Ist Kapitalismus das Problem oder die Lösung?

overton-magazin.de, vom28.August 2022 Marcus Kloeckner 46 Kommentare
Ein Streitgespräch zwischen dem glühenden Kapitalisten Rainer Zitelmann und dem linken Gesellschaftswissenschaftler Ingar Solty – Teil 1
Ist es heutzutage noch möglich, dass zwei Akteure, die eine vollständig unterschiedliche politische Auffassung vertreten, miteinander konstruktiv diskutieren? Ja, das ist es. Der Historiker und Autor Rainer Zitelmann, der vor allem als leidenschaftlicher Kapitalist bekannt geworden ist, diskutiert mit dem linken Gesellschaftswissenschaftler Ingar Solty über den Kapitalismus. Ein Streitgespräch in zwei Teilen, das per Email geführt wurde und einiges an Reibung verspricht.
Herr Zitelmann, Herr Solty, die Welt steht vor ziemlich großen Problem.
Sie beiden könnten, was Ihre politische Grundeinstellung angeht, wohl kaum weiter voneinander entfernt sein. Auf der einen Seite ein glühender Kapitalist, auf der anderen Seite ein linker Gesellschaftswissenschaftler, der den Kapitalismus als Wirtschaftssystem überwinden und durch ein sozialistisches ersetzt sehen will.
Was sind aktuell die großen Problem, Herr Zitelmann?
Rainer Zitelmann: Große Probleme gibt es jede Menge, und fast alle sind von der Politik verschuldet. In Deutschland etwa die Energieproblematik, verschuldet durch den Ausstieg aus der Kernenergie, die verfehlte Energiepolitik und eine Politik, die uns von Russland abhängig gemacht hat. Ein anderes Problem ist die Inflation, die mehrere Ursache hat – eine davon ist die verfehlte Politik der Zentralbanken mit Nullzinsen und Anleihekäufen. Ich sehe, anders als viele Linke, nicht überall Marktversagen, sondern Staats- und Politikversagen.
Aus meiner Sicht entwickeln sich Deutschland und Europa immer mehr in Richtung Planwirtschaft. Beispiel ist die Energiepolitik oder auch die Automobilindustrie: nicht mehr Unternehmen und Verbraucher bestimmen, welche Autos produziert werden, sondern Politiker und Beamte in Brüssel. China produziert und fördert sogar weiter moderne Verbrennermotoren, wir verbieten sie.
Und Sie, Herr Solty, teilen Sie die Sicht von Herrn Zitelmann? Wo sehen Sie die großen Problem derzeit?
Ingar Solty: Eine gewisse Tendenz zum Staatsinterventionismus ist aktuell nicht von der Hand zu weisen. Wenn man diese kritisiert (ich tue es auch, wenngleich aus anderen Gründen), muss man aber meines Erachtens auch die strukturellen Ursachen dafür benennen.
Die wären?
Ingar Solty: Der globale Kapitalismus befindet sich schon seit Längerem in einer tiefen Überakkumulationskrise. Weil Herr Zitelmann die Autoindustrie erwähnt: Allein hier haben wir es mit globalen Überkapazitäten von etwa 30 Prozent und entsprechend verringerter Kapazitätenauslastung zu tun. Es gibt ganz allgemein immer mehr angehäuftes Kapital, das keine profitablen Anlagemöglichkeiten mehr findet. Die Politik der letzten drei, vier Jahrzehnte hat versucht, diesen an sich unlösbaren Problemen auf verschiedenen Wegen Herr zu werden, nämlich in genau dem Geist, dem Herr Zitelmann hier das Wort redet, die nationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und damit der Konkurrenz Marktanteile abzuluchsen.
Und das kritisieren Sie, Herr Solty?
Ingar Solty: Ja, denn das Ergebnis war: Lohnzurückhaltung für die Beschäftigten, die die Werte unserer Welt schaffen, und Subventionen für die Kapitalunternehmen, damit sie die Produktion nicht verlagern. Damit erhöhten sich die Profitraten wieder, während gleichzeitig die Lohnquote sank und die Vermögensungleichheit weiter wuchs – bis auf die heutigen Rekordhöchststände seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er.
Das Problem ist aber: Wenn alle Staaten der Erde genau eine solche „beggar-thy-neighbor“-Politik verfolgen und die Vermögensungleichheit überall wächst, dann reproduziert sich das Problem lediglich auf höherer Stufenleiter. Also mit noch mehr durch die globalen Kapitalbesitzer privat angeeigneten Profiten, die keine Anlagesphären finden. Folglich mussten sich die prokapitalistischen Politiker Neues einfallen lassen und haben angefangen, mit den Mitteln, über die sie verfügen, die überakkumulierende kapitalistische Wirtschaft am Laufen zu halten. Dazu gehörte – in der Tat, aber als eine Folge der Strukturprobleme des Kapitalismus! – die Politik der niedrigen Zinsen. Und dazu gehörte die Suche nach neuen Anlagesphären für das Entwertung fürchtende Kapital. Die neoliberale Politik fing nämlich jetzt an, Bereiche des gesellschaftlichen Lebens inwertzusetzen.
Wie meinen Sie das?
Ingar Solty: Bereiche der Daseinsvorsorge usw., die bisher öffentlich und nichtwarenförmig waren, wurden nun zunehmend im Namen der „Effizienz“ der Profitmaximierung und Logik des Marktes unterworfen: Gesundheit, Rente, Bildung, Mobilität, Telekommunikation usw. Auch in der Wohnungsbaupolitik zog sich der Staat zurück und hier hat sich in den letzten Jahren das überschüssige Kapital ja besonders spekulativ draufgestürzt.
Die uns in den 1990er Jahren und 2000er Jahren von den Marktgläubigen jedoch versprochenen Wohltaten haben sich nicht eingestellt. Gemäß der neoliberalen Orthodoxie – zu verstehen als ideologischer Ausdruck des Klasseninteresses der besitzenden Klassen – sollte diese Form der Durchsetzung von Marktprinzipien zu einem stabilen ökonomisch-gesellschaftlichen Gleichgewicht, Wohlstand und Demokratie führen.
Und was war tatsächlich der Fall?
Ingar Solty: Das Gegenteil von dem Versprochenen. Nicht nur hat diese Vermarktlichung und Finanzialisierung immer größere Wirtschafts- und Finanzkrisen mit verheerenden Folgen produziert, so wie die globale Finanz- und Eurokrise nach 2007, die bis heute fortschwelt. Die marktorientierte Politik hat auch die Gesellschaften innerlich zerrissen und polarisiert.
Und diese Polarisierung von wenigen Gewinnern und vielen Verlierern sieht man auch geografisch: Zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, zwischen der Nord-Eurozone und der Süd-Eurozone, zwischen funktionierenden urbanen Wirtschaftsballungsräumen wie Rhein-Main, Stuttgart und München einerseits und verödenden Landstrichen zwischen Pirmasens und Pasewalk andererseits, und zwischen Innenstadtbereichen der Reichen mit bester Infrastruktur einerseits und andererseits Stadtrandbezirken, wo die Menschen leben, die diese Städte tagtäglich am Laufen halten: die U-Bahnen fahren, den Müll entsorgen, die Büros und Wohnungen putzen, in den Restaurants kochen und kellnern, die Post und Pakete ausliefern, die Haare frisieren usw.
Die globale und nationale Klassenapartheid ist also, wenn man so will, in der Tat eine Form von Politikversagen. Aber es war eine Politik des Marktes, die hier versagt hat.
Herr Zitelmann, was sagen Sie zu den Ausführungen von Herrn Solty?
Rainer Zitelmann: Ich möchte meine Antwort etwas kürzer halten und vor allem auf einen zentrale Behauptung von Herrn Solty eingehen: „Die uns in den 1990er Jahren und 2000er Jahren von den Marktgläubigen jedoch versprochenen Wohltaten haben sich nicht eingestellt.“ Das Gegenteil ist richtig!
Das ist ein fundamentaler Widerspruch von Ihnen. Bitte erklären Sie uns, wie Sie das meinen.
Rainer Zitelmann: Bevor der Kapitalismus entstand, lebten die meisten Menschen auf der Welt in extremer Armut – 1820 betrug die Quote noch 90 Prozent. Heute ist sie unter 10 Prozent gesunken. Das Bemerkenswerte: In den letzten Jahrzehnten, wo Sie die negative Entwicklung sehen, hat sich der Rückgang der Armut Dank der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus so stark beschleunigt wie in keiner Phase der Menschheitsgeschichte zuvor. 1981 lag die Quote noch bei 42,7 Prozent, im Jahr 2000 war sie bereits auf 27,8 Prozent gesunken und 2021 lag sie unter 10 Prozent.
Diese Haupttendenz, die über Jahrzehnte anhält, ist entscheidend. Zwar ist die Armut – entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Weltbank, die diese Daten erhebt – zuletzt wieder gestiegen. Aber das hat vor allem mit der Covid-Pandemie und dem Ukraine-Krieg zu tun, die in Ländern mit ohnehin großer Armut zu einer erneuten Verschlechterung der Situation geführt hat. Hat man die längere Tendenz im Blick, dann sind auch andere Entwicklungen erfreulich. Die Kinderarbeit nahm in den letzten Jahrzehnten deutlich ab. Im Jahr 2000 arbeiteten weltweit 246 Millionen Kinder, 20 Jahre später, im Jahr 2020, waren es nur noch 160 Millionen. Und dies, obwohl die Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum von 6,1 auf 7,8 Milliarden Menschen zunahm.
Dass diese Entwicklung dem Kapitalismus zu verdanken ist, sieht man am Beispiel Chinas: Noch 1981 betrug der Prozentsatz der Chinesen, die in extremer Armut lebten, 88 Prozent. Dann führte Deng Xiaoping das Privateigentum und viele Elemente der Marktwirtschaft ein. Das Ergebnis: Heute leben weniger als 1 Prozent der Chinesen in extremer Armut.
Also: die von den „Marktgläubigen“ versprochenen Wohltaten, d.h. ein weltweiter Rückgang von Hunger und Armut und Steigerung des Wohlstandes, sind, anders als Sie sagen, in einem Maße eingetreten, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätte.
Ingar Solty: Dass der Kapitalismus historisch die Produktivkräfte entfaltet hat, steht außer Frage. Davon ging schon Karl Marx aus.
Sie geben also Herrn Zitelmann recht?
Ingar Solty: Nein. entscheidend ist zum einen nicht die extreme Armut, sondern die Relation zum Gesamtwohlstand einer (Welt-)Gesellschaft und welche Teilhabe er ermöglicht oder für die ermöglichen müsste, die diesen Wohlstand als Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter historisch geschaffen haben und tagtäglich für die Kapitalbesitzer schaffen.
Wie meinen Sie das?
Ingar Solty: Wir könnten zum Beispiel beim Stand der heutigen Produktivkräfte für diese globale Klasse alle nur erdenklichen sozialen Rechte verwirklichen: wie das Recht auf eine Arbeit, von der man leben kann, auf eine gerechte Verteilung von Arbeit und frei verfügbare Zeit, auf bezahlbaren Wohnraum, auf Gesundheit, auf gesellschaftliche Teilhabe usw.
Und stattdessen…
Ingar Solty: ….fliegen Milliardäre privat ins Weltall, gondeln in Yachten so groß wie zwei Fußballfelder um die Welt oder schaffen sich Infrastrukturen, um ihre Gehirne in die Cloud hochzuladen und sich so unsterblich zu machen, während Hunderte Millionen Menschen an heilbaren Krankheiten sterben oder unsere öffentliche Infrastruktur zerfällt.
Rainer Zitelmann: Die Vorstellung Menschen seien arm, weil andere reich sind, ist der grundlegende Irrtum aller Nullsummengläubigen. Die meisten Reichen sind als Unternehmer reich geworden, weil sie Produkte geschaffen haben, die von vielen Menschen geschätzt werden. Und das Geld, das Leute wie Jeff Bezos oder Elon Musk für privaten Luxus ausgeben, ist nur ein winziger Prozent- bzw. Promillesatz ihres Gesamtvermögens, das überwiegend in Aktien ihrer Unternehmen gebunden ist. Kein Mensch auf der Welt ist deshalb arm, weil manche Unternehmer durch Produkte wie Tesla, Amazon, Facebook oder Google superreich sind.
Ingar Solty: Hier besteht ein grundsätzlicher werttheoretischer Dissens zwischen Ihnen und mir. Jeff Bezos bspw. schafft keine Werte. Er hat im Zuge der Digitalisierung als Plattform und mit der körperlichen Lager- und Lieferarbeit von Millionen ausgebeuteter Arbeiterinnen und Arbeiter eine (quasi-)natürliche Monopolstellung erzielt, die für ihn dieses gigantische und obszöne Vermögen geschaffen haben. Auch Elon Musks Kapitalvermögen beruht auf der Auspressung von Mehrwert aus der „seine“ Autos produzierenden Arbeiter in Form von Profit. Man kann das Kapitalvermögen der Wenigen nicht ohne die Ausbeutung der Vielen denken.
Jedenfalls sah auch Karl Marx in der Entwicklung der Produktivkräfte die „historische Mission“ des Kapitalismus. Er verstellte sich aber darüber hinaus nicht den Blick für den Umschlag der Produktiv- in Destruktivkräfte: wie etwa den Blick für die stete Enteignung der Kleineigentümer. Die Freihandelspolitik allein hat seit 1980 Hunderte Millionen Klein- und Subsistenzbauern in Afrika, Asien und Lateinamerika proletarisiert. Die Zahl der global eigentumslosen Lohnarbeiter, die keinen Zugang mehr zu Produktionsmitteln besitzt und in der ständigen Unsicherheit eines marktabhängigen Lebens lebt, hat sich nach Angaben der UN-Behörde International Labour Organization fast verdoppelt.
Marx behielt ferner im Blick, dass der Kapitalismus als System auf ständiges Wachstum angewiesen ist. Er ist aus diesem Grund auch nicht ohne systematischen Raubbau an menschlicher Arbeit und Natur zu denken.Zudem ist der Kapitalismus, wie Thomas Piketty gezeigt hat, ein System, das naturwüchsig die Einkommen aus harter und gefährlicher Arbeit zugunsten von – ich sage das ganz bewusst – leistungslosen Einkommen aus in der Regel ererbtem Kapital umverteilt. Und schließlich ist der Kapitalismus ein System, das in seiner Geschichte immer tiefere Krisen produziert und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der von ihm entwickelten Produktivkräfte.
Allein in diesem letzten Sinne ist die laufende Klimakatastrophe ja nichts Anderes als das größte Marktversagen in der Geschichte der Menschheit: Zwei Millionen Jahre gibt es menschliches Leben auf dem Planeten Erde; der Kapitalismus brauchte nicht einmal 250 Jahre, um menschliches Lebens hier grundsätzlich in Frage zu stellen und uns schon kurzfristig mit der Barbarei der möglicherweise erzwungenen Umsiedlung von 2-3 Milliarden Menschen zu konfrontieren.
Zum einen, Herr Zitelmann, frage ich mich also, ob Sie diese Destruktivkräfte nicht sehen? Zum anderen wundere ich mich auch über Ihre eingangs formulierte Kritik am Staatsinterventionismus im Rahmen des Kapitalismus. Denn es ist ja eine historische Tatsache, dass die größten Wachstumsraten und die größte soziale Kohäsion der Gesellschaften im kapitalistischen Westen eben nicht in der neoliberalen Ära seit Ende der 1970er Jahre verzeichnet wurden, sondern im „Goldenen Zeitalter des Kapitalismus“ nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieses war aber ja extrem staatsinterventionistisch, insofern als im „Westen“ der US-amerikanische New Deal der 1930er Jahre internationalisiert wurde – mit extremer Abschöpfung der Kapitalvermögen durch den Staat (94% auf alle Einkommen über 200.000 Euro/Jahr in den USA), mit einer massiven wirtschaftlichen Staatstätigkeit und Staatseigentum von Post, Telekommunikation, Bahn, Luftfahrt, Gesundheit etc., mit dem Auf- und Ausbau eines generösen Sozialstaats, mit einer auf Vollbeschäftigung und entsprechende Gewerkschaftsmacht und damit auch relativen Vermögensangleichung ausgelegten Geldpolitik usw. usf.
Rainer Zitelmann: Sie sagen: „Entscheidend ist aber m.E. zum einen nicht die extreme Armut, sondern die Relation zum Gesamtwohlstand einer (Welt-)Gesellschaft und welche Teilhabe er ermöglicht.“ Das ist der Kern: Es geht um die Frage: Was ist wichtiger: Die Beseitigung von Armut oder die Reduzierung von Ungleichheit? Wenn Sie Letzteres nehmen, dann müssten sich jetzt über eine Milliarde Chinesen nach der Zeit Maos zurücksehnen, da waren sie nämlich gleicher. Der Gini-Index ist heute größer in China als zu Maos Zeiten. Und das ist das Absurde an der Argumentation der Kapitalismuskritiker: Sie interessieren sich nicht für die Beseitigung von Armut, sondern nur für das Thema der sogenannten „relativen Armut“.
Piketty beklagt, in den Jahren 1990 bis 2010 sei die Schere zwischen Arm und Reich mit Blick auf Einkommen und Vermögen auseinandergegangen. Tatsache ist jedoch, dass gerade in diesen Jahrzehnten Hunderte Millionen Menschen weltweit – dank der Ausbreitung des Kapitalismus – aus der bitteren Armut entronnen sind, besonders in China, aber auch in Indien, Vietnam, Polen und vielen anderen Ländern.
Ist es für diese Hunderten Millionen Menschen entscheidend, dass sie nicht mehr hungern und der Armut entronnen sind oder dass sich – möglicherweise – im gleichen Zeitraum das Vermögen von Multimillionären und Milliardären noch stärker vermehrt hat als ihr Lebensstandard? Dass in den vergangenen Jahrzehnten in China die Zahl der Millionäre und Milliardäre stark gestiegen ist (es gibt in Peking mehr Milliardäre als in New York) und sich für Hunderte Millionen der Lebensstandard so sehr verbessert hat, sind nur zwei Seiten einer Medaille und die Folgen des gleichen Prozesses, nämlich der Entwicklung vom Sozialismus zum Kapitalismus, von der Plan- zur Marktwirtschaft.
Wenn man argumentiert, die Zahl der Armen in den entwickelten westlichen Industrieländern sei gestiegen, dann liegt das oft einfach daran, dass Armut in den zugrunde liegenden Studien relativ gemessen wird. Arm ist beispielsweise im offiziellen Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung, wer weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens verdient. Wie fragwürdig diese Definition ist, lässt sich leicht an einem Gedankenexperiment veranschaulichen.
Nämlich?
Rainer Zitelmann: Angenommen, bei gleichem Geldwert stiegen alle Einkommen um das Zehnfache. Untere Einkommensbezieher, die beispielsweise bisher 1000 Euro im Monat hatten, bekämen nunmehr 10.000 Euro. Keiner müsste sich mehr sorgen. Das Leben wäre schön. Jedoch – nach der herrschenden Armutsdefinition gemäß der 60-Prozent-Formel hätte sich nichts geändert. Immer noch gäbe es genau so viele „Arme“ wie zuvor, obwohl deren Einkommen jetzt zehnmal höher ist als zuvor.
Stimmt die Trickle-down-These?
Herr Solty, was entgegen Sie?
Ingar Solty: Selbstverständlich muss sich Armut am Gesamtwohlstand einer Gesellschaft und dem gesellschaftlich geschaffenen Zivilisationsstand bemessen. Schließlich sind es die lohnabhängigen Klassen, die diesen Wohlstand schaffen und entsprechend daran teilhaben und auch mitbestimmen können sollten, wie dieser Wohlstand verwendet wird. Ich finde es zynisch, wenn Menschen mit mittleren und höheren Arbeitseinkommen, wie Sie und ich, sie genießen können, die Existenz von arbeitenden und erwerblosen Armen wegzureden versuchen, bloß weil Armut in den kapitalistischen Kernstaaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr bedeutet zu verhungern, sondern nur noch bedeutet, auf Frühstück und Abendessen zu verzichten, damit das Geld am Ende des Monats reicht. Um von Kino- und Restaurantbesuchen, Urlaubsreisen und dergleichen gar nicht zu sprechen. Es ist menschenunwürdig, wie auch die Twitter-Diskussion #Ichbinarmutsbetroffen gezeigt hat. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Aber vielleicht diskutieren wir theoretischer: Wenn Sie nun behaupten, dass Vermögensungleichheit nicht das Problem sei, sondern dass es um Wachstum geht und die Milliardäre die Armen quasi nachziehen, dann vertreten Sie, Herr Zitelmann, hier ja die „trickle-down“-Theorie der Reaganomics der 1980er Jahre.
Was ist darunter zu verstehen?
Ingar Solty: Diese Theorie behauptete, die Entfesselung der Marktkräfte – also die Liberalisierung des Handels, die Privatisierung von öffentlichem Eigentum, die Deregulierung von Arbeits-, Finanz- und anderen Märkten – würde den Wohlstand allgemein heben. Das heißt, am Ende des Tages also würde auch die Arbeiterklasse – durchaus kontraintuitiv – von Steuersenkungen für Superreiche und Konzerne sowie der systematischen Schwächung von Gewerkschaften profitieren.
Das hört sich doch gut an.
Ingar Solty: Das Ganze ist nun keine bloße Theorie, sondern wurde ab den späten 1970er Jahren von den USA und Großbritannien ausgehend in fast allen Ländern der Erde ausprobiert. Man kann also sich die empirischen Entwicklungen anschauen. Dann fällt einem auf, dass es in den 1960er Jahren in den USA und in Großbritannien möglich war, von einem einzigen (männlichen) Lohnarbeitseinkommen bei geringerer Produktivität als heute und mit geringerer Wochenstundenzahl als heute eine mehrköpfige Familie zu ernähren und arbeitsplatznahes Wohneigentum zu erwerben.
Und die Realität, heute?
Ingar Solty: Dieses Leben ist heute auch in Deutschland für die Mehrheit der jungen Lohnarbeiter, selbst für die hochgebildeten „professionals“, ohne Erbschaften undenkbar geworden. Vor dem Hintergrund der monetaristischen Wende in der Geldpolitik (Volcker-Schock 1979) und der systematischen Schwächung der Gewerkschaften wurden die Einkommen aus Kapital massiv zu Lasten der Einkommen aus Arbeit gesteigert und auf dem Wohnungsmarkt heute werden durch die Suche des Kapitals nach profitablen Anlagesphären auch systematisch tarifpolitisch errungene Arbeitseinkommen auf dem Wege des Mietenwahnsinns gleich wieder enteignet. Würden Sie also bestreiten, dass „Trickle-Down“-Economics widerlegt ist?
Rainer Zitelmann: Ich denke, dass der Liberalisierungsschub der 80er- und 90er-Jahre weltweit zu mehr Wohlstand und weniger Armut geführt hat. Das habe ich vorhin an einigen Zahlen ganz gut belegt. Für mich sind das nicht nur Zahlen, sondern ich reise ja sehr viel in die Länder, von denen ich spreche. Man muss nur einmal Vietnam heute vergleichen mit Vietnam vor Beginn der marktwirtschaftlichen Reformen in den 80er Jahren.
Aber ich will mich keineswegs davor drücken, auch über die Situation in Deutschland zu sprechen, sehr gerne auch Berlin, wo ich lebe. Sie sprechen vom Mietenwahnsinn und ich sehe den Wahnsinn auch in der Wohnungspolitik, aber in ganz anderer Weise. Denn die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist dort besonders schlimm, wo Linke regieren.
In Berlin regiert die Linke, der Sie nahe stehen, zusammen mit SPD und Grünen und es ist fast unmöglich, eine Wohnung zu mieten zu einem vernünftigen Preis. Ich habe Bekannte, die verzweifelt eine Wohnung suchen und eine ist jetzt sogar nach München gezogen, weil sie dort eher eine Wohnung gefunden hat als in Berlin. Eigentlich kaum zu glauben, weil München stets für besonders hohe Mieten und Wohnungsknappheit bekannt war und ist. In Berlin hat man seit Jahren Investoren als Feinde bekämpft und mit allen möglichen Mitteln – Mietendeckel, Enteignungs-Drohung usw. – versucht, Investoren das Leben schwer zu machen. Das Ergebnis sieht man.
Noch größer war die Wohnungsnot nur, als die Linke noch SED hieß. Da gab es all das, was Sie sich wünschen, also Mietenstopp, Staatswohnungen usw. Und das Ergebnis? Nach der Wiedervereinigung Deutschlands waren die Wohnungen in Ostdeutschland und Berlin in einem katastrophalen Zustand. 1989, als die DDR am Ende war, wurden 65 Prozent aller Wohnungen – die 3,2 Millionen Nachkriegsbauten eingerechnet – noch mit Kohleöfen beheizt. 24 Prozent hatten keine eigene Toilette und 18 Prozent kein Bad. Die Ausstattung mit Fahrstühlen, Balkonen und modernen Küchen war noch geringer. 40 Prozent der Mehrfamilienhäuser galten als schwer geschädigt, 11 Prozent sogar als gänzlich unbewohnbar. Ja, die Mieten waren niedrig – aber zu welchem Preis für die Menschen, wenn Sie sich diese Zahlen vergegenwärtigen?!
Angesichts dieser katastrophalen Bilanz von linker Politik, egal ob heute in Berlin oder zur Zeit der DDR, ist es schwer zu verstehen, dass dem bösen Kapitalismus der „Mietenwahnsinn“ angehängt wird. Wahnsinn ist aus meiner Sicht die irrationale Staatsgläubigkeit von Linken, die glauben, auf allen Gebieten des menschlichen Lebens sei der Staat der Heilsbringer.
Lesetipp: Rainer Zitelmann: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. FinanzBuch Verlag. 288 S., 24,99 Euro.
Rainer Zitelmann: Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten: Zur Kritik der Kapitalismuskritik. FinanzBuch Verlag. 464 S. 25 Euro.
Ingar Solty, Enno Stahl (Hrsg): Literatur im politischen Kampf: Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Revolution und Reaktion (lfb texte). Verbrecher; 1. Edition (30. Juni 2021). 200 S., 22 Euro.
Frank Deppe, David Salomon, Ingar Solty: Imperialismus, Papyrossa Verlag, 134 S., 9,90 Euro
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Info: https://overton-magazin.de/krass-konkret/ist-kapitalismus-das-problem-oder-die-loesung