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     Die Zwei-Monats-US-Fachzeitschrift «Foreign Affairs» erscheint seit 1922 (Cover)



globalbridge.ch, 02. April 2023 Autor: Stephen Wertheim in Allgemein, Geschichte, Medienkritik, Militär, Politik, Wirtschaft

(Red.) Die US-amerikanische Zwei-Monats-Zeitschrift «Foreign Affairs» ist in Sachen US-Außenpolitik die maßgebende Fachzeitschrift. Wenn US-Außenminister Antony Blinken oder sein Busenfreund Robert Kagan, der politische Vordenker der Neokonservativen, aus welchem Grund auch immer in die Tasten greifen, zum Beispiel um der Welt zu erklären, warum eine friedliche Welt nur unter der Vorherrschaft der USA möglich ist, dann erscheint das in den «Foreign Affairs». Kurz: «Foreign Affairs» ist nicht nur sehr prominent, sondern auch ziemlich US-regierungsfreundlich. So ist es fast eine kleine Sensation, dass in der neusten Ausgabe eine ausführliche Analyse publiziert ist, in der detailreich aufgezeigt wird, wie die USA mit ihrem – mit nichts zu rechtfertigenden – Anspruch auf die Weltvorherrschaft immer tiefer in militärische Konflikte hineinrutscht. Globalbridge.ch hat sich – gegen einen nicht ganz kleinen Betrag – das exklusive Recht erworben, diese hochinteressante Analyse in die deutsche Sprache zu übersetzen und hier zu publizieren. (cm)


Vor zwanzig Jahren marschierten die USA in den Irak ein. Sie haben ein Jahrzehnt damit verbracht, das Land zu zerstören und dann zu versuchen, es wieder aufzurichten. Ein weiteres Jahrzehnt verbrachten sie mit dem Versuch, das Ganze zu vergessen. „Wir sind unserer Verantwortung gerecht geworden“, sagte US-Präsident Barack Obama 2010 der Nation, als er das kurzzeitige Ende des US-Kampfeinsatzes im Irak verkündete. „Jetzt ist es an der Zeit, das Blatt zu wenden.“


Für Obama bedeutete dies, den Kampf gegen Al-Qaida und die Taliban in Afghanistan durch eine Aufstockung der US-Truppen fortzusetzen. Obamas Kritiker fanden ihrerseits bald einen weiteren Grund, den Amerikanern zu sagen, sie sollten den Irak hinter sich lassen: Das Debakel habe den Präsidenten und die Öffentlichkeit zusehr zurückhaltend gemacht, um militärische Gewalt anzuwenden, diesmal zur Beilegung des 2011 ausgebrochenen syrischen Bürgerkriegs. Obama sah davon ab, Damaskus anzugreifen, entsandte aber 2014 Truppen in den Irak und nach Syrien, um den Islamischen Staat (auch bekannt als ISIS) zu bekämpfen, der aus den Wirren der ursprünglichen Invasion der USA hervorgegangen war.


Im Jahr 2021 war Präsident Joe Biden an der Reihe, sein Land aufzufordern, die Debakel nach 9/11 hinter sich zu lassen. „Ich stehe heute zum ersten Mal seit 20 Jahren hier, und die Vereinigten Staaten befinden sich nicht im Krieg“, erklärte er im September 2021. Biden hatte gerade die US-Truppen aus Afghanistan abgezogen. Die USA führten jedoch weiterhin Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen in mehreren Ländern durch, darunter auch im Irak, wo 2 500 Bodentruppen verblieben sind. „Wir haben das Blatt gewendet“, sagte Biden.


Haben wir das? Zwei Jahrzehnte lang haben sich die Amerikaner hartnäckig geweigert, den Irak hinter sich zu lassen. Das liegt zum Teil daran, dass das US-Militär dort und an vielen anderen Orten immer noch kämpft. Vor allem aber kann das Land die Seite nicht umblättern, ohne sie zu lesen und zu verstehen – ohne sich wirklich mit den Ursachen des Krieges auseinander zu setzen. Es mag schmerzhaft sein, sich noch einmal vor Augen zu führen, was die amerikanische Führung dazu veranlasst hat, auf parteiübergreifender Basis in ein Land einzumarschieren, das die USA nicht angegriffen hatte und auch nicht vorhatte, dies zu tun – eine Tatsache, die damals allgemein anerkannt wurde. Doch ohne einen Blick zurück werden die USA nicht mit Zuversicht und Einigkeit voranschreiten können.


Sicherlich hat Washington einige hart erarbeitete Lehren aus dem Konflikt gezogen. Amerikanische Entscheidungsträger, Politiker und Experten lehnen heute Kriege zwecks Regimewechsel oder zum Wiederaufbau von Nationen generell ab. Beim Abwägen des Einsatzes von Gewalt haben sie die Tugend der Besonnenheit wiederentdeckt. Und sie wissen jetzt, dass Demokratie nur selten mit Waffengewalt durchgesetzt werden kann und harte Arbeit erfordert, um sie zu etablieren und zu erhalten – selbst in tief verwurzelten Demokratien wie den Vereinigten Staaten selbst.

Dies sind notwendige Lektionen, aber sie reichen nicht aus. Sie reduzieren den Irak-Krieg auf einen politischen Fehler, der korrigiert werden könnte, während die USA weiterhin die hegemoniale Rolle in der Welt ausüben, die sie sich nach dem Ende des Kalten Krieges selbst zugewiesen haben. Tatsächlich war die Entscheidung, in den Irak einzumarschieren, auf das Streben nach globaler Vormachtstellung zurückzuführen. Die eigene Vormachtstellung veranlasst die Vereinigten Staaten, ein massives Militär zu finanzieren und es über den ganzen Globus zu verstreuen, und zwar zu einem im Wesentlichen präventiven Zweck: andere Länder davon abzuhalten, aufzusteigen und die amerikanische Vorherrschaft herauszufordern. Mit dem Versprechen, die Kosten niedrig zu halten, ging die Regierung davon aus, die Hegemonie der USA werde keinen Widerstand hervorrufen – und sie schlägt hart zu, um jeden aufkommenden Widerstand auszulöschen. Sie sieht die globale Vorherrschaft fast als Selbstzweck an und lässt die zahlreichen strategischen Alternativen außer Acht, die weite Ozeane, befreundete Nachbarn und nukleare Abschreckung den USA bieten.


Der Einmarsch in den Irak ist aus dieser Logik heraus entstanden. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wollten die Architekten der Invasion die militärische Vormachtstellung der USA im Nahen Osten und darüber hinaus festigen. Indem sie mutig handelten und einen ärgerlichen Gegner ins Visier nahmen, der nicht an den Anschlägen vom 11. September 2001 beteiligt war, wollten die USA die Sinnlosigkeit des Widerstands gegen die amerikanische Macht demonstrieren.


Als „Shock and Awe“ – Schrecken und Furcht – dem Chaos, den Aufständen, der Zerstörung und dem Tod wich, hätte der Krieg das Projekt der Vormachtstellung, das ihn hervorgebracht hatte, eigentlich diskreditieren müssen. Stattdessen hält das US-Streben nach Vorherrschaft an. Die Macht der USA stößt überall auf der Welt auf zunehmenden Widerstand, aber Washington möchte fast allen Widerständen begegnen, überall, wobei es immer noch die Machtprojektion der USA mit amerikanischen Interessen verwechselt und immer noch versucht, seine Rivalen zu übertrumpfen und die Ambitionen der USA ja nicht zu bremsen. Die Ergebnisse waren während des unipolaren Moments der USA verheerend genug. Gegen atomar bewaffnete Großmächte könnten sie allerdings viel schlimmer werden.


DER TYRANN IM BLOCK / The bully on the block

Die ideologischen Grundlagen für den Irak-Krieg entstanden, lange bevor die amerikanischen Panzer 2003 in Bagdad einrollten. Etwas mehr als ein Jahrzehnt zuvor arbeiteten drei der Männer, die zu den einflussreichsten Beamten in der Regierung von George W. Bush werden sollten – Dick Cheney, Colin Powell und Paul Wolfowitz – im Pentagon an einem neuen Konzept für die US-Strategie in der Welt nach dem Kalten Krieg. Obwohl die Sowjetunion zusammengebrochen war, wollten sie, dass die USA weiterhin eine überlegene militärische Macht in der ganzen Welt ausüben. Im Jahr 1992 formulierte Powell, damals Vorsitzender der Generalstabschefs, das Ziel klar und deutlich. Die Vereinigten Staaten müssten über „genügend Macht“ verfügen, um „jeden Herausforderer davon abzuhalten, jemals auch nur davon zu träumen, uns auf der Weltbühne herauszufordern“, sagte er dem Kongress. „Ich will der Tyrann im Block sein.“


Das tat auch Cheney, der zu dieser Zeit als Verteidigungsminister von Präsident George H. W. Bush amtierte. Er beauftragte seinen Stellvertreter Wolfowitz mit der Überwachung des Entwurfs der Verteidigungsplanungsrichtlinien, eines umfassenden Rahmens für die amerikanische Sicherheitspolitik, der 1992 verfasst wurde. Auf 46 Seiten erläuterten Wolfowitz und seine Kollegen, wie die globale Vorherrschaft der USA in Ermangelung ernstzunehmender Rivalen aufrechterhalten werden könne. Der Schlüssel, so argumentierten sie, liege darin, präventiv zu denken und zu handeln. In Ermangelung von Herausforderern, die gegen die USA ein Gleichgewicht herzustellen versuchen könnten, sollten die Vereinigten Staaten neue Herausforderer schon vom Entstehen abhalten. Die USA müssten darauf hinarbeiten, „potenzielle Konkurrenten davon abzuhalten, eine größere regionale oder gar globale Rolle anzustreben“. Zu diesem Zweck würden die USA ein massives Militär aufrechterhalten, dessen Größe alle anderen in den Schatten stelle und das in der Lage sei, zwei große Kriege gleichzeitig zu führen. Zu diesem Zweck würden die USA Allianzen und Garnisonstruppen in allen Regionen der Welt unterhalten, die von Washington als strategisch wichtig erachtet werden. Kurz gesagt, so sollte das Gleichgewicht der Kräfte durch ein amerikanisches Übergewicht der Kräfte ersetzt werden.


In dieser Vorstellung von US-amerikanischer Hegemonie könnten die USA durchaus wohlwollend sein. Sie würden die Kerninteressen ihrer Verbündeten verinnerlichen und zum Wohle eines Großteils der Welt beitragen. Bei der Formulierung ihrer eigenen Außenpolitik, so empfahlen die Pentagon-Planer, sollten die Vereinigten Staaten „die Interessen der fortgeschrittenen Industrienationen ausreichend berücksichtigen, um sie davon abzuhalten, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen oder zu versuchen, die etablierte politische und wirtschaftliche Ordnung umzustürzen“. Die Vorrangstellung der USA würde somit die Sicherheitsrolle von Verbündeten und Gegnern der USA unterdrücken. Jede Nation, bis auf eine, hätte nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren, wenn sie eine eigene Militärmacht aufbauen sollte. Auf diese Weise könnten die USA für immer an der Spitze bleiben und globale Sicherheit zu vernünftigen Kosten gewährleisten.


Es gab zwei Hauptprobleme mit dieser Theorie, und sie traten zutage, als Wolfowitz‘ Entwurf im März an Reporter durchsickerte. Die erste Schwachstelle bestand darin, dass das Streben der USA nach Hegemonie andere dazu veranlassen könnte, zurückzuschlagen. Anstatt sich einem ewigen Frieden zu Washingtons Bedingungen zu unterwerfen, könnten andere Länder Fähigkeiten entwickeln, um der US-Macht etwas entgegensetzen zu können. Da Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer schwächelte und China immer noch arm war, würden die USA in den kommenden Jahren nicht mit einer entschlossenen Opposition rechnen müssen. Doch je mehr die einzige Supermacht ihr Verteidigungsengagement und ihre militärische Reichweite ausweitete, desto mehr könnte sie auf Widerstand stoßen oder diesen sogar noch anregen. Mit der Zeit könnten sich die USA überfordert fühlen und Kriege riskieren, die nichts mit den Interessen der USA zu tun hätten, mit Ausnahme jener Interessen, die durch das Streben nach weltumspannender Vorherrschaft überhaupt erst entstehen. Cheneys Pentagon wollte, dass die amerikanische Vormachtstellung jeglichen Widerstand sinnlos machen würde. Was aber, wenn umgekehrt der Widerstand die amerikanische Vormachtstellung sinnlos machen würde?


Es war auch unklar, ob das amerikanische Volk bereit war, die Kosten der globalen Vorherrschaft zu tragen, insbesondere wenn diese Kosten ansteigen würden. Das Dokument des Pentagons löste sofort Reaktionen aus. Der konservative Kommentator Pat Buchanan prangerte den Plan inmitten seiner aufrührerischen Präsidentschaftskampagne als eine „Formel für endlose amerikanische Interventionen“ an. Das unverblümte Streben nach Vorherrschaft stieß auch führende Demokraten ab, die eine Friedensdividende für die Amerikaner und kollektive Sicherheit für die Welt befürworteten. Der damalige US-Senator Biden spottete: „Die Vision des Pentagons kehrt zu der alten Vorstellung der USA als Weltpolizist zurück – eine Vorstellung, die nicht zufällig ein großes Verteidigungsbudget erfordert.“ Der Konsens des Kalten Krieges zugunsten der Eindämmung des sowjetischen Kommunismus war als Reaktion auf eine bestehende Großmachtbedrohung entstanden. Die Überwachung der Welt nach dem Kalten Krieg, in der es zwar verschiedene Herausforderungen, aber keinen großen Feind gab, war ein neues und unerprobtes Vorhaben, das nicht wenige Amerikaner für zweifelhaft hielten.


Der Rest der 1990er Jahre war die Blütezeit der amerikanischen Unipolarität, doch gab es immer wieder Anzeichen für internationalen Widerstand und innenpolitische Apathie. China und Russland bemühten sich um die Beilegung ihrer bilateralen Streitigkeiten und begannen, die spätere Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit zusammenzustellen. Gemeinsam warben sie für die „Multipolarisierung der Welt“. In einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat erklärten Peking und Moskau 1997: „Kein Land sollte nach Hegemonie streben, Machtpolitik betreiben oder internationale Angelegenheiten monopolisieren.“ Selbst einige amerikanische Verbündete äußerten ähnliche Bedenken. Zwei Jahre später bezeichnete der französische Außenminister Hubert Vedrine die USA als „Hypermacht“ und forderte „echten Multilateralismus gegen Unilateralismus, für einen ausgewogenen Multipolarismus gegen Unipolarismus“.


Am ärgerlichsten waren damals die so genannten Schurkenstaaten Iran, Libyen, Nordkorea und vor allem der Irak. Nachdem das US-Militär 1991 die irakischen Streitkräfte aus Kuwait vertrieben hatte, versuchte es nicht, den irakischen Diktator Saddam Hussein abzusetzen, aber die US-Beamten hofften, dass Saddam stürzen würde, und ermutigten die schiitische Mehrheit im Süden und die kurdische Minderheit im Norden des Landes zu Volksaufständen. Auch als Saddam diese Aufstände unterdrückte und dabei Tausende von Irakern umbrachte, ließen die USA nicht locker. Für den Rest des Jahrzehnts hielten sie den Irak durch Flugverbotszonen, Routinebombardements, Waffeninspektionen und Wirtschaftssanktionen in Schach. Unter anderem zu diesem Zweck stationierten die USA zum ersten Mal in der Geschichte Zehntausende von Truppen auf unbestimmte Zeit im Persischen Golf, darunter auch in Saudi-Arabien.


Der Irakkrieg war nicht nur ein politischer Fehler

Präsident Bill Clinton machte sich das Hegemonieziel seines Vorgängers im Nahen Osten zu eigen und verfolgte die „doppelte Eindämmung“ von Iran und Irak. Dies reichte jedoch nicht aus, um die politisch rechtslastigen Vorherrschaftspolitiker zufrieden zu stellen. Im Jahr 1997 gründeten die Intellektuellen William Kristol und Robert Kagan das „Project for the New American Century“, eine Denkfabrik, die sich einer Außenpolitik der „militärischen Stärke und moralischen Klarheit“ verschrieben hat. Für sie war Saddams Irak eine unvollendete Angelegenheit. Der Diktator sei sich „fast sicher“, in den Besitz von lieferbaren Massenvernichtungswaffen zu gelangen und diese auch zu nutzen, um die US-Streitkräfte und Partner in der Region herauszufordern, so der offene Brief der Gruppe von 1998, der von Donald Rumsfeld, Wolfowitz und einer Handvoll anderer angehender Beamter der Regierung George W. Bush unterzeichnet war. Die USA, so argumentierten sie, müssten einen Regimewechsel im Irak anstreben – ein Ziel, das etwas später im selben Jahr mit dem „Iraq Liberation Act“ als US-Politik verankert wurde. Die Resolution wurde vom Repräsentantenhaus mit einer überwältigenden Mehrheit von 360 zu 38 Stimmen und vom Senat einstimmig angenommen. Die Entstehung dieses „Regimewechsel-Konsenses“, wie der Historiker Joseph Stieb schreibt, machte eine umfassende Invasion – notabene noch vor dem 11. September – nicht zu einer ernsthaften Möglichkeit. Aber er delegitimierte die alternative Politik, Saddam an der Macht zu lassen und ihn einfach unter Kontrolle zu halten. Washington hatte sein gewünschtes Ziel festgelegt: Saddam musste gestürzt werden.


Die Mittel dazu waren eine andere Sache. Nachdem er den Golfkrieg gewonnen und zur Wiedervereinigung Deutschlands innerhalb der NATO beigetragen hatte, war Präsident George H. W. Bush 1992 aus dem Amt gejagt worden. Die Wähler bevorzugten einen Vietnamkriegsverweigerer, der versprach, sich „wie ein Laserstrahl auf die Wirtschaft zu konzentrieren“. Clinton hatte sich seinerseits bemüht, die Zahl der US-Opfer so gering wie möglich zu halten, auch wenn er häufig militärische Gewalt einsetzte und die amerikanischen Bündnisse ausbaute. Der Tod von 18 US-Rangern in Mogadischu im Jahr 1993 veranlasste ihn, sich vollständig aus Somalia zurückzuziehen, und dies brachte den Begriff „mission creep“ (die unbemerkte Ausweitung der Mission, Red.) in das amerikanische Lexikon. Clintons gewagteste Intervention, mit der er die ethnische Säuberung im Kosovo stoppen wollte, stützte sich allein auf die Luftwaffe. Die NATO-Flugzeuge flogen hoch genug, um jedes Risiko für die Piloten auszuschalten, auch wenn dadurch die Zielgenauigkeit abnahm.


Madeleine Albright, Clintons Außenministerin, ist dafür bekannt, dass sie die Vereinigten Staaten als „die unverzichtbare Nation“ bezeichnete. Oft wird vergessen, dass sie dies 1998 bei einer im Fernsehen übertragenen Bürgerversammlung in Columbus, Ohio, tat, bei der ihre Verteidigung der amerikanischen Irak-Politik auf kritisch-feindselige Fragen stieß und gelegentlich von Zwischenrufern übertönt wurde. Das erste Jahrzehnt nach dem Kalten Krieg hatte aber gezeigt, dass eine solche Opposition nicht zu einer entschlossenen politischen Kraft anschwellen würde, solange die USA ihre globale Hegemonie auf billige Weise hochhalten konnten. Aber was, wenn die Kosten steigen würden, wer konnte das schon sagen? Wie könnte ein „gleichgültiges Amerika“, wie Kristol und Kagan beklagten, dazu gebracht werden, „die Option nationaler Größe zu umarmen und einen Sinn für das Heroische wiederherzustellen“?


Selbst innerhalb des Beltway – der schützenden Ringstrasse um das Zentrum, Red. –  war die Unterstützung für eine muskulöse US-Außenpolitik fraglich. Als sich die Clinton-Regierung dem Ende zuneigte, prahlte Wolfowitz zu Recht damit, dass die Ideen in seinen Verteidigungsplanungsrichtlinien, die bei ihrer Einführung Jahre zuvor stark kritisiert worden waren, in beiden politischen Parteien zur konventionellen Weisheit geworden waren. In einem Artikel in „The National Interest“ im Jahr 2000 räumte er allerdings ein: „In Wirklichkeit ist der heutige Konsens oberflächlich und selbstgefällig“. Wolfowitz beklagte, das Land zeige einen „Mangel an Besorgnis über die Möglichkeit eines weiteren großen Krieges, ganz zu schweigen vom Mangel eines Konsenses in der Frage, wie man einen solchen großen Krieg verhindern kann“. Der größte Teil Washingtons sang nun aus demselben Gesangbuch, aber in Wolfowitz‘ Augen gab es erschreckend wenige wahre Gläubige.


DOMINANZ DEMONSTRIEREN

Das begann sich am 11. September 2001 zu ändern. Die Anschläge vom 11. September 2001 vermittelten ein Gefühl der existenziellen Bedrohung, das der amerikanischen Macht nach jahrzehntelanger Suche jetzt einen Sinn gab. Doch die Anschläge hätten auch ganz anders interpretiert werden können: als schrecklicher Fall von Rückschlag und als Vorzeichen des Widerstands gegen die amerikanische Hegemonie. In den Tagen und Wochen nach dem 11. September zogen nicht wenige Amerikaner diese Möglichkeit in Erwägung, als sie zu verstehen versuchten, warum 19 Terroristen ihr Leben herzugeben bereit waren, um Menschen am anderen Ende der Welt zu töten. Die Schriftstellerin Susan Sontag meinte, die Anschläge seien „eine Folge bestimmter amerikanischer Allianzen und Aktionen“. Schließlich hatte Osama bin Laden den Vereinigten Staaten schon Jahre zuvor den Krieg erklärt und dabei drei Hauptkritikpunkte angeführt: die US-Truppenpräsenz in Saudi-Arabien, die amerikanische Nötigung des Irak und die US-Unterstützung von Israel. In der „New York Times“ wies der Journalist Mark Danner damals darauf hin: „Die amerikanischen Truppen und Kriegsschiffe am Golf, die Unpopularität unserer Präsenz dort, die Fragilität der Regime, die wir unterstützen – diese Fakten sind keine Geheimnisse, aber unter Amerikanern sind sie nicht allgemein bekannt.“


Nach dem 11. September 2001 wären diese Fakten vielleicht besser bekannt geworden, vor allem, wenn sich die USA auf den konkreten Feind konzentriert hätten, der sie angegriffen hatte: Al-Qaida. Die Amerikaner wären vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass der Weg, sich vor Terroristen im Nahen Osten zu schützen, letztlich darin bestand, die Region nicht länger zu besetzen und dort keine Menschen mehr umzubringen. Als die USA Vergeltung für den 11. September 2001 übten, hätten sie sich fragen sollen, ob das Streben nach globaler Vorherrschaft nicht sogar ihre eigene Sicherheit beeinträchtigte.

Für Präsident George W. Bush und seine außenpolitischen Vordenker war es entscheidend, dass das Land zu einem anderen Schluss kam: Das Problem war nicht zu viel amerikanische Macht, sondern zu wenig. Die Angreifer, so versicherten sie der amerikanischen Bevölkerung, seien durch das reine Böse motiviert und keineswegs durch irgendetwas, was die USA getan haben könnten. „Die Amerikaner fragen sich: Warum hassen sie uns?“ sagte Bush in einer Ansprache an die Nation neun Tage nach 9/11. Seine Antwort: „Sie hassen unsere Freiheiten.“


Ebenso wichtig ist, dass es sich bei „ihnen“ nicht nur um die Dschihadisten von Al-Qaida handelte. Sich nur auf die Gruppe zu konzentrieren, die New York und Washington angegriffen hatte, würde den größeren Einsatz verfehlen, nämlich den Kampf um die Aufrechterhaltung der globalen Hegemonie der USA gegen alle Arten von Widerstand. Wie Wolfowitz, inzwischen stellvertretender Verteidigungsminister, am 4. Oktober 2001 vor dem Kongress erklärte, „wollen Osama bin Laden, Saddam Hussein, Kim Jong Il und andere Tyrannen Amerika aus wichtigen Regionen der Welt heraushalten.“ Die Anschläge vom 11. September seien nur ein Beispiel für den Widerstand gegen die USA, dem man als Ganzes entgegentreten müsse. „Deshalb ist unsere Herausforderung heute größer als der Sieg im Krieg gegen den Terrorismus“, so Wolfowitz weiter. „Die heutige terroristische Bedrohung ist ein Vorbote noch größerer Bedrohungen, die kommen werden.“


So gesehen boten die Anschläge vom 11. September 2001 der Bush-Regierung eine Chance. Durch eine spektakuläre Reaktion konnten die USA den aufkommenden internationalen Widerstand schon im Keim ersticken. Sie konnten eine Vielzahl potenzieller Gegner davon abhalten, eine größere Rolle anzustreben, wie es in den Verteidigungsplanungsrichtlinien von 1992 gefordert wurde. Diesmal konnten die Staats- und Regierungschefs auch die Unterstützung der Öffentlichkeit gewinnen. Endlich würde das amerikanische Volk die einst abstrakte Forderung nach Vorherrschaft positiv annehmen und nicht nur passiv akzeptieren.


Für solche Zwecke würde nicht einmal ein „globaler Krieg gegen den Terror“ ausreichen. Die USA müssten „massiv vorgehen“, sagte Rumsfeld vier Stunden nach dem Fall der Zwillingstürme zu einem Berater. Den Gesprächsnotizen des Adjutanten zufolge sagte Rumsfeld: „Fegt alles zusammen. Zusammenhängende und nicht zusammenhängende Dinge.“ Das bedeutete, „S.H.“ zu treffen, zur gleichen Zeit, nicht nur OBL“ (gemeint waren Saddam Hussein und Osama bin Laden). Die US-Geheimdienste identifizierten Al-Qaida umgehend als Urheber der Flugzeugentführungen, doch Rumsfeld begann zusammen mit Wolfowitz und anderen Beamten, einen Angriff auf den Irak zu befürworten. Der Koordinator für Terrorismusbekämpfung des Nationalen Sicherheitsrats, Richard Clarke, hielt diese Idee für unsinnig. „Nachdem wir von Al-Qaida angegriffen worden sind, wäre eine Bombardierung des Irak als Antwort darauf so, als würden wir in Mexiko einmarschieren, nachdem die Japaner uns in Pearl Harbor angegriffen haben“, sagte Clarke später am 12. September. Während sich das Land in Afghanistan in einen unsicheren Krieg gegen einen schattenhaften Feind stürzte, der durchaus wieder zuschlagen konnte, war es bemerkenswert, dass hochrangige Beamte auch eine Invasion des Irak in Erwägung zogen, ganz zu schweigen davon, innerhalb von 18 Monaten 130.000 Soldaten für diese Aufgabe bereitzustellen.


Die Bush-Administration führte mehrere Gründe für einen Angriff auf den Irak an, aber im Mittelpunkt standen die Behauptungen (von denen einige, aber nicht alle, durch US-Geheimdienstinformationen gestützt wurden), dass Saddam chemische und biologische Waffen horte und versuche, Atomwaffen zu entwickeln. Die USA wären vielleicht nicht einmarschiert, wenn die Behörden gewusst hätten, dass Saddams Waffenprogramm eine Fata Morgana war, ein Bluff, um die Macht des Diktators zu stärken und Feinde wie den Iran abzuwehren. Es ist jedoch schwer zu sagen, wie viel Gewicht der Befürchtung beizumessen war, dass Saddam eines Tages Massenvernichtungswaffen an Terroristen weitergeben könnte, die sie dann gegen die USA einsetzen könnten – ein Alptraumszenario, das von vielen Befürwortern des Krieges heraufbeschworen wurde. Diese Aussicht war immer rein spekulativ, obwohl die politischen Entscheidungsträger nicht ein weiteres „Versagen der Vorstellungskraft“ erleiden wollten, nachdem sie nicht vorausgesehen hatten, wie Verkehrsflugzeuge entführt und in Raketen verwandelt werden konnten.


Aber während Saddam vielleicht niemals Massenvernichtungswaffen gegen die USA selbst eingesetzt hätte, war es sicherer, dass seine vermuteten Waffen ein Hindernis für die amerikanischen Pläne im Nahen Osten darstellen konnten. „Ein wahrscheinlicheres Problem war, dass sie unsere Bereitschaft, die Interessen der USA zu verteidigen, beeinträchtigen konnten“, schrieb Douglas Feith, der im Vorfeld des Krieges als Unterstaatssekretär für Verteidigung fungierte, später. Bezeichnenderweise tat Feith die Möglichkeit, dass Saddam nicht die Absicht hatte, die USA anzugreifen, als „nebensächlich“ ab. „Saddam würde es vielleicht sogar vorziehen, uns in Ruhe zu lassen“, räumte er ein. „Die Frage ist, ob die irakischen Massenvernichtungswaffen uns dazu zwingen könnten, ihn in Ruhe zu lassen – und damit frei zu sein, die Amerikaner und unsere Freunde und Interessen anzugreifen.“ Das heißt, ein gut bewaffneter Saddam würde die Hegemonie der USA im Nahen Osten behindern. Ihn auszuschalten dagegen würde die amerikanische Vorherrschaft sicherer machen, unabhängig davon, ob es der beste Weg war, die USA selbst zu schützen oder nicht.


Manchmal scheint der Irak-Krieg ganz aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein.

Rückblickende Darstellungen, darunter ein kürzlich erschienenes Buch des Historikers Melvyn Leffler, konzentrieren sich zu sehr auf die Frage der Massenvernichtungswaffen, die als Grund für die Invasion bei weitem nicht ausreicht. Selbst wenn Beamte der Bush-Administration einige der Geheimdienstinformationen über die irakischen Programme nicht falsch dargestellt hätten, wäre der Wunsch, Saddam zu entwaffnen, kein Grund für den Kriegseintritt gewesen. Die Angst vor Saddams Waffenarsenal ist eine unzureichende Erklärung dafür, warum die Bush-Administration nach dem 11. September 2001 so schnell zum Angriff auf den Irak überging, von dem man nicht annahm, dass er kurz davor stand, einen wichtigen neuen Waffentyp zu erwerben. Die Angst vor Saddams Waffenarsenal kann auch nicht erklären, warum die Bush-Regierung die UN-Waffeninspektoren im März 2003 aus dem Irak abzog, obwohl das UN-Team zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 550 Inspektionen ohne Vorankündigung durchgeführt hatte und überzeugt war, weitere Fortschritte zu machen und die Inspektionen deshalb auch fortsetzen wollte. Wäre die Entwaffnung Saddams das vorrangige Motiv gewesen, hätte die Bush-Regierung die Inspektionen fortsetzen und möglicherweise einen Krieg vermeiden können. Aber im Gegenteil, einige Befürworter einer Invasion, wie z. B. Cheney, wollten den Waffeninspektionen gar nie eine Chance geben.


Der überstürzte Kriegseintritt lässt sich besser mit dem Wunsch erklären, die Vormachtstellung der USA zu festigen, kurz nachdem die USA von einem verheerenden Angriff heimgesucht worden waren. „Der Demonstrationseffekt“, so charakterisierte Cheneys damaliger stellvertretender nationaler Sicherheitsberater, Aaron Friedberg, später die Überlegungen. Die Regierung wollte „nicht nur ein harter Kerl sein, sondern die Abschreckung wiederherstellen“, sagte er dem Journalisten Barton Gellman. „Wir wurden sehr hart getroffen, und wir mussten denjenigen, die diejenigen, die diese Taten in Erwägung zogen, möglicherweise unterstützten oder ihnen Unterschlupf gewährten, die Kosten deutlich machen.“ Es war unbedingt notwendig, etwas Großes zu tun, um ein allgemeines Gefühl der Angst wiederherzustellen, ohne das die globale Hegemonie der USA einen endlosen Antagonismus hervorrufen könnte. „Wenn der Krieg die politische Landkarte der Welt nicht wesentlich verändert, werden die USA ihr Ziel nicht erreichen“, schrieb Rumsfeld am 30. September an Bush. Die USA sollten unter anderem „neue Regime in Afghanistan und einen weiteren Schlüsselstaat (oder zwei)“ anstreben.


Von diesem Standpunkt aus gesehen spielte es kaum eine Rolle, ob der Irak mit den Anschlägen vom 11. September in Verbindung stand, wie der genaue Stand seines Waffenprogramms war oder ob die US-Regierung sich auf einen Plan einigen konnte, um den Irak zu regieren, bevor sie sein Regime auflöste. Was zählte, war die „Größenordnung des notwendigen Wandels“, wie es Rumsfeld formulierte. Wie der Politikwissenschaftler Ahsan Butt argumentiert, ging es darum, dass die USA einen Gegner vernichten und eine Botschaft aussenden würden: Unterschätzt nicht unsere Macht oder unsere Bereitschaft, sie einzusetzen!


Die Architekten des Krieges glaubten zweifellos, dass sie die nationale Sicherheit der USA schützen würden. Doch was sie unmittelbar zu erreichen versuchten, war etwas anderes: die Festigung der herausragenden Machtposition der Vereinigten Staaten durch einen Präventivkrieg. Obwohl sie davon ausgingen, dass eine solche Vormachtstellung für die amerikanische Sicherheit notwendig sei, hätte das Argument für den Irak-Krieg eigentlich etwas anderes nahelegen müssen. Um Saddam zu stürzen, mussten die USA im Vorfeld Kosten in Form von Menschenleben und Schätzen zahlen, um im Gegenzug einen höchst spekulativen Nutzen zu erzielen. (Wenn die Kosten anfangs minimal erschienen, dann nur, weil die Befürworter des Krieges die Möglichkeit ausschlossen, dass die US-Streitkräfte als Invasoren und Besatzer behandelt werden würden. „Wir werden in der Tat als Befreier begrüßt werden“, versprach Cheney im März 2003). Die potenziellen Vorteile einer Beseitigung Saddams würden Israel, Saudi-Arabien und anderen Sicherheitspartnern der USA in der Region zugute kommen. Die Vereinigten Staaten würden nur insoweit profitieren, als sich die Aufrechterhaltung der US-Hegemonie im Nahen Osten lohnen würde. Aber konnten die USA durch eine Verringerung ihres Engagements in der Region mehr Sicherheit für sich selbst erreichen? Diese Frage blieb ungeprüft, da das Streben nach Vormachtstellung ironischerweise von den tödlichen Kosten ablenkte, indem es neue und tödlichere Missionen hervorrief.


RÜCKSCHLAG IM INLAND

In den nächsten zehn Jahren sollten die Amerikaner immer wieder hören, warum der Krieg im Irak schief gelaufen ist: Die Bush-Regierung hat es versäumt, den Wiederaufbau nach dem Krieg zu planen. Sie ließ den irakischen Staat im Bürgerkrieg versinken. Demokratie lässt sich nur selten mit einer Waffe durchsetzen. Nationenbildung funktioniert nicht.


All diese Einsichten sind richtig und sinnvoll. Sie sind aber gleichzeitig auch unzureichend. Eine Parade kleinerer Lektionen ließ die größeren unbeachtet – und ermöglichte es den Befürwortern des Krieges, die Überprüfung ihrer wichtigsten Fehlannahmen zu vermeiden. Ein Jahr nach Beginn des Krieges räumten Kristol und Kagan ein, dass Bush beim Wiederaufbau des Irak „nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen“ habe, während sie gleichzeitig darauf drängten, dass die US-Streitkräfte „so lange wie nötig“ bleiben sollten. In einem einflussreichen Buch über den Krieg aus dem Jahr 2005 warf der Schriftsteller George Packer dem Bush-Team „kriminelle Nachlässigkeit“ vor. Seiner Ansicht nach lag das Problem der Invasion weniger in ihrer Konzeption als in ihrer Durchführung. „Der Irak-Krieg war immer zu gewinnen; er ist es immer noch“, schloss er. „Gerade deshalb ist die Rücksichtslosigkeit seiner Urheber umso schwerer zu verzeihen.“


Kein Wunder, dass die Adressaten von Packers Kritik eine ähnliche Haltung einnahmen, um die Entscheidung für den Krieg zu retten und die laufende Kampagne zur Bekämpfung von Aufständischen und Terroristen und zur Errichtung eines lebensfähigen irakischen Staates zu retten. Im Jahr 2006 räumten Bush und Außenministerin Condoleezza Rice „taktische Fehler“ ein – „Tausende davon, da bin ich mir sicher“, fügte Rice wenig hilfreich hinzu. Nichtsdestotrotz bezeichneten sie die Invasion als strategisch sinnvoll.


Zu diesem Zeitpunkt wandte sich die amerikanische Öffentlichkeit bereits gegen den Krieg und Washingtons Ausreden. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts erlebten die Wähler drei Wahlüberraschungen, die das Ausmaß ihrer Unzufriedenheit offenbarten. Der Einmarsch in den Irak sollte die amerikanische Macht und den Willen Washingtons demonstrieren, die Welt zu gestalten, ohne sich von internen Zweifeln oder externen Normen einschränken zu lassen. Als die politischen Eliten dazu übergingen, den Krieg als taktischen Fehler abzutun, der auf fehlerhafte Geheimdienstinformationen oder unzureichende Planung zurückzuführen war, beseitigten sie nicht das Gefühl des existenziellen Zwecks, mit dem sie die Invasion ursprünglich versehen hatten. Stattdessen versuchten sie, den tieferen Sinn des Krieges zu überspielen, nur um dann im In- und Ausland von Rückschlägen getroffen zu werden.


Die erste Überraschung gab es bei den Kongresswahlen im Jahr 2006. Bushs Weißes Haus erwartete, den Krieg zum Vorteil der Republikanischen Partei nutzen zu können, und warf den Demokraten „Rückzug und Defätismus“ vor, wie Cheney es ausdrückte. Am Wahltag war es die GOP (die Grand Old Party, die Republikanische Partei, Red.), die sich aus der Debatte zurückgezogen hatte. Angeführt von Nancy Pelosi, die die Invasion als „grotesken Fehler“ bezeichnete, gewannen die Demokraten nach zwölf Jahren republikanischer Herrschaft das Repräsentantenhaus. Eine Mehrheit der Wähler betrachtete den Irak-Krieg als das wichtigste Thema der Wahl und erwartete, dass die Demokraten das militärische Engagement der USA in dem Land reduzieren oder beenden würden.


Bush ordnete jedoch eine Truppenverstärkung im Irak an, um das Land in letzter Minute zu stabilisieren. Die nächste Wahl im Jahr 2008 brachte eine noch größere Überraschung: den Sieg des jungen, schwarzen und liberalen Obama über die älteren Senatoren Hillary Clinton und John McCain. Sowohl Clinton als auch McCain hatten für die Genehmigung des Irakkriegs gestimmt. Obama zeichnete sich dadurch aus, dass er ihn im Oktober 2002 als „dumm“ und „unüberlegt“ ablehnte. Seine Haltung zum Irak war vielleicht sein größter Vorteil im Vorwahlkampf. „Ich will nicht nur den Krieg beenden“, erklärte er. „Ich will die Mentalität beenden, die uns überhaupt erst in den Krieg geführt hat“. Obama schien nicht nur einen sauberen Bruch mit der Bush-Regierung anzubieten, sondern auch mit einer „außenpolitischen Elite, die größtenteils auf den Zug des Krieges aufgesprungen ist“, wie er es auf der Wahlkampftour ausdrückte.


Der saubere Bruch erwies sich als falsch. Im Amt behandelte Obama die „Denkweise“, die hinter dem Krieg stand, hauptsächlich als psychologisches Manko. Während Bush impulsiv gehandelt hatte, schien Obama sorgfältig nachzudenken. Er schien die Konsequenzen abzuwägen, bevor er das Feuer eröffnete. Obama zog 2011 die US-Streitkräfte aus dem Irak ab, hielt aber den Krieg in Afghanistan aufrecht und schickte schließlich 2014 erneut Truppen in den Irak. In der Zwischenzeit hielt er die Sicherheitspartnerschaften aufrecht, die er geerbt hatte, und erweiterte und routinierte ein Programm zur Tötung von Terroristen durch Drohnen und Spezialkräfte (bei deren Einsätzen auch unzählige Unschuldige zu Tode kamen. Red.). Obama verstrickte sich im Nahen Osten, vielleicht wider besseres Wissen, aus demselben Grund, aus dem sein Vorgänger den Krieg im Irak begonnen hatte: Die USA wollten die dominierende Macht in der Region sein und, wie Obama es wiederholte, die „unverzichtbare Nation“ weltweit bleiben.


Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ging man in Washington davon aus, dass der jüngere Bruder von George W. Bush, Jeb, der Spitzenkandidat der Republikaner sein würde. Der ehemalige Gouverneur von Florida wurde ein politisches Opfer des Krieges seines Bruders. Auf die Frage, ob er in den Irak einmarschiert wäre, auch „wenn er gewusst hätte, was wir jetzt wissen“, antwortete er zunächst mit Ja. Dann versuchte er, Folgefragen auszuweichen. Schließlich entschied er, dass er doch nicht einmarschiert wäre. Es war nun an Donald Trump, aus der unkontrollierten Empörung der Öffentlichkeit Kapital zu schlagen. Der Demagoge versetzte dem politischen Establishment den dritten Schock, als er 2016 den Krieg als die möglicherweise „schlechteste Entscheidung“ in der amerikanischen Geschichte bezeichnete. Trump hat gelogen, als er behauptete, die ganze Zeit gegen die Invasion gewesen zu sein, aber zumindest hat er im Nachhinein erkannt, dass der Krieg eine Katastrophe war. Das war für einige Wähler Beweis genug, ihm als Oberbefehlshaber zu vertrauen und den Chor der Eliten zu ignorieren, die ihn für ungeeignet hielten, die Führung zu übernehmen.


UNVOLLENDETE AUFGABEN

Heute versuchen die politischen Führer erneut, das Blatt zu wenden. Vielleicht können sie durch den Anschein, dass es sich um unliebsame Gegner handelt, Erfolg haben, wo frühere Bemühungen gescheitert sind. Angesichts des Aufstiegs Chinas und der Aggression Russlands haben die USA ein neues Ziel für ihre globale Macht gefunden. Dabei spielt es keine Rolle, dass das ausgleichende Verhalten der Großmächte genau das war, was die globale Vormachtstellung der USA verhindern sollte: Jetzt, da die Theorie der notwendigen Vorherrschaft nicht aufgegangen ist, will Washington nach vorne und nicht zurück schauen. Manchmal scheint der Irakkrieg ganz aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein. Biden bezeichnete kürzlich den Krieg Russlands gegen die Ukraine als die einzige groß angelegte Invasion, die die Welt in acht Jahrzehnten erlebt habe. „Die Vorstellung, dass über 100.000 Soldaten in ein anderes Land einmarschieren – so etwas hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben“, erklärte Biden im Februar. Er sprach diese Worte einen Monat vor dem 20. Jahrestag der US-Invasion im Irak, einem Krieg, den der damalige Senator Biden mit seiner Stimme genehmigt hatte.


Der Versuch zu vergessen ist der einzige Weg, der garantiert, nichts zu lernen. Wenn die USA auf gleichwertige Konkurrenten denselben Willen zur Dominanz anwenden, der sie in den Irak, ein weitaus schwächeres Land, geführt hat, werden die Folgen schwerwiegend sein. Der „nächste Irak“ könnte durchaus die Form eines Großmächtekrieges annehmen. Nur wenige Amerikaner würden einen solchen Konflikt anstreben, aber es gab auch damals nicht viele, die vor dem 11. September 2001 für eine direkte Invasion des Irak plädierten oder das Ausmaß und die Dauer der „Operation Iraqi Freedom“ vorhersahen, bevor sie begann. Die Pathologien der US-Vorherrschaft ließen den Krieg als notwendig und lohnenswert erscheinen, und diese Pathologien bringen die USA weiterhin auf Kollisionskurs mit anderen Ländern. Erstens vermengt Washington die Interessen der USA mit ihren weit verstreuten militärischen Positionen und Bündnisverpflichtungen und schließt dabei die Möglichkeit, dass die Abgabe einiger Verantwortlichkeiten die amerikanische Sicherheit sogar erhöhen und die amerikanische Strategie verbessern könnte, fast von vornherein aus. Zweitens lässt Washington systematisch außer Acht, wie seine Macht andere bedroht, die dann auch entsprechend handeln. Zusammengenommen zwingen diese Fehler die US-Außenpolitik dazu, gegen jene Macht-Tendenz anzutreten, die ein Gleichgewicht der Kräfte herstellen möchte, und das gerade dann, wenn die überforderten USA diese Tendenz nutzen müssten.


Seit Februar 2022 haben die USA der Ukraine zu Recht geholfen, sich gegen die brutale Invasion Russlands zu verteidigen. Dennoch haben sie sich einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Fehlern der US-Politik entzogen, die den Boden für diesen Konflikt und möglicherweise weitere Konflikte geschaffen haben. Durch die Erweiterung der NATO im Rahmen eines ergebnisoffenen Prozesses mit offenen Türen bauten die USA ihre Vorherrschaft in europäischen Sicherheitsfragen aus und hofften gleichzeitig, dass Russland sich nicht feindselig verhalten würde. Diese Hoffnung war von Anfang an naiv. Die Schaffung einer Trennlinie innerhalb Europas, die immer näher an Moskau heranrückt, macht die Länder, die (noch) nicht in der NATO sind, besonders verwundbar.


Der „nächste Irak“ könnte durchaus die Form eines Großmächtekrieges annehmen

Die Erweiterung der NATO ging also auf Kosten der Ukraine – und der USA. Indem sie ihre Vormachtstellung in der europäischen Verteidigung festigten, gaben die USA ihren Verbündeten reichlich Grund, ihre eigene Sicherheit nach Washington auszulagern. Genau deshalb obliegt es nun in erster Linie den USA, internationale Hilfe für die Ukraine zu organisieren und ihre Soldaten und Städte in die Schusslinie zu nehmen, falls Russland in Zukunft NATO-Staaten angreifen sollte. Der einzige Ausweg aus dieser selbst gestellten Falle besteht darin, mit der Logik der Vorherrschaft zu brechen und die Führung der europäischen Verteidigung schrittweise, aber entschlossen den Europäern zu übertragen, die reichlich Ressourcen zur Abschreckung Russlands und zur Verteidigung ihres Territoriums mobilisieren können.


Während Washington in Europa größere Risiken eingeht, steuert es zusätzlich auf eine Konfrontation mit Peking zu. Es zeichnet sich ein parteiübergreifender Konsens ab, der darauf abzielt, gegenüber der zweitgrößten Weltmacht immer härter durchzugreifen. Doch wie die USA ihre Beziehungen zu China in den kommenden Jahrzehnten gestalten wollen, bleibt unklar und nur oberflächlich überlegt. Eine feindselige Haltung, ohne ein gewünschtes Ziel, ist eine unkluge Politik. Auch wenn die Emotionen nicht mehr so heftig sind und die Öffentlichkeit sich nicht mehr so stark engagiert, ähnelt das Umfeld in Washington jetzt immer mehr der Zeit vor dem März 2003, als Politiker und Beamte, die es unbedingt mit einem Gegner aufnehmen wollten, es versäumten, die möglichen Entwicklungen in einem Irak nach Saddam zu bewerten und damit die Rolle anderer bei der Festlegung des Ergebnisses unterschätzt haben.


Wenn es den USA und China ernst damit ist, einen kalten Krieg oder einen weltumspannenden Krieg mit Waffen zu vermeiden, müssen beide Seiten daran arbeiten, Bedingungen für die Koexistenz zu schaffen. Doch diese Bedingungen werden von Tag zu Tag schwieriger. Inmitten einer Flut von Einwänden gegen die chinesischen Praktiken hat es oft den Anschein, dass die USA Chinas Aufstieg gänzlich ablehnen. Nachdem die Trump-Administration China als Bedrohung eingestuft hat, hat Biden potenziell verhängnisvolle Maßnahmen ergriffen: Er hat die „Ein-China-Politik“ ausgehöhlt, die es Washington und Peking ermöglicht hat, sich in der Taiwan-Frage zu einigen und weitreichende Beschränkungen für Chinas Zugang zu Technologie, einschließlich fortschrittlicher Halbleiter, einzuführen. Wie China reagieren wird, ist noch nicht bekannt, aber seine Möglichkeiten, den USA zu schaden, sind beträchtlich. Bei der Verteidigung ihrer herausragenden Machtposition – die ein Mittel zum Zweck sein sollte – gehen die USA enorme Risiken ein, ohne zu bedenken, wie eine verschärfte Rivalität die Amerikaner ärmer und unsicherer machen könnte.


Es gibt bessere Optionen: Die Vereinigten Staaten sollten sich aus dem Nahen Osten zurückziehen, die Verteidigungslasten auf europäische Verbündete verlagern und eine wettbewerbsfähige Koexistenz mit China anstreben. Auch wenn es manchmal so klingt, als würden die politischen Entscheidungsträger genau das tun, sprechen die Fakten dagegen. Trotz des ganzen Geredes über strategische Disziplin sind heute etwa 50.000 US-Truppen im Nahen Osten stationiert, genauso viele wie am Ende der Obama-Regierung. Washington ist immer noch dem Primat der Macht verfallen und in einer Endlosschleife gefangen, in der es von selbstverschuldeten Problemen zu noch größeren selbstverschuldeten Problemen taumelt, wobei es diese neuen und noch größeren Probleme aufrechterhält, während es die alten selbstverschuldeten Probleme vertuscht. In diesem Sinne bleibt der Irak-Krieg für die USA tatsächlich ein unerledigtes Geschäft.

Zum Autor: Stephen Wertheim is a Senior Fellow in the American Statecraft Program at the «Carnegie Endowment for International Peace» and Visiting Lecturer at Yale Law School and Catholic University. He is the author of Tomorrow, the World: The Birth of U.S. Global Supremacy


Zum Original-Artikel in «Foreign Affairs» oder als PDF ( https://globalbridge.ch/wp-content/uploads/2023/04/Analyse-Wertheim-ENGLISCH.pdf ).


Info: https://globalbridge.ch/irak-und-die-pathologien-der-us-vorherrschaft


unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.




Weiteres:




Siehe dazu «Robert Kagan erklärt, warum es die Aufgabe der USA ist, die Welt zu beherrschen» (auf Globalbridge.ch)


Robert Kagan erklärt, warum es die Aufgabe der USA ist, die Welt zu beherrschen


globalbridge.ch, 27. Dezember 2022 Autor: Redaktion in Allgemein, Geschichte, Politik

(Red.) Robert Kagan, 64, Ehemann von Victoria «Fuck EU» Nuland und persönlicher Freund des jetzigen US-Außenministers Antony Blinken, ist einer der profiliertesten US-amerikanischen Polit-Berater und Polit-Autoren und vielleicht der prominenteste Vertreter der sogenannten US-amerikanischen Neocons, der Neokonservativen. Seine Spezialität ist, seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu erklären, dass die USA aus historischen Gründen verpflichtet sind, die ganze Welt zu beherrschen. «Nur die amerikanische Macht kann die Naturgewalten der Geschichte in Schach halten», so Kagan wörtlich. (cm)


«Es ist an der Zeit, den Amerikanerinnen und Amerikanern zu sagen, dass sie ihrer globalen Verantwortung nicht entkommen können und dass sie deshalb über den Schutz des eigenen Landes hinausdenken müssen. Sie müssen begreifen, dass der Zweck der Nato und anderer Bündnisse nicht in der Abwehr unmittelbarer Gefahren für US-Interessen besteht, sondern darin, den Zusammenbruch jener Ordnung zu verhindern, die diesen (US-amerikanischen) Interessen am dienlichsten ist. Man muss den Amerikanern offen und ehrlich sagen, dass die Aufgabe, eine (von den USA gesteuerte, Red.) Weltordnung aufrechtzuerhalten, niemals endet und zwar kostspielig, aber jeder Alternative unbedingt vorzuziehen ist.»


(Diese Aussage Robert Kagans hat Christian Müller schon in einem Artikel über Robert Kagan zitiert, den er am 18. April 2021 auf der Plattform Infosperber.ch publiziert hatte. Sein damaliger Artikel kann hier nachgelesen werden.)

 

Jetzt hat Robert Kagan in der ersten 2023er Ausgabe der renommierten US-amerikanischen Zeitschrift «Foreign Affairs» erneut einen längeren Beitrag zur US-Außenpolitik veröffentlicht. Darin bestätigt er, dass praktisch alle US-Interventionen sogenannte «Wahl-Kriege» waren, also Kriege, die nicht notwendig gewesen wären, die von den USA aber gewollt waren. Aber er erklärt, dass es einen Weltfrieden nur geben kann, wenn die USA die ganze Welt beherrschen. Seine Argumentation basiert auf der Geschichte der USA seit 200 Jahren, mit etlichen Verweisen auf einzelne Ereignisse. Dabei unterstellt Kagan Russland und China, die ganze Welt beherrschen zu wollen, gerade auch in diesem Punkt allerdings auch mit falschen Informationen. So etwa behauptet auch er, wie die meisten US-Poltiker, im Jahr 2008 habe Russland den Kaukasus-Krieg eröffnet, obwohl eine von der EU in Auftrag gegebene Untersuchung unter der Leitung der Schweizer Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini zum klaren Schluss kam, dass es der damalige georgische Staatspräsident Micheil Saakaschwili war, der den ersten Schießbefehl gab.


Hier einige Zitate aus dem neusten Artikel von Robert Kagan in «Foreign Affairs»

«Damals wie heute handelten die Amerikaner nicht, weil ihre Sicherheit unmittelbar bedroht war, sondern um die liberale Welt jenseits der eigenen Küsten zu verteidigen.» 

«Die Amerikaner sind auf die vermeintliche moralische Unterscheidung zwischen „Kriegen der Notwendigkeit“ und „Kriegen der Wahl“ fixiert. [ ] Aber alle Kriege der USA waren Wahlkriege, die „guten“ und die „schlechten“ Kriege, die gewonnenen und die verlorenen Kriege. Kein einziger war notwendig, um die unmittelbare Sicherheit der USA zu verteidigen; in allen ging es auf die eine oder andere Weise um die Gestaltung des internationalen Umfelds.»

«Wenn unzufriedene Großmächte wie Russland und China sich so lange an diese Regeln hielten, dann nicht, weil sie sich zum Liberalismus bekehrt hatten oder weil sie mit der Welt, wie sie war, zufrieden waren oder die Regeln von Natur aus respektierten. Es lag daran, dass die USA und ihre Verbündeten im Namen ihrer Vision einer wünschenswerten Weltordnung eine überlegene Macht ausübten und die unzufriedenen Mächte keine andere Wahl hatten, als sich zu fügen.»

«Auch Putins wiederholte Invasionen in Nachbarstaaten waren nicht von dem Wunsch geleitet, Russlands Sicherheit zu maximieren. Russland war an seiner Westgrenze nie so sicher wie in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges. Russland wurde im 19. und 20. Jahrhundert dreimal von Westen her angegriffen, einmal von Frankreich und zweimal von Deutschland, und musste sich während des gesamten Kalten Krieges auf die Möglichkeit einer westlichen Invasion vorbereiten. Doch seit dem Fall der Berliner Mauer hatte niemand in Moskau Grund zu der Annahme, dass Russland die Möglichkeit eines Angriffs durch den Westen drohte.»

«Trotz häufiger gegenteiliger Behauptungen bestehen die Umstände fort, die die USA vor einem Jahrhundert zum bestimmenden Faktor des Weltgeschehens machten. So wie zwei Weltkriege und der Kalte Krieg bestätigt haben, dass Möchtegern-Autokraten ihre Ambitionen nicht verwirklichen können, solange die USA eine Rolle spielen, so hat Putin die Schwierigkeit entdeckt, seine Ziele zu erreichen, solange seine schwächeren Nachbarn praktisch unbegrenzte Unterstützung von den USA und ihren Verbündeten erwarten können.» 

«Die Amerikaner sollten eine freimütige und offene Debatte darüber führen, welche Rolle sie den USA in der Welt zuweisen wollen. Der erste Schritt besteht jedoch darin, zu erkennen, was auf dem Spiel steht. Der natürliche Verlauf der Geschichte in Abwesenheit amerikanischer Führung ist ganz offensichtlich: Er führt nicht zu einem liberalen Frieden, einem stabilen Gleichgewicht der Kräfte oder zur Entwicklung internationaler Gesetze und Institutionen. Stattdessen führt er zur Ausbreitung von Diktaturen und ständigen Konflikten zwischen Großmächten. Darauf hat sich die Welt in den Jahren 1917 und 1941 zubewegt. Sollten die USA heute ihr Engagement in der Welt verringern, sind die Folgen für Europa und Asien unschwer vorauszusehen. Großmächtekonflikte und Diktaturen waren in der Geschichte der Menschheit die Regel, der liberale Frieden eine kurze Verirrung. Nur die amerikanische Macht kann die Naturgewalten der Geschichte in Schach halten.»


Zum Originalartikel in «Foreign Affairs» hier anklicken.