Weltherrschaft und Völkermorden
Die „Lochner-Version“ der Hitler-Rede vom 22. August 1939 als Schlüsseldokument nationalsozialistischer Weltanschauung II von III
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Ein weiterer Beleg der sprachlich weltanschaulichen Stimmigkeit der Lochner Ver
sion stammt von einem Zuhörer der Hitler Rede am 22. August 1939, der in Militär
kreisen vor und nach 1945 über jede Kritik erhaben schien, weshalb seine Einschätzung,
die zudem zeitnah aus dem November 1939 stammte, bisher anscheinend bewusst nir
gendwo in Gänze zitiert worden ist. 33 General Curt Liebmann notierte: „Diese Rede aber
strotzte nach meinem Gefühl von Unsachlichkeit und Illusionen. Ihr bramarbasieren
der und nassforscher Ton war geradezu abstoßend. Man hatte das Gefühl, dass hier ein
Mann sprach, der jedes Gefühl der Verantwortlichkeit und jede klare Vorstellung von
dem, was selbst ein erfolgreicher Krieg bedeutete, verloren hatte und mit einer nicht zu
überbietenden Leichtfertigkeit entschlossen war, ins Dunkle hineinzuspringen.“ Lieb
mann betonte Hitlers sprachlichen und weltanschaulichen Extremismus, dessen Zeu
gen er und die anderen Generäle wurden. Überdies legen seine im Archiv des Instituts
für Zeitgeschichte München–Berlin erhaltenen Notizen nahe – ähnlich wie Canaris’
Überlieferung durch Gisevius –, dass Hitlers Rede einen Gewaltakt darstellte, dem sei
ner Meinung nach irgendjemand aus der Wehrmachtführung hätte Paroli bieten müs
sen. Eine Gegenposition hätte nur General Walther von Brauchitsch vertreten können.
Andere hätte man „mit Gewalt“ daran gehindert, wie Liebmann anmerkte. 34
Dieser Hinweis unterstreicht die gespenstische Stimmung, die auf dem Obersalz
berg in jenen Stunden des 22. August 1939 geherrscht haben muss. Im Übrigen waren
keineswegs nur Generäle anwesend, sondern auch Zivilisten wie Reichspressechef
Dr. Otto Dietrich, der beim Mittagessen in einer „eisigen Atmosphäre“ verwundert war,
wie „betrübt“ einige Generäle wirkten. 35 Zu dieser Gemütslage konnte kein sachlicher
Vortrag Hitlers geführt haben, sondern nur eine Rede, wie sie die Lochner Version wie
dergibt und wie ihre Umstände von General Liebmann beschrieben wurden.
Liebmann und die meisten seiner Generalskollegen waren 1939 bereit, das Militä
rische nicht nur dem Politischen, sondern dem Ideologischen unterzuordnen. Hitler
galt manchen gar als Inkarnation Karls des Großen, weil es ihm bis zum Frühjahr 1939
gelungen war, den Großteil aller Deutschen in Mitteleuropa – ohne einen Schuss abzu
feuern – zu vereinigen. Nach den unerwartet schnellen Siegen in den „Blitzkriegen“
1939/40 nahm die Bewunderung des Diktators in der Wehrmachtführung noch zu. Für
Generäle wie Keitel war Hitler ohnehin sakrosankt. „Er glaubte an die Berufung und
Unfehlbarkeit des Führers.“ Die Rede vom 22. August 1939 bildete dafür einen konsti
tuierenden Baustein. Unmittelbar nach ihr verbreitete Keitel in Berliner Militärkreisen
33 Siehe etwa Helmut Krausnick, Vorgeschichte und Beginn des militärischen Widerstandes
gegen Hitler, in: Europäische Publikation e. V. (Hrsg.), Vollmacht des Gewissens, Frankfurt
a. M. 1965, S. 177–384, hier S. 380.
34 Persönliche Erlebnisse des Gen. d. Inf. a. D. Curt Liebmann i. d. Jahren 1938/39 (Niederge
schrieben im November 1939), ursprünglich S. 19, jetzt ED 1 1–294, Institut für Zeitgeschichte,
Archiv, Zeugenschrifttum Nr. 95.
35 Krausnick, Vorgeschichte des Widerstandes, S. 381.
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die Vorstellung vom „Genie des Führers“, das herkömmlichen militärischen und poli
tischen Maßstäben entrückt sei. 36
Die Hitler Verehrung vieler Generäle im Zweiten Weltkrieg, als die Wehrmacht alles
dafür tat, die vom „Führer“ ausgegebenen Ziele Wirklichkeit werden zu lassen, war nicht
gespielt und sprach sich bis in die Details in der Berliner Auslandspresse herum. Noch
kurz vor dem D Day 1944 war Generalfeldmarschall Erwin Rommel überzeugt, die
Invasion abwehren zu können. „Rommel war ein solcher Hitlerverehrer, dass man seine
Äußerung ‚Was der Führer anfasst, gelingt, auch wenn es noch so aussichtslos erscheint‘,
als seine tatsächliche Meinung ansehen kann.“ Vor der Schlacht von El Alamein hatte
Rommel gegenüber ausländischen Journalisten Hitler „als einen Typ vom Schlage
Oliver Cromwells“ bezeichnet. Und über General Eduard Dietl sickerte die Information
an die Berliner Auslandspresse durch, er habe Hitler nach der erfolgreichen Besetzung
Norwegens im Führerhauptquartier mit einem Handkuss begrüßt. 37 Die Sitten aus der
Zeit Kaiser Wilhelms II. – bereits damals als Neo Byzantinismus kritisiert – feierten in
der Wehrmachtführung fröhliche Urständ, um dem Genie des Feldherrn zu huldigen. 38
Sprachlich und weltanschaulich entsprechen viele markante Passagen der Lochner
Version überdies bisher unbekannten oder unbeachteten Hitler Äußerungen. Der Satz
„So werde ich in einigen Wochen Stalin an der gemeinsamen deutschrussischen Grenze
die Hand reichen und mit ihm eine Neuverteilung der Welt vornehmen“ ähnelt auffal
lend der geopolitisch ausgreifenden Szenerie, die Hitler am 7. Februar 1937 in einem
Cosmopolitan Interview mit dem Hearst Chefkorrespondenten Karl von Wiegand ent
warf. Darin bekundete Hitler, dass er Napoleons Fehler bei dessen Russland Feldzug
nicht wiederholen werde („But I will not make Napoleon’s mistakes“) und seine Ziele
global seien. Von Wiegand auf den Wert der Japaner als weit entfernten Verbündeten
angesprochen, entgegnete Hitler, wohlgemerkt bereits Anfang 1937: „We will shake
hands with the Japanese in the Caucasus.“39
Das wichtigste Element der Weltanschauung Hitlers, das die Lochner Version in
Reinform wiedergibt, liegt in der Bestimmung des eigentlichen Kriegsziels. Es bestand
für Hitler geopolitisch nicht im „Erreichen von bestimmten Linien“, sondern in der
„physischen Vernichtung des Gegners“. Auch dies ist quellenkritisch bisher nicht gewür
digt worden. Stattdessen wurden die abenteuerlichsten argumentativen Winkelzüge
36 Nikolaus von Vormann, So begann der Zweite Weltkrieg. Zeitzeuge der Entscheidungen. Als
Offizier bei Hitler 22. 8.–1. 10. 1939, Leoni 1988, S. 30 f.
37 Hannelore Fuchs (Hrsg.), Mittendrin im Berlin der Nazizeit. Bernard Lescrinier, als deutscher
Journalist Mitglied im Verein der Auslandspresse, berichtet aus den 12 Jahren, Leipzig 2015,
S. 132 f.
38 Zum wilhelminischen Neo Byzantinismus: Norman Domeier, Der Eulenburg Skandal. Eine
politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 2010, S. 232–246.
39 Karl von Wiegand, Hitler Foresees His End, in: Cosmopolitan, April 1939, S. 27–29, 152–155,
hier S. 152. Wiegand Papers (Hoover Archives, Stanford), Box 1.
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unternommen, um die Lochner Version als Produkt Hans Osters hinzustellen: Das Ziel
solcher „sensationeller und übertreibender Darlegung“ durch Oster sei es gewesen, „den
Empfänger – also die britische Regierung – zu Schritten zu veranlassen, die Hitler von
unwiderruflichen und folgenschweren Entschlüssen abschrecken könnten“.40 Dass die
britische Regierung gar nicht der beabsichtigte Empfänger der Lochner Version war, ist
bereits nachgewiesen worden. Hans Oster als Dramaturg der Lochner Version müsste
zudem ein „Über Hitler“ gewesen sein, der bereits im August 1939 wusste und intellek
tuell artikulieren konnte, dass „Lebensraum“ für Hitler nur als von anderen Menschen
entleerter Raum wünschenswert, dass das Völkermorden Selbstzweck und wichtiger als
die reine Projektion militärischer Macht war.41
Schon 1937, als viele noch an ein „Appeasement“ des Nationalsozialismus und seine
Einhegung durch das Zugeständnis einiger mittel und osteuropäische Territorialge
winne glaubten, erkannte Konrad Heiden scharfsinnig Hitlers eigentliches Ziel in der
„Neubildung einer arischen Elite und deren Weltherrschaft“.42 Auf diese Kohärenz,
40 Müller, Das Heer und Hitler, S. 412–413. Aufschlussreich ist, wie die angebliche Schuld an der
Manipulation der Hitler Rede durch Louis Lochner dem Widerständler Hans Oster zugescho
ben wurde. Sogar Osters Zukunftshandeln wurde als Stütze herangezogen, nicht aber die Ziel
vorstellungen Hitlers, die die Lochner Version auf grauenvolle Weise historische Wahrheit
werden ließen: „Dass ein so aktivistischer und entschlossener Gegner des Regimes wie Oster
von Canaris dessen Redestenogramm erhalten hatte, könnte die Vermutung nahelegen, daß
dieser Offizier, der – wie seine späteren Handlungen beweisen – kaum Bedenken hatte, wenn
es gegen das verhasste System ging, den Lochner übergebenen Bericht mit einer Mischung
von zutreffenden, halbwahren und vermuteten Angaben redigiert hat. Zudem sind Osters gute
Beziehungen zu Beck häufig bezeugt, so daß nicht nur der von Lochner erwähnte Vermitt
lungsweg als glaubwürdig erscheint, sondern von da aus auch Osters Urheberschaft an Wahr
scheinlichkeit gewinnt.“ Müller, Das Heer und Hitler, ebenda.
41 Hitlers Weltanschauung blieb in der Frage des – menschenleeren – Lebensraumes über die
Jahre hinweg stabil. Noch kurz vor seiner Liquidierung verkündete auch Hitlers lange Zeit
wichtigster Weggefährte Ernst Röhm vor der Berliner Auslandspresse, man hege keine „Erobe
rungsgelüste“ im klassischen Sinne: „Denn jede Neugewinnung nicht deutscher Untertanen
würde eine natürliche Schwächung des deutschen Volkskerns bedeuten und darum kein poli
tischer Gewinn sein.“ Rede Röhms vor dem Diplomatischen Korps und der Auslandspresse,
Berlin 18. April 1934, abgedruckt in: Hans Adolf Jacobsen/Werner Jochmann (Hrsg.), Ausge
wählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus, Teil I und II: 1933–1945, Bielefeld
1961, S. 1–4 (C, Dokument 18. IV. 1934). Die Vernichtungsstrategie Hitlers kam auch in der
„Tagesparole“ für die deutsche Presse vom 29. Juli 1941 zum Ausdruck, die laut Helmut Sün
dermann Hitlers „Auffassung“ markant wiedergab: „Es wird erneut darauf hingewiesen, daß
der Erfolg des gewaltigen Kampfes im Osten nicht geografisch durch einzelne Ortsangaben
erfasst werden kann, sondern daß sein Ziel in der Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte
liegt, wie es z. B. bei der Einkreisungsschlacht von Smolensk der Fall ist.“ Gert Sudholt (Hrsg.),
Helmut Sündermann. Tagesparolen. Deutsche Presseanweisungen 1939–1945. Hitlers Propa
ganda und Kriegsführung, Leoni 1973, S. 176.
42 Konrad Heiden, Adolf Hitler. Ein Mann gegen Europa. Eine Biographie, Zürich 1937, S. 239
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Konsistenz und Persistenz von Hitlers Weltanschauung von den frühen 1920er Jahren
bis 1945 ist in der Forschung der letzten Jahrzehnte vielfach hingewiesen worden.43 Die
nach 1945 für einige Jahre populäre Sicht, man habe es bei Hitler mit einem planlosen
Opportunisten zu tun gehabt, der die Macht um ihrer selbst willen erstrebte und weder
über eine Weltanschauung noch ein politisches Programm verfügte, wird heute kaum
mehr vertreten. Seine beiden Grundüberzeugungen, menschenleeren Lebensraum für
die „arische“ Rasse zu gewinnen, dieser über ein Imperium auf der eurasischen Land
masse zur Weltherrschaft zu verhelfen und auf dem Weg dorthin das Judentum zu ver
nichten, konnte Hitler leicht synthetisieren, wie bereits Eberhard Jäckel luzide nachge
wiesen hat.44
Diese Synthese war nicht schwierig, sondern lag geradezu auf der Hand, denn ein
Äquivalent zum global agierenden „Weltjudentum“ konnte logischerweise nur eine glo
bale Kraftanstrengung zur Erlangung der „Weltherrschaft“ sein, um „den Juden“ als
gefährlichsten Feind des „Ariers“ auf der ganzen Welt für immer zu vernichten.45 Bereits
in „Mein Kampf“ zeichnete Hitler diesen Streit auf Leben und Tod als rassistisches Null
summenspiel, indem er das Streben der Juden nach der Weltherrschaft als einen „trieb
haften Vorgang“ bezeichnete. Nur „bürgerliche Einfaltspinsel“ würden verdrängen,
dass es zu einem Endkampf kommen müsse.46 Der bis zur Erlangung der Weltherrschaft
43 Überblicke über die Forschungsliteratur während der Hochphase der Debatte um Hitlers
Weltherrschaftspläne bieten: Jochen Thies, Architekt der Weltherrschaft. Die „Endziele“ Hit
lers, Düsseldorf 1980; Wolfang Michalka, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische
Außenpolitik, Darmstadt 1978, S. 1–27; Meir Michaelis, World Power Status or World Domin
ion? A Survey of the Literature on Hitler’s „Plan of World Dominion“ (1937–1970), in: The His
torical Journal 15 (1972) 2, S. 331–360; Milan Hauner, Did Hitler Want World Domination?,
in: Journal of Contemporary History 13 (1978), S. 15–32. Für Hinweise dank ich Dirk Rupnow
(Innsbruck). In den letzten Jahren ist zunehmend das transnationale und globale Ausgreifen
des Nationalsozialismus in den Blick genommen worden: Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin,
Rom, Tokio 1919–1946, München 2021; Stefan Ihrig, Atatürk in the Nazi Imagination, Oxford
2014; David Motadel, Für Prophet und Führer. Die islamische Welt und das Dritte Reich, Stutt
gart 2017.
44 Eberhard Jäckels kurze Studie (Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Tübingen
1969) ist in ihrer gedanklichen Präzision nach wie vor unerreicht.
45 Den exterminatorischen Charakter des Krieges betonte Hitler noch einmal am 30. März
1941, als sich der Angriff auf die Sowjetunion abzuzeichnen begann. Max Domarus (Hrsg.),
Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Teil 2, Bd. 4, Leonberg 1988 (1973), S. 1682.
Vgl. Kriegstagebuch des Chefs des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Franz Halder,
Eintrag v. 30. 3. 1941, Bundesarchiv (BArch), RH 2/109. Bereits im September 1939 sprach
Reinhard Heydrich von einem „Endziel“, das aber noch etwas Zeit benötige. Eberhard Jäckel,
Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, Stuttgart 1991, S. 108. Auch während der
„Kristallnacht“ im November 1938 waren schon zahlreiche öffentliche Äußerungen zur end
gültigen Vernichtung der Juden gefallen. Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur, Kap. 6.1.
46 Hitler, Mein Kampf (851.–855. Auflage), München 1943, S. 750 f.
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potenziell unbegrenzte Erwerb von „Lebensraum“ wurde in „Mein Kampf“ umrissen
und in Hitlers unveröffentlichtem, 1928 entstandenem „Zweiten Buch“ präzisiert.47
Auch wenn Hitler vor 1933 seinen Antisemitismus aus taktischen Gründen hin
und wieder herunterfuhr48 und nach 1933 viele Jahre vom Frieden „schwätzte“, bis die
Gefahr einer militärischen Intervention gegen das Deutsche Reich gebannt war, ist er
niemals Realpolitiker gewesen, sondern versuchte, seine Weltanschauung auf fanatische
Weise Realität werden zu lassen. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass er sich an
internationalen Interessenkonflikten orientierte und auch geschickt zu nutzen verstand,
dass er in der internationalen Öffentlichkeit lange Zeit als Gemäßigter innerhalb der
nationalsozialistischen Bewegung galt.49
Für diejenigen, die ihn verstehen wollten, ließ Hitler immer wieder, auch in aller
Öffentlichkeit, die Medaille auf seiner Brust aufblitzen, auf deren einer Seite „Weltherr
schaft“ und auf der anderen „Völkermorden und Vernichtung der Juden“ stand. So ver
kündete er etwa 1930 vor Erlanger Professoren und Studenten: „Jedes Wesen strebt
nach Expansion und jedes Volk strebt nach der Weltherrschaft.“50 Hitlers Reden von der
„Weltherrschaft“, meist synonym mit „Weltmacht“ gebraucht, sind Legion. Umso inte
ressanter ist es, dass in der Lochner Version seiner Rede vom 22. August 1939 eine unge
wöhnliche, sonst anscheinend kaum gebrauchte Variante auftaucht: „Erdherrschaft“.
Dieser Begriff ist so selten, dass er sofort ins Auge sticht. Doch hat ihn Hitler nicht zufäl
lig verwendet oder gar einen Neologismus geschaffen, denn er stammt, in der Schreib
weise „Erd Herrschaft“, aus Friedrich Nietzsches Werk „Jenseits von Gut und Böse“. 51
Aus diesem hat ihn Hitler auch keineswegs eklektisch ausgewählt, denn Nietzsche ver
kündet in dem Abschnitt eine Prophezeiung, als deren historisches Werkzeug sich Hit
ler verstand, ein Wiedererwachen Europas gegen Russland/Asien. Bei Nietzsche heißt
es: „Ich sage dies nicht als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach
dem Herzen sein, – ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, dass
Europa sich entschließen müsste, gleichermassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen
Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste,
einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen
könnte: – damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso
seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme. Die Zeit
47 Jäckel, Hitlers Weltanschauung, S. 120–123.
48 Einige Auslandsjournalisten glaubten jahrelang, Hitler würde den Antisemitismus als „Pro
grammpunkt“ irgendwann fallen lassen, wodurch seine Popularität in Großbritannien und
den USA gesteigert werden könnte. Domeier, Weltöffentlichkeit und Diktatur, S. 112, 377, 651.
49 Axel Kuhn, Hitlers außenpolitisches Programm, Stuttgart 1970, S. 270.
50 Jäckel, Hitlers Weltanschauung, S. 122.
51 Der Begriff „Erdherrschaft“ (bzw. „Erd Herrschaft“) ist nur bei Nietzsche und Heidegger anzu
treffen, vermutlich ein Grund, warum er bisher nicht mit der Hitler Rede vom 22. August 1939
in Zusammenhang gebracht worden ist.
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für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die
Erd Herrschaft, – den Zwang zur großen Politik.“52
Nietzsche imaginiert und propagiert nicht nur einen kriegerischen Aufbruch Euro
pas gen Osten und eine Jahrtausende währende „Erd Herrschaft“ der „Arier“, sondern
beschwört auch ihren „furchtbaren“ Willen, all ihre Feinde für immer zu vernichten.
Das Narrativ von der „sauberen“ Wehrmacht:
Quellenkritik als Geschichtspolitik nach 1945
Die akribisch anmutende Quellenkritik von Winfried Baumgart zur Hitler Rede vom
22. August 1939 aus den später 1960er und frühen 1970er Jahren ist nicht allein durch
persönliche Werturteile und Vermutungen gekennzeichnet, sie verheddert sich an zahl
reichen Stellen auch in logischen Widersprüchen. Zunächst ist auffällig, wie Baumgart
die drei beim Nürnberger Prozess 1945/46 vorliegenden Fassungen der Hitler Rede cha
rakterisierte. Die aus OKW Akten stammende Fassung (ohne Unterschrift und Urhe
ber Angabe) zog er apodiktisch allen anderen Versionen vor und bezeichnete sie ohne
jede Begründung als einzige unmittelbare Niederschrift der Hitler Rede. 53 Eine irgend
wann nach 1945 aufgetauchte Version des Generaladmirals Hermann Boehm nahm er
auch noch als interessant, wenn auch weniger authentisch wahr. Die Lochner Version
wertete er hingegen als „aus Privathand“ stammend ab. 54 Weshalb die Niederschrift von
Boehm – nach 1945 mit leicht durchschaubaren geschichtspolitischen Zielen verfasst –
„amtlicher“ sein sollte als die Lochner Version, bleibt unverständlich. Dann urteilte
Baumgart unvermittelt: „Dürfen wir nicht folgern, daß, nachdem wir Canaris mit ziem
licher Sicherheit als den Verfasser der Aufzeichnung ohne Unterschrift [Version ‚C‘]
erkannt haben, die Lochner Version [Version ‚L‘] auf seine Niederschrift trotz einiger
durch den politischen Zweck der Weitergabe nach London bedingten Zusätze und trotz
der Dramatisierung des Inhalts zurückzuführen ist? Da er sie wohl kaum selber redi
giert haben dürfte, so könnte man an [Hans] Oster oder eine andere dem deutschen
Widerstand nahestehende Person als ihren ‚Redakteur‘ denken.“55 An dieser Stelle wird
52 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio
Colli und Mazzino Montinari, Abschnitt 208, München 1999, S. 140.
53 Der vorgeblich bessere „amtliche“ Charakter bestand laut Baumgart allein darin, dass diese
Redeversion bei den Akten des OKW aufgefunden wurde. Ob sie nicht bloß eine abge
schwächte Variante der Canaris Aufzeichnung war, die man trotz Hitlers Mitschreibeverbot
zu den Akten gab (daher auch ohne Autor), thematisiert er nicht. Dokument PS 798 wurde in
Nürnberg nur als „Copy“ ohne Unterschrift und ohne bekannten Autor geführt. Staff Evidence
Analysis zu Dokument „PS 798“ vom 17. September 1945, IMT NRMB HL57AEV 20 (Nurem
berg Trials Collection at Harvard Law School, auch für die folgenden IMT Dokumente).
54 Baumgart, Zur Ansprache Hitlers, S. 121.
55 Ebenda, S. 139.
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deutlich sichtbar, wie sich die Vorurteile und Spekulationen Baumgarts mit der richti
gen Erkenntnis, dass Admiral Canaris der Urheber der OKW Version („C“) wie auch
der Lochner Version („L“) war, vermischten. 56
Baumgarts kaum verhehlte negative Einschätzung des militärischen Widerstan
des und besonders der Person Hans Osters trübten seinen Blick auf andere Deutungs
möglichkeiten. 57 Für sich selbst nahm Baumgart durchaus das Recht in Anspruch,
mit Umkehrschlüssen und Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten. Vom Fehlen der Wen
dung „Schweinehund“ in den anderen Versionen als in seiner Lieblings Version „C“
(OKW Akten) sei „nicht unbedingt darauf zu schließen, sie sei nicht gefallen“. 58
Nach derselben Logik hätte bereits damals gefragt werden können: Warum sollte die
Lochner Version nicht die authentischste erhaltene Zusammenfassung der Hitler
Rede sein? Inhaltlich sind sie und die OKW Version deckungsgleicher als alle ande
ren Fassungen, wie auch Baumgart einräumen musste. 59 Wahrscheinlich ist deshalb
vielmehr, dass die OKW Version eine sprachlich und inhaltlich entschärfte (und
stark gekürzte) Fassung des Canaris Manuskripts war, da man sie trotz des Mit
schreibeverbots zu den OKW Akten gab. Die Lochner Version hingegen war eine
nur gekürzte, sprachlich und inhaltlich aber nicht geglättete Fassung des Canaris
Manuskripts.
Diese Annahme wird durch ein weiteres quellenkritisches Argument gestützt, das
in den 1960er und 1970er Jahren nicht bekannt war: die Anspielung auf Dschinghis
Khan, den historisch markantesten Vertreter asiatischer Gewaltherrschaft, die nur
in der Lochner Version enthalten ist. Sie entstammt eindeutig der Weltanschauung
Hitlers (und Himmlers), wie Richard Breitman nachgewiesen hat. 60 Hitler verwen
dete den Namen etwa in seiner Rede vom 3. Oktober 1941 im Sportpalast, in der er
den Sieg über die Sowjetunion propagierte und behauptete, einen Präventivkrieg
zu führen, um einen „zweiten Mongolensturm eines neuen Dschinghis Khan“ zu
56 Adjutanten hätten den Anwesenden bei Hitlers „Kriegsrede“ verboten, Notizen zu machen.
„Und so rasselt er weiter und Admiral Canaris, der unauffällig im Hintergrund stand, machte
sich die ganze Zeit über Notizen.“ Die bei Colvin zitierten Passagen entstammen der Lochner
Version. Colvin, Canaris, S. 104 f.
57 Krausnick, Vorgeschichte des Widerstandes, S. 381, Anm. 557.
58 Baumgart, Zur Ansprache Hitlers, S. 134.
59 Ebenda, S. 138.
60 Richard Breitman, Hitler and Genghis Khan, in: Journal of Contemporary History 25 (1990),
S. 337–351. Dass Hitler über Informationen zum Völkermord an den Armeniern von seinem
frühen Weggefährten Max Erwin von Scheubner Richter verfügte, der zu der Zeit Vize Konsul
in Erzerum war, ist wahrscheinlich. Paul A. Leverkuehn, German Officer During the Arme
nian Genocide: A Biography of Max von Scheubner Richter, London 2008. Zu Himmlers Ver
teilung von Michael Prawdins Buch „Tschingis Chan und sein Erbe“ an die Führung von SS
und Waffen SS siehe Matthias Uhl (Hrsg.), Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender
Heinrich Himmlers 1943–1945, München 2020, S. 260, Eintrag vom 2. Mai 1943.
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verhindern. 61 Dreimal erwähnt Hitler Dschinghis Khan bewundernd in den „Monolo
gen“. 62 Auch frühere Anspielungen Hitlers auf Dschinghis Khan sind nachgewiesen. 63
In der Kriegszeit nach 1939 fügte sich dies in die bei Nationalsozialisten beliebten Ver
weise auf nicht christliche Kriegerhelden wie den legendären Hunnenkönig Etzel. 64
Baumgart versäumte es in seiner Quellenkritik auch, die Stimmigkeit der Lochner
Version im Kontext der Offiziersreden Hitlers zwischen 1933 und 1945, speziell im Jahr
1939, zu prüfen. Hätte er das getan, wäre ihm aufgefallen, dass die Lochner Version der
Rede weder mit Blick auf den konkreten historischen Kontext, vor allem Anlass, Ziel
setzung und Publikum, noch inhaltlich oder gar sprachlich ein Ausreißer des „Führers“
war. Vielmehr fügt sie sich nahtlos in die Reden Hitlers vor Offizieren, insbesondere vor
der Militärführung, ein. Bereits in seiner ersten Rede als Reichskanzler vor der dama
ligen Reichswehrführung am 3. Februar 1933 sprach Hitler an, dass er auf die „Erobe
rung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung“ hin
arbeiten werde.65 Gerade im Offizierskorps wollte Hitler immer wieder die Gläubigen
stärken und die Zaudernden gewinnen und von seinen Zielen überzeugen. Am 10. Feb
ruar 1939 erklärte er vor Truppenkommandeuren, die er in der Reichskanzlei versam
melt hatte: „Ich halte es [für] besonders wichtig, daß das Offizierkorps eine Kenntnis
der Gedankengänge besitzt, die mich nicht etwa nur im Jahre 1938, sondern über
haupt seit vielen, vielen Jahren bewegten.“ Das seit 1933 Erreichte sei „nicht das Ergeb
nis augenblicklicher Überlegungen, sondern sie sind die Durchführung eines an sich
vorhandenen Planes, nur vielleicht unter nicht genauer Einhaltung vorgesehener Ter
mine“. Darüber hinaus stimmte Hitler die Truppenkommandeure auf den Charakter
61 Domarus, Hitler. Reden, Bd. 4, S. 1758–1767, hier: S. 1763.
62 Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich
Heims, Hamburg 1980, S. 137, 367, 370. Hierzu kritisch: Mikael Nilsson, „Hitler redivivus.
Hitlers Tischgespräche und Monologe im Führerhauptquartier – eine kritische Untersuchung“,
in: VfZ 67 (2019) 1, S. 105–145.
63 Ihrig, Atatürk in the Nazi Imagination, S. 85–87; Thomas Weber, Becoming Hitler. The Making
of a Nazi, New York 2017, S. 215–217, 275–277, 333, vor allem S. 382 f. Den deutschen Diskurs,
der vom Armenier Genozid bis in die 1930er Jahre reichte und an dem Hitler partizipierte,
zeichnet nach: Margaret Lavinia Anderson, Who Still Talked About the Extermination of the
Armenians? German Talk and German Silences, in: Ronald Grigor Suny (Hrsg.), A Question
of Genocide, Oxford 2011, S. 199–220, 372–379; allgemein: Stefan Ihrig, Justifying Genocide.
Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler, Harvard 2016.
64 Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, Mün
chen 2015, S. 435.
65 Thilo Vogelsang, Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr 1930–1933, in: VfZ 2 (1954),
S. 397–436, hier S. 435. Vgl. Andreas Wirsching, „Man kann nur Boden germanisieren“: Eine
neue Quelle zu Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in: VfZ 49
(2001), S. 516–550. Zu Reaktionen der Militärs siehe Müller, Das Heer und Hitler, S. 42 f. Vgl.
Richard Evans, The Coming of the Third Reich, London 2003, S. 316.
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des kommenden Krieges ein: „Der nächste Kampf wird ein reiner Weltanschauungs
krieg sein, d. h. bewußt ein Volks und ein Rassenkrieg sein.“66
Jochen Thies hat diese Rede, die in der Erklärung gipfelte „Kriegsziele a) Herrschaft
in Europa b) Weltvorherrschaft für Jahrhunderte“ erstmals 1976 im Wortlaut zugänglich
gemacht. Auch diese Rede wurde bereits von Hans Oster sorgsam registriert und weiter
verbreitet.67 Die auffallend häufigen Reden Hitlers vor Offizieren im Jahr 1939 bezeich
nete Thies als „eine Art Redezyklus“, der „auf eine umfassende, vollständige Aufklärung
der Wehrmacht über seine letzten Absichten hin angelegt war“.68 In all diesen Reden des
Jahres 1939 – besonders am 10. Februar, 11. März, 23. Mai, 22. August und 23. Novem
ber – thematisierte Hitler die Topoi Lebensraum, Rassenkampf und Rassenvernichtung
sowie Weltherrschaft. Überhaupt enthalten alle im Wortlaut bekannten Reden Hitlers
vor Offizieren Passagen zur Weltherrschaft oder deuten diese Zielrichtung an.69
In den Redezyklus des Jahres 1939 reiht sich die Rede vom 22. August 1939 nahtlos
ein, auch wenn Thies die Lochner Version nicht kannte oder sich ebenfalls von deren
Abqualifizierung durch Baumgart und Hillgruber hatte beeindrucken lassen.70 Damit
war er keine Ausnahme, denn auch Jäckel und Kuhn zogen diese Fassung und über
haupt die gesamte Rede vom 22. August 1939 nicht für ihre Forschungen heran.71
„Here indeed is the real Hitler“: Die Lochner-Version im Nürnberger Prozess
Zuletzt gilt es noch den Einwand zu entkräften, die Lochner Version sei vom Nürn
berger Kriegsverbrechertribunal „verworfen“ worden. Lochner maß der Hitler Rede
als Beweisstück für Nürnberg erhebliche Bedeutung zu. 1955 zitierte er mit Stolz aus
dem Buch „Berlin Twilight“ des Oberstleutnants Byford Jones, mit dem er gemein
sam nach Nürnberg gereist war: „Er [Lochner] hatte mir erzählt, daß er für die Weiter
gabe des sensationellsten unter den zahllosen Dokumenten verantwortlich wäre, durch
welches die verbrecherische Kriegsabsicht der Nazis bewiesen wurde.“ 72 Dieser spätere
Stolz Lochners war verständlich, aber unangebracht. Denn er hatte 1945 den Staatsan
wälten seine Schriftfassung der Hitler Rede in dem Glauben übergeben, damit seiner
Pflicht Genüge getan zu haben. Juristisch war jedoch nicht allein der Inhalt, sondern die
66 Thies, Architekt der Weltherrschaft, S. 113–115.
67 Ebenda, S. 112 f.
68 Ebenda, S. 117.
69 Ebenda, S. 120 f.
70 Thies erwähnt die Rede nur in den beiden anderen IMT Fassungen, ebenda, S. 120.
71 Bei Jäckel, Hitlers Weltanschauung, taucht die Rede gar nicht auf. Kuhn folgte Baumgart und
erwähnt sie nur in einer Fußnote. Kuhn, Hitlers außenpolitisches Programm, S. 254–256.
72 W. Byford Jones, Berlin Twilight, London 1946, zit. nach Louis Paul Lochner, Stets das Uner
wartete. Erinnerungen aus Deutschland 1921–1953, Darmstadt 1955, S. 353 f.