Vor 100 Jahren: Der Anfang vom Ende des kolonialen Zeitalters.
aus e-mail von Doris Pumphrey, 30. Dezember 2022, 00:07 Uhr
(…) die Ära des Kolonialismus, der den Kapitalismus groß machte und
immer noch nährt, die Ära der hemmungslosen Durchsetzung des Rechts der
Stärkeren, nicht der Stärke des Rechts, könnte nach mehr als 500 Jahren
den Anfang vom Ende erleben. Losurdo formulierte als Ziel: »Tatsache
ist, dass die Sache des Friedens nicht von der Sache der
Demokratisierung der internationalen Beziehungen trennbar ist.«
Oktoberrevolution und UdSSR repräsentierten den ersten Schritt dahin.
Sie mussten deswegen rückgängig gemacht werden und verschwinden. Richtig
gelungen ist das nicht.
https://www.jungewelt.de/artikel/441801.das-erbe-der-sowjetunion-der-erste-schritt.html
30.12.2022
*Das Erbe der Sowjetunion – Der erste Schritt
*/Von Arnold Schölzel
/
*Die Gründung der UdSSR am 30. Dezember 1922 brachte etwas Neues in die
Welt: Den Anfang vom Ende des kolonialen Zeitalters. Der Westen hat noch
immer Angst vor dem Sowjetstaat
*/
/Der Name »Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken« (UdSSR, russisch
Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik, SSSR), deren Gründung
der 1. Unionskongress der Sowjets am 30. Dezember 1922 in Moskau
beschloss, war Programm. /jW/-Autor Werner Pirker schrieb vor 20 Jahren
an dieser Stelle: »Welthistorisch einzigartig an der Sowjetunion war
nicht, dass sie eine Union, sondern dass sie sowjetisch war. Sowjetisch
ist keine nationale oder supranationale Kategorie, sondern eine soziale,
gesellschaftliche. Erstmals definierte sich ein Staat nach dem Charakter
seiner Gesellschaftsordnung.« Pirker notierte: »Die Sowjetunion
verkörperte die positive Aufhebung der Nation im bürgerlichen Sinn.
Gleichzeitig war sie die Geburtsstätte neuer Nationen. In Mittelasien
fanden Kasachen, Turkmenen, Tadschiken, Usbeken und Kirgisen im Prozess
der sozialen Emanzipation zum Bewusstsein ihrer Nationalität.« Das lässt
sich verallgemeinern: keine koloniale Befreiung ohne die UdSSR.
Das soll so nicht gewesen sein, schon gar nicht im Innern des Landes.
Fast täglich schwadroniert hierzulande gegenwärtig irgend jemand vom
angeblich genozidalen Charakter russischer Politik seit Jahrhunderten.
Zwar ist die Rede vom »Untermenschen« nicht mehr opportun, aber eine Art
angeborene Blutrünstigkeit soll es schon sein. Am 25. Juli fragte zum
Beispiel der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel in der /FAZ/: »In
welchem Verhältnis steht Russland zur zivilisierten Welt? Die Konzepte,
mit denen über Russlands Krieg gesprochen wird, entscheiden über
Inklusion oder Exklusion Russlands.« Da hatte sein Kollege Heinrich
August Winkler – vor 30 Jahren ein besonders eifriger Abwickler von
DDR-Forschern – schon als erster in der /Zeit/ Putin mit Hitler
gleichgesetzt. Dem folgte eine Heerschar deutscher Experten.
*Umdeutung der Geschichte
*Das Problem: Anders als in den USA oder den anderen durch Kolonialismus
und Sklaverei geprägten Staaten des Westens gab es selbst im
zaristischen Völkergefängnis keine systematische Ausrottung der
Ureinwohner – bis 1867 einschließlich Alaskas. Durch Oktoberrevolution
und Sowjetunion erhielten gerade sie Zugang zu eigener Schrift, zu
Bildung, zum staatlichen Gesundheitswesen und zum Rechtssystem. Die
Geschichte der UdSSR ist unter anderem eine Geschichte der Emanzipation
indigener Völker.
Von den Nachfolgestaaten der UdSSR zählt allein die heutige Russische
Föderation mit 143 Millionen Einwohnern 160 Nationalitäten. Von ihnen
erfahren deutsche Jugendliche, die mit den grotesken
Hollywood-Abziehbildern nordamerikanischer Indigener früh verbildet
werden, nie etwas. 82 Prozent der Einwohner dieses »Russlands« sind
Russen, an zweiter Stelle stehen Tataren mit 3,8 Prozent, es geht weiter
mit den Awaren (mehr als 900.000 in der Föderationsrepublik Dagestan im
Kaukasus) über die Jakuten (knapp 500.000 in der größten
Föderationsrepublik Sacha in Sibirien) bis hin zu einigen tausend
Tschuwanzen und Yupik, das sind westliche Eskimo im autonomen Kreis
Tschukotka an der Beringsee.
Die Dialektik von Zentralstaat und autonomer Entwicklung, in der sich
die UdSSR bewegte, die in der Nationalitätenpolitik möglicherweise die
schwerwiegendsten Fehler machte, wurde durch die Konterrevolution im
wesentlichen zerstört. Der Markt regelt aber nichts für Minderheiten, er
ist für sie oft tödlich. Das gefährdet inzwischen den Föderationsstaat.
Das Ende der UdSSR, das am 26. Dezember 1991 mit dem Einholen der roten
Fahne auf dem Moskauer Kreml besiegelt wurde, beseitigte nicht nur die
relative soziale Gleichheit der Individuen, sondern auch die zwischen
den Völkern. In den baltischen Republiken, in der Ukraine und im
Kaukasus griffen die an die Macht gekommenen Nationalisten und
Fundamentalisten auf russophobe Stereotype zurück, die zuletzt vom
deutschen Faschismus genutzt worden waren. Nach mehr als 30 Jahren
dieser vom Westen und insbesondere von den USA geschürten und gelenkten
Entwicklung werden nun diese rassistischen Muster Teil der in Westeuropa
herrschenden Ideologie. In den genannten postsowjetischen Staaten sind
sie durch Bildungswesen, Medien, durch staatliche Diskriminierung
russischsprachiger Minderheiten oder durch Unterdrückung jeder
Opposition wie im Kiewer Herrschaftsbereich Teil der jeweiligen
Staatsdoktrin.
Wichtigstes Vorhaben scheint dabei die Verfälschung der Geschichte des
Zweiten Weltkrieges zu sein, das heißt die Verfälschung des Anteils der
UdSSR, ihrer Völker und ihrer Armee beim Sieg über den Faschismus. 2015
wurde es noch als absurd empfunden, als der damalige polnische
Außenminister Grzegorz Schetyna phantasierte, nicht russische, sondern
»ukrainische Soldaten« hätten Auschwitz befreit. Wenig später erklärte
der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk im Interview mit den
/ARD/-»Tagesthemen«: »Wir können uns alle sehr gut an die sowjetische
Invasion sowohl der Ukraine als auch unter anderem Deutschlands
erinnern.« Bundeskanzlerin Angela Merkel schwieg dazu. Die deutsche
Staatsräson wird nur bei Relativierung des Holocaust aktiviert, nicht
bei Leugnung der Massenvernichtung durch den Krieg des deutschen
Faschismus gegen die UdSSR oder gar Verunglimpfung des Widerstands der
Roten Armee. Der Krieg kostete 27 Millionen Menschen das Leben.
Sieben Jahre nach Jazenjuks unwidersprochener Bemerkung wurde am 8. und
9. Mai 2022 in Berlin in großem Maßstab Polizei aufgeboten, um das
Gedenken an die Rote Armee und die Opfer der Sowjetunion soweit wie
möglich zu unterbinden. Dafür gibt es seit dem 80. Jahrestag des
deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 2021 in Berlin das
von Merkel eröffnete Dokumentationszentrum der »Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung«. Die Deutschen sind Opfer – der UdSSR. Im
wissenschaftlichen Beirat der Stiftung sitzt kein Vertreter einer
früheren Sowjetrepublik. Der polnische Historiker Tomasz Szarota trat
aus ihm schon 2009 aus und erklärte dazu: »Deutschland soll endlich
seine Gesellschaft darüber aufklären, dass nicht Flucht und Vertreibung
vieler Menschen aus ihren angestammten Gebieten das größte Unglück des
Zweiten Weltkriegs darstellen. Eine viel größere Tragödie war die
Vertreibung aus dem Leben.«
*Tödliche Gefahren
*Die Frage, warum es der Sowjetunion gelang, den faschistischen Angriff
abzuwehren und trotz enormer materieller und menschlicher Verluste im
Gegenstoß bis in die Hauptstadt des Feindes zu gelangen, wird unter
solchen Vorzeichen nicht gestellt. Die Antwort auf sie kann auf die
Abkürzung UdSSR reduziert werden. Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und
Intervention der Westmächte hatten den zaristischen Staat zerstückelt.
Die Bolschewiki gingen davon aus, dass der nächste Krieg des Westens
gegen die Sowjetunion ein Kolonial- und Ausrottungskrieg sein würde. Ihn
hinauszuzögern bestimmte Innen- und Außenpolitik – vom Vertrag von
Rapallo 1922 über den Nichtangriffspakt mit dem faschistischen
Deutschland 1939 bis zum Zwei-plus-vier-Vertrag zur deutschen Einheit
1990. Den betrachtet die BRD-Regierung seit dem Ende der UdSSR im Grunde
als erledigt.
Die Wiederherstellung von Staatlichkeit war ein erster Schritt –
Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit nach innen und außen.
Heute vor 100 Jahren schlossen sich die Russische, die Ukrainische, die
Belarussische und die Transkaukasische Sozialistische Föderative
Sowjetrepublik zur UdSSR zusammen.
Der zweite Schritt waren die Konsolidierung der Wirtschaft und die
Industrialisierung. Bis Mitte der 1920er Jahre gab es keinen Traktor,
kein Auto und kein Flugzeug aus sowjetischer Produktion. In vielen
Teilen des Landes und in der Armee war die Rückständigkeit 1941 zu
Beginn des deutschen Überfalls trotz verzweifelter Anstrengungen während
der Atempause, die der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt gewährte,
nicht überwunden. Mit einer logistischen Meisterleistung gelang es aber,
die wichtigsten Industriebetriebe an den Ural und noch weiter östlich
zu verlagern und dem deutschen Zugriff zu entziehen. Die Wehrmacht hatte
sich bald mit Panzern und anderen Waffen auseinanderzusetzen, die heute
legendär sind.
Kaum war der Sieg am 9. Mai errungen, mit Verlusten, die letztlich nie
aufgeholt werden konnten, trat eine noch größere Bedrohung auf die
Weltbühne. Der Abwurf der US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945
war auch eine Drohung gegen die UdSSR. Vier Jahre später war zwar das
Atombombenmonopol gebrochen, 1957 folgte der »Sputnik«-Schock, und die
Sowjetunion war eine anerkannte Weltmacht in Wissenschaft und Technik.
Auf einem anderen Blatt steht aber, dass die militärische Parität bei
strategischen Waffen mit den USA in den 1960er Jahren erreicht wurde,
als fast gleichzeitig eine Stagnation in der Produktivkraftentwicklung
begann. Das war nicht mehr zu kompensieren. Durch das Zurückbleiben bei
der Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht zuletzt in der
Landwirtschaft scheiterte die UdSSR letztlich – von allen subjektiven
und objektiven Faktoren, die außerdem eine Rolle spielten, abgesehen.
Nach dem Ende des Sowjetstaates stellte sich heraus, dass der Kalte
Krieg sich nicht nur gegen den Sozialismus gerichtet hatte, sondern auch
gegen den größten Nachfolgestaat, die Russische Föderation. Die bloße
Existenz des Riesenstaates mit seinen unermesslichen Rohstoffvorkommen
wird wie schon im 19. Jahrhundert insbesondere von den Hauptmächten des
Westens als Gefahr betrachtet.
*Etappensieg der Reaktion
*Der Sozialismus galt nach dem Ende der UdSSR auch in weiten Teilen der
internationalen Linken als erledigt. Die Formel vom »Ende der
Geschichte« ist keine Erfindung des US-Politologen Francis Fukuyama, sie
war schon Inhalt der Marx-Revision und -Kritik Eduard Bernsteins um
1900, später der Programmatik der Sozialdemokratie insgesamt und des
Eurokommunismus der 1970er Jahre. Wo angeblich die Widersprüche einer
Gesellschaft, die objektiven und subjektiven Voraussetzungen für eine
Revolution, für einen Wechsel der Gesellschaftsformation schwinden, wird
Dialektik, die methodische Bearbeitung von Widersprüchen, wird Theorie
überhaupt für überflüssig oder für utopistisch-sektiererisch erklärt.
Das war nach den großen Revolutionen des Bürgertums nicht anders. Die
Idee des historischen Stillstands, der ewigen »Natürlichkeit«
kapitalistischer Verhältnisse oder der Wiederkehr des Gleichen
mythisiert Geschichte. Sie ist Ausdruck von Anpassung ans Bestehende –
in Deutschland von Novalis bis zur Frankfurter Schule oder Arnold
Gehlen. Marx hielt 1847 über diese Art der Ideologieproduktion fest:
»Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur
zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die
Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der
Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei
Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre
ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine
Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, dass die gegenwärtigen
Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche
sind, so geben sie damit zu verstehen, dass es Verhältnisse sind, in
denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der
Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind
diese Verhältnisse selbst von dem Einfluss der Zeit unabhängige
Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu
regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine
mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen
bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen
Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der
bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und
demgemäß ewige angesehen wissen wollen.« (Marx-Engels-Werke Bd. 4, S 139f.)
Sozialismus und ein sozialistischer Staat können, wo das Ende der
Geschichte wieder einmal entdeckt wurde, nur als Gipfel der
»Unnatürlichkeit« begriffen werden. Voraussetzung für diese
Betrachtungsweise ist, die Klassenkämpfe weltweit, insbesondere die das
20. Jahrhundert bestimmenden antikolonialen Befreiungsbewegungen,
auszublenden. Sie werden von den Ideologen des Imperialismus zu
Barbarei, Terror oder totalitärem Angriff auf die Zivilisation erklärt.
Das war nach dem Ende der UdSSR und der Entfesselung endloser
Kolonialkriege durch den Westen nicht anders – auch auf zuvor
progressiver Seite: Domenico Losurdo sprach von einer »imperialen
Linken«, die seit 1991 die neokolonialen Kriege weitgehend unterstützt
habe. Das Modell lieferte unter anderem der kürzlich verstorbene Hans
Magnus Enzensberger, der zum Irak-Krieg 1991 in Saddam Hussein den
»Wiedergänger Hitlers« erkannte und so den Angriffskrieg der USA zum
antifaschistischen Feldzug adelte. Bis zum Hofhistoriker Winkler und den
heute weitgehend in den Konservatismus inkorporierten »Antideutschen«
hat sich intellektuell auf diesem Gebiet nichts weiter getan.
Wird nicht das »Ende der Geschichte« akzeptiert, dann aber – auch oft
von Marxisten – die Behauptung, dass die Epoche des Übergangs vom
Kapitalismus zum Sozialismus an ihr Ende gelangt sei. Die These von der
allgemeinen Krise des Kapitalismus sei falsch. Dem ist entgegenzuhalten:
Die allgemeine Krise bezeichnet eine Situation, in der sich der
Weltkapitalismus in das Kräfteverhältnis zum Sozialismus und zu den
nationalen Befreiungsbewegungen stellen muss, das heißt nicht mehr auf
eigener Basis handeln kann. Das galt, solange die UdSSR existierte, für
die Sozialpolitik und die Tolerierung von Gewerkschaften und
Sozialdemokratie im Innern. Es galt aber auch für die Versuche des
Westens, die Sowjetunion militärisch zu beseitigen – von den
Interventionskriegen und der Unterstützung bewaffneter Gruppen in der
Sowjetunion bis weit in die 1920er Jahre hinein über die Duldung und
Förderung des deutschen Faschismus bis zur atomaren Bedrohung seit 1945.
Den Griff des Faschismus zur Weltmacht nahmen auch die Westmächte nicht
mehr hin und schlossen die Antihitlerkoalition mit der UdSSR. Die USA
traten faktisch an dem Tag bei, als die Rote Armee vor Moskau im
Dezember 1941 die Wehrmacht zurückdrängte und erstmals die
Blitzkriegsstrategie scheitern ließ. Das festzuhalten, ändert nichts an
der Achtung vor dem antifaschistischen Kampf aller alliierten Soldaten.
*Krise des Kapitalismus
*Hans Heinz Holz hat 1991 Gültiges zu dieser Problematik notiert: »Die
Beschreibung der inneren Widersprüche und Verfallserscheinungen im
kapitalistischen System mündete in die richtige Theorie von der
allgemeinen Krise des Kapitalismus.« Sie verlaufe seit dem Ersten
Weltkrieg in Wellenbewegungen und meine mehr als Börsenkräche und
Konkurse. Falsch sei indessen die Schlussfolgerung gewesen, »die
allgemeine Krise des Kapitalismus bedeute auch dessen zunehmende
Schwäche und Niedergang, und der aufsteigende Sozialismus werde – könne
er sich nur gegen Aggression schützen – in der Systemkonkurrenz
notwendig und in nicht allzulanger Frist obsiegen.« Aus Holz’ Sicht
wurden dabei die Ressourcen und der Reichtum, über den der Kapitalismus
verfügte, »weit unterschätzt«. Zudem sei verkannt worden, »dass die
Krise die Bewegungsform des Kapitalismus ist«. Drittens sei unbeachtet
geblieben, dass dieser die Produktivkraftentwicklung im Rahmen seiner
Produktionsverhältnisse steuern könne, »wenn auch mit immer weniger
Aussicht auf langfristige Stabilität«.
Holz wies zugleich darauf hin, dass die Folgerung, die Epoche als die
des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu bezeichnen, zwar nicht
falsch sei und nur beim nicht auszuschließenden Untergang der Menschheit
widerlegt sei. In der Auffassung aber, »der Sozialismus seit weltweit
das Ziel der Geschichte unseres Zeitalters«, seien »die inneren
Schwierigkeiten und Widersprüche dieser sozialistischen Gesellschaften
bei weitem unterschätzt worden«. Dem ist wenig hinzuzufügen.
Nur zwei Dinge. Objektiv: Seit dem Jahr, als Holz das schrieb, vollzog
sich der Aufstieg der Volksrepublik China zu einer Weltmacht – eine
Entwicklung in historisch kurzer Frist, die nur mit jener der UdSSR bis
1941 verglichen werden kann. Der Imperialismus kann diese Veränderung
des Kräfteverhältnisses in der Welt nur um den Preis eines atomaren
Krieges rückgängig machen. Gedanklich hören in Washington einige Leute
damit nicht auf und spielen damit – in der Ukraine, aber auch gegenüber
China.
Subjektiv: Zu den Ideen, die seit 1917 nicht mehr aus der Welt zu
bringen sind, gehört die einer unmittelbar von den Volksmassen
getragenen Staatsmacht. Die Anstrengung, im Imperialismus den Schein
allgemeiner Mitbestimmung aufrechtzuerhalten, absorbiert Medien und
Parlamentarismus. Gleichzeitig nehmen der Umfang präventiver
Aufstandsbekämpfung und der Ausbau des Repressionsapparates stetig zu –
die Wiederbelebung von Nationalismus und Faschismus inbegriffen. Nach
der historischen Niederlage von 1991 fehlt es jedoch an machtvollen
linken Formationen, aber auch an Massenerfahrungen mit radikalem
Demokratismus.
Aber zur Analyse gehört auch: Die Existenz der sozialistischen Länder
über mehrere Jahrzehnte mit alternativen sozialpolitischen Einrichtungen
– wie gut oder schlecht sie auch verwirklicht waren – ist bei vielen
Menschen in den betreffenden Ländern, aber auch weltweit nicht
vergessen. Hans Heinz Holz fasste das in die Wendung, die
Oktoberrevolution und die Existenz der UdSSR und der sozialistischen
Länder seien »normsetzend für soziale und geschichtliche
Wertvorstellungen« gewesen. Im /jW/-Gespräch (siehe
/jW/-Wochenendbeilage vom 10.12.2022
<https://www.jungewelt.de/rlk/de/article/440526.die-leute-erwarten-den-sozialismus-zur%C3%BCck.html>)
verwies der russische Historiker und frühere Diplomat Nikolai
Platoschkin, der auch Gast der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar
2023 sein wird, kürzlich auf die breite positive Resonanz, die er für
seine Forderung nach Sozialismus in der Russischen Föderation erhielt:
»Die Leute erwarten, dass der Sozialismus auf legalem Weg in unserem
Land zurückkommt. Selbst das Wort Sozialismus war bis dahin verpönt –
und nun trat einer für dessen Wiederaufbau auf.«
Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) spricht sogar
davon, dass die Massenstimmung in der Bevölkerung des Landes laut
Umfragen zunehmend prosowjetisch werde. Das sei, so der stellvertretende
Parteivorsitzende Juri Afonin, »nicht nur und nicht so sehr Nostalgie
als Ergebnis eines direkten Vergleichs der sowjetischen und
postsowjetischen sozialen, wirtschaftlichen und moralischen
Erfahrungen.« Das Urteil vieler Menschen falle dabei eindeutig aus.
*Erdumspannendes Erbe
*Erst recht nicht vergessen ist die internationalistische Hilfe der
UdSSR, die bis hin zur Unterstützung des bewaffneten Befreiungskampf der
Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas reichte. Die Behauptung, bei
der russischen Militäraktion in der Ukraine 2022 handele es sich um
Imperialismus, fand bei jenen Ländern, die jahrhundertelang Erfahrung
mit Kolonialismus gemacht haben, wenig Zustimmung. Der in der
Bundesrepublik vom Bundeskanzleramt gelenkte, immer noch mit großem
Aufwand geführte Kampf gegen die DDR 32 Jahre nach deren Ende belegt das
auf seine Weise: DDR-Bekämpfung ist Chefsache.
Die Sowjetunion leitete die Zerschlagung der Kolonialreiche ein. Ohne
sie gäbe es keinen Aufstieg Chinas, keine Kubanische Revolution, kein
befreites Südafrika. Das war die wirkliche Dialektik ihrer Existenz. Ihr
Erbe ist wahrhaft erdumspannend. Es bestimmt noch immer in so großem Maß
den Gang der Dinge auf dem Globus, dass selbst die heutige Aggression
des Westens gegen Russland nur als Teil der Auseinandersetzung erscheint.
Aber selbst dabei stieß der Imperialismus unerwartet an Grenzen, weil
auf ernsthaften Widerstand wie seit 1991 nicht mehr. Nach dem Putsch von
Nationalisten und Faschisten in Kiew 2014 erhoben sich die Arbeiter im
Donbass und bewaffneten sich. Sie verhinderten den Durchmarsch der
Reaktion und damit des Westens bis an die russische Grenze. Seither
führt Kiew gegen die Bewohner des Donbass Krieg, den der Westen
finanziert, lässt seit acht Jahren Nazibataillone in Wohngebiete, auf
Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser schießen und kann darauf
vertrauen, dass das in westlichen Medien ignoriert wird. Der längste
Krieg in Europa nach 1945, der nach Kiewer Angaben etwa 15.000 Tote
gekostet hat, ist im Bewusstsein der Westeuropäer nicht vorhanden. Klar
ist dort nur, dass diese Niederlage etwas mit der sowjetischen
Vergangenheit zu tun hat. Gleiches gilt für den Ursprung der
Auseinandersetzung. Sie hat, so Platoschkin plausibel, ihre Wurzel in
der Furcht des Westens vor einem Wiedererstehen der UdSSR: Friedliche,
kooperative Beziehungen allein zwischen Belarus, Ukraine und der
Russischen Föderation sind ein Alptraum westlicher Strategen.
Gäbe es solche Beziehungen, kehrte nicht die UdSSR zurück. Aber das
»kolumbianische Zeitalter«, wie es auch Losurdo nannte, die Ära des
Kolonialismus, der den Kapitalismus groß machte und immer noch nährt,
die Ära der hemmungslosen Durchsetzung des Rechts der Stärkeren, nicht
der Stärke des Rechts, könnte nach mehr als 500 Jahren den Anfang vom
Ende erleben. Losurdo formulierte als Ziel: »Tatsache ist, dass die
Sache des Friedens nicht von der Sache der Demokratisierung der
internationalen Beziehungen trennbar ist.« Oktoberrevolution und UdSSR
repräsentierten den ersten Schritt dahin. Sie mussten deswegen
rückgängig gemacht werden und verschwinden. Richtig gelungen ist das nicht.