Zwecke ausgenutzt wurde.

Es sei daran erinnert, dass dies nicht das erste Mal wäre. Die ukrainische Armee hatte bereits irrtümlich ein russisches Zivilflugzeug über dem Schwarzen Meer abgeschossen, den Flug Siberia Airlines 1812 im Oktober 2001. Ausserdem schoss der US-Kreuzer USS Vincennes am 3.Juli 1988 den Flug Iran Air 655 ab, wobei 290 Menschen, darunter 66 Kinder, ums Leben kamen. Spätere Untersuchungen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) und der US-Marine bestätigten, dass sich der Kreuzer in iranischen Hoheitsgewässern befand und tatsächlich ein aufsteigendes Zivilflugzeug entdeckt hatte. Nachdem die US-Regierung zunächst alles abgestritten und dann gelogen hatte, indem sie behauptete, ihr Schiff habe sich in internationalen Gewässern und der Airbus habe sich im Sturzflug gegen das Schiff befunden, rechtfertigte sie den Abschuss mit einem «Fehler», was ebenfalls falsch war. Schliesslich verurteilte die internationale Justiz³⁰ die USA dazu, die Familien der Opfer zu entschädigen und sich zu entschuldigen. Präsident George H. Bush sen. erklärte jedoch: «Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten von Amerika entschuldigen. Niemals. Mir sind die Fakten egal.»³¹

Trotz der politischen Komplexität des Falls von Flug MH-17 scheint das niederländische Gericht nicht unparteiisch und integer gearbeitet zu haben. Angesichts des Krieges in der Ukraine war es schwer vorstellbar, dass das Urteil unparteiisch sein würde, und ebenso unvorstellbar, dass es glaubwürdig sein würde. Wahrscheinlich hätten die Richter einen ehrenhaften Ausweg finden können, indem sie sich hinter Ziffer 5 des Minsk-II-Abkommens vom 15.Februar 2015 verschanzt hätten, die Begnadigung und Amnestie für alle «Ereignisse, die in bestimmten Gebieten der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk stattgefunden haben», garantierte.

Trotz allem Kriegsgeheul hat man den Eindruck, dass vermehrt Stimmen im Westen an einer Beendigung des Kriegs interessiert sind. Beobachten Sie das auch?

Wenn der Westen wirklich am Frieden interessiert gewesen wäre, hätte er alles getan, um ihn zu fördern, als er die Mittel dazu hatte. 

Unsere Diplomaten hätten sich um die zivilen Opfer sorgen müssen, die sich seit 2014, als die Regierung in Kiew auf ihre eigenen Bürger schoss, angesammelt haben. Angesichts der Erfahrungen mit Georgien ist bekannt, dass Russland bereit ist, zum Schutz der Mitglieder der Gemeinschaft der ehemaligen UdSSR einzugreifen. Es war vollkommen klar, dass der Krieg gegen die Autonomisten im Donbas zu einem Konflikt führen könnte. Aber für unsere Journalisten sind die Toten im Donbas «vernachlässigbare Mengen», «Untermenschen». Deshalb kann niemand verstehen, dass man zu ihrer Verteidigung zu den Waffen gegriffen hat. Unsere Medien haben die heilige Faser, die die «Befreier» von Charkow 1943 hatten!

Frankreich und Deutschland hätten ihre Rolle spielen und die Ukraine dazu zwingen müssen, ihre Verpflichtungen aus den Minsker Abkommen einzuhalten. Es ist jedoch bekannt, dass die Ukraine diese Abkommen nur unterzeichnet hat, um Zeit zu gewinnen und ihre Armee wieder auf Kriegskurs zu bringen,³² wie Petro Poroschenko kürzlich am Telefon bestätigte, als Journalisten ihn in eine Falle gelockt hatten. Danach versuchte der Westen, die Minsker Vereinbarungen neu zu verhandeln, anstatt die bestehenden Vereinbarungen umzusetzen. Sie wollten ein Abkommen zwischen Kiew und den autonomistischen Oblasten in ein Abkommen zwischen der Ukraine und Russland umwandeln, was der Natur der Krise nicht gerecht wurde. Im Gegensatz zu dem, was Angela Merkel dem Spiegel sagte, fügte der Westen dem inneren Problem der Ukraine also nur eine weitere Schicht hinzu.³³

Ukraine in schlechter Lage

Speziell unter den politischen und militärischen Eliten stellt man fest, dass dieser Krieg aussichtslos ist und nicht ohne eine ukrainische Niederlage beendet werden kann, egal welches Szenario zugrunde gelegt wird. Insbesondere General Milley, der Leiter des Joint Chiefs of Staff, schlug vor, dass man sich auf einen Friedensprozess einlassen und einräumen müsse, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums verlieren werde. Seit mehreren Monaten erstellt das US-Militär vermehrt Analysen, aus denen hervorgeht, dass die Ukraine in einer schlechten Lage ist. Es sind die Politiker – und ganz besonders die europäischen Politiker –, die nicht zugeben wollen, dass sie die falsche Strategie gewählt haben. 

Es steht fest, dass Russland keinen längeren Krieg führen wollte. Daher war es im Februar und März sofort zu Verhandlungen bereit. Doch angesichts des westlichen Willens, den Konflikt zu verlängern mit dem Ziel, den Zusammenbruch Russlands³⁴ herbeizuführen, änderte Russland seine Strategie. Wie General Surowikin im Oktober erklärte, geht es nicht um grosse Operationen, sondern darum, den ukrainischen Militärapparat langsam und systematisch zu zerschlagen. Dies erklärt auch die Angriffe auf die Infrastruktur, deren Instandsetzung für den Westen zu einer unerträglichen Belastung werden könnte.

Der Hauptgrund für die Haltung des Westens zugunsten des Krieges ist, dass wir uns weigern, die wahren Gründe für diesen Krieg zu verstehen, der multifaktoriell ist. Ich möchte daran erinnern, dass Russland in der Ukraine nur interveniert hat, um die Übergriffe und Bombardierungen gegen die Bevölkerung des Donbas gemäss dem Prinzip der «Responsability to protect» (R2P) zu stoppen. Hintergrund dieser Intervention ist die Expansion der Nato in die Ukraine, die Russland auf diplomatischem Wege lösen wollte. Aus diesem Grund hatte es im Dezember 2021 Vorschläge kommuniziert, die der Westen nicht einmal in Erwägung ziehen wollte. Die ukrainische Offensive, die sich im Februar 2021 im Donbas anbahnte, bot Russ­land die Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: die Bedrohung für die russischsprachigen Menschen im Donbas zu beseitigen und die Ukraine zu Verhandlungen über ihre Stellung gegenüber der Nato zu drängen.

Aus russischer Sicht – einschliess­lich der russischen Bevölkerung – ist das Ziel dieser Intervention legitim. Im Westen haben wir ein Narrativ entwickelt, das darauf abzielt, dieses Ziel zu delegitimieren. Es wurde behauptet, Russland wolle die Ukraine übernehmen und zerstören (was übrigens ein wenig widersprüchlich klingt!), die Regierung stürzen, ihre Reichtümer plündern und so weiter. Die Russen haben das nicht nur nie gesagt, sondern nach acht Monaten stellt man fest, dass diese Erklärungen völlig losgelöst von den Tatsachen sind. 

«Die Ukraine hat ein Problem mit rechtsextremer Gewalt»

Um dieses Narrativ durchzusetzen, musste der Westen einen Teil der Realität verschweigen. Deshalb wird nie über die Opfer im Donbas oder die Kriegsverbrechen berichtet, die seit 2014 von den ukrainischen Neonazi-Milizen begangen wurden. So nehmen unsere Medien die Position dieser Milizen ein, die ihre Übergriffe gegen die Bevölkerung im Donbas leugnen und eine «rassisch reine» Ukraine wollen.³⁵ Nie (!)  erwähnen sie diese Gewalttaten seit 2014 und behaupten sogar, dass es in der Ukraine keinen Neonazismus gebe!³⁶

Während die RTS in der Sendung Geopolitis die Präsenz von Neonazis in der Ukraine als Teil einer «Parallelwelt» beschrieb,³⁷ verhaftete die Polizei in Italien eine Neonazi-Zelle – den Hogal-Orden – unter Terrorismusverdacht, die «direkte und häufige Kontakte zu ukrainischen ultra-nationalistischen Formationen wie dem Bataillon Asow, Pravi Sector und Centuria hatte, wahrscheinlich im Hinblick auf eine mögliche Rekrutierung in die Reihen dieser Kampfgruppen».³⁸ Diese Zelle wurde mit Veröffentlichungen auf Telegram in Verbindung gebracht, die «Kampagnen zur Verherrlichung des Faschismus, Leugnung des Holocaust, Aufstachelung zu Rassenhass und Antisemitismus» betrafen.³⁹

In der Tat haben die amerikanischen Medien schon lange die Alarmglocken läuten lassen. Der Atlantic Council, ein mit der Nato und der US-Regierung verbundenes Medium, hatte schon lange davor gewarnt, dass «das Asow-Regiment sich nicht entpolitisiert hat»⁴⁰ und dass «die Ukraine ein echtes Problem mit rechtsextremer Gewalt hat (und nein, RT hat diese Schlagzeile nicht geschrieben)».⁴¹ Im März dieses Jahres schrieb NBC News, dass «das Naziproblem in der Ukraine real ist».⁴² Das zentristische US-Medium «The Hill» erklärte sogar, dass das Problem des Neonazismus in der Ukraine nichts mit der Propaganda des Kreml zu tun habe⁴³. Diese Medien hatten also Recht, im Gegensatz zu unseren Journalisten, die natürlich frei sind, ihre politischen Präferenzen zu haben. Tatsächlich ist es das Ziel unserer Medien, ein polarisiertes Bild des Konflikts aufrechtzuerhalten, mit dem jegliche Verhandlungen ausgeschlossen sind. Kann man mit dem Teufel verhandeln?

Es muss das Bild eines unverantwortlichen Wladimir Putin aufrechterhalten werden, der unfähig ist, Entscheidungen zu treffen (die übrigens automatisch falsch sind), der das Zarenreich (oder die Sowjetunion laut «Experten») wiederherstellen will, der die Existenz der Ukraine leugnet, der versucht, seine Atomwaffen einzusetzen usw., usw.

In einer kürzlich erschienenen Ausgabe der RTS-Sendung Geopolitis behauptete der Journalist Jean-Philippe Schaller, Wladimir Putin sei der erste gewesen, der mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht habe. Er ist ein Lügner. Wladimir Putin erwähnte den Einsatz von Atomwaffen,⁴⁴ nachdem (!) der französische Aussenminister Jean-Yves Le Drian⁴⁵ und die britische Aussenministerin Liz Truss⁴⁶ am 24. und 27. Februar den Einsatz von Atomwaffen durch die Nato und die Zerstörung des russischen Industriepotenzials angedeutet hatten. Unser «Journalist» von RTS verschweigt auch, dass Liz Truss am 24. August erklärt hat, sie sei bereit, Atomwaffen einzusetzen, selbst wenn dies zu einer «globalen Vernichtung» führen würde.⁴⁷ Ich weiss nicht, ob man Wladimir Putin als Diktator bezeichnen kann oder nicht, aber er scheint weniger zu lügen als unsere Journalisten, zumindest in dieser Hinsicht!

Verbreitung von
Falschinformationen

In der Schweiz sind unsere Staatsmedien zu Propagandainstrumenten geworden, die Behauptungen aufstellen, ohne jemals etwas zu belegen. So hat RTS sogar russische Kriegsverbrechen in der Ukraine angeprangert, die die Ukrainer selbst als Fälschung betrachteten. Dies gilt auch für Vergewaltigungen. Es gab sicherlich Vergewaltigungen durch russisches (und ukrainisches) Militär während des Konflikts. Doch Anfang April 2022 kam es plötzlich zu einem Anstieg dieser Anschuldigungen. Sie stammen von der ukrainischen Menschenrechtskommissarin Ljudmila Denisowa.⁴⁸ RTS berichtet über diese Vergewaltigungen und betont, dass diese Verbrechen sorgfältig überprüft wurden⁴⁹ und dass sie «zum russischen Kriegsarsenal gehören», räumt aber gleichzeitig ein, dass «Beschwerden selten seien».⁵⁰ Das Problem ist, dass alles falsch war⁵¹ und Denisova entlassen wurde, weil es für diese Anschuldigungen keine Beweise gab und ihre Behauptungen dem Ansehen der Ukraine schadeten, wie das ukrainische Medium Ukrinform berichtet.⁵²

Das Problem hier ist nicht, ob die Anschuldigung richtig oder falsch ist: Es gab sicherlich Vergewaltigungen auf beiden Seiten. Das Problem ist auch nicht einmal, dass RTS behauptet, diese Verbrechen seien bestätigt, obwohl sie es nicht sind: Der «Nebel des Krieges», wie Clausewitz es nannte, kann Fehler erklären (technisch: «Fehlinformation»). Das eigentliche Problem ist, dass RTS, um sein antirussisches Narrativ zu bewahren, obwohl es wusste, dass es falsche Informationen verbreitet hatte, nicht versuchte, seinen Fehler zu korrigieren. Während die Entlassung Denisowas den ukrainischen Parlamentariern hätte zugeschrieben werden können, zogen es die Schweizer Journalisten vor, ihre falschen Behauptungen zu schütze. «Gut geordnete Liebe beginnt bei sich selbst!»

«Wie man eine Krise versteht, davon hängt es ab, wie man sie löst»

Um ihr Narrativ zu schützen, und unfähig, mit Fakten zu argumentieren, beschränken sich unsere Medien schliesslich auf persönliche Angriffe. So erklärt der Journalist Jean-Philippe Schaller, dass Wladimir Putin über Informationsnetzwerke in Europa verfüge, zu denen ich zusammen mit Alain Juillet, einem ehemaligen Direktor des französischen Geheimdienstes, und mit Hubert Védrine, dem ehemaligen Aussenminister Frankreichs, gehören würde. Das ist nicht nur eine unbegründete Behauptung, die genau der Definition von Verschwörungstheorien entspricht,⁵³ sondern jeder ernsthafte Beobachter stellt fest, dass es sich dabei um eine Lüge handelt. Ich betone hier, dass alle Informationen, die ich verwende, aus dem Westen, der Ukraine oder von der russischen Opposition stammen. Übrigens werde ich auf dem amerikanischen Kontinent eher als «ukrainefreundlich» angesehen, während in Frankreich – abgesehen von einigen verschwörungstheoretischen Journalisten – meine Aussagen als ausgewogen gelten! Ein russischer oder intelligenter Zuschauer versteht sehr schnell, dass solche – ansonsten unbewiesene – Anschuldigungen nichts anderes als Desinformation sind. Diese Art von Informationen ist genau das, was die Meinung zugunsten Russlands stärkt. Dies geschieht auch in den afrikanischen Ländern, in denen ich ein beachtliches Publikum habe!

Wir kommen immer wieder auf denselben Punkt zurück: Wie man eine Krise versteht, davon hängt es ab, wie man sie löst.

Es ist ein bisschen einfach zu denken, dass wir uns alles erlauben könnten, nur weil Putin ein Diktator sei. Ich habe nicht gesehen, dass unsere Medien Sendungen machen, in denen sie den irakischen oder afghanischen Widerstand loben und unsere Jugendlichen ermutigen, zu ihnen zu gehen und sie zu unterstützen. 

Es ist übrigens interessant zu sehen, dass niemand den Konflikt in Frage stellte, solange wir nicht betroffen waren. Heute, da unsere Wirtschaft zusammenbricht und wir spüren, dass unser Geldbeutel betroffen ist, beginnen unsere Politiker langsam einen Rückzieher zu machen, gegen unsere Medien, die weiterhin in Richtung Unnachgiebigkeit drängen. Man muss nur die Kommentare in der Sendung Geopolitis⁵⁴ und in meinem kürzlich von Sud Radio ausgestrahlten Interview⁵⁵ vergleichen, um festzustellen, dass die Öffentlichkeit sich nicht irrt. Unserer Bevölkerung geht es nicht darum, Russland oder die Ukraine zu verurteilen, wie es unsere Politiker und Medien tun, sondern um eine Lösung für einen Konflikt, den sie auf Kosten des Lebens der Ukrainer instrumentalisiert haben. Ich erinnere daran, dass Selenskij sich auf Druck der Westler und ihrer Medien⁵⁶ von den Verhandlungen zurückgezogen hat, die er selbst Ende Februar und Ende März 2022 gefordert hatte. Die europäische Öffentlichkeit hat die Situation sehr gut verstanden: Es sind unsere sogenannten Eliten, die sich weigern, das kriegerische Narrativ, das sie seit 2014 entwickelt haben, in Frage zu stellen.

Herr Baud, vielen Dank für Ihre Antworten.

* Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

 

¹ «Ukraine attacks Russian-held Kherson, plans counterattack», aljazeerah, 12 July 2022 (www.aljazeera.com/news/2022/7/12/ukraine-strikes-russian-held-kherson-as-kyiv-plans-counterattack)

² youtu.be/I6ngm-QUn4M

³ Mark Trevelyan, « Russia's war hawks rally behind decision to abandon Ukrainian city of Kherson », Reuters, 10 novembre 2022 (www.reuters.com/world/europe/russias-war-hawks-rally-behind-decision-abandon-ukrainian-city-kherson-2022-11-09/)

⁴ « Жителей Херсона призвали «незамедлительно» уехать. На левый берег Днепра вывезли уже 25 тысяч человек », Meduza, 23 octobre 2022 (meduza.io/feature/2022/10/23/zhiteley-hersona-prizvali-nezamedlitelno-uehat-na-levyy-bereg-dnepra-vyvezli-uzhe-25-tysyach-chelovek)

rg.ru/2022/10/18/surovikin-ukrainskaia-storona-teriaet-do-tysiachi-chelovek-v-sutki.html

www.levada.ru/indikatory/

⁷ Lorenzo Tondo & Peter Beaumont, « Ukraine to start evacuations in Kherson and Mykolaiv regions as winter sets in », The Guardian, 21 novembre 2022 (www.theguardian.com/world/2022/nov/21/ukraine-evacuations-kherson-mykolaiv-regions-winter-war-damage-infrastructure)

⁸ Christopher Gettel, « Russia Is Running Out of Missiles. That’s Bad News for Ukraine », The Defense Post, 1er septembre 2022 (www.thedefensepost.com/2022/09/01/russia-missiles-running-out/); Cristina Gallardo, « Russia is running short of long-range missiles, say Western officials », Politico, 18 octobre 2022 (www.politico.eu/article/russia-running-short-of-long-range-missiles-ukraine-war/)

⁹ «Selon une enquête, Vladimir Poutine aurait un cancer de la thyroïde, mais devrait en guérir », rts.ch, 13 juin 2022 (www.rts.ch/info/monde/13162992-selon-une-enquete-vladimir-poutine-aurait-un-cancer-de-la-thyroide-mais-devrait-en-guerir.html)

10 Roman Romaniuk, « Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit », Ukrainskaya Pravda, 5 May 2022 (www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/)

11 «Discours sur l'état de l'Union 2022 de la présidente von der Leyen », Commission Européenne,14 septembre 2022 (ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/fr/speech_22_5493)

12 Brad Dress, « Mariupol mayor calls for no-fly zone after maternity hospital bombing », The Hill, 9 mars 2022 (thehill.com/policy/international/597635-mariupol-mayor-calls-for-no-fly-zone-after-maternity-hospital-bombing/)

13 « Ukraine calls for no-fly zone to stop Russian bombardment », Reuters, 1er mars 2022 (www.reuters.com/world/europe/russias-isolation-deepens-ukraine-resists-invasion-2022-02-28/)

14 Ross Peel, « Zaporizhzhia: proposals for demilitarised zone around Europe’s biggest nuclear power plant are unprecedented – expert reveals », The Conversation, 7 septembre 2022 (theconversation.com/zaporizhzhia-proposals-for-demilitarised-zone-around-europes-biggest-nuclear-power-plant-are-unprecedented-expert-reveals-189927)

15 Jeffrey Bale, “The Chechen Resistance and Radiological Terrorism”, Center for Nonproliferation Studies, 1er avril 2004. (www.nti.org/analysis/articles/chechen-resistance-radiological-terror/)

16 «‘We may have to make some difficult decisions in Kherson’ Meduza's summary of the first interview given by Russia's new top commander in Ukraine », Meduza, 19 octobre 2022 (meduza.io/en/feature/2022/10/19/we-may-have-to-make-some-difficult-decisions-in-kherson)

17 «Шойгу позвонил министрам обороны четырех стран НАТО. И заявил, что Украина якобы готовится взорвать «грязную бомбу». Никаких доказательств он не привел», Meduza, 23 octobre 2022 (meduza.io/feature/2022/10/23/shoygu-pozvonil-ministram-oborony-chetyreh-stran-nato-i-zayavil-chto-ukraina-yakoby-gotovitsya-vzorvat-gryaznuyu-bombu-nikakih-dokazatelstv-on-ne-privel)

18 meduza.io/feature/2022/10/25/rossiya-aktivno-preduprezhdaet-o-podryve-gryaznoy-bomby-v-ukraine-na-zapade-eto-rastsenivayut-kak-proverku-reaktsii-ili-predlog-dlya-novoy-eskalatsii-konflikta

19 www.nytimes.com/2022/10/24/us/politics/russia-dirty-bomb-west-ukraine.html

20 «Missile incident was Ukrainian ‘provocation’ – Polish politician», The Press United, 17 novembre 2022 (thepressunited.com/updates/missile-incident-was-ukrainian-provocation-polish-politician/)

21 Emma Kinery, «Biden says it’s ‘unlikely’ the missile that hit Poland was fired from Russia», CNBC, 15 novembre 2022 (www.cnbc.com/2022/11/15/biden-says-its-unlikely-russia-fired-the-missile-that-hit-poland.html)

22 www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/la-pologne-a-ete-touchee-par-un-missile-de-fabrication-russe-tout-pres-de-sa-frontiere-avec-l-ukraine-25875879.html; https://www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/reportage-en-pologne-pres-du-site-de-l-impact-du-missile-de-fabrication-russe-25876297.html

23 www.rts.ch/info/monde/11159819-le-pouvoir-chinois-souhaite-faire-oublier-lorigine-du-coronavirus.html

24 Dawn Kopecki, « WHO officials warn US President Trump against calling coronavirus ‘the Chinese virus’ », CNBC, 18 mars 2020

25 Marietta Vazquez, «Calling COVID-19 the “Wuhan Virus” or “China Virus” is inaccurate and xenophobic», Yale School of Medicine, 12 mars 2020 ; « Calling COVID-19 a ‘Chinese virus’ is wrong and dangerous – the pandemic is global », The Conversation, 25 mars 2020 ; Zhaohui Su et al., « Time to stop the use of ‘Wuhan virus’, ‘China virus’ or ‘Chinese virus’ across the scientific community », BMJ Journal, 20 août 2020

26 1er août 2019

27 youtu.be/fRplsSshPKI

28 maxfromthewharf.com/wp-content/uploads/2020/03/MIVD_EN.pdf

29 «MH17 crash: Ukraine pilot blamed by Russia 'kills himself'», BBC News, 19 mars 2018 (www.bbc.com/news/world-europe-43457694)

30 John F. Burns, « World Aviation Panel Faults U.S. Navy on Downing of Iran Air », The New York Times, 4 décembre 1988

31 «When America Apologizes (or Doesn’t) for Its Actions », The New York Times, 6 décembre 2011

32 «Minsk deal was used to buy time – Ukraine’s Poroshenko », The Press United, 17 juin 2022 (thepressunited.com/updates/minsk-deal-was-used-to-buy-time-ukraines-poroshenko/)

33 www.spiegel.de/panorama/ein-jahr-mit-ex-kanzlerin-angela-merkel-das-gefuehl-war-ganz-klar-machtpolitisch-bist-du-durch-a-d9799382-909e-49c7-9255-a8aec106ce9c; www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/merkel-zu-ukraine-101.html

34 youtu.be/Ntzacqlm-Ac

35 «Український соціальний націоналізм. — Харків: «Патріот України», 2007 (web.archive.org/web/20080409023834/www.patriotukr.org.ua/index.php?rub=stat&id=267)

36 youtu.be/bEv4-IJsl9k?t=212

37 youtu.be/bEv4-IJsl9k?t=414

38 Lucia Liccardi, « I neonazisti della Campania », agi.it, 15 novembre 2022 (www.agi.it/cronaca/news/2022-11-15/terrorismo-associazione-neonazista-quattro-arresti-campania-18834751)

39 «Operazione antiterrorismo tra Napoli, Caserta e Avellino: 5 arresti», poliziadistato.it, 15 novembre 2022 (www.poliziadistato.it/articolo/289963737a1f95b85474505806)

40 Oleksiy Kuzmenko, « The Azov Regiment has not depoliticized », Atlantic Council, 19 mars 2020 (www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/the-azov-regiment-has-not-depoliticized/)

41 Josh Cohen, « Ukraine’s Got a Real Problem with Far-Right Violence (And No, RT Didn’t Write This Headline) », The Atlantic Council, 20 juin 2018 (www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraine-s-got-a-real-problem-with-far-right-violence-and-no-rt-didn-t-write-this-headline/)

42 Allan Ripp, « Ukraine’s Nazi problem is real, even if Putin’s ‘denazification’ claim isn’t », NBC News, 5 mars 2022 (www.nbcnews.com/think/opinion/ukraine-has-nazi-problem-vladimir-putin-s-denazification-claim-war-ncna1290946)

43 Lev Golinkin, « The reality of neo-Nazis in Ukraine is far from Kremlin propaganda », The Hill, 9 novembre 2017 (thehill.com/opinion/international/359609-the-reality-of-neo-nazis-in-the-ukraine-is-far-from-kremlin-propaganda/)

44 Runai Tairov, «Путин приказал перевести силы сдерживания в особый режим боевого дежурства», Forbes.ru, 27 février 2022; Andrew Roth, Shaun Walker, Jennifer Rankin & Julian Borger, « Putin signals escalation as he puts Russia’s nuclear force on high alert », The Guardian, 28 février 2022.  

45 Anthony Audureau/AFP, « Ukraine : Le Drian rappelle à Poutine que “l’Alliance atlantique est aussi une alliance nucléaire” », BFM TV, 24 février 2022 (www.bfmtv.com/international/ukraine-le-drian-rappelle-a-poutine-que-l-alliance-atlantique-est-aussi-une-alliance-nucleaire_AD-202202240685.html).

46 Stephen Mcilkenny, « Liz Truss: Kremlin says decision to put nuclear bases on high alert due to comments made by Foreign Secretary | What did she say about Ukraine crisis? », The Scotsman, 28 février 2022 (www.scotsman.com/news/politics/kremlin-says-nuclear-bases-on-high-alert-due-to-comments-made-by-liz-truss-3589463)

47 www.independent.co.uk/news/uk/politics/liz-truss-nuclear-button-ready-b2151614.html; https://youtu.be/IvH7cgbdazU

48 www.francetvinfo.fr/monde/europe/manifestations-en-ukraine/guerre-en-ukraine-apres-le-massacre-de-boutcha-les-temoignages-glacants-des-victimes-de-viols-commis-par-l-occupant-russe_5145007.htm

49 www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/multiplication-des-accusations-de-viols-en-ukraine-interview-de-lea-rose-stoian-25813937.html

50 www.rts.ch/info/monde/13005321-les-viols-de-civils-font-partie-de-larsenal-de-guerre-russe-en-ukraine.html

51 hromadske.ua/posts/deputati-zibrali-pidpisi-za-vidstavku-ombudsmenki-denisovoyi-vona-nazivaye-mozhlive-zvilnennya-nezakonnim

52 www.ukrinform.fr/rubric-ato/3496821-la-commissaire-aux-droits-de-lhomme-ukrainienne-demise-de-ses-fonctions.html

53 fr.wikipedia.org/wiki/Théorie_du_complot

54 youtu.be/bEv4-IJsl9k

55 youtu.be/3h-JJQMgUT4


Info:https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-21-vom-30-november-2022.html#article_1439

02.12.2022

Zeitgeschehen im Fokus
Forschen - Nachdenken - Schlüsse ziehen    (II von III)

56 www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/a-quoi-bon-negocier-avec-poutine-a-propos-de-l-ukraine-interview-de-nicolas-tenzer-25808171.html



«Der Westen hat ein gewaltiges Interesse am Krieg» «Die Schweiz hätte so viel in der Friedensvermittlung zu bieten, was sie achtlos aus der Hand gibt»Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger Prof. Dr. Alfred de Zayas (Bild zvg) Zeitgeschehen im Fokus Artikel 20 des Internationalen Pakts der Bürgerlichen und Politischen Rechte verbietet per Gesetz «jegliche Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird.» Wenn wir uns die letzten Monate anschauen, sieht man, dass das von westlicher Seite völlig ignoriert wird. Was sind die Ursachen dafür?


Prof. Dr. Alfred de Zayas Die westlichen Länder verdienen am Krieg, sie haben starke Waffenindustrien und wollen diese Waffen verkaufen. Dies geht aber nur, wenn die Drohnen, Raketen, Panzer, Kanonen etc. gebraucht werden, wenn die Flugzeuge abgeschossen werden. Dann müssen sie ersetzt werden, und der Waffen-Zirkus läuft lustig weiter. Der Westen hat ein gewaltiges Interesse am Krieg und wird sich kaum verpflichten, den Krieg oder die Kriegspropaganda zu ächten. Die Staaten Australien, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Luxembourg, Malta, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Schweden, die Schweiz, Grossbritannien und die Vereinigten Staaten haben alle Vorbehalte gegen Artikel 20 des Paktes, so dass die Regierungen und die Medien weiterhin Kriegspropaganda betreiben können. Kein lateinamerikanischer oder afrikanischer Staat hat solche Vorbehalte.Das sind die doppelten Standards. Niemand auf dieser Welt heult so auf wie der Westen, wenn die Menschenrechte nicht eingehalten werden. Was ist das für eine Gesinnung?In vier Jahrzehnten Menschenrechtstätigkeit habe ich genug von dieser unredlichen Gesinnung gesehen. Es ist interessant, wie sich die westlichen Staaten bei den Diskussionen über die Einführung des Menschenrechts auf Frieden in den Jahren 2012 bis 2016 verhalten haben.¹ Ich habe seinerzeit allen Tagungen der Arbeitsgruppe² des Menschenrechtsrates beigewohnt und auch in meiner Funktion als Sonderberichterstatter wiederholte Male gesprochen (siehe Kapitel 3 meines Buches «Building a Just World Order»). Der Westen hat dafür gesorgt, dass der exzellente Entwurf der Deklaration, die seinerzeit vom Advisory Committee³ erstellt wurde, ausgehöhlt wurde. Allerdings waren nicht alle Amerikaner mit der Haltung der US-Regierung bezüglich des Menschenrechts auf Frieden einverstanden. So sagte der US-Völkerrechtsprofessor Curtis Doebbler am 1. August 2016: «Die angenommene Erklärung ist eine Beleidigung für Verteidiger der Menschenrechte und alle, die ihr Vertrauen der Uno schenken, um den Frieden in der Welt zu fördern. Am auffallendsten ist, dass die Erklärung nicht das Recht auf Frieden bekräftigt, das in einer Erklärung der Uno-Generalversammlung von 1984 für alle Völker anerkannt wurde. Eine Erklärung zum Recht auf Frieden zu verabschieden, die das Recht auf Frieden nicht klar und unzweideutig bekräftigt, ist eine Botschaft an uns alle, dass unsere diplomatischen Vertreter nicht in unserem besten Interesse handeln. Entweder müssen die Diplomaten ausgewechselt werden oder die Regierungsbeamten, die sie ernennen.»⁴ Wenn man es mit den Menschenrechten ernst meinte, müssten die westlichen Staaten das voll und ganz unterstützen. Es ist schon unglaublich, mit welcher Propaganda man die eigene Bevölkerung lenkt, um sich selbst als die Guten zu präsentieren.Noch schändlicher ist die Art und Weise, wie sich der Westen in diesem Zusammenhang verhalten hat. Zunächst hat der Westen alles getan, um die Deklaration zu schwächen, eigentlich um sie auszuweiden. Das war einfach dreist und unehrenhaft vom Westen, ein Verrat an der Zivilgesellschaft. Man muss bedenken, dass der Ursprung der Deklaration nicht der Menschenrechtsrat war, sondern Tausende von Friedensaktivisten auf der ganzen Welt unter der Leitung der Asociacion Española para el Derecho Internacional de los Derechos Humanos (ich bin seit 2004 Mitglied), die die ganze Bewegung für das Menschenrecht auf Frieden in Gang setzte, nämlich durch die Annahme der Declaracion de Luarca, gefolgt von der Declaracion de Bilbao (ich war Rapporteur), dann die Declaracion de Santiago de Compostela vom 10. Dezember 2010. Es war diese Declaracion de Santiago, die vom Advisory Committee des Menschenrechtsrates übernommen und dann an die «Arbeitsgruppe» weitergegeben wurde. Wenn man den Entwurf des Advisory Committees kennt und mit der endgültigen Deklaration vergleicht, kann man nur schockiert sein, entsetzt, wieviel Zeit und Geld vergeudet wurde. Adding insult to injury, der Westen stimmte sogar gegen das wenige, was von der Deklaration übrig geblieben war.⁵ Die Resolution 32/28 wurde mit 34 Stimmen dafür, 4 Enthaltungen und 9 Gegenstimmen angenommen.⁶Wie muss man dieses Ergebnis interpretieren?So, dass der Westen eine «love affair» mit dem Krieg hat. Die Schweiz hätte sich natürlich der Mehrheit anschliessen müssen – aber die mutlose Delegation hat sich der Stimme enthalten. Ich war dabei. Was für eine Schande! Hierzu muss man sagen, dass die Deklaration, die 2016 von der Generalversammlung angenommen wurde (A/RES/71/189), kein Menschenrecht auf Frieden als solches anerkennt. Es ist ein leeres Bla-Bla – eigentlich weniger, als wir bereits 1984 mit der Resolution 39/11 der Generalversammlung⁷ hatten. Während Ihrer Zeit als Unabhängiger Experte an der Uno haben Sie sich für den Frieden eingesetzt. Es gibt verschiedene Menschenrechte wie das Recht auf Leben und viele andere. Wie wird das oberste Prinzip der Uno, Sicherung und Erhaltung des Weltfriedens, verfolgt und eingehalten?Kapitel drei meines Buches «Building a Just World Order» gibt ausführliche Antworten auf Ihre Fragen. Das Menschenrecht auf Frieden z. B. wird vom Westen völlig ignoriert. Die Völker Lateinamerikas, Afrikas und Asiens wollen bestimmt den Frieden. Das Geld will aber Krieg. Und es ist der Westen, der solche Situationen sucht und die Kriegsstimmung vorantreibt. In der Ukraine kann man das genau beobachten. Milliarden an Geldern – wohlgemerkt Steuergeldern – werden für Waffen ausgegeben. Die Aktien der Rüstungsfirmen wie z. B. Rheinmetall in Deutschland sind nahezu explodiert. Das Volk wird allerdings nie gefragt, ob es seine Steuergelder für den Krieg einsetzen will. Vielleicht hat das Volk andere Prioritäten wie Krankenhäuser und Schulen. Aber es wird nicht konsultiert. Es gibt keine Referenden.Hat der Menschrechtsrat an seiner letzten Session sich für den Frieden in der Ukraine eingesetzt und die Ursachen thematisiert, die zur militärischen Aktion der Russischen Föderation geführt haben?Der Menschenrechtsrat entpuppt sich zunehmend als parteiisch und im Dienste des Westens. China und einige Staaten haben sich für Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg konstruktiv geäussert, aber der Rat hat die Konfrontation bevorzugt und nur Russland für den Krieg verantwortlich gemacht, ohne sich mit der Vorgeschichte, mit den Provokationen durch die Nato zu beschäftigen oder konkrete Vorschläge für Friedensverhandlungen zu machen. Der Rat hat sich damit begnügt, einen Sonderberichterstatter für Russland zu bestellen, um die Hetze – was wir «Naming and Shaming» nennen – fortzusetzen, nicht aber um dem Frieden zu dienen. Obwohl 24 Staaten sich der Stimme enthielten und sechs dagegen stimmten, die 17 Stimmen der westlichen Staaten haben die Resolution getragen.⁸Stellt sich der neue Hochkommissar für Menschenrechte wie viele seiner Vorgänger und Vorgängerinnen in den Dienst der USA und der EU?Leider ja. Ich hatte ursprünglich gewisse Hoffnungen gehegt, die ich inzwischen aufgeben musste. Seine Äusserungen über Russland sind unausgewogen. Er scheint sich besonders für LGBT-Sachen zu interessieren.⁹ Es gibt an der Uno ein Heer von Unabhängigen Experten und Sonderberichterstattern. Was spielen sie für eine Rolle bei der Erhaltung des Friedens und der Verteidigung der Menschenrechte?Praktisch keine Rolle. Die meisten Sonderberichterstatter kümmern sich nicht um den Frieden, sondern geniessen die Gelegenheit, sich grandios zu äussern und Richter zu spielen, indem sie «Naming and Shaming» betreiben, Staaten kritisieren, ohne sich die Mühe zu geben, pragmatische oder friedensfördernde Vorschläge zu formulieren. Über die Jahre hat es eine Reihe mutiger und unabhängiger Sonderberichterstatter gegeben u. a. Jean Ziegler, Olivier de Schutter, Richard Falk, Michael Lynk, Virginia Dandan, Ben Emmerson, Juan Pablo Bohoslavsky, Nils Melzer, Idriss Jazairi, Alena Douhan – die ich alle gut kenne. Leider ist das Auswahlsystem äusserst politisch, und selten werden wirklich unabhängige Experten ernannt. Die meisten kommen aus dem «Mainstream» und folgen dem Zeitgeist. In Konflikten melden sich häufig die grossen NGOs wie AI (Amnesty International) oder HRW (Human Rights Watch) zu Wort. Wie verläss­lich sind ihre Positionen, und können sie völlig unabhängig agieren?Weder AI noch HRW sind wirklich unabhängig. Schliesslich brauchen sie Geld, und die Stifter wollen auch mitspielen. So werden bestimmte Themen bevorzugt, z. B. gender equality. Andere wichtigere Menschenrechtsthemen wie das Menschenrecht auf Frieden werden komplett ausgeblendet. Wikileaks, das European Center for Law and Justice10 und andere investigative Journalisten haben gezeigt, dass eine bestimmte Durchdringung der Geheimdienste Grossbritanniens, Israels und den USA geschehen ist und dass es eine gewisse Drehtür zwischen Regierungsposten und AI und HRW – was wir «revolving door» nennen – gibt. Noch ärger ist es nämlich, wenn genau diese Menschen dann von den USA, von Grossbritannien oder Frankreich auf höhere Posten im Büro des Hochkommissars für Menschenrechte berufen werden.Ein wichtiger Faktor in der internationalen Vermittlung von Konflikten kommt den neutralen Staaten zu. Seit dem Ukraine-Konflikt können wir feststellen, dass die wenigen westlich ausgerichteten neutralen Staaten sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen haben, einschliesslich der Schweiz. Wie ist das aus Sicht des Völkerrechts zu beurteilen?Unilaterale Zwangsmassnahmen sind völkerrechtswidrig. Man kann aber nichts machen, denn die USA, Grossbritannien und Frankreich sind Vetomächte im Sicherheitsrat. Es ist ein Skandal, dass sich Länder wie die Schweiz den illegalen Sanktionen angeschlossen haben. Die Neutralität ist ein bedeutender Wert und eine Verpflichtung. Ich verstehe die Schweizer Politiker nicht.Welche heutigen Staaten können noch glaubhaft die Vermittlerrolle einnehmen, nachdem neutrale so eindeutig für eine Kriegspartei Stellung genommen haben?Die Schweiz gewiss nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass Mexiko, Argentinien, Brasilien, Südafrika, Algerien oder Indien diese Rolle einnehmen könnten. Es ist schon beklagenswert, dass neutrale Staaten wie die Schweiz oder Schweden sich immer mehr der Nato-Kriegsallianz angeschlossen haben, vor allem in der Übernahme der völkerrechtswidrigen Sanktionen. Dass die Schweiz die Weitergabe der Munition an die Ukraine den Deutschen untersagt, ist die richtige Haltung und äusserst unterstützenswert. Sie hätte bei den Sanktionen der EU und der USA gegen Russland genau gleich handeln müssen. Denn bei den Sanktionen handelt es sich um einen offenen Handels- und Wirtschaftskrieg der USA gegen Russ­land. Wider alle Vernunft machen die EU und die Schweiz dabei mit. Die Schweiz hätte so viel in der Friedensvermittlung zu bieten, was sie achtlos aus der Hand gibt, nur damit sie weiterhin die Gunst der USA geniessen können, obwohl die USA in den letzten Jahrzehnten der Schweiz übel mitgespielt haben und es auch jetzt wieder tun, indem sie Schweizer Treuhänder sanktionieren, wenn diese mit russischen Geschäftsleuten Beziehungen unterhalten. Wie beurteilen Sie das Verhalten des Schweizer Bundesrats, insbesondere Ignazio Cassis', der für die Aussenpolitik der Schweiz verantwortlich ist?In höchstem Masse undemokratisch. Das Schweizer Volk hätte konsultiert und per Referendum gefragt werden müssen, ob es mit dem aussenpolitischen Kurs von Ignazio Cassis einverstanden ist. Der Bundesrat hat gegen die Schweizer Verfassung gehandelt. Es ist eine Treulosigkeit gegenüber dem Schweizer Erbe der Neutralität, eine leichtsinnige und ehrlose Aufgabe von alten, bewährten schweizerischen Traditionen, eine völlig unnötige Preisgabe ohne Gegenleistung. Für die Schweiz ein riesiger Verlust. Und für die übrigen neutralen Staaten eine Schwächung. Hätte sich die Ukraine an der Schweizer Neutralität orientiert, wie es Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg getan hat, wäre uns die aktuelle Auseinandersetzung wohl erspart geblieben. Welchen Stellenwert messen Sie aus Ihrer internationalen Erfahrung als jahrelanger hoher Uno-Beamter und Unabhängiger Experte an der Uno der Neutralität von Staaten bei?Der neue Kalte Krieg, der sich in der Ukraine zu einem heissen Krieg entwickelte, geht auf eine primitive Polarisierung zurück. Die Uno-Charta verpflichtet alle Staaten zum Dialog, zu Verhandlungen. Man braucht mehr neutrale Staaten, nicht weniger. Neutrale Staaten haben eine hohe Glaubwürdigkeit, wenn sie ihre Neutralität nicht preisgeben, und können die Rolle des Schiedsrichters zwischen den Konfliktparteien einnehmen. Diesen Trumpf hat die Schweiz aus der Hand gegeben, den übernimmt jetzt im aktuellen Konflikt die Türkei. Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Interview.Interview Thomas Kaiser ¹ https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/advisory-committee/right-to-peace² https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/right-peace/wg-draft-un-declarationonthe-rightto-peace³ https://www.ohchr.org/en/stories/2013/04/right-peacehttps://www.transcend.org/tms/2016/08/the-un-human-rights-council-adopts-the-declaration-on-the-right-to-peace/

«the adopted declaration is an insult to human rights defenders and anyone who puts their faith in the UN to promote peace in the world. Most strikingly the declaration does not reconfirm the right to peace that was recognized for all peoples in a UN General Assembly declaration adopted in 1984. To adopt a declaration on the right to peace that does not clearly and unambiguously state the right to peace sends the message to all of us that our diplomatic representatives are not acting in our best interests. Either the diplomats needs to be changed or the government officials who appoint them»https://digitallibrary.un.org/record/845647,  A/HRC/RES/32/28 2⁶ In favour: Algeria, Bangladesh, Bolivia (Plurinational State of), Botswana, Burundi, China, Congo, Côte d’Ivoire, Cuba, Ecuador, El Salvador, Ethiopia, Ghana, India, Indonesia, Kenya, Kyrgyzstan, Maldives, Mexiko, Mongolia, Morocco, Namibia, Nigeria, Panama, Paraguay, Philippines, Qatar, Russian Federation, Saudi Arabia, South Africa, Togo, United Arab Emirates, Venezuela (Bolivarian Republic of), Viet Nam
Against: Belgium, France, Germany, Latvia, Netherlands, Republic of Korea, Slovenia, the former Yugoslav Republic of Macedonia, United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland
Abstaining: Albania, Georgia, Portugal, Switzerland
https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/declaration-right-peoples-peace⁸ In favour (17): Argentina, Czechia, Finland, France, Germany, Japan, Lithuania, Luxembourg, Marshall Islands, Montenegro, Netherlands, Paraguay, Poland, Republic of Korea, Ukraine, United Kingdom and United States.
Against (6): Bolivia, China, Cuba, Eritrea, Kasachstan and Venezuela.
Abstentions (24): Armenia, Benin, Brazil, Cameroon, Cote d’Ivoire, Gabon, Gambia, Honduras, India, Indonesia, Libya, Malawi, Malaysia, Mauritania, Mexiko, Namibia, Nepal, Pakistan, Qatar, Senegal, Somalia, Sudan, United Arab Emirates and Usbekistan.
9 https://www.fmreview.org/sogi/tuerk

https://newsrnd.com/news/2022-10-28-un-denounces-tougher-russian-law-on--lgbt-propaganda-.HygcSo4Y4o.html10 https://eclj.org/ ^



«Die Welt ist in einer enormen Umbruchsphase» Interview mit der freien Journalistin und Nahost-Expertin Karin Leukefeld Karin Leukefeld (Bild thk)Zeitgeschehen im Fokus Wir haben im Iran wieder einmal medial aufbereitete Unruhen, die im Westen vor allem als Kampf der «unterdrückten Frauen» gegen die Regierung analysiert werden, aber wohl einen anderen Hintergrund haben. Können Sie dazu etwas sagen?


Karin Leukefeld Wenn wir über diese Frage sprechen, dann möchte ich vorausschicken, dass wir sehr wenig über dieses Land wissen. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass der Iran seit der Islamischen Revolution vom Westen als Feindesland betrachtet wird. Vor dieser Zeit war der Iran unter der Regierung des Schahs ein Verbündeter der USA. Im «Westen» wissen die Menschen nicht sehr viel über dieses Land. Man bezeichnet die Regierung als «Extremisten» und seit dem Irakkrieg der USA 2003 als «Expansionisten». Dazu zählt man auch das Verhalten im Syrienkrieg an der Seite der syrischen Armee. Aber was gesellschaftlich innerhalb des Landes geschieht, darüber wissen wir sehr wenig. Was wir in den letzten Jahren sehen, ist die Folge von 9/11. Dazu muss man sich nochmals vor Augen halten, was der ehemalige US-General, Wesley Clark, berichtete, nämlich dass man nach den Anschlägen im Pentagon überlegt hatte, welche Länder man aus den Angeln heben soll: Der Iran gehörte auch dazu.


Das war doch die von Gorge W. Bush kreierte «Achse des Bösen».

Das waren die Länder Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Sudan, Libanon und der Iran. Und viele dieser Länder sind heute zerstört, wirtschaftlich und politisch. Libyen steht dafür als ein fürchterliches Beispiel. Der Iran hat es geschafft trotz dieser unsäglichen Liste von Sanktionen schon seit über 40 Jahren, und zwar nicht nur von Seiten der USA, sondern auch von der EU, sich auf den Beinen zu halten und konnte trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seine Souveränität behaupten. Unabhängig davon muss man im Land auch die gesellschaftliche Ebene betrachten. Wie leben die Menschen dort, was haben sie für Vorstellungen? Ich bin selbst im Iran gewesen, was aber schon eine Zeitlang her ist. 


Was haben Sie auf der gesellschaftlichen Ebene festgestellt?

Dass die Frauen, deren Rechte bei uns ständig thematisiert werden, sehr selbstbewusst, forsch und bildungshungrig auftreten. Bei uns wird das Kopftuch gerne als Ausdruck von Unterdrückung gedeutet, aber für die Frauen dort ist das gar nicht so ein Problem. Sie sagten mir damals, dass es nicht ihr Hauptanliegen sei, ob sie ein Kopftuch tragen müssten oder nicht, sondern dass sie lernen wollten. Die Studierenden an den Universitäten sind überwiegend Frauen. Sie sind z. B. stark vertreten in technischen Berufen, was in Europa gar keine Selbstverständlichkeit ist. Man muss schon konstatieren, dass die Situation anders ist, als wir sie von unseren Medien vermittelt bekommen.


Die Sanktionen machen das Leben im Iran wahrscheinlich auch nicht angenehmer?

In diesem Land gibt es garantiert grosse Probleme, nur schon aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation. Ich habe Menschen getroffen, die haben das Land verlassen, nicht weil sie sich eingeschränkt fühlten, sondern weil sie ihren beruflichen Traum nicht erfüllen können. Es ist wie in allen Ländern sehr vielschichtig, aber was wir im Moment sehen, das Verhalten der USA oder der EU, die Äusserungen, die sie machen, und die Massnahmen, die sie gegen das Land ergreifen, erinnern mich sehr an den Beginn des Syrienkrieges.


In welcher Beziehung?   

Die mediale Verurteilung, die Sanktionen und die politische Isolation. Da gibt es eine Absicht und ein Interesse dahinter.


Sie haben die Situation im Iran mit der Syriens vor einigen Jahren verglichen.

Hängt die Politik des Westens nicht auch damit zusammen, dass der Iran deutlich an der Seite Syriens steht und enger mit Russ­land zusammenarbeitet? Das spielt auf alle Fälle eine Rolle. Ich fand vor kurzem einen Artikel, der ganz interessant ist. Es hat nämlich an dem Tag, an dem er erschienen ist, ein Treffen mit dem Generalsekretär des russischen Sicherheitsrates, Nicolai Patruschew, und dem Chef des iranischen Sicherheitsrates, Ali Schamkhani, mit ihren jeweiligen Delegationen gegeben, und sie haben über die Ukraine und den Mittleren Osten gesprochen. Dazu hat gestern BBC einen Beitrag veröffentlicht, wonach Patruschew mit dem US-amerikanischen nationalen Sicherheitsberater Sullivan im Gespräch ist. Das heisst, es gibt intensive Debatten, und Jake Sullivan sagte, dass die iranisch-russische Kooperation eine profunde Bedrohung sei.


Wie muss man so eine Aussage deuten?

Die enge russisch-iranische Zusammenarbeit bei der Umgehung der Sanktionen – der Iran hat 40 Jahre Erfahrung mit der Umgehung von Sanktionen – und die militärische Kooperation zwischen Russland und Iran passen den USA überhaupt nicht. Dazu kommt, dass der Iran auch mit China zusammenarbeitet, militärisch sowie wirtschaftlich. Beide Staaten haben ein Wirtschaftsabkommen für 30 Jahre geschlossen. China investiert in den Iran, insbesondere in die Infrastruktur wie in die Stromversorgung oder das Strassen- und Schienennetz. Von diesem Abkommen profitieren auch der Irak, Syrien und der Libanon.


Entsteht hier in der Zusammenarbeit mit China auch ein engeres Verhältnis unter den von Ihnen anfänglich genannten Staaten?

Diese Entwicklung zeigt sich in den letzten zwei Jahren immer deutlicher. China hat im Rahmen seines Seidenstrassenprojekts mit den Golfstaaten schon länger Kontakt aufgenommen und ist in deren Häfen bis ins Mittelmeer präsent. Wir wissen das z. B. von Griechenland. Die von China erschlossene Landverbindung geht über Russland bis nach Rotterdam. Eine weitere Transversale führt durch die zentralasiatischen Staaten, über den Iran, die Türkei bis hin zum Mittelmeer. Dieses Wirtschaftsprojekt ist für die Länder im Nahen Osten von grosser Bedeutung, aber ganz besonders für den Iran. Der Iran verkauft auch sein Öl an China. So gibt es für die USA und für Europa viele Ansatzpunkte, unzufrieden zu sein. 


Auf dem Hintergrund Ihrer Ausführungen kann man sich vorstellen, dass andere die Unzufriedenheit einiger Iraner ausnützen wollen, um das Land zu destabilisieren. 

Die Situation im Iran ist ein Merkmal US-amerikanischer Interventionspolitik nach dem Ende der UdSSR, aber auch schon vorher. Brzezinski beschreibt das auch in seinem Buch «The Grand Chessboard», wie man mit zivilgesellschaftlichen Organisationen religiöse und ethnische Gruppierungen in anderen Ländern infiltrieren kann, da es in den Ländern immer Reibungspunkte oder Ungerechtigkeiten gibt. Besonders deutlich wurde das durch die Veröffentlichung der Korrespondenzen der US-amerikanischen Botschaft in Damaskus durch Wikileaks. Das war noch vor dem Krieg, der in Syrien 2011 begann, als der damalige Botschafter in Damaskus eine Liste aufgestellt hatte, wo Syrien angreifbar sei und wo man ansetzen könnte, z. B. bei den Kurden, bei den Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten, bei der Bevorzugung der Alawiten, bei Unzufriedenheit der Drusen etc. An diesen gesellschaftlichen «Bruchstellen» könnte man Konflikte schüren. Wenn man das tut, kann man zivilgesellschaftliche Gruppen oder humanitäre Organisationen unter das Diktat einer Besatzungsmacht stellen, wie das in Afghanistan oder im Irak der Fall war. So kann man auf die Gesellschaften Einfluss nehmen.


Sie haben den Irak erwähnt, der lange unter der Knute der USA gestanden ist. Hier hat man den Eindruck, dass er sich davon etwas wegbewegt. 

Ich glaube, der Irak möchte das gerne, aber hängt mit einem Fuss immer noch in der Schlinge. Die USA haben ihren Abzug beschlossen und verkündet, aber sie haben nur ihren Kampfeinsatz beendet, zugunsten einer Art Ausbildungs- und Beratungshilfe. Damit ­begründen sie ihre fortgesetzte Präsenz genauso wie die Nato-Staaten, die beschlossen haben, ihre Präsenz in Bagdad zu erhöhen. Mit einer «Ausbildungsmission» wird auch die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes im Irak begründet. Man bildet die irakische Armee aus und unterstützt sie technisch.


Von den politischen Entscheidungsträgern im Irak nimmt man doch eher eine Zurückhaltung gegenüber der westlichen Politik wahr. Ist das richtig?

Von aussen betrachtet, ist es ein Ringen zwischen den USA und dem Iran. Saudi-Arabien spielt hier auch eine Rolle. Saudi-Arabien hat eine lange Grenze mit dem Irak. Die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und den USA in der letzten Zeit gelitten hat, drängt den Einfluss der USA in der Region insgesamt zurück. Auch die USA und der Westen haben an Ansehen verloren. Der westliche Einfluss ist also insgesamt zurückgegangen. Der Auslöser für den grossen Imageverlust war u. a. der plötzliche Rückzug der USA aus Afghanistan, denn das machte klar, so kann es einem ergehen, wenn man sich mit den USA einlässt.


Hat sich dadurch das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und dem Iran etwas geändert?

Ja und nein. Es gibt eine Initiative, die ursprünglich angestossen wurde von Intellektuellen aus den jeweiligen Ländern, die die Länder zum Dialog auffordert. Das geschah in Form eines Briefes. Darin stand sinngemäss, man sei seit Jahrzehnten im Krieg und so könne es nicht weitergehen, die Menschen litten, die Wirtschaft gehe zugrunde und ganze Staaten würden zerstört, man müsse wieder zurückfinden zum Dialog. Das war das Offizielle. Inoffiziell war es das russische Aussenministerium, das sich seit dem Eingreifen in Syrien für einen Dialog über die Sicherheit der Golf-Region einsetzt. Sie gehen davon aus, dass das, was in Syrien passiert ist, damit zu tun hat, was zwischen Saudi-Arabien und dem Iran abläuft. Alle müssen an einen Tisch und darüber debattieren, wie man sich gegenseitig Sicherheitsgarantien geben kann. Russland hat auch einen konkreten Plan vorgelegt, der sich an der OSZE orientiert. Diesen hat Russ­land auch dem Uno-Sicherheitsrat vorgelegt, doch der Westen hat ihn nicht aufgegriffen, während die betroffenen Länder dem sehr wohl Beachtung schenkten. Dann kam die Pandemie, und alle waren nur noch damit beschäftigt. 


Hat die Auseinandersetzung in der Ukraine auf die Positionen im Nahen Osten einen Einfluss?

Es gibt inzwischen die offene Konfrontation zwischen der US-geführten Nato und Russland, es gibt international neue politische Allianzen jenseits des US-geführten westlichen Blocks. Saudi-Arabien hat gegenüber Iran erneut eine konfrontative Position eingenommen. Bei den aktuellen Protesten im Iran nutzt Saudi-Arabien seinen Einfluss innerhalb Irans, um das Land zu destabilisieren. Das kommt den US-Interessen entgegen.


Es ist schon auffallend, auch wenn alle Zeitungen etwas anderes berichten, die USA betreiben eine viel aggressivere Politik als die Russen. Während die USA immer versuchen, einzelne Länder oder Volksgruppen zu spalten, um ihren Führungsanspruch durchzusetzen, kann man das bei Russland so nicht beobachten. Auch Putin hat sich lange um eine Kooperation in Eu­ropa bemüht und ist doch immer wieder abgeblitzt. Seine öffentlichen Reden legen ein Zeugnis davon ab.

Wenn man sich die Geschichte des aktuellen Konflikts in der Ukraine anschaut, – und die Ukraine ist nur der Austragungsort, was schlimm genug ist, – dann sieht man auch, dass es vor allem von russischer Seite immer sehr viele Vorschläge gegeben hat. Initiator war besonders Präsident Putin, der Europa gut kennt, vor allem Deutschland. Er war lange Zeit in Deutschland, spricht Deutsch und kennt das Land. Aber das Problem ist, die Nato als Institution der USA hier in Europa ging immer dagegen vor und zeigte kein Interesse daran. Es gibt sowohl kluge Köpfe in den USA als auch in Europa, insbesondere Militärs, die diese Problematik sehr gut herausgearbeitet haben und diese Vorgänge gut beleuchten. Aber sie finden in den Medien zumindest in Deutschland keinen Niederschlag. Die meisten deutschen Medien vermeiden es, auf diese Vorgeschichte im Ukraine-Konflikt einzugehen. 


Gibt es denn Länder oder Regionen, die in letzter Zeit vermehrt mit Russland zusammenarbeiten?

Man sieht dies in Syrien, im Iran, im Mittleren Osten und Asien allgemein oder auch in Afrika. Natürlich will Russland als Grossmacht dort Einfluss nehmen, aber man sieht auch, dass hier positive Beziehungen und eine Zusammenarbeit entstehen. Vieles deutet darauf hin, dass der Ausbruch des aktuellen Konflikts in der Ukraine damit zu tun hat, dass Russland 2015 – auf Bitten Syriens – im Syrienkrieg intervenierte. Die USA und einige der europäischen Staaten waren und sind der Meinung, die arabische Welt sei ihre Interessens- und Einflusssphäre. Nun beansprucht Russland dort seine Interessen – u. a. den Zugang zum Mittelmeer – zu behaupten.


Was sich im Nahen und Mittleren Osten im Moment vollzieht, ist geschichtlich nicht neu. Russland und England hatten im 18. bzw. 19. Jahrhundert bereits Auseinandersetzungen um den Einfluss in Indien oder Afghanistan. Das sind gewisse Konfliktlinien, an denen sich bis heute wenig geändert hat. Vielleicht haben sich die Akteure verändert, aber noch immer geht es um den Anspruch des Westens – heute USA und EU – in Regionen von Ost- und Westasien, im Nahen und Mittleren Osten seinen Einfluss zu behaupten. Russland und China haben durch eine kluge Politik das Vertrauen der Staaten in der Region gewonnen. Das wirkt sich auf das ganze Gefüge aus. Die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens haben natürlich auch ihre eigenen Interessen. Noch vor kurzem waren beispielsweise Teheran und Riad im Dialog, heute unterstützt Riad Proteste in Teilen des Irans.


Wenn man die von Ihnen skizzierte Entwicklung im Nahen Osten, der seit dem Sykes-Picot-Abkommen westliche, damals britische und französische, Einflusssphäre war, dann wird man in Zukunft wohl mit weiteren Störmanövern in der Region rechnen müssen.

Ja, wie vor nicht allzu langer Zeit. Als der Dialog zwischen Saudi-Arabien und dem Iran spruchreif wurde, fiel der iranische General Kassem Soleimani einem Attentat zum Opfer. Er sollte in Bagdad eine diplomatische Note für Saudi-Arabien übergeben. Mit diesem Anliegen war er nach Bagdad gereist, als er einem Attentat, das Donald Trump in Auftrag gegeben hatte, zum Opfer fiel. Damit wurde die Dialoginitiative erst einmal unterbrochen. Trump hat dann mit seinem Aussenminister Mike Pompeo, dem ehemaligen CIA-Direktor, und mit seinem Schwiegersohn die «Abraham Initiative» gestartet und die verbündeten arabischen Staaten nahezu gedrängt, eine Vereinbarung mit Israel einzugehen, die darin gipfeln sollte, mit Israel gemeinsam ein Militärbündnis gegen den Iran zu schmieden. Das ging auch weiter ohne Trump. Es ist die US-Linie in der Region, aber es ist nicht ausgemacht, ob sich das entwickeln wird. Sehr wenige Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Bahrain haben ein Abkommen mit Israel unterschrieben, aber die Staaten versuchen, vor allem auch wirtschaftlich voneinander zu profitieren. 


Wie hat sich das auf die anderen arabischen Staaten ausgewirkt?

Es brachte eine Spaltung in die Arabische Liga, die ohnehin sehr schwach ist. Es wird noch schwieriger sein, einen gemeinsamen Weg zu finden, und das stört natürlich die Zusammenarbeit in einer ohnehin schon fragilen Region. 


Die Briten waren historisch gesehen immer sehr aktiv im Nahen Osten. Wie sehen Sie denn die Rolle der Briten heute?

Es gibt eine Kooperation zwischen den USA und Grossbritannien: Die Briten haben das Know-how und die USA das Geld. Die Briten bieten ihr Know-how an, was die Geheimdienstarbeit betrifft. Das hat man in Syrien ganz deutlich gesehen. In der Ukraine ist das auch der Fall. Man sieht das zum Beispiel an dem täglich-morgendlichen Communiqué, das vom «Institute for the Study of War» veröffentlicht wird. Das ist der britische Militärgeheimdienst und hiesige Journalisten bekommen ihre Informationen fast nur von dort. 


Während des Kriegs in Syrien meldete sich doch immer die «Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte» aus London, die über das Kriegsgeschehen Auskunft gab.

Das machen sie bis heute. Diese Stelle wurde vom britischen Aussenministerium finanziert. Das britische Aussenministerium hat eine spezielle Stelle für «besondere Auslandsdienste». Über diese Abteilung werden Offiziere der britischen Armee, die Mitglied der Nato ist, für Sonderaufgaben ausgegliedert. In Syrien gründete James Le Mesurier, ein ehemaliger Offizier der britischen Armee, die «White Helmets». Er war unter anderem ein Spezialoffizier im Jugos­lawienkrieg. Aus Grossbritannien kamen übrigens auch die ersten, die als Freiwillige in den Ukrainekrieg gegangen sind. Es gibt auch ehemalige britische Soldaten, die berichtet haben, dass sie in Syrien für die Kurden gekämpft haben und dann in die Ukraine weitergezogen sind. Es sind Söldner, private Sicherheitskräfte, die für ihren Einsatz bezahlt werden.


Ein Staat, der im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Nahen Osten auch eine Rolle spielt, ist die Türkei. Auf der einen Seite ist sie Nato-Land auf der anderen Seite unterstützt sie Russland beim Verkauf des Öls oder bietet sich als Vermittler an. Hier besteht eine Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Im Syrienkrieg waren sie in gewissem Sinne Gegner. Die Türkei hat 2015 einen russischen Kampfj?

Die Türkei hat in erster Linie ihre eigenen Interessen. Erdoğan befindet sich im Moment in einer schwierigen Situation. Im nächsten Jahr sind Präsidentschaftswahlen und Erdoğan möchte weiter regieren. Im nächsten Jahr hat die türkische Republik ihren 100. Geburtstag. Dafür hatte er einen gigantischen wirtschaftlichen Plan entwickelt, der natürlich überhaupt nicht umgesetzt werden konnte. Das Land hat riesige wirtschaftliche Probleme, eine Inflation von 83 Prozent, es gibt grosse innenpolitische Schwierigkeiten, deshalb versucht Erdoğan, in jeder Situation zu manövrieren. Er provoziert die Nato mit Schweden und Finnland wegen ihrer Kurdenpolitik. Die Türkei war sehr aufgebracht über das Verhalten der USA, weil sie mit den Kurden in Syrien ein Bündnis eingegangen sind, um den IS zu bekämpfen, der wiederum die Unterstützung der Türkei hatte. In diesen Auseinandersetzungen sind viele Selbstverständlichkeiten, die eigentlich die Bündnispartner verbinden sollten, ausser Kraft gesetzt worden.


Was sind die Folgen?

Durch die Provokationen ist natürlich auch innerhalb der Nato-Partner ein Chaos entstanden. Auch wenn die Türkei immer als wichtiger Bündnispartner an der Südostflanke der Nato betrachtet wurde, lassen sich diese Unstimmigkeiten nicht so einfach beheben. Die Türkei hat sich erheblich von der Nato entfernt, und die Politik Russlands in dieser Beziehung war klug. Man darf nicht ausser Acht lassen, dass die Befreiung Aleppos nur gelungen ist, weil es Russland gelang, mit der Türkei und dem Iran eine Lösung zu finden. Es entstand das Astana-Format, in dem diese drei Staaten mit der Regierung und der Opposition Syriens sprechen. An den Gesprächen sind inzwischen auch die Uno, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und als Beobachter auch Jordanien, Libanon und Irak beteiligt. Aber die Türkei ist kein zuverlässiger Partner. Dass Ankara sich wieder Assad annähert, hängt sicher damit zusammen, dass die Türkei aktuell von Russland mehr bekommt als vom Westen. Zusätzlich hat die Türkei ihre Position im Hinblick auf die arabischen Staaten verändert. Dazu hegt sie recht gute Beziehungen zum Iran. Es ist eine sehr komplexe Lage, die keine Eindeutigkeiten zeigt.


Inwiefern haben sich die türkischen Beziehungen zu den arabischen Staaten geändert?

Die Türkei hat praktisch die letzten 10 Jahre während des Syrienkrieges das Projekt der Muslimbruderschaft gefördert. Die AKP ist eine Schwesterpartei davon und in Koordination mit Katar. Die Regierung steht auch der Muslimbruderschaft nahe, das hat zu viel Ärger mit anderen Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und auch mit den Emiraten geführt. Diese Länder braucht die Türkei aber als Partner, wenn sie tatsächlich im östlichen Mittelmeerraum eine Position als Öl-Hub einnehmen will. Die Türkei selbst hat kein Öl, aber sie will eine Drehscheibe für den Ölhandel sein. Erdoğan sieht einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere, indem er sich den arabischen Staaten neu zu nähern versucht. Dabei wird die Türkei von Russland unterstützt.


Wenn man die Macht- und Einfluss­verschiebung im Nahen Osten, die Sie jetzt aufgezeigt haben, richtig einschätzt, dann muss man doch auch die Ereignisse um die Ukraine unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Die USA verliert doch zunehmend an Einfluss im Nahen Osten und das wird sich doch nicht völlig geräuschlos vollziehen?

Was die USA und der Westen völlig unterschätzt haben, ist die starke Ablehnung bei Staaten, von denen sie immer dachten, sie hätten sie auf sicher wie z. B. Saudi-Arabien. 


Lassen Sie uns noch kurz auf Deutschland zu sprechen kommen. Gibt es hier auch eine Änderung in der Politik?

Unter der letzten Regierung Merkel war Deutschland immer bemüht, mit Russland im Dialog zu bleiben. Das war nicht im Interesse Washingtons. Man darf nicht vergessen, unter Obama wurde das Handy von Frau Merkel abgehört. Das ist keine Kleinigkeit und war ein Ausdruck tiefsten Misstrauens. Sie wird gewusst haben, warum das gemacht wurde. Wenn ich mir die heutige Regierung anschaue, hatte Merkel doch letztlich mehr politische Erfahrung. Deutschland wird im Moment geradezu von den USA verschluckt. Der wirtschaftliche Einfluss nimmt zu. Hier wird darüber diskutiert, dass man keine chinesischen Investoren in Deutschland zulassen soll, wie viele US-amerikanischen Investoren sind aber in deutschen Firmen engagiert? Darüber wird gar nicht gesprochen, denn es ist ein Vielfaches davon. Die Politik in Deutschland wird immer mehr von den USA bestimmt.


Ja, diesen Eindruck bekommt man. Vor allem die Politik der Grünen mit Annalena Baerbock als Aussenministerin sind doch der verlängerte Arm der US-Aussenpolitik. Ist Deutschland überhaupt ein souveräner Staat?

Diese Frage stellt sich. Wir haben mit Ramstein eine der grössten US-Militärbasen, die es ausserhalb der USA gibt, die nahezu ein ganzes Bundesland umfasst und immer grösser wird. Man kann schon fast von einem besetzten Land sprechen. Aber es ist nichts in Stein gemeisselt. Die Medien haben wahrscheinlich deshalb so eine starke Rolle, damit man nicht auf die Idee kommt, darüber nachzudenken und in eine andere Richtung zu überlegen. Die Welt ist in einer enormen Umbruchsphase, nicht nur im Nahen Osten. 


Frau Leukefeld, ich danke Ihnen für das Interview.

Interview Thomas Kaiser



Ein neues Zeitalter der Zensur bricht an: Wehret den Anfängen!


Freie Rede ist das Fundament der Res publica, doch selbst demokratische Regierungen sind dabei, dieses Prinzip zu entsorgen

von Dr. phil. Helmut Scheben


Wer etwas auf Google sucht, schaut meist nur die obersten Treffer an. Niemand kennt die genauen Algorithmen, nach denen Google die Reihenfolge seiner Suchergebnisse priorisiert. In den USA fand der Psychologe Robert Epstein mit seinem Team heraus, dass die Suchmaschine auf diese Weise «die Gedanken und das Verhalten ihrer Nutzer weltweit manipulieren kann.» Indem bestimmte Inhalte in der Pole Position platziert und andere unterdrückt werden, könne zum Beispiel das Wählerverhalten von Milliarden Google-Nutzern beeinflusst werden.Google oder Twitter sind längst nicht mehr einfach private Unternehmen, die im gesetzlichen Rahmen tun und lassen können, was sie wollen. Vielmehr verfügen diese Konzerne über eine internationale Marktmacht im politisch und demokratisch sensiblen Informationsangebot.


Früher hatten Staat und Kirche das Monopol auf die orthodoxe Meinung

Zensur von geschriebenen Texten gab es, seit die Schrift erfunden wurde. Umberto Ecco hat in seinem historischen Roman «Der Name der Rose» geschildert, wie die katholische Kirche im Spätmittelalter versuchte, Handschriften verschwinden zu lassen, welche die philosophischen Erkenntnisse der vorchristlichen Antike vermittelten. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern war eine Medien-Revolution, welche die Gesellschaft so durchschlagend veränderte wie die heutige Internet-Revolution. Druckerzeugnisse konnten ab etwa 1450 schneller, billiger und in grossen Mengen hergestellt werden, eine Welle der Alphabetisierung setzte ein. Aber Staat und Kirche verloren damit das Monopol auf Verbreitung der orthodoxen Meinung, und die Santa Inquisición, die Behörde zur Unterdrückung der Ketzerei, bekam viel zu tun. 


Die Heilige Inquisition unserer Tage

Mit der digitalen Revolution hat sich die freie Produktion von Texten millionenfach gesteigert, und der Zugang zu Informationen ist grenzenlos geworden. Die politische Sprengkraft dieser Entwicklung bewirkte, dass der Backlash nicht auf sich warten liess. Die Heilige Inquisition unserer Tage heisst zum Beispiel Digital Services Act, ein «digitales Grundgesetz», welches die EU soeben einführt. Es soll in Deutschland das seit 2017 geltende «Netzwerkdurchsetzungsgesetz» ablösen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach, das neue Gesetz werde unter anderem «die freie Meinungsäusserung gewährleisten».Wenn das so ist, muss man sich fragen, warum die Kontrolle der Social Media flächendeckend forciert und die Internet-Überwachung mit künstlicher Intelligenz in einem Ausmass perfektioniert wird, welches man noch vor wenigen Jahren für unvorstellbar hielt. 


YouTube löscht 40 bis 50 Millionen Einträge pro Jahr

Niemand widersetzt sich der Idee von Zensur, wo sie strafrechtlich begründbar ist. Wir sind aber in eine Situation geraten, wo einzelne Netzwerk-Giganten in Kalifornien in völliger Intransparenz entscheiden, was die Zivilgesellschaft sehen, hören und lesen darf. Grosse Online-Plattformen wie die Google-Tochter YouTube löschen 40 bis 50 Millionen Einträge pro Jahr. Sie haben Zehntausende von Moderatorinnen und Moderatoren für die Zensur ausgebildet. Ziel sei unter anderem die Abwehr von Hassrede und Lüge, so wird argumentiert. Das Problem bei dieser «algorithmischen Überwachung» lässt sich mit einer einzigen Frage auf den Begriff bringen: Wer bestimmt, was Wahrheit und Lüge ist, wer legt fest, was Desinformation und was Information ist? Was heute falsch ist, kann sich morgen als richtig erweisen. Das sagen nicht nur Historikerinnen und Historiker, das weiss jeder von uns aus eigener Lebenserfahrung.Vor dem Siegeszug der Social Media hatte die Zensur noch beinah verträgliche, fast könnte man sagen folkloristische Züge. Es gab Bücher, in denen ganze Seiten geschwärzt waren. Diese Art von Zensur war man zwar gewöhnt von Dokumenten, bei Büchern ergibt sich von der rein ästhetischen Wahrnehmung her ein ungewohntes Bild. Dass da ein Buch gedruckt wird, in welchem an schwarzen Balken sichtbar wird, was laut Verfügung der Obrigkeit nicht gelesen werden darf, erinnert ein wenig an die Zeiten von Wilhelm Busch und die Pädagogik des Schulmeisters Lämpel. Oder an den vatikanischen «Index» der sündhaften Bücher, der in meiner Jugendzeit noch galt.


«Ein Prozess völliger Intransparenz»

John Nixon, ein Nahost-Experte der Central Intelligence Agency (CIA), war der erste, der Saddam Hussein nach seiner Gefangennahme im Dezember 2003 ein paar Wochen lang befragte. 2011 schied Nixon aus dem Dienst aus und schickte der CIA das Manus­kript für ein Buchprojekt mit dem Titel «Debriefing the President: The Interrogation of Saddam Hussein». Das Buch erschien 2017 mit zahlreichen schwarzen Abdeckungen. Sechs Jahre lang hatte das Gerangel zwischen dem Autor und seinen ehemaligen Arbeitgebern gedauert, bis endlich klar war, was geschrieben werden durfte und was nicht. Nixon sagte über seine Probleme mit dieser Zensur, es sei ein Prozess von völliger Intransparenz gewesen: «Ich denke, die CIA ist nie auf die Idee gekommen, dass Leute, die einmal dort gearbeitet haben, Bücher schreiben. Es wird immer als eine Art Verrat angesehen.» Wo das politische Problem liegt, wird klar, wenn man liest, was von Nixons Buch noch zu lesen erlaubt ist. Er hält Saddam Hussein zwar für den Kopf eines brutalen, autoritären Regimes, nimmt bei dem Mann aber auch eine gewisse Glaubwürdigkeit und charismatische Züge wahr. Saddam sei 2003 nicht mehr der mächtige politische Player gewesen, den der Westen kolportierte, sondern habe sich vor allem um die Publikation seiner Romane gesorgt. Saddam bestritt gegenüber Nixon, für den fatalen Giftgaseinsatz in der kurdischen Stadt Halabdscha im März 1988 den Befehl gegeben zu haben. Nixon demontiert in seinem Buch somit ein klein wenig das Bild vom grossen Teufel, das im Westen vom irakischen Präsidenten gezeichnet wurde und nützlich war, um den Angriffskrieg zu rechtfertigen. Würde man aber bei den US-Behörden anfragen, so bekäme man ohne Zweifel eine völlig andere Begründung für die Zensur, nämlich den Standard-Text, sie sei unvermeidlich, wo die Sicherheit der USA und ihrer Leute gefährdet sei. Dieselbe Begründung, die mit der Zuverlässigkeit eines Telefonbeantworters ertönt, wenn in den USA mit geschwärzten Texten der Freedom of Information Act (Öffentlichkeitsgesetz) ausgehebelt wird.


Auch in der Schweiz wird munter geschwärzt

Die Methoden der US-Geheimdienste machen seit langem Schule. Der Schweizer Bundesrat wollte seine Impfstoff-Verträge mit der pharmazeutischen Industrie unter Verschluss halten. Als er sich gezwungen sah, diese öffentlich zu machen, liess er weite Teile schwarz machen. Das hört sich in der kleinen Schweiz an wie eine Geschichte aus Seldwyla, aber kaum jemand findet sie lustig.Öffentlichkeitsprinzip und Garantie der Meinungsvielfalt werden bei jeder Festrede als politische Goldwährung der westlichen Demokratien gepriesen. Politische Zensur oder Täuschung der Öffentlichkeit? Um Gottes willen! Das gibt es nur in Russland. Oder in China. Oder in anderen autoritären Systemen. Es sei denn, unsere sogenannte «nationale Sicherheit» wäre in Gefahr. Oder die Interessen mächtiger Konzerne. Oder die Interessen der USA. Dann wird angeführt, die Regierung sei nicht mehr verpflichtet, Auskunft zu geben über ihr Tun. Da kommt es dann vor, dass der Bundesrat knapp zwei Tonnen Dokumente über Atomwaffen-Deals verschwinden lässt, wie bei der Tinner-Affäre. Äusserst praktisch ist immer wieder das rhetorische Juwel, das Handeln der Regierung sei leider «alternativlos». Das Recht der freien Rede und der Meinungsfreiheit ist eine Errungenschaft, die über Jahrhunderte in leidvollen Erfahrungen erkämpft werden musste. Mächtige Konzerne der Internet-Kommunikation sind dabei, dieses Grundrecht demokratischer Politik zu beseitigen. Die politische Zensur ist zum Normalbetrieb geworden. Mit durchschlagendem Erfolg. Dieser ist abzulesen an der Tatsache, dass die erschreckende neue Normalität von der breiten Öffentlichkeit als «ganz normal» betrachtet wird. 


Beispiel Syrienkrieg: Nur die eine Kriegspartei zensuriert

Im Syrienkrieg versuchten die Kriegsparteien mit zahlreichen News-Plattformen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Sicht der Aufständischen, die mit finanzieller und politischer Hilfe des Westens und der Golfemirate die Regierung Assad stürzen wollten, wurde unter anderem verbreitet von einem Medienportal namens Syrian Free Press, das nach bisherigen Erkenntnissen bis heute keiner Zensur unterlag. Anders die Internetseite Syrianfreepress.Wordpress, welche die Position der syrischen Regierung verbreitete. Als ich in meinem Syrien-Archiv die Seite öffnete, um ein Video von 2015 anzuschauen, erhielt ich die Auskunft: «This video is no longer available.» Tausende YouTube-Clips des genannten Portals wurden gelöscht. Wer bei Google nachforscht, der wird belehrt, welches die Gründe für die Sperrung eines Kontos oder Kanals sein können:«Die Community-Richtlinien geben vor, welche Inhalte auf YouTube nicht zulässig sind. Zum Beispiel erlauben wir keine Pornografie, Anstiftung zu Gewalt, Belästigung oder Hassrede.»In dem gelöschten YouTube-Link gab es keine Verstösse gegen diese Richtlinien, sondern politische Argumente zur Beendigung des Krieges in Syrien. Die Entscheidung, die meisten Videos dieser Netzseite zu löschen, war eine politische Zensur. «Hate speech» ist offensichtlich auch ein anderes Wort für «Meinung, die wir nicht ertragen». Und «Falschinformation» ist offensichtlich auch ein anderes Wort für «Meinung, die wir nicht teilen».Die Vorstellung, dass ein Filz von politischen Machtgruppen und Internet-Konzernen systematisch ausschaltet, was politisch unerwünscht ist, ist ein Albtraum. Und dieser Albtraum ist längst Wirklichkeit geworden. Zu offensichtlich sind beispielsweise die derzeitigen Verflechtungen der mächtigen IT-Unternehmen im Silicon Valley mit der Demokratischen Partei und ihren Seilschaften in der Verwaltung und im Sicherheitsapparat. Mark Zuckerberg räumte kürzlich ein, das FBI habe bei Facebook diskret interveniert, um zu verhindern, dass bei der Präsidentenwahl 2020 üble Dinge über die Geschäfte der Biden-Familie in der Ukraine, in China und zahlreichen anderen Ländern publik würden. Die FBI-Leute argumentierten – wie kurz darauf auch US-Geheimdienstler – es handle sich nicht um Fakten, sondern um «russische Desinformation». Nachdem Biden die Wahlen gewonnen hatte, stellte sich heraus, dass die Fakten über die Biden-Deals kein russisches Fake, sondern Fakten waren. Die grossen US-Medien von New York Times bis CNN hatten mit dieser Erkenntnis zugewartet bis nach den Wahlen. Lektion: Mit Warnungen vor feindlichen Angriffen auf die nationale «Cybersicherheit» kann man grosse Medien zum Schweigen bringen. Und eine weitere Lektion: Nichts ist so effizient in der Politik wie diszipliniertes Schweigen im taktisch rechten Moment. Biden hätte möglicherweise die Wahlen verloren.


Info:https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-21-vom-30-november-2022.html#article_1439

02.12.2022

Zeitgeschehen im Fokus
Forschen - Nachdenken - Schlüsse ziehen    (III von III)


Whistleblower: Google interveniert mit politischen Zielen

2019 schickte der Software-Ingenieur Zachary Vorhiess, der acht Jahre bei Google gearbeitet hatte, 950 Seiten interner Google-Dokumente an das US-Justizministerium. Vorhiess sagte, die Dokumente würden beweisen, dass Google keine unabhängige, objektive Plattform mehr sei, sondern eine politische Agenda verfolge: Google sei «eine höchst parteiische politische Maschine», welche zum Beispiel seit 2016 beschlossen habe, nicht zuzulassen, dass jemand wie Trump noch einmal an die Macht käme. Der Whistleblower: «Sie versuchen, die Informations-Landschaft so zu beschneiden, dass sie ihre eigene Version von objektiver Wahrheit verbreiten können.»

Verfechter der Meinungsfreiheit wehren sich allzu häufig nicht gegen Zensur von privaten IT-Giganten oder auch von Regierungen, wenn die Zensur ungeliebte oder feindliche Quellen betrifft wie Donald Tump, Baschar al-Assad oder russische und chinesische Staatsmedien. Man findet es plötzlich verständlich, dass man Bürgerinnen und Bürgern nicht zutraut, selber zwischen Propaganda und Tatsachen zu unterscheiden.


Auch als Twitter die Accounts von Trump und einigen seiner Freunde aus dem Verkehr zog und Amazon und Google die konservative Plattform Parler aus ihrem Web-Angebot nahmen, zeigten sich viele – auch liberale Kreise – äusserst befriedigt. Sie gleichen Lemmingen, die den Abgrund nicht sehen können, auf den sie zulaufen. Denn wenn eine politische Elite es schafft, mit den Internet-Konzernen zu vereinbaren, was wir erfahren und wissen dürfen und was nicht, dann wird aus Demokratie eine Simulation von Demokratie.


Am Ende dieser Entwicklung verwandeln wir uns in eine ideologisch homogene Gesellschaft, grob gesagt: in eine Herde von ferngesteuerten Zombies, die ihre Freiheit und Selbstverantwortung an ein «Wahrheitsministerium» abgegeben haben, wie es George Orwell schildert. Da nützt es wenig zu argumentieren, anderswo sei alles noch schlimmer, in Russland sässe Nawalny hinter Gittern, wer Putins Krieg kritisiere, werde eingelocht, und in China würden die Uiguren verfolgt. Das trifft sicher zu, nur hilft es uns nicht über die Schizophrenie hinweg, dass unsere westlichen Medien täglich emsig über Zensur in Russland, China oder Iran berichten, aber nichts Besonderes dabei finden, dass im Westen tagtäglich Millionen Interneteinträge gelöscht werden, weil verhindert werden soll, dass unsere eigene Sicht der Weltpolitik in Frage gestellt und diskutiert wird.


Weitere Beispiele

Im August 2019 gab Twitter bekannt, man habe mal eben 200 000 Konten gelöscht, die mit den Demonstrationen in Hongkong zu tun hatten. Als Grund wurde Verdacht auf chinesische Desinformation angegeben. Prominente Beispiele der zensurierten Einträge waren unter anderem Video-Szenen, in denen vermummte gewalttätige Demonstranten erschienen. Nun war aber in TV-Kanälen rund um die Welt damals zu sehen, dass es unter den studentischen Demonstranten in Hongkong nicht nur friedliche, sondern auch gewaltbereite gab. Da fühlte sich Twitter offensichtlich veranlasst zu löschen, was nicht ins holzschnittartige Framing von der chinesischen Diktatur passte.


US-Aussenministerin Hillary Clinton löschte kurzerhand dreissigtausend E-Mails auf dem Server, den sie im Keller ihrer Privatwohnung betrieb. Das US-Justizministerium befand, dies sei rechtens. Regierungsmitglieder dürften selber entscheiden, was in Regierungsdokumenten von öffentlichem Belang sei und was nicht.


Wenn das so ist, könnte auch ein Donald Trump dieses Recht in Anspruch nehmen. Er hatte Unterlagen auf sein Anwesen in Florida mitgenommen. Das FBI liess daraufhin den Wohnsitz des ehemaligen Präsidenten durchsuchen. Als das FBI von einem Richter gezwungen wurde, die Begründung für den Durchsuchungsbeschluss zu veröffentlichen, bekam die Öffentlichkeit 38 Seiten präsentiert, die weitgehend schwarz waren. Das macht den Eindruck: Quod licet Jovi Hillary non licet bovi Donald.


Wir sind die Guten und kennen die Wahrheit

Zensur und Geheimniskrämerei werden mit einer Selbstverständlichkeit und Routine betrieben, die schockieren müsste. Tut es aber nicht. Russische TV-Sender werden von der Europäischen Union und auch vom Schweizer Bundesrat verboten. Twitter und YouTube haben die russischen Staatsmedien gesperrt. Auch chinesische TV-Nachrichten sind über Satellit nicht mehr zu empfangen. Als Begründung heisst es, dass sie vom Kreml oder von der chinesischen KP abhängig seien und Propaganda verbreiteten.


Der Bevölkerung wird zugetraut, dass sie Lügen und Irreführungen der Werbung für Produkte und Dienstleistungen durchschaut und einordnen kann. Der Bevölkerung wird ebenfalls zugetraut, dass sie bei Volksabstimmungen mit Unwahrheiten und Irreführungen beider Seiten umgehen kann. Doch wenn es um ausländische Fernsehstationen geht, muss man die Menschen vor allfälligen Lügen und Irreführungen angeblich schützen.


Auch in unseren Redaktionsstuben sitzen journalistische Alphatiere, von denen viele Mitglieder transatlantischer Stiftungen und Think Tanks sind (siehe «Immer einer Meinung» von Uwe Krüger¹ und diese Szene aus «Die Anstalt» , die nach Ausstrahlung zensiert wurde.²) oder an geheimen Regierungsprogrammen beteiligt sind, die «den Einfluss Russlands» bekämpfen. Mit einem Stefan Kornelius in der «Süddeutschen» und im Zürcher «Tagesanzeiger» beispielsweise sind Mediensprecher der Nato überflüssig.


Unsere westliche Medienwelt funktioniert nach dem Motto: Wir sind die Guten und kennen die Wahrheit. Alles andere sind Hybridwaffen des Feindes. Diese gilt es zu unterdrücken, zu löschen, auszuschalten.


Unterdessen breitet sich die Zensur-Mentalität aus. In den USA würden gemäss Umfragen vier von fünf Doktoranden konservative Akademiker von Beruf und Campus ausschliessen, wenn sie könnten («NZZ» vom 18. Nov. 2021).


Die Gründerin des Allensbach-Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, zeigte in den siebziger Jahren in ihrem Standardwerk «Die Schweigespirale», wie Menschen aus Angst vor sozialer Isolierung und Konflikten nicht mehr wagen, zu ihrer Meinung zu stehen. Laut einer neuen Umfrage des Instituts hat fast jede zweite Person in Deutschland das Gefühl, ihre politische Meinung nicht mehr frei äussern zu können.


Was wurde im Westen über die «Listen verbotener Wörter» gelacht, die in der untergegangenen DDR für die Staatsmedien galten! Damals konnte sich niemand vorstellen, dass drei Jahrzehnte später ein neues Zeitalter der Zensur anbrechen würde.


¹ www.blaetter.de/ausgabe/2016/august/immer-einer-meinung

² www.youtube.com/watch?v=p2UC3Eo4FSo

Zuerst erschienen bei:

www.infosperber.ch/politik/welt/__trashed-525/

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.

 



Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz

von Reinhard Koradi


Vor Kurzem haben zwei Mitglieder des Bundesrates ihren Rücktritt aus der Landesregierung erklärt. Kaum waren die Rücktritte veröffentlicht, drehte sich bereits das Kandidaten-Karussell. Bei der Ausmarchung möglicher Anwärter standen einmal mehr die Geschlechterfrage und die Kantonszugehörigkeit im Zentrum der Diskussionen. Kaum ein Wort über das Anforderungsprofil der Kandidaten für einen Sitz im Bundesrat. Weder Eignung, Persönlichkeit, Unbestechlichkeit, politische Positionen noch allfällige Netzwerke und Leistungsausweise wurden in der veröffentlichten Meinung ans Tageslicht gebracht. Geschlecht und etwas im Hintergrund die Kantonszugehörigkeit beherrschen die Schlagzeilen, die an die Öffentlichkeit gelangen. Eine etwas dürftige Diskussionsgrundlage, geht es doch um eine für die Zukunft der Schweiz richtungsweisende Frage, wer, wie und mit welcher politischen Agenda die Schweiz nach innen und aussen vertritt. 

Im Artikel 2 der Bundesverfassung wird unter «Zweck» festgehalten: «Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.»


Weiter unten wird im Artikel 185 festgehalten: «Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz.» Der Auftrag an den Bundesrat ist also klar vorgegeben. Die Rekrutierung möglicher Mitglieder des Bundesrates müsste sich grundsätzlich auf das Anforderungsprofil ausrichten, das durch den Zweckartikel zwingend vorgegeben wird.


Ein Assessment für amtierende und angehende Bundesräte

Es geht um Sicherheit, Freiheit, Unabhängigkeit, Neutralität und die Rechte des Volkes. Mit Blick auf die Vergangenheit wurde dieser Auftrag durch die aktuellen und auch früheren Bundesräte doch zu oft arg strapaziert. In den ver­gangenen Jahren hat sich ein erheblicher Graben zwischen der durch den Zweckartikel vorgegebenen ­Aufgabe und der innen- und aussenpolitischen Realität geöffnet. Verfassungstreue und Glaubwürdigkeit gehen immer mehr verloren. Eine Entwicklung, die unser Land und damit die Bevölkerung in unnötige Konflikte und Abhängigkeiten manövriert hat. Neben dem Verlust von Souveränität, Identität und Respekt vor unseren inneren Angelegenheiten durch ausländische Organisationen und Staaten beobachtet man einen schleichenden Abbau der direkten Demokratie und der Bürgerrechte. Jüngstes Beispiel sind die hoheitlich angeordneten Pandemie-Restriktionen. Der fahrlässige Umgang mit der Glaubwürdigkeit, die Vernebelung und Unterschlagung verschiedener Vorgänge in Bundesbern fügt in diesem Zusammenhang der Eidgenossenschaft insgesamt schweren Schaden zu. Mit Bezug auf die fatalen Folgen des Wirkens unserer Exekutive müssten diese und allfällige Amtsanwärter im Rahmen eines Assessments vor dem Volk geprüft, bewertet und wenn notwendig, ausgemustert werden. Inhalte des Assessments wären: Verfassungstreue, Ehrlichkeit, Standfestigkeit, Absage an das «global Gouvernement», Vaterlandsliebe, Respekt vor der Aufgabe, Korrektheit gegenüber dem Volk, Unabhängigkeit im Sinne freier Entscheidungsbildung und -findung. Und last but not least Verzicht auf den Anspruch, das Volk regieren zu wollen. Dagegen ein klares Verständnis, dass man als Mitglied der Exekutive nicht regiert, sondern den Volkswillen erfüllt.


Noch bestimmen die Parteien, wer im Bundesrat bleibt oder neu hinzukommt

Vermutlich wird es noch lange so sein, dass das Volk nimmt, was ihm geboten wird. Aber ist dies noch zeitgemäss? Müssten Bundesräte nicht längst durch die höchste Ebene in unserem Staat, das Volk, gewählt werden können?


Ich denke, dass es vorläufig primär um die Glaubwürdigkeit der Legislative, Exekutive und Judikative geht. Alle drei Ebenen haben immer wieder versagt, wenn es um die Interessen und Rechte des Volkes ging.


Die Herstellung des Vertrauens hat heute oberste Priorität. Dies wird nur möglich werden, wenn das Parlament die Verantwortung wahrnimmt, Persönlichkeiten in den Bundesrat zu wählen, die integer, verfassungstreu und wirklich vertrauenswürdig sind. Offenheit, transparente Vorgänge, keine Manipulationsversuche und Ehrlichkeit sind die Voraussetzungen für die Zurückgewinnung des Vertrauens. Daher die Aufforderung an die Parlamentarier: Wählen Sie nur Bundesräte, die das oben aufgeführte Assessment vor dem Volk bestehen können!

 

Info:https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-21-vom-30-november-2022.html#article_1439

02.12.2022

Jin Jiyan Azadi  Frau Leben Freiheit


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Weiteres:




Debatte

blog interdisziplinäre geschlechterforschung


Systematic use of shame to suppress women’s voice in Iran


gender-blog.de, vom 22. November 2022, Marziyeh Bakhshizadeh

In the history of the women’s movement in Iran, women’s struggle for human rights has always been suppressed in various ways. One of the methods of suppression has been the systematic use of shame. I begin my discussion with a definition of the concept of shame and explain how its use in the public sphere has limited women’s agency in society. I also touch on how the Islamic government has been using shame to exclude women from the public sphere.


Destructive impact of shame

“Shame is a distressing emotion, where we feel faulty and unworthy, defective, exposed, and vulnerable […]. The focus of shame is on our very being, on who we are” (Zahavi 2020: 351). This describes an awareness of the assumption that there is something defective, unqualified, or stupid in a person causing them to behave in a way that prevents them from achieving their goals or causes immoral behavior or antisocial attitudes toward others. This causes self-doubt and anger towards the self. Researchers have pointed to the positive role of shame in encouraging critical thinking toward oneself. This is debatable. In this article, I focus merely on the destructive impact of self-doubt and anger toward oneself caused by shame.


Systematic shaming of women’s bodies

Historically and culturally, there are strong connections between women’s bodies, sexuality and shame. These linkages are both personal and political. If we add religious prescriptions, this sense of shame intensifies along with feelings of guilt.

The Islamic government of Iran has systematically shamed women’s bodies, including their hair, by enforcing the law of obligatory hijab as a symbol of the Muslim woman. By doing so, it has institutionalized patriarchy and the social subordination of women. The Islamic government has made public space an exclusive arena for men. Women can enter and work in this public space on the condition that they accept its masculinity and recognize the alleged superiority of men in this space.

Wearing the hijab and thus making sure that they do not sexually stimulate men by showing their hair has become the responsibility of women if they were to seek agency in these public social structures. Creating a sense of shame among women regarding their hair and body – which obviously confuses and excites men’s sexual feelings – has become part of the Islamic government’s policy.


Personal and political consequences

On closer inspection, this policy was naturally intended to limit the presence of women in society, which threatens the exclusive power of men in social structures. Thus, creating a sense of shame ensures the unchallenged power of men. This is also often understood at men’s public ownership of women’s bodies and justifies their right to sexually harass women on the street. Meanwhile, women are expected to feel shame at the very public violation of her privacy by men. This is how, as Sara Ahmad says, shame becomes a form of cultural politics (Dolezal 2020).

Living with systemic shame has profound and lasting consequences on one’s psyche, both personally and politically. When shame is internalized in the process of socialization, not only is a person’s mental framework shaped, but it also affects the way of one’s being in the world. In this case, shame is no longer merely an emotion, but a kind of personality trait that influences behavior, interactions, and activities in various situations. It can be profoundly disabling and traumatic, affecting a person’s global sense of self and consequently, their expression of intention and agency in the world and towards others. Shame produces a stagnant and deconstructive self-obsession. A woman’s shame is an affirmation of what the patriarchal society believes – that the woman is a person of lesser value (Dolezal 2020).


Suppressed protest and anger turned into a movement

During the years of Islamic government, women have tried to fight against this policy in various ways, from engaging in conciliatory dialogue and entering politics to change the policy – which of course always failed – to civil disobedience against humiliating laws that police their bodies, such as wearing the so-called bad hijab, which is considered as an inappropriate form of dressing that does not conform the standards of the Islamic government’s ideal of covering the hair and body by wearing a long and wide veil or chador. This struggle continued in 2017 in the form of individual protests by the girls of Revolution Street, who unfortunately could not find mass support and were suppressed. However, with the murder of Mahsa Amini, this suppressed protest and anger has intensified and has turned into a movement. This anger, while severely suppressed, not only involved women, but also brought men into the scene in defense of human dignity. In this repression, we see the politics of shame. The repressive forces have not only silenced the protest with batons and by shooting people, but they have also humiliated protesting women by sexually harassing them. An example can be found in this short video (Caution! The content of the video is violent).


Hoping for the victory of “Woman, Life, Freedom”

To end, I refer to the definition of shame by Karl Marx to encourage looking at shame from a different angle, even in its positive meaning. He sees shame as a form of anger at oneself: “Shame is a kind of anger turned in on itself” (Weyher 2012: 351). During the years of Islamic governance, women have been confronted with a gendered theology and a political theology that has always subordinated them to men. Now they are ashamed of having tolerated such a position throughout all these years, and this shame has turned into a kind of anger towards themselves and a motivation to start revolutionary action against the oppressive and discriminatory policies of the Islamic government with its theological justifications and gender politics.

These women, in their intolerance of the systemic shaming they have experienced from the Islamic government, have turned the spotlight on the shamelessness of the Islamic government and its oppressive forces and the shamelessness of religious authorities and clergy in Iran as well as on the heads of other Islamic governments who are silently watching what is happening to women in the Islamic Republic of Iran.



Literatur Dolezal, Luna (2020). Feminism, Embodiment and Emotion. In: Szanto, Thomas and Landweer, Hilge (eds.) The Routledge Handbook of Phenomenology of Emotion. 312-322. New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315180786-30

Weyher, L. Frank (2012). Re-reading Sociology via the Emotions: Karl Marx’s Theory of Human Nature and Estrangement. Sociological Perspectives, 55(2). pp. 341-363. https://doi.org/10.1525/sop.2012.55.2.341

Zahavi, Dan (2020). Shame. In: Szanto, Thomas and Landweer, Hilge (eds.) The Routledge Handbook of Phenomenology of Emotion. 349-357. New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315180786-34


Weitere Quellen

BBC Persian (o. J.). Accessed 15 November 2022 at https://www.youtube.com/watch?v=Okamhq2nC7E.

TIME (2022). The Struggle for Women’s Rights in Iran. Accessed 15 November 2022 at https://www.youtube.com/watch?v=WIv3dLiB0h8&t=231s.

Zitation: Marziyeh Bakhshizadeh: Systematic use of shame to suppress women’s voice in Iran, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 22.11.2022, www.gender-blog.de/beitrag/shame-suppress-women-iran/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221122


Info: https://www.gender-blog.de/beitrag/shame-suppress-women-iran

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