nzz.ch, vom 29.05.2021, 06.00 UhrVor hundert Jahren brachte Rudolf Steiner die Anthroposophie unter die Leute. Unser Alltag ist von seiner spirituellen Lehre durchdrungen. Wie viel okkulte Magie steckt im Demeter-Apfel? Wie viel Esoterik in der Bodylotion von Weleda? Eine Spurensuche an vier Orten. Birgit Schmid (Text), Anja Lemcke (Illustrationen) 29.05.2021, 06.00 Uhr
Jeden Herbst vergräbt der Demeter-Bauer ein Kuhhorn mit angereichertem Mist. Im Frühling gräbt er das sogenannte Präparat wieder aus und verdünnt den Inhalt mit Wasser. In einem Holzfass verrührt er beides, um es später über seine Felder auszusprühen. Mit einem Besen rührt er während einer Stunde, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, bis ein Wirbel entsteht. «Wenn man lange genug hineinschaut», wird ein Demeter-Bauer in dieser Geschichte sagen, «erfasst einen ein Schwindel.»
In den vergangenen Monaten war immer wieder von den Anthroposophen die Rede, und zwar selten nett. Waldorf-Lehrer verweigerten die Maske. An Steinerschulen kam es zu Covid-19-Ausbrüchen. Ein anthroposophisch geführtes Altersheim warnte seine Bewohner vor der Impfung. Natürlich wurden die Anthroposophen auch an den Anti-Corona-Protesten identifiziert. Manche Medien verwenden die Namen Querdenker, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker als Synonyme für sie.
Gründliche Analysen knöpften sich gleich Rudolf Steiner vor, den Begründer der anthroposophischen Lehre, um die Nähe eines Teils des grünen Milieus zu Steiners Esoterik zu beleuchten. Die gemeinsamen Nenner: Überhöhung der Natur, Wissenschaftsskepsis.
Daran denkt man kaum, wenn man im Laden zu den Demeter-Äpfeln greift oder ein Olivenöl aus biodynamischer Produktion in den Einkaufskorb legt. Man verwendet seit Jahren die Gesichtscrème von Weleda, als würde man ernsthaft an das Bessere in ihr glauben. Egal – nützt es nichts, so schadet es auch nicht.
Doch was verbirgt sich hinter den seltsamen Ritualen, mit denen diese Produkte hergestellt werden? Wie harmlos ist der Aberglaube, der in den Lebensmitteln, den Kosmetika, der anthroposophischen Medizin steckt? Und ist es Zufall, dass die Anthroposophen ausgerechnet jetzt in die Schlagzeilen geraten – oder zeigt die Bewegung in der Pandemie einfach ihr wahres Gesicht?
Um das herauszufinden, lohnt sich eine Spurensuche dort, wo die Anthroposophie als Idee weiterlebt und praktiziert wird.
Klinik Arlesheim: Sie lösen Fieber aus
Lukas Schöb, ärztlicher Leiter der Klinik Arlesheim, sitzt mit geradem Rücken in der kleinen Spitalbibliothek, er trägt Hemd, Wollpullover, Kittel mit Ellenbogen-Patches, die Uniform der Spirituellen. Er scheint bereit, die Anwürfe abzufangen. Der erste scheitert schon an seiner Maske: Man schützt sich hier.
Die anthroposophische Klinik, gleichzeitig das grösste Privatspital im Kanton Baselland, wurde während der Pandemie auch zum Corona-Spital. Bisher hat man hier über 150 an Covid-19 erkrankte Patienten stationär behandelt, und zwar nicht allein mit Kräutersalben und Tees. Man arbeite bei ihnen auf der Basis volltechnisierter Schulmedizin, sagt Schöb, und sei mit den modernsten Geräten ausgestattet. Man verabreiche alles: «Chemotherapie, Cortison, Antibiotikum – wenn ich im Kantonsspital arbeiten würde, müsste ich das nicht betonen.»
Diese herkömmliche Behandlung wird mit anthroposophischen Ansätzen erweitert. Deshalb korrigiert Schöb jeden, der von Alternativmedizin spricht. Integrative Medizin, so heisst es richtig. Für Anthroposophen ist Krebs nicht einfach Krebs, und jede Lungenentzündung wird individuell betrachtet, als Krankheit eines einzigartigen Menschen. «Es ist nicht egal, wer du bist», lautet ein oft gehörter Satz.
Der Satz tönt an, wie wichtig das Individuelle in der Anthroposophie ist. Das erklärt schon einmal den Widerstand, wenn sich diesem Selbstverständnis wie jetzt in der Corona-Krise etwas entgegenstellt.
Selbst Kritiker gestehen der Anthroposophie zu, dass sie die kalte Medizin menschlicher gemacht hat. Heute würde niemand mehr bestreiten, dass Körper und Geist zusammengehören. «Was sich anderswo in der Medizin erst spät durchgesetzt hat, praktizieren wir seit hundert Jahren», sagt Schöb. Die Biobauern habe man in den achtziger Jahren auch als Spinner ausgelacht. «Heute ist Grün und Bio ein Trend.»
Daraus formuliert er einen Anspruch: «Momentan sind wir noch das Biolädeli der Medizin. Nun sollte die integrative Medizin in den Grossverteiler-Modus kommen.» Damit es schneller geht, tauscht man sich mit anderen Spitälern aus, im Herbst findet an der Universität Basel der erste wissenschaftliche Kongress zu integrativer Medizin statt. Seit 2019 gibt es dort auch einen Lehrstuhl für Komplementärmedizin, der unter anderem von Weleda und der Stiftung der Roche-Erbin Beatrice Oeri gefördert wird.
Im Raum Basel liegt das Zentrum der anthroposophischen Bewegung, die hohe Dichte an Anthroposophen erstreckt sich bis hinein in den süddeutschen Raum. In Dornach, einem Nachbarort von Arlesheim, lebte Rudolf Steiner zeitweise. Der Österreicher soll hinter der Welt, die wir alle sehen, eine geistige Welt erkannt haben, dies dank seiner hellseherischen Gabe. Seine spirituelle Weltanschauung wandte er in jenen Jahren auf verschiedene Lebensbereiche an, so auch auf die Medizin. Dabei war Steiner gar kein Arzt, sondern Philosoph, Mathematiker, Goethe-Fan.
Die Ärztin Ita Wegman half ihm dabei. Sie war seine Schülerin und, so heisst es, geistige Geliebte. Wegman erfand die rhythmische Massage oder die Misteltherapie bei Krebs. Beides kommt in der Klinik weiterhin zum Einsatz. Auf Wegmans Initiative wurde die Klinik Arlesheim gegründet: als erste anthroposophische Klinik der Welt. Anfang Juni ist es hundert Jahre her. Die Feiern fallen wegen der Pandemie schmal aus. Das Dorffest musste abgesagt werden.
Die historischen Figuren werden noch immer verehrt. Durchs Fenster sieht man aufs Holzhaus, in dem Ita Wegman gewohnt hat, es steht unter einer mächtigen Blutbuche. Von einem Porträtbild herab durchbohren einen Rudolf Steiners Augen.
Mit seiner angeblichen Hellsichtigkeit stellte er in der Klinik auch Diagnosen. So ortete er die Ursache für die heftigen Ekzeme eines Patienten in einer Vergiftung als Kind.
«Unser Zugang heute ist anders», sagt Lukas Schöb, der Klinikchef, und bleibt vage.
Er wird nicht der Einzige sein, der, nach der Gültigkeit von Steiners Anschauungen gefragt, ausweichend antwortet. Andere erklären diese oft so verschlauft, dass man den Anfang des Gesagten wieder vergessen hat, wenn sie den Punkt setzen. Der Religionshistoriker Helmut Zander, der die Anthroposophie seit Jahren erforscht, spricht von einer Geheimlehre für Eingeweihte. Zugang zur höheren Wahrheit hat nur, wer erleuchtet ist. Warum soll man Zweifelnden etwas nachvollziehbar erklären, was sie sowieso nicht verstehen?
Eine Gefahr lässt sich auch so benennen. Bei einer Medizin, die das Individuelle so hoch gewichtet, wird jede Krankheit aus dem Wesen des Patienten hergeleitet. Immer wieder verstieg sich der Pseudomediziner Steiner zu kühnen Deutungen, da er eine Krankheit auch als Schicksal begriff. Doch ist der Patient für seine Gesundheit verantwortlich, verkehrt sich die menschenfreundliche Heilkunst in ihr Gegenteil. Vielleicht haben ihn seine dunklen Gedanken erst krank gemacht. Wird jemand nicht gesund, liegt es an ihm selbst.
Angreifbar macht sich die anthroposophische Medizin aber durch etwas anderes: In hundert Jahren konnte die Wirksamkeit ihrer Heilmittel wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Wenn eine Tinktur oder die Kügelchen doch wirkten, waren an der Studie meistens Anthroposophen beteiligt.
Schöb sagt, unabhängige klinische Forschung scheitere oft am Geld. Bis vor zwanzig Jahren habe eher wenig Interesse an solchen Untersuchungen bestanden, gibt er zu. Vielleicht lag das auch daran, dass man das Ergebnis fürchtete. Aber so etwas würde er natürlich nicht sagen.
Um Vorbehalte abzubauen, spricht er von einer Erneuerung, die innerhalb der Anthroposophie nötig sei. Diese müsse sich öffnen. Doch da sind immer auch die Bewahrer, für die jedes Wort von Steiner heilig bleibt. «Will man etwas verändern, muss man mit Widerstand rechnen», sagt Schöb. «Ich aber verstehe Tradition so, dass ich das Feuer weitergeben will und nicht die Asche.»
Bei einem Rundgang durch die Klinik wird einem noch einmal vor Augen geführt, dass die Kranken nicht nur Essigwickel verabreicht bekommen. Es ist bunter als in einer normalen Klinik, weniger steril. Wer von den Pflegenden wohl geimpft ist? Das muss hier niemand offenlegen. In der Covid-19-Impfung sieht man offiziell einen sinnvollen Schutz. Jeder soll das aber für sich entscheiden.
In der Praxis betrachten die Anthroposophen Fieber denn auch nicht nur als Feind, den es um jeden Preis zu bekämpfen gilt. Das erfährt man im Zimmer, in dem Krebskranke mit Wärmetherapie, also künstlich erzeugtem «Fieber», behandelt werden. Der Kranke blickt hier direkt auf ein Gemälde mit Sonnenuntergang.
Man kann die anthroposophische Medizin für Hokuspokus halten. In der Palliativpflege geht sie voran. Wenn der Mensch im Mittelpunkt steht, macht es am Lebensende einen Unterschied, dass er da war.
Weleda: achtsam produzierte Faltencrème
Von der Klinik Arlesheim geht es hinunter ins Tal, wie sie oben sagen, obwohl man den Abstieg zu Fuss mühelos bewältigt. Mitten im Industriequartier von Arlesheim stellt die Firma Weleda die natürlichen Heilmittel her, die in der Klinik angewendet werden. Besser bekannt ist Weleda durch ihre Naturkosmetik.
Sie wecken eine alte Erinnerung, die Produkte, die in den Regalen von Migros, Coop und in den Apotheken stehen. Runde Schrift, «since 1921». Die Calendula-Blumen für das Babyöl werden von Hand gepflückt, und wie es sich für Naturkosmetik gehört, enthält dieses nur natürliche Inhaltsstoffe und kommt ohne synthetische Konservierungsmittel aus. Viele sind bereit, dafür mehr zu bezahlen.
«Die wenigsten unserer Kunden kennen den anthropologischen Hintergrund», sagt Michael Brenner, CFO von Weleda. Bedauernd klingt er nicht. Der Forstwirtschafter wusste selber wenig über die Anthroposophie, als er 2014 zu Weleda stiess. Brenner, in leichter Steppjacke, sein Tesla steht unten in der Garage, lacht auch über den «Officer» in seinem Titel: Bei Weleda werde kollegial geführt, da wäre man unglaubwürdig, wenn einem an so etwas läge.
Weleda ist der weltweit grösste Hersteller zertifizierter Naturkosmetik. 2020 belief sich der Umsatz auf 424 Millionen Euro, drei Viertel erwirtschaftet das international tätige Unternehmen mit Kosmetik. Damit werden die Arzneimittel querfinanziert. Die Klinik Arlesheim und die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft sind Hauptaktionäre.
Die Ärztin Ita Wegman und Rudolf Steiner gründeten auch Weleda vor genau hundert Jahren in Arlesheim. Steiner gab der Firma und ihren Produkten den Namen: Weleda war eine Heilpriesterin – Prophetin und Seherin in der germanischen Mythologie.
Wegen der Pandemie bleibt der Gang ins Innere der Produktionsstätte verwehrt. Man wolle den Mitarbeitenden ein Vorbild sein und sich an die Schutzmassnahmen halten, heisst es. Dafür gibt es einen Spaziergang durch den Heilkräutergarten.
Die Gärten von Weleda werden wie die Demeter-Bauernhöfe biologisch-dynamisch bewirtschaftet. Keine Chemie, keine Pestizide, dafür das Hornmist-Ritual, mit dem man die Felder düngt. Steiner gab die genaue Anleitung: Man nehme ein Kuhhorn, weil es «in besonders starker Weise die Strömungen nach innen sendet», und fülle Quarz, Kiesel oder Feldspat hinein. Im Herbst vergräbt man das Horn «drei viertel bis eineinhalb Meter tief», da nach dem Winter «eine ungeheure Kraft darinnen an Astralischem und an Ätherischem» stecke. Ähnlich wie bei der homöopathischen Methode sei der «geistige Mist» dann mit Wasser zu verdünnen und auszubringen. Diese kosmische Energie fördere das Wachstum und nähre das Wesen der Pflanzen.
In den Werbefilmen von Weleda sieht man, dass ein Jahrhundert an der Methode wenig verändert hat. Der Gärtner wirbelt im Fass das präparierte Wasser auf, ein Mitarbeiter schaukelt mit nach innen gerichtetem Blick und rhythmischen Bewegungen die Tinktur beim sogenannten Potenzieren. Von kosmischen Kräften spricht zwar niemand mehr, heute sagt man dem moderner: Achtsamkeit.
Michael Brenner, der CFO, nennt es Beziehung. Während er auf dem verschlungenen Pfad durch den Garten schlendert, macht er einen Vergleich. Eine Maschine, die ein Kind füttere, wickle, streichle, könne nie die Mutter ersetzen. Durch die Liebe der Mutter entstehe etwas Gutes, Beziehungsstiftendes, das sich nicht messen lasse. «Ich verstehe auch nicht alles», sagt Brenner. «Aber wenn man die Rituale wegliesse, würde etwas fehlen.»
Nun kann es den Menschen zweifellos in gute Stimmung bringen, wenn er seiner Arbeit Sinn zufügt. Das Schütteln der Substanz, durch das er deren Kräfte freisetzen will, hat für den Mitarbeiter vielleicht etwas Meditatives. Gewiss lernt er insgesamt die Natur zu respektieren, indem er sie zu wohlriechenden Substanzen verarbeitet. Dass dies aber auch die Wirkung der Feuchtigkeitslotion bestimme, wie Weleda behauptet – geht es nicht mit weniger Esoterik?
Er sehe das entspannt, sagt Brenner, während er das Blatt der Fetthenne schält, einer Pflanze, die viel Wasser speichert. Das Vollmondbier trinke man ja auch, ohne an den Mondkalender zu glauben.
Ein bisschen Aberglaube kann nicht schaden: Dazu gehört die Neigung, hinter die Dinge zu sehen. Die Gefahr dabei: Man glaubt Dinge zu sehen, die es nicht gibt. Viele, die die Welt esoterisch-spirituell betrachten, finden es nicht abwegig, dass dunkle Mächte am Wirken sind, vielleicht gar eine Verschwörung im Gang ist.
Das Argument, dass nicht schade, was nicht nütze, genügt in Frankreich jedenfalls nicht mehr. Seit diesem Jahr sind homöopathische Arzneimittel, zu denen auch jene von Weleda zählen, aus dem Leistungskatalog der Grundversicherung gestrichen. In der Schweiz kommen Krankenkassen seit 2012 dafür auf. Und noch etwas bekommt Weleda zu spüren: Weil es wegen der Pandemie viel weniger Grippekranke gab, wurden deutlich weniger Mittel gegen Fieber und Erkältung verkauft.
Aber da sind ja noch der Rosmarin (etwa bei Diabetes), der Weissdorn (fürs Herz) und der Löwenzahn (bei Verdauungsbeschwerden). Drüben der Bienenstock, das Zwitschern der Vögel, der freundliche Führer. Er hat nichts von einem Ideologen, in seltsame Sphären scheint er auch nicht abzudriften. Allerdings bedeutet Ignoranz auch Zustimmung: Wenn man Geschichte lieber Geschichte sein lässt, muss man sich auch nicht abgrenzen vom okkult-magischen Denken, auf dem die Firma gründet.
Vor dem Baum mit der Mistel kann der CFO Brenner nicht erklären, wie Rudolf Steiner die Misteltherapie begründet hat. Steiner verglich die parasitäre Mistel nach dem homöopathischen Analogieprinzip mit einem bösartigen Tumor: Sie töte ihren Wirt, und genauso könne der Tumor den Körper töten, in dem er wachse. So sah er in Iscador, wie das Medikament mit Handelsnamen heisst, ein Heilmittel gegen Krebs.
Was Brenner nicht weiss, setzt er auch bei den Mitarbeitenden nicht voraus. Niemand müsse bei Weleda der Anthroposophie anhängen, sagt er. Er sieht sie vielmehr als Einladung, «im Einklang mit sich und der Natur zu leben. Die Anthroposophie gibt ein paar ‹hints› und ‹tricks›, wie das gelingen kann.» Die meisten der 2500 Angestellten, die die Firma weltweit hat, wollen vor allem Gutes für die Umwelt tun.
So pragmatisch Michael Brenner klingt, ein Bild von Steiners Menschenlehre hat es auch ihm angetan. Er sehe den Menschen als «Entwicklungswesen»: «Entwickeln heisst, etwas auswickeln, das eingewickelt ist.» Wenn er also jemanden einstelle, müsse er spüren, dass diese Person auch einen inneren Weg gehen wolle.
Gerade so wichtig wie der magische Glaube, der die Herstellungsverfahren begleitet, ist hier der Glaube an sich selbst. Selbstachtsamkeit als Leistungsprinzip.
Demeter: die Schönheit eines fallenden Kuhfladens
Auf Gut Rheinau im Zürcher Weinland sehen die Kühe aus, als würde ein Diversity-Manager im Stall mitreden. Braune, Weisse, Gescheckte, Gestreifte. Die Hörner streben spiralförmig himmelwärts. Das Gut Rheinau ist der grösste Demeter-Hof der Schweiz, einer von 362 biodynamisch bewirtschafteten Betrieben.
«Die biodynamische Landwirtschaft ist eine Art Stimmung», sagt Martin Ott, der hier junge Demeter-Bäuerinnen und -Bauern ausbildet und Gut Rheinau lange mitgeführt hat. Wer es unbedingt hören will, dem bestätigt er auch gern: «Ja, wir spinnen.»
Die nach strengen Richtlinien hergestellten Lebensmittel kann man seit fünf Jahren auch bei Coop und Migros kaufen. Ständig sichtet man das orange Label auf einem neuen Produkt. Eier, Olivenöl, Feigen. Der runde Demeter-Schriftzug verrät die anthroposophische Herkunft. Die meisten Kunden wissen aber wenig darüber. Zum Beispiel, dass auf der Migros-Website steht, wie man je nach Mondphase die Pflanzen pflegt. Ob das jemanden vom Kauf abhielte? Städter stehen auf Demeter. Das zeigen die Zahlen der Grossverteiler. Die Äpfel mögen nicht so glänzen wie jene im Gestell nebenan, aber sie schmecken noch nach Äpfeln. Also besser – bildet man sich zumindest ein.
Die Sorge um die Natur hat schon Rudolf Steiner beschäftigt, als er 1924 eine Reihe von Vorträgen vor Landwirten hielt. Diese fragten ihn, der sich mit dem Bauern so wenig auskannte, sowenig er ein Heiler war, um Rat. In der Nachkriegszeit kämpfte man mit ökologischen Problemen: versalzten Böden, schlechtem Saatgut, Düngermangel. Steiners spirituelle Antwort kam da an. Er stellte der aufkommenden industriellen Landwirtschaft eine Bewirtschaftung gegenüber, die die Böden nicht ausbeutet, sondern sie mit Mineralien aus dem «Bereich des Lebendigen» nährt. Die Landwirte sollten die «Offenbarungen des Stickstoffs» erkennen und schliesslich «hellriechende» Landwirte werden. Dünger als Philosophie. Ungeachtet des esoterischen Überbaus war Steiner einer der ersten Biobauern.
Auch Martin Ott, der Bauer von Gut Rheinau, kann sich für Kuhfladen begeistern, die einmal chaotisch, einmal rhythmisch fielen. Ein biodynamischer Landwirt behandle Tiere und Pflanzen nicht nur artgerecht, sondern auch «wesensgerecht», sagt er. Das Melken bezeichnet er als «Tempeldienst». Noch Wichtigeres aber passiere, wenn die Kuh die Pflanze fresse – «etwas vom Schönsten für die Pflanze» – und zu verdauen beginne.
Demeter ist nicht vegan, so hat es Steiner mit seiner Lehre vom «geistigen Mist» definiert. Kühe sind wichtig für einen geschlossenen Kreislauf. Dabei ist die Anzahl Tiere auf die Fläche abgestimmt, so dass man idealerweise kein Futter zukaufen muss. Auch sollten die Tiere wenn möglich aus eigener Zucht stammen.
Dass Martin Ott der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative zustimmt, über die man in der Schweiz am 13. Juni abstimmt, versteht sich.
«Die Krise der Landwirtschaft ist eine Beziehungskrise», sagt Ott beim Mittagessen im Speisesaal, wo auf Plakaten «Liebe zeigen, Abstand halten» steht und Menschen mit Beeinträchtigungen das Essen servieren. Gut Rheinau beteiligt sich an sozialen Projekten. Wir hätten den Bezug zu uns, zur Natur, zu den Vögeln, zu den Steinen und zum Wetter verloren, sagt Ott. Die Wissenschaft interessiere sich für den Menschen nur noch im Doppelblindversuch. Viele fühlten sich bedeutungslos. Verlassen. Deshalb verteidigt Ott auch das Misthorn-Ritual: «Es ist der Versuch einer Beziehungspflege zwischen dem Boden und mir.»
Was die Anthroposophie für viele auch über hundert Jahre später anziehend macht, ist die geistige Heimat, die sie bietet, während rundherum alles als unsicherer empfunden wird. In einer Studie der Universität Basel über Corona-Skeptiker sagten 72 Prozent der Befragten, die Krise zeige, wie sich der Mensch von der Natur entfernt habe. Unter ihnen waren viele, die sich dem grünen, esoterischen oder anthroposophischen Milieu zuordnen. Weit über die Hälfte war der Ansicht, dass mehr spirituelles und ganzheitliches Denken der Gesellschaft guttun würde.
Das muss man Martin Ott nicht zweimal sagen. Unzählige Stunden hat er Präparate verrührt und ausgebracht. Kristallwasser in der Morgendämmerung, Kuhmist beim Eindunkeln. Er rührte und wirbelte, während der Tag erwachte oder zu Ende ging: «Unglaublich schön.»
Rituale festigen einen Glauben, der ohne sie vielleicht längst verschwunden wäre. Sind das nicht einfach leere Handlungen? Nein, sagt Ott. Es gehe um die Erzählung hinter dem Horn, dem Mist, dem Löwenzahn: «Du bist es, der mit allem in Beziehung tritt und ihm eine Bedeutung gibt.»
«Wie können so hoch verdünnte Präparate die Bodenqualität verbessern?»
«Wenn man die Wirkung sehen will, sieht man sie. Will man sie nicht sehen, dann sagt man, die Hinweise reichten nicht aus.»
Was man nicht weiss, das stellt man sich vor: Mit dieser Haltung wird in Rheinau auch im Forschungsgarten experimentiert. Rote und blaue Fähnchen stecken in der Erde: Das eine Beet wird mit Kupferwerkzeug behandelt, das andere mit einer Harke aus Eisen. Da düngt man mit Hornmist, dort versucht man die Kommunikation mit Eurythmie anzuregen, der Bewegungskunst der Anthroposophen, und betanzt das Saatgut. Was gedeiht besser?
Doch es scheint den Menschen auf diesem Hof gar nicht so wichtig zu sein, etwas zu beweisen. Ladina, die zu den Hühnern schaut, vergräbt die Kuhhörner, «wie es mir gefällt». David, der junge Gemüsebauer, führt die hochverdünnten Präparate mit dem Traktor aus. Überhaupt, sich rituell in Trance zu bringen, «das ist nicht meins», sagt er. David kommt aus einem anthroposophischen Elternhaus. Sobald er merkt, dass man Steiner nicht hinterfragen darf, stresst ihn das enorm. «Das macht uns so unfrei. Dann kann man uns getrost Sekte nennen.»
Was ihren Gegnern oft selber fehlt, nämlich die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, darin wirken sie auf Gut Rheinau geübt. Diese Toleranz bringen sie dann aber auch denen entgegen, die die abstrusesten Ideen vertreten.
Der Bauer Ott lässt einem Verschwörungstheoretiker «sein Narrativ». Wer sich, wie er sagt, mit eigenständigen Erklärungsmodellen der Welt beschäftige wie die Anthroposophen, könne dazu schon geneigt sein. Nicht den Inhalt ihrer Theorien störten ihn, sondern dass man mit diesen Leuten nicht mehr diskutieren könne. Dabei sei der Mensch nach Steiner ein fragendes Wesen: «Der Mensch findet nicht, er sucht.»
Darum lässt sich Martin Ott nicht in den Strudel hineinziehen. Er findet meistens wieder heraus.
Goetheanum: im Bunker der Besinnung
Dringt die Bodenhaftung, die viele Anthroposophen in der Praxis zeigen, auch durch Beton?
Je weiter man in Dornach den Hügel hinaufsteigt, desto mehr scheint man mit der Umgebung zu zerfliessen. Dornach, obwohl an Arlesheim angrenzend, liegt im Kanton Solothurn. An den Häusern ist alles rund und schief, denn die Natur kennt keine rechten Ecken. Auch der Betonbau zuoberst zeigt den organischen Baustil. Wie ein Tempel steht es da: das Goetheanum, geistiges Zentrum der Anthroposophen, offiziell Freie Hochschule für Geisteswissenschaften genannt.
Filmproduzenten fragen manchmal an, ob sie hier drehen dürften. Das Gebäude würde sich gut als Machtzentrum des Bösen eignen.
Auf einer Wiese bewegt sich eine Gruppe weissgekleideter Menschen wie in Zeitlupe. Sie machen Eurythmie. Im Innern des Gebäudes kommt man sich winzig vor. Wo sich sonst täglich Menschen in Scharen einfinden – Stille und Leere. Langsam soll aber auch hier das Leben wieder Fahrt aufnehmen. Dazu gehört die neunstündige Aufführung von «Faust», und Plakate kündigen das Joseph-Beuys-Symposium im Juni an. Beuys, der vor hundert Jahren geboren wurde, war ein Anhänger Steiners. Manche sehen in ihm gerade durch diese Nähe einen Vorläufer der Querdenker.
Hier, wo Steiner mehrere Monate in einem Nebengebäude gelebt hat, sollen die linientreusten Anthroposophen tätig sein. Hier ist auch der Sitz der 1923 gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft. Sie zählt weltweit um die 43 000 offizielle Mitglieder, in der Schweiz sind es 3500, in Deutschland 12 000. Tagte der Vorstand, so eine Legende, wurde lange ein Stuhl leer gelassen: für Rudolf Steiner.
Sollte das einst so gewesen sein – heute tut das Matthias Girke als frei erfunden ab. Girke sitzt im Vorstand des Goetheanums. Er sagt: «Unter Anthroposophen findet sich wie in der Gesellschaft das gesamte politische Spektrum: links, zum Glück kaum rechts und viel Mitte.» Leider gebe es wie überall die Ausnahmen, also Verschwörungstheoretiker: «Da habe ich als Vorstand keinen Einfluss.»
In der Anthroposophie geht nichts über die Würde und Autonomie des Individuums. Das ist auch der Kern der Pädagogik an den Steiner- und Waldorfschulen: Jedes Kind ist einzigartig. Das Besondere in ihm soll gefördert werden, ohne dass es etwas Äusseres, irgendwelche Normen auf dem Weg zum selbstbestimmten Menschen behinderten.
So erklärt sich auch Matthias Girke die Mühe der Anthroposophen mit Verboten von oben. In ruhigem Ton leitet er das her. «Werden die Freiheits- und Grundrechte beschnitten, löst dies Sorge aus.» Auch Fragen nach Steiners rassistischen und antisemitischen Ansichten bringen ihn nicht aus der Ruhe. Man müsse diese im Kontext der Zeit und seines Gesamtwerks betrachten. Steiner sei kein Rassist.
Zeigen die Anthroposophen in der Pandemie ihr wahres Gesicht? So wie sie sich herauserklären, auch wenn es um Steiners dunkle Seiten geht, müsste man das bejahen.
Der Religionshistoriker und Steiner-Biograf Helmut Zander wirft ihnen deshalb Verharmlosung vor. Aber auch er stellt fest, dass sich die Bewegung entideologisiert. Sie wird vielfältiger dadurch, dass ihre Methoden in der Landwirtschaft, in den Schulen frei angewandt werden.
Falls der Goetheanum-Vorstand dies als Verrat empfände, liesse er es sich nicht anmerken. Die Anthroposophie sei keine Religion, sagt Girke. Sie leuchte weiterhin voraus und könne Impulse dafür geben, wie man auf die Welt blicke. «Sie wird nötig bleiben, wo der Mensch zu kurz kommt.» Sie müsse sich aber auch weiterentwickeln, den Austausch suchen. Ohne die Arbeit vorangehender Generationen entwerten zu wollen, halte er es mit «Faust» und seinem «Stirb und werde!».
Da spricht er auch als anthroposophischer Arzt. Als solcher war er an der Stellungnahme beteiligt, in der sich die Medizinische Sektion am Goetheanum im Januar zu den Corona-Impfungen äusserte. Man begrüsse deren Entwicklung und hoffe, dass sie «eine zentrale Rolle in der Überwindung der Covid-19-Pandemie spielen werden». Mit der Impfung sei es aber nicht getan, steht weiter, sie müsse begleitet werden von Massnahmen, die die individuelle Resilienz stärkten.
Auf der Website der Anthroposophischen Gesellschaft wird in einem Beitrag gleichzeitig vor einem Impfzwang gewarnt und gefragt: «Ist die Schweiz auf dem Weg zum staatlich optimierten Übermenschen?» Vom reduktionistisch-materialistischen Ansatz der modernen Medizin ist da die Rede, vom zur Maschine degradierten Menschen.
Offiziell klingen sie vernünftig. Insgeheim bleiben sie widerständig.
Info: https://www.nzz.ch/gesellschaft/anthroposophie-wie-viel-esoterik-steckt-in-demeter-und-weleda-ld.1625162
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.