globalbridge.ch, vom 25. Februar 2023 Autor: Christian Müller in Allgemein, Geschichte, Politik

Die Verurteilung Russlands durch die Vollversammlung der UNO am Vortag des Jahrestages des russischen Einmarsches in die Ukraine wurde in den meisten Medien als großen Erfolg für den Westen gefeiert. Russland sei mehr und mehr isoliert, wurde behauptet. Ein genaueres Hinsehen führt zu einem etwas differenzierteren Ergebnis.

Eine Kleinigkeit: Das offizielle Resultat besagte 141 Stimmen für die Verurteilung Russlands, 7 Stimmen dagegen, 32 Enthaltungen. Zusätzlich aber waren 13 Ländervertretungen gar nicht anwesend. Das ist kein Zufall. Diese Länder müssen de facto den Stimmenthaltungen zugerechnet werden. Aber diese Länder, darunter Venezuela, der Libanon oder auch Aserbaidschan, wollen bewusst keinem Block zugerechnet werden oder haben im eigenen Land eine so gespaltene Gesellschaft, dass jede Zuordnung falsch wäre. Und Venezuela, als Beispiel, hat immerhin rund 28 Millionen Einwohner.

Zweitens: In der UNO-Vollversammlung haben alle Länder 1 Stimme. Nochmals: eine Stimme! China und Indien mit je 1,4 Milliarden Einwohnern und San Marino und Lichtenstein mit je weniger als 40’000 Einwohnern (!) haben ebenfalls je eine Stimme! Sprich: China hat über 40’000 mal mehr Einwohner als San Marino, hat aber gleich viele Stimmen, nämlich eine.

Zur UNO-Vollversammlungsabstimmung, ob das Referendum auf der Krim im Jahr 2014 anerkannt werden soll, schrieb ich damals die folgende Analyse:

«Nur zehn Tage nach dem Referendum, am 27. März 2014, stimmte die Generalversammlung der UNO mit 100 von 193 Stimmen bei 11 Gegenstimmen und 53 Enthaltungen (etliche Mitglieder waren gar nicht anwesend) für eine Resolution, mit der das Referendum auf der Krim für ungültig erklärt wurde – mit 51,8 Prozent also der stimmberechtigten Staaten, wobei China mit 1,4 Milliarden Einwohnern und auch Indien mit 1,4 Milliarden Einwohnern sich der Stimme enthielten, die vier europäischen Miniatur-Staaten Andorra, Liechtenstein, Monaco und San Marino mit zusammen nicht einmal 200’000 Einwohnern aber vier Stimmen auf die Waage brachten – und damit eine Mehrheit ermöglichten, das Referendum auf der Krim für völkerrechtlich illegal zu erklären.» 

In jenem Fall war also eine extrem kleine Minderheit der Weltbevölkerung gegen die Anerkennung des Referendums auf der Krim, aber diese kleine Minderheit war ausschlaggebend. Und seither leiden Tausende von Krim-Bewohnern unter den damals beschlossenen Sanktionen. Ich weiss, wovon ich rede, ich habe die Krim mehrmals besucht.

Drittens: Viele Kleinstaaten, nicht zuletzt im süd- und mittelamerikanischen, aber auch im pazifischen Raum können sich aus wirtschaftlichen Gründen eine andere Stimme als jene der USA gar nicht leisten, denn sie wissen, dass sie sonst von den USA wirtschaftlich abgestraft werden.

Besonders wichtig, aber kaum je erwähnt, ist aber die folgende Realität: Die Länderdelegationen in die UNO-Vollversammlung werden weltweit von den jeweiligen Regierungen, also von der Exekutive bestimmt. Alle Regierungen der Welt haben aber, wenn es um das Thema Selbstbestimmung der Völker und/oder das Recht auf Sezession geht, im ureigenen Interesse keine Lust, eine Sezession, auch wenn sie auf dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker basiert, gutzuheissen. Man denke an Spanien, das viele Jahre lang ein Problem mit den baskischen Separatisten und seit einigen Jahren ein großes Problem mit den katalanischen Separatisten hat. Man denke an Frankreich, das viele Jahre lang ein Problem mit den Separatisten auf Korsika hatte. Man denke an London, das den Schotten schon nur eine Abstimmung über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich nicht bewilligen will. Es gibt weltweit Dutzende von Ländern, die Minderheiten haben, die lieber unabhängig wären oder aber zu einem Nachbarstaat gehören würden. 

Wenn es also in der UNO-Vollversammlung um das Thema «Einhaltung der territorialen Grenzen» versus «Menschenrecht auf Selbstbestimmung» geht, das in der UNO-Charta schon im Artikel 1 festgehalten ist, dann sind die von der jeweiligen Exekutive bestimmten Delegationen an festgeschriebenen Grenzen natürlich sehr wohl interessiert, sie pfeifen aber auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. 

Würde man bei Abstimmungen in der UNO-Vollversammlung also die Zahl der dahinterstehenden Bevölkerung messen, dann sähe das Resultat ganz anders aus. Und würden die Delegationen der Länder nicht von der Exekutive, sondern vom Parlament oder gar von der Bevölkerung mit Wahlen bestimmt, sähe das Resultat nochmals ganz anders aus. Vor allem die Zahl der Enthaltungen wäre sehr viel höher, da der Krieg in der Ukraine die Bevölkerungen in sehr vielen Ländern überhaupt nicht interessiert. Sie interessieren sich – zu Recht – vor allem für ihr eigenes Land, nicht für Stellvertreterkriege der Großmächte.

Fazit: 

Abstimmungen zu Resolutionen in der UNO-Vollversammlung sind fern jeder demokratischen Entscheidung. Die Delegationen der Länder vertreten die Interessen der Regierungen, nicht der Bevölkerung. Wenn es um das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht, haben die Abstimmungsresultate keinen Wert und können sogar gefährlich sein, wenn sie, aufgrund falscher Interpretation, zu falschen politischen Entscheidungen führen. 

Das war insbesondere auch diesmal bei der Abstimmung am 23. Februar 2023 der Fall. Wer zum Beispiel aus dessen Resultat den Schluss zieht, Russland sei international total isoliert, wie die 141-Ja-Stimmenden zeigen würden, liegt völlig falsch.

Zur Erinnerung die UNO Charta Artikel 1:

The Purposes of the United Nations are: 

1. To maintain international peace and security, and to that end: to take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches of the peace, and to bring about by peaceful means, and in conformity with the principles of justice and international law, adjustment or settlement of international disputes or situations which might lead to a breach of the peace; 

2. To develop friendly relations among nations based on respect for the principle of equal rights and self-determination of peoples, and to take other appropriate measures to strengthen universal peace; 

3. To achieve international cooperation in solving international problems of an economic, social, cultural, or humanitarian character, and in promoting and encouraging respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion; and 

4. To be a center for harmonizing the actions of nations in the attainment of these common ends.

Oder zu Deutsch:

Die Ziele der Vereinten Nationen sind: 

  1. Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen oder andere Friedensbrüche zu unterdrücken und mit friedlichen Mitteln und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts eine Regelung oder Beilegung internationaler Streitigkeiten oder Situationen herbeizuführen, die zu einem Friedensbruch führen könnten; 
  2. Freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen auf der Grundlage der Achtung des Grundsatzes der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Stärkung des Weltfriedens zu treffen; 
  3. die internationale Zusammenarbeit bei der Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder humanitärer Art und bei der Förderung und Unterstützung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu erreichen und 
  4. ein Zentrum für die Harmonisierung des Handelns der Nationen zur Erreichung dieser gemeinsamen Ziele zu sein.“

Und so schreibt, leichtverständlich, auch Wikipedia über das Selbstbestimmungsrecht der Völker:

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eines der Grundrechte des Völkerrechts. Es besagt, dass ein Volk das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dies schließt seine Freiheit von Fremdherrschaft ein. Dieses Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es einem Volk, eine Nation bzw. einen eigenen nationalen Staat zu bilden oder sich in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuschließen.

Siehe dazu «Die Abspaltung des Donbass von der Ukraine war kein Verstoss gegen das Völkerrecht», hier anklicken.

Der Autor dieses Beitrags, Christian Müller, war etliche Jahre Präsident der Schweizer Sektion der internationalen Organisation «Demokratie ohne Grenzen», die sich zum Ziel gesetzt hat, auch die UNO demokratisch zu organisieren.


Die Abstimmung in der UNO-Vollversammlung am 23. Februar 2023