Neues ParadigmaVom Washington Consensus zur Berliner Erklärung
makronom.de, vom 11. Juli 2024, Ökonomenszene, Ein Beitrag von Dani Rodrik, Laura Tyson & Thomas Fricke
Auf ihrem Gipfel Ende Mai nahe Berlin haben Dutzende führende Denker eine Erklärung dazu verabschiedet, was neue Wellen an Populismus stoppen könnte. Diese Berlin Declaration spiegelt ein neues Leitbild, das die jahrzehntelange marktliberale Dominanz ablösen könnte.
Bild: Forum New Economy
Was wirtschaftspolitisch als richtig gilt, folgt Paradigmen, die wechseln – meist beschleunigt von Krisen, die neue Antworten erfordern. Das war nach der Stagflation der 1970er Jahre in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften der Fall, als geringes Wirtschaftswachstum mit hoher Inflation einherging. Es könnte jetzt wieder der Fall sein. Diesmal sind die liberalen Demokratien mit einer Welle des Misstrauens in ihre Fähigkeit konfrontiert, ihren Bürgern zu dienen und die vielfältigen Krisen – vom Klimawandel über unerträgliche Ungleichheiten bis hin zu großen globalen Konflikten – zu bewältigen.
Was das heißt, zeigt sich derzeit in den Vereinigten Staaten, wo der ehemalige Präsident Donald Trump gute Chancen hat, getragen von diesem Unmut die Präsidentschaftswahlen im November zu gewinnen. In Frankreich haben die Rechtsextremen es bei den jüngsten Wahlen zwar nicht geschafft, eine Mehrheit zu bekommen. Trotzdem wählte jeder Dritte den Rassemblement National. Um eine weitere Welle gefährlicher populistischer Politik zu verhindern und größeren Schaden für die Menschheit und den Planeten abzuwenden, müssen wir dringend die Ursachen für den Unmut der Menschen angehen.
Dazu haben sich Ende Mai etliche führende Wissenschaftler und Praktiker auf Einladung des Forum New Economy zu einem Gipfel bei Berlin unter der Überschrift „Winning Back the People“ getroffen. Das Ergebnis spiegelt so etwas wie ein neues Verständnis von Wirtschaftspolitik. Und das könnte den marktliberalen „Washington Consensus“ ablösen, der vier Jahrzehnte lang das Primat des freien Handels und der freien Kapitalströme, der Deregulierung, der Privatisierung und anderer marktwirtschaftlicher Dogmen setzte.
Am Ende des Treffens wurde jene „Berlin Declaration“ verabschiedet, die mit uns inzwischen Dutzende führender Wissenschaftler unterzeichnet haben, darunter Nobelpreisträger Angus Deaton, Adam Tooze, Mariana Mazzucato und Olivier Blanchard sowie Thomas Piketty, Isabella Weber, Branko Milanovic und viele andere. Inzwischen ist die Zahl der Unterzeichner auf deutlich über 300 angewachsen.
Was als Washingtoner Konsens galt, ist schon seit einiger Zeit brüchig geworden. Etliche Forschungen und tatsächliche Entwicklungen passen nicht mehr dazu, was das alte Paradigma an Vorteilen versprach: Tatsächlich ist die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen stark gestiegen, statt zu fallen. Es gibt Anlass zu einer Neubewertung der Rolle von Industriepolitik und der verordneten marktliberalen Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels. Die jüngsten Krisen haben dieses Infragestellen beschleunigt. Das gilt noch mehr angesichts der Gefahr, den Kampf um die liberale Demokratie zu verlieren. Und es scheint, als gäbe es nun auch eben auch ein zunehmend geteiltes neues Grundverständnis davon, wie die Probleme zu lösen und der Unmut der Menschen zu beheben sind.
Zu dem neuen Verständnis, das die Berliner Erklärung spiegelt, zählt ein Konsens zu den Hauptursachen des Misstrauens der Menschen. Forschungen haben ergeben, dass dieser Unmut zu einem großen Teil auf die Erfahrung zurückzuführen ist, tatsächlich oder gefühlt die Kontrolle über das eigene Schicksal und die Richtung gesellschaftlicher Veränderungen verloren zu haben. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit wurde durch Schocks ausgelöst, die sich aus der Globalisierung und dem technologischen Wandel ergeben. Es wird derzeit verstärkt durch die Folgen des Klimawandels, den Einzug künstlicher Intelligenz, den jüngsten Inflationsschock und den Austeritätskurs in vielen Ländern, also die Kürzung öffentlicher Ausgaben oder die Anhebung von Abgaben.
Diese Diagnose führt zu einem ebenso klaren Schluss. Um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, braucht es eine Politik, die das Vertrauen in die Fähigkeit wiederherstellt, wirksam auf die realen Probleme zu reagieren. Das bedeutet, dass die Politik sich auf die Schaffung von gemeinsamem Wohlstand und guter Arbeit konzentrieren sollte. Es bedingt auch eine Politik, die in betroffenen Regionen proaktiv auf drohende wirtschaftliche Brüche reagiert, indem sie neue Industrien unterstützt und Innovationen auf die Schaffung von Wohlstand für Viele ausrichtet.
Zu all diesem gibt es heute einen zunehmenden Konsens. Ebenso dazu, dass es eine tragfähigere Form der Globalisierung braucht, bei der auch die Klimapolitik koordiniert werden muss, und es den Staaten möglich ist, die Kontrolle über strategisch wichtige Produkte zu behalten. Auch gilt es, das Gefälle von Einkommen und Vermögen zu verringern.
Zum neuen Konsens sollte in der Klimapolitik gehören, eine zumutbare Bepreisung von CO2 mit starken positiven Anreizen und ehrgeizigen Infrastrukturinvestitionen zu kombinieren. Auch sollten die Entwicklungsländer die finanziellen und technologischen Ressourcen erhalten, die sie für den Übergang zur Klimaneutralität benötigen. Bei alledem schwingt die Einsicht mit, dass es darum geht, ein neues Gleichgewicht zwischen Marktprozessen und gemeinschaftlich getragenen Maßnahmen zu schaffen.
Eine Einigung auf all diese Punkte wäre vor fünf Jahren wahrscheinlich noch nicht möglich gewesen. Die große Zahl der Unterzeichner und die Vielfalt der Perspektiven, die sie vertreten, spiegeln, wie sehr sich die Diskussion mit der Anhäufung von mehr und mehr empirischen Belegen verändert hat.
Die Unterzeichner der Berlin Declaration geben nicht vor, alle Antworten zu kennen, ganz im Gegenteil. Der Zweck besteht vielmehr darin, neue Leitlinien anzubieten, die sich von der bisherigen Orthodoxie unterscheiden. Es ist in diesem Sinne auch ein Auftrag, Ideen weiterzuentwickeln und Konzepte für die politische Umsetzung zu verfeinern. Wie Industriepolitik richtig gemacht werden kann, muss sowohl im nationalen Kontext als auch im Rahmen einer internationalen Abstimmung definiert werden; das Gleiche gilt für die Frage, wie Regierungen am besten Anreize für klimafreundliches Verhalten schaffen können. Auch gibt es noch offene Fragen dazu, wie die Globalisierung neu gestaltet oder die wirtschaftliche Ungleichheit am wirksamsten verringert werden kann.
Nichtsdestotrotz ist es von enormer Bedeutung, einen Konsens über Grundsätze zu erzielen, an denen sich politische Entscheidungsträger orientieren können. Die Erkenntnis, dass Märkte allein weder den Klimawandel aufhalten noch zu einer weniger ungleichen Verteilung des Wohlstands führen werden, ist nur ein Schritt auf dem Weg zur Entwicklung optimaler Strategien, mit denen die wirklichen Herausforderungen wirksam angegangen werden können. In dieser Hinsicht sind bereits viele Fortschritte erzielt worden.
Wir stehen vor der Wahl zwischen einer populistisch getriebenen Welle des Protektionismus mit all den damit verbundenen Konflikten – und einer neuen Politik, die gewissenhafter auf die Sorgen der Menschen eingeht. Um den Populisten zuvorzukommen, brauchen wir einen neuen politischen Konsens, der sich auf die Ursachen des Misstrauens der Bürger konzentriert und nicht auf die Symptome.
Um das Vertrauen in die Fähigkeit unserer Gesellschaften wiederherzustellen, Krisen zu überwinden und eine bessere Zukunft zu sichern, bedarf es einer Agenda, die Bürgern und ihren Regierungen wieder das Gefühl gibt, die Kontrolle über ihr Schicksal zu haben und das Wohlergehen aller zu fördern. Um die Menschen zurückzugewinnen, braucht es nicht mehr – und nicht weniger – als eine Agenda für die Menschen.
Zu den Autoren:
Dani Rodrik ist Wirtschaftsprofessor an der Harvard University. Er ist Autor zahlreicher Bücher und zählt zu den weltweit renommiertesten Ökonomen auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik.
Laura Tyson ist Distinguished Professor an der University of California, Berkeley. Sie ist Expertin für Handel und Wettbewerbsfähigkeit.
Thomas Fricke ist Gründungsdirektor des „Forum New Economy“, in dem Ökonomen neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit diskutieren.
Die Berlin Declaration wurde auch von Adam Tooze, Gabriel Zucman, Jens Südekum, Mark Blyth, Catherine Fieschi, Xavier Ragot, Daniela Schwarzer, Isabella Weber, Robert Johnson, Dalia Marin, Jean Pisani-Ferry, Barry Eichengreen, Laurence Tubiana, Pascal Lamy, Ann Pettifor, Maja Göpel, Stormy-Annika Mildner, Francesca Bria, Katharina Pistor und rund 50 weiteren Wissenschaftlern und Praktikern unterzeichnet.
Hinweise:
Die Berlin Declaration finden Sie hier auf Deutsch und hier auf Englisch. Eine englische Version dieses Beitrags ist zuerst bei Project Syndicate (© 2024) erschienen.
Weiteres:
Das Forum New Economy wird von einer hochrangigen Gruppe akademischer Partner unterstützt, zu denen auch Nobelpreisträger zählen. Es arbeitet mit einem Netzwerk aus führenden Institutionen zusammen, darunter die OECD, das DIW Berlin, das Institute for New Economic Thinking, die European Climate Foundation und das OFCE in Paris.
NEUES LEITMOTIV Nach ein paar Jahrzehnten allzu naivem Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.
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