aus e-mail von Felix Weiland, 20. Februaer 16:16 Uhr, Von Michael von der Schulenburg
Wenn heute wieder damit argumentiert wird, dass ein Frieden nur durch Waffengewalt errungen werden kann, ist das ein Rückfall in die kriegerischen Zeiten vor der UN-Charta.
Der Krieg in der Ukraine geht nun in ein zweites Jahr – ohne, dass auch
nur der Versuch einer diplomatischen Lösung unternommen wird. Anstelle
von Friedensgesprächen haben sich die Kriegs- und Konfliktparteien
weiter in einer gefährlichen militärischen Eskalationsspirale unter
Einsatz immer schwererer Waffensysteme verfangen. Als wären wir noch den
Denkmustern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhaftet, sollen nun
militärische Großoffensiven die Lösung bringen.
Das wird die Ukraine nur weiter zerstören. Aber eine noch gefährlichere
Konsequenz ist, dass am Ausgang solcher Offensiven das Prestige der zwei
größten Nuklearmächte der Welt – USA und Russland – hängt. Damit steigt
das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen diesen Nuklearmächten,
die über etwa 90% aller Atomwaffen der Welt verfügen.
Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wäre dies das dritte Mal, dass ein
Krieg auf europäischem Boden zu einem Weltkrieg eskaliert – nur dieses
Mal mit potenziell erheblich verheerenderen Konsequenzen. Schon jetzt
leidet die überwiegende Mehrheit der am Krieg unbeteiligten
Weltbevölkerung an den wirtschaftlichen Folgen dieses Krieges; ein
Nuklearkrieg könnte alles Leben auf der Welt auslöschen – ohne
Unterschied, ob einer Kiegspartei angehörend oder nicht. Es ist also
eine Kriegssituation entstanden, die unsere Vorfahren durch die
UN-Charta hatten verhindern wollen.
In der Präambel der UN-Charta heißt es: „die Völker der Vereinten
Nationen (sind) fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel
des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares
Leid über die Menschheit gebracht hat.“
Leider scheint dieser Appell der UN-Charta heute vergessen. Das liegt
vor allem daran, dass die eigentlichen Schutzmächte (und
UN-Gründungsmitglieder) der UN-Charta – die USA, Großbritannien,
Frankreich und nun auch Russland – die Prinzipien der UN-Charta
kontinuierlich erodiert, ja sie wiederholt gänzlich ignoriert haben. Das
ist ihnen als permanente Mitglieder des UN-Sicherheitsrates mit
Vetorecht möglich. Im Ukraine-Krieg sind nun diese vier Schutz- und
Vetomächte zu Konfliktparteien geworden. Damit tragen sie gegenüber der
Menschheit die vorrangige Verantwortung für diesen Krieg.
Die UN-Charta ist zuerst ein Friedensgebot und erst dann ein Kriegsverbot
Ein im Westen ständig wiederholter Vorwurf ist, dass Russlands
Angriffskrieg gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist und die Ukraine
damit nicht nur das Recht hat, sich zu verteidigen, sondern auch, andere
Staaten bei der Verteidigung um Hilfe zu bitten. Das ist unbestreitbar,
da diese Aussage auf der UN-Charta beruht. Aber gibt die UN-Charta damit
dem Westen auch das Recht, diesen Krieg beliebig fortzusetzen, einen
militärischen Sieg über Russland anzustreben und aus diesen Gründen alle
Friedensbemühungen zu verweigern? Sicherlich nicht!
Denn im Kern ist die UN-Charta eine gegenseitige Verpflichtung aller
Mitgliedsländer, Konflikte friedlich zu lösen; nur darauf beruht der
allgemeine Bann der Anwendung militärischer Gewalt zu politischen Zielen
– und nicht umgekehrt. Die UN-Charta ist eben kein globales
Waffenstillstandsabkommen, sondern eine Aufforderung an alle
Mitgliedsländer, durch friedliche Mittel einen weltumspannenden Frieden
zu garantieren. Die Charta ist zuerst ein Friedensgebot und erst dann
ein Kriegsverbot! Es ist dieser Aspekt des Friedensgebotes, der mit
einer militärischen Logik bricht, die in der Vergangenheit zu so vielen
Kriegen gerade in Europa geführt hatte. Wenn heute wieder damit
argumentiert wird, dass ein Frieden nur durch Waffengewalt – also durch
Krieg – errungen werden kann, ist das ein Rückfall in die kriegerischen
Zeiten vor der UN-Charta.
In der UN-Charta heißt es dann auch, dass die Hauptaufgabe darin besteht,
„den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu
diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des
Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere
Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder
Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche
Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu
bereinigen oder beizulegen.“
Und dann noch deutlicher:
„Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch
friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale
Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“
Die Verpflichtung zur friedlichen Lösung von Konflikten besteht nicht
nur, um Kriegen vorzubeugen, sondern auch, um diese zu beenden. So ruft
die Resolution der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022, in der die
militärische Intervention Russlands scharf verurteilt wurde, nicht nur
Russland und die Ukraine, sondern alle beteiligten Staaten zu einer
friedlichen Lösung des Ukrainekrieges auf:
„Die Generalversammlung fordert nachdrücklich die sofortige
friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation
und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und
andere friedliche Mittel.“
In vielem ist die UN-Charta der heutigen schwarz-weiß Sichtweise einer
Welt zwischen Gut und Böse oder gar zwischen angeblich demokratischen
und autoritären Staaten weit überlegen. So kennt die UN-Charta keine
Begriffe wie "Angriffskrieg", "Präventionskrieg", "Anti-Terrorkrieg"
oder gar "humanitärer Krieg". Sie unterscheidet nicht zwischen den
jeweiligen politischen Systemen der Mitgliedsländer und auch nicht
zwischen berechtigten oder unberechtigten Streitpunkten der
Konfliktparteien. Die UN-Charta geht davon aus, dass es zu jedem
Konflikt immer zwei Seiten gibt, die durch friedliche Mittel
auszugleichen sind. Übertragen auf den Ukrainekrieg wären die
Sicherheitsinteressen Russlands und die der Ukraine gleichberechtigt und
hätten durch Verhandlungen gelöst werden müssen.
Die schwere Mitschuld des Westens am Ukrainekrieg
Der Ernst des sich aufschaukelnden Konfliktes über die Ausweitung der
NATO an die Grenzen Russlands, die nun zum Krieg geführt hat, war allen
Beteiligten mindestens seit 1994 klar. Russland hat wiederholt davor
gewarnt, dass mit den Aufnahmen der Ukraine und Georgiens in die NATO
seine elementaren Sicherheitsinteressen verletzt und damit eine rote
Linie überschritten würde. Damit handelt es sich um einen klassischen
Konflikt, wie er oft vorkommt.
Der UN-Charta entsprechend hätte dieser Konflikt diplomatisch gelöst
werden müssen – und wohl auch können. Das ist aber nicht geschehen,
weder um einen Krieg zu verhindern noch um einen friedlichen Ausgang des
einmal begonnen Krieges zu erreichen. Auch darin besteht ein Bruch der
UN-Charta.
Dennoch wurde der NATO-Beitritt der Ukraine vor allem seitens der USA
systematisch weiterverfolgt und Russlands Bedenken einfach übergangen.
Das verlief nicht ohne Provokationen. Dabei schreckte der Westen nicht
einmal davor zurück, im Jahr 2014 den gewaltsamen Umsturz eines
rechtmäßig gewählten (OSZE) Präsidenten zu unterstützen, um so eine für
einen NATO-Beitritt genehme Regierung in der Ukraine einzusetzen. Nach
Angaben von Victoria Nuland, heute stellvertretende Außenministerin der
USA, hatte die USA diesen Umsturz mit 5 Milliarden Dollar finanziert; in
Wirklichkeit aber dürfte es ein noch wesentlich höherer Betrag gewesen
sein. Auch dies war eine grobe Verletzung der Souveränität eines
UN-Mitglieds und damit ein Bruch der UN-Charta.
Nach den kürzlich gemachten Aussagen von Angela Merkel und Francois
Holland zu den Minsk I- und Minsk II-Abkommen stellt sich auch die
Frage, ob diese seitens des Westens überhaupt in ‚good faith‘ verhandelt
wurden oder nur dem Ziel dienten, Zeit für die militärische Aufrüstung
der Ukraine zu schaffen. Da diese Abkommen durch den Beschluss des
UN-Sicherheitsrates rechtsbindend wurden, wäre das eine schockierende
Travestie jeden internationalen Rechtes.
Als im Dezember 2021 Russland auf die NATO-Entscheidung, den Beitritt
der Ukraine weiter voranzutreiben, mit einer Drohgebärde antwortete und
Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, machte es gleichzeitig
einen weiteren Versuch, eine friedliche Lösung zu erreichen. Das führte
zwar zu einer Reihe diplomatischer Aktivitäten, aber Gespräche über den
Beitritt der Ukraine zur NATO wurden von den westlichen
Gesprächspartnern kategorisch abgelehnt. Die ukrainische Regierung
antwortete im Februar 2022 sogar mit massivsten Bombardierungen des von
pro-russischen Rebellen kontrollierten Donbas und der dortigen
Zivilbevölkerung.
Auch nach dem Ausbruch des Krieges wurden alle unternommenen
Friedensbemühungen von der NATO, insbesondere von den USA und
Großbritannien, torpediert. In der ersten Märzwoche 2022 bereits bemühte
sich der damalige Premierminister Israels, Naftali Bennet, um einen
Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Nach seinen kürzlich
gemachten Aussagen hatten Russland und die Ukraine großes Interesse an
einem schnellen Ende des Krieges. Laut Bennet war durch Konzessionen
Russlands ein Waffenstillstand „in greifbare Nähe“ gerückt. Dazu kam es
aber nicht, denn „sie (die USA und Großbritannien) haben einen
Waffenstillstand blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht“, so
Bennet weiter.
Und dann gab es die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen, bei
denen sich beide Seiten bereits in der dritten Märzwoche, also nur einen
Monat nach Ausbruch des Krieges, auf die Grundzüge einer
Friedensvereinbarung geeinigt hatten: die Ukraine versprach, der NATO
nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem
Territorium zuzulassen, während Russland im Gegenzug versprach, die
territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russischen
Besatzungstruppen abzuziehen. Für den Donbas und die Krim gab es
Sonderregelungen.
Auf einer für den 29. März 2022 geplanten Friedenskonferenz in Istanbul
sollten diese Grundzüge weiterentwickelt werden. Doch dann zog sich die
Ukraine auf Druck der USA und Großbritanniens von den
Friedensverhandlungen zurück. Der türkische Außenminister Çavuşoğlu
sagte später über die gescheiterte Friedenskonferenz in Istanbul:
„einige NATO-Staaten wollten, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht,
um Russland zu schwächen.“
Wie viel Leiden, wie viele Menschenleben und wie viele Zerstörungen
hätten vermieden werden können, wenn sich die NATO im März hinter die
ukrainisch-russischen Friedensbemühungen gestellt hätte? Dafür, dass sie
diese jedoch verhindert haben, tragen die NATO-Länder eine schwere
Mitschuld an den Opfern des Krieges seit dieser Zeit.
Und hier noch ein Wort zur Verteidigung der Ukraine: Präsident Selenskyj
hatte sich sehr wohl um eine schnelle friedliche Lösung des nun
ausgebrochenen Krieges bemüht. Er hatte den israelischen Premierminister
Bennet um Vermittlung mit Russland gefragt und es war auch er, der die
ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen genehmigt hatte. Noch am 27.
März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der
ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten
in aller Öffentlichkeit zu verteidigen – und das, obwohl die NATO
bereits am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese
Friedensverhandlungen nicht zu unterstützen. Letztlich gab Selenskyj dem
Druck der NATO nach und setzte auf eine Fortsetzung des Krieges.
Diese Entscheidung hat nun zu einer weitreichenden Zerstörung der
Ukraine, zu unermesslichem Leid der dortigen Zivilbevölkerung und zum
Verlust großer Teile der Ukraine geführt. Heute wäre die
Verhandlungsposition der Ukraine wesentlich schlechter, als sie es im
März 2022 noch war. Das erklärt sicherlich die jetzige Haltung
Selenskyjs, nun alles auf einen totalen Sieg über Russland zu setzen.
Aber auch ein solcher Sieg, sollte er überhaupt möglich sein, ginge mit
enormen menschlichen Kosten einher und könnte zur völligen Zerstörung
der Ukraine führen. Es muss Selenskyj und den meisten seiner Mitstreiter
inzwischen klar geworden sein, dass sie im März/April besser nicht auf
ihre Freunde aus dem Westen hätten hören sollen und dass sie mit der
Ablehnung einer friedlichen, auf Verhandlungen basierenden Lösung nun
mit ihrem eigenen Blut für die strategischen Kriegsziele anderer
bezahlen. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich die Ukrainer
betrogen fühlen werden.
Der Ukrainekrieg lehrt die Unersetzlichkeit der UN-Charta
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat der Westen, insbesondere die USA,
die Gültigkeit der UN-Charta immer wieder in Zweifel gezogen. Die
UN-Charta und dessen Prinzip der „sovereign equality“ verträgt sich eben
nicht mit dem alleinigen globalen Führungsanspruch der USA. Um dieser
Führungsrolle gerecht zu werden, haben die USA nach Angaben des US
Congressional Research Service seit dem Ende des Kalten Krieges 251
militärische Interventionen in anderen Ländern durchgeführt – geheime
CIA-Operationen und Finanzierungen von Proxy-Kriegen sind dabei nicht
mitgezählt. Es kann davon ausgegangen werden, dass viele – wenn nicht
gar die meisten dieser Interventionen – Verletzungen der UN-Charta
waren. In fast allen Fällen haben sie nur menschliches Leid, Zerstörung,
Chaos und dysfunktionale Regierungen hinterlassen. Demokratien sind
daraus nie entstanden. Ist der Ukraine nun ein ähnliches Schicksal
beschieden?
Der Krieg in der Ukraine hat die Welt näher an eine nukleare Katastrophe
gebracht als irgendein anderer Konflikt seit dem Ende des Kalten Krieges
– vielleicht sogar seit dem Ende der beiden Weltkriege. Das sollte uns
allen schmerzlich bewusst gemacht haben, wie wichtig, ja unersetzlich
die UN-Charta auch heute noch ist. Um den Weltfrieden zu erhalten,
bleibt nur der Weg über eine freiwillige Einigung zwischen Staaten,
Konflikte friedlich zu lösen.
Die UN-Charta war einst ein Geschenk der Siegermächte des Zweiten
Weltkrieges – der USA, der damaligen Sowjetunion, Großbritanniens und
Frankreichs – an die Menschheit. Heute haben sich gerade diese Staaten
(oder deren Nachfolgestaaten) mit dem Ukrainekrieg derart diskreditiert,
dass wir von ihnen keine Erneuerung der UN-Charta erwarten können.
Die Fackel für eine friedliche, auf Zusammenarbeit gerichtete
Weltordnung muss nun von anderen Ländern getragen werden, von Ländern
wie Brasilien, Argentinien und Mexiko in Lateinamerika; von Indien,
China und Indonesien in Asien; von Südafrika, Nigeria und Äthiopien in
Afrika und Ägypten und Saudi-Arabien im Mittleren Osten. Indem diese
Länder eine stärkere Verantwortung für den Weltfrieden übernehmen, würde
ein weiterer Schritt hin zu einer multipolaren und gleichberechtigten
Welt gegangen. Was eignet sich da besser als eine Friedensordnung, die
auf der UN-Charta und dem Prinzip „der souveränen Gleichheit aller ihrer
Mitglieder“ aufgebaut ist!
Info: https://makroskop.eu/07-2023/der-ukraine-krieg-und-unsere-verpflichtung-zum-frieden
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.