aus e-mail von Clemens Ronnefeldt, 3. Juli, 18:42 Uhr
Liebe Friedensinteressierte,
nachfolgend eine Informationen zu den
Kriegen in der Ukraine und in Westasien.
1. n tv: Reisners Blick auf die Front
"Bei Wowtschansk liegen sich Ukrainer und Russen wie in Stalingrad gegenüber"
2. NSN/SZ: Krieg in der Ukraine : Orbán fordert von Kiew Waffenstillstand
3. FR: Ukraine-Krieg als „Mittel zum Zweck“:
Trauma und Anerkennung – Was will Putins Russland wirklich?
4. FR: „Deswegen passiert alles im Stillen“:
Beraterin gibt Einblick in Ukraine-Gespräche hinter Putin und Selenskyj
5. ZDF: Angriff auf AFP im Gazastreifen: Journalisten im Visier Israels?
6. SWP: Krieg ohne Ende? Israels Kampf gegen die Hamas und die Erfolgschancen für einen Nachkriegsplan
7. taz: Sawsan Chebli über den Gaza-Krieg: „Ich war eine stolze Deutsche“
8. FAZ: Omri Boehm: ARENDT UND PALÄSTINA : Wir sollten nicht akzeptieren, dass es zu spät geworden ist
9. DAG: Joseph Croitoru, DIE HAMAS, Herrschaft über Gaza – Krieg gegen Israel
10. Heribert Prantl: Buchhinweis: Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen.
——
1. n tv: Reisners Blick auf die Front
"Bei Wowtschansk liegen sich Ukrainer und Russen wie in Stalingrad gegenüber“
https://www.n-tv.de/politik/Reisners-Blick-auf-die-Front-Bei-Wowtschansk-liegen-Ukrainer-und-Russen-sich-wie-in-Stalingrad-gegenueber-article25055958.html
Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
Reisners Blick auf die Front
"Bei Wowtschansk liegen sich Ukrainer und Russen wie in Stalingrad gegenüber"
01.07.2024, 19:45 Uhr
Im Donbass kämpfen Ukrainer und Russen erbittert noch um das kleinste
Dorf. Aber stetig geht es für Putins Truppen vorwärts. Am Himmel über
Osteuropa ist der Kreml auch gegen die NATO aktiv. Oberst Reisner
erklärt bei ntv.de, wie es den Russen gelingt, westliche Flieger zu
stören.
ntv.de: Die russische Armee hat in den vergangenen Tagen die Einnahme
zweier Ortschaften gemeldet - Nowoolexandriwka und Spirne. Die Ukraine
widerspricht allerdings. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar?
Markus Reisner: Die Russen haben entlang der gesamten Front die
Initiative, das heißt, sie bestimmen durch ihre Angriffe, wo gekämpft
wird. In zwei Schwergewichtsräumen sind sie dabei langsam erfolgreich:
zum einen im Raum Tschassiw Jar und bei Otscheretyne im Donbass. Dort
liegen auch die beiden genannten Orte, Nowoolexandriwka und Spirne.
(…)
Bei Wowtschansk hingegen sehen wir erbitterte Gefechte. Dort haben die
Russen wegen der schweren Verluste sogar vor Kurzem eine
Luftlandebrigade zurückgenommen. Da liegen sich die Ukrainer und die
Russen quasi Stalingrad-ähnlich auf kurzer Distanz gegenüber, in
Blickweite, und kämpfen verbittert und verbissen.
Wenn wir über die Front hinaus schauen: In den ersten vier Monaten
dieses Jahres wurden 142 Transport- und Überwachungsflüge der Royal
Air Force durch GPS-Störungen behindert, sagt eine britische
Datenanalyse. 142 von 504 Flügen insgesamt, die über Osteuropa
stattfanden. Das britische Verteidigungsministerium macht Russland
verantwortlich, die dann also jeden vierten Flug der Briten über
Osteuropa aktiv gestört hätten. Kann die NATO sich nicht wehren?
Das geht in der Tat schon seit Monaten so, vor allem über dem
Baltikum, wo die Russen offensichtlich ganz gezielt das
elektromagnetische Spektrum stören. Auch die zivile Luftfahrt meldet
hier GPS-Ausfälle. Das ist also eine Fähigkeit hybrider Kriegsführung,
die Russland hat und auch spielt, während die NATO nicht genau weiß,
wie sie damit umgehen soll.
Der Ausfall von GPS bei einem Flugzeug klingt gefährlich.
Das ist es auch, vor allem für die zivile Luftfahrt, die im
Wesentlichen von GPS-Koordinaten abhängt. Bislang gab es noch keinen
schwerwiegenden Unfall, aber eine Reihe von Meldungen solcher
Störfälle. Man nimmt an, dass viele dieser Angriffe von Kaliningrad
ausgehen. Das ist die russische Enklave südlich des Baltikums,
zwischen Polen und Litauen. Dort hat Russland einiges an Mitteln zur
elektronischen Kampfführung stationiert. Das muss uns Sorgen bereiten.
Gleiches gilt für russische Schiffe, die in der Nähe von
Unterseekabeln unterwegs sind. (…)
Das klingt allerdings so, als sei es nur eine Entscheidung der Russen,
keine Passagiermaschine per Sabotage vom Himmel zu holen. Die
Fähigkeit dazu hätten sie?
Der Grund, warum die USA seit Beginn der russischen Vollinvasion in
der Ukraine so bedächtig vorgehen, wie sie es tun, ist sicherlich
folgender: Das Weiße Haus möchte den Kreml nicht so in die Enge
treiben, dass er militärische Aktionen setzt, die sich nicht mehr
beherrschen lassen. Das kann man ganz klar so sagen. Gerade in der
digitalen Welt, in der wir heute leben, kann ein Gegner auf vielen
Wegen zum Beispiel im Cyberraum aktiv werden. Darauf sind wir nicht
vorbereitet und auf vieles andere auch nicht. Denken Sie an die
Brandanschläge in Berlin.
Ein Gebäude des Rüstungskonzerns Diehl ging aufgrund eines technischen
Defekts in Flammen auf.
Man geht dem Verdacht nach, ob Russland dahintersteckt. Trotzdem wird
der Vorfall gar nicht besonders in deutschen Medien diskutiert. Das
erstaunt mich. Gibt es Beweise für einen russischen Akt? Falls ja, was
tun wir dagegen? Ein weiteres Beispiel: Die NATO hat kürzlich indirekt
zugegeben, sie könnte im Ernstfall nur etwa fünf Prozent des Luftraums
an der Ostflanke mit verfügbarer Flugabwehr schützen.
Sie stellen Kampfführung im Krieg gern als Wettlauf dar: Eine Seite
entwickelt etwas Neues, die andere versucht, schnell ein Gegenmittel
zu finden. Steckt die NATO beim Thema Störsender noch mitten in diesem
Prozess? Wir haben kein geeignetes Gegenmittel?
(…) Russland, aber auch China, der Iran und andere haben sich in der
Zeit, in der wir abgerüstet haben, hochgerüstet. Nun stellt sich die
Frage: Haben wir noch immer eine Parität der Kräfte? Können wir
überhaupt noch abschrecken?
Wie lautet Ihre Antwort?
Nehmen wir zum Beispiel Deutschland. In gewissen Fähigkeitsbereichen
in den unterschiedlichen Domänen hat die Bundeswehr, haben aber auch
andere westliche Armeen kaum oder zumindest eingeschränkte
Möglichkeiten. Die Bundeswehr hat neulich zwei Spionagesatelliten ins
Weltall geschossen. Ersten Medienmeldungen aus den vergangenen 48
Stunden zufolge funktionieren sie nicht. Was denken sich wohl die
Russen dabei? Zu Beginn des Jahres hat ein britisches U-Boot einen
Atomwaffentest durchgeführt, mit einer Rakete, die nicht scharf war.
Die Rakete hat das Wasser verlassen, sich im Kreis gedreht und ist
wieder runtergefallen. Zum zweiten Mal in Folge. In unseren lebendigen
Demokratien wird das alles offen diskutiert. Aber wir dürfen nicht
naiv sein, denn Russland beobachtet uns natürlich.
Unterschiedliche Pannen lassen sich unterschiedlich erklären. Aber
gibt es eine grundsätzliche Schwäche in der westlichen Verteidigung,
die zu solchen Pannen beiträgt?
Folgendes Problem: In den vergangenen 20 Jahren hat der Westen
aufgrund der Einsätze im Irak und in Afghanistan Waffen produziert,
die sich gegen feindliche Störmaßnahmen im elektromagnetischen Feld
nicht schützen mussten.
Weil den Taliban die Fähigkeiten fehlten, um in dieser Domäne anzugreifen?
Genau. Aber jetzt setzen wir uns mit einem Gegner auf Augenhöhe
auseinander. Das ist etwas ganz anderes und plötzlich erkennen wir:
Durch die Störattacken der Russen funktionieren unsere hochmodernen
westlichen Waffen nicht mehr. Präzisionsgesteuerte Excalibur-Granaten
zum Beispiel. Von 100 Granaten erreichen nur noch sechs ihr Ziel. Wenn
unsere Präzisionswaffen bei den Ukrainern noch gut funktionieren
würden, dann hätten wir jede Woche Bilder von zerstörten Militärbasen
Russlands auf der Krim und in anderen Regionen. Haben wir aber nicht.
Wir haben sie einmal im Monat.
Weil die Raketen und Marschflugkörper in ihrer Präzision von den
Russen gestört werden?
So ist es. Die russische Seite scheint das elektromagnetische Feld
sehr gut zu beherrschen. Sie war dort traditionell immer gut
aufgestellt, hat ihre Fähigkeiten weiterentwickelt und schafft es, mit
sehr billigen Mitteln sehr effiziente Systeme zu produzieren. Alte
Gleitbomben werden mit einem billigen Aufsatz für ein paar 100 Euro zu
einer weitreichenden Waffe mit enormer Zerstörungskraft.
Würden Sie ein vergleichbar effektives System bei einem westlichen
Rüstungskonzern einkaufen, hätten Sie einen riesigen
Produktionsaufwand, bekämen eine Waffe mit klingenden Namen wie "Joint
Direct Attack Munition" oder so ähnlich und würden Millionen Euro
dafür bezahlen. Aber die Russen schaffen mit weniger Geld wesentlich
mehr Effekt, und die Rüstungsunternehmen kommen nicht nach, etwas
dagegenzuhalten.
Lassen sich westliche Waffen wie Storm Shadow oder HIMARS nicht
aufrüsten, um gegen die Störsender immun zu werden?
Das wird jetzt versucht, funktioniert aber nicht so schnell. Da müssen
die Konzerne ihre Techniker zusammenholen und erst mal herausfinden,
wie die Russen vorgehen: Welche Frequenzbänder nutzen sie? Welche
Systeme haben sie? Was lässt sich dagegen entwickeln? In
Friedenszeiten dauert ein solcher Prozess Jahre, wenn nicht
Jahrzehnte. Dieser Tage, beschleunigt, immer noch Monate.
Einzelne Anbieter zeigen jetzt schon auf Rüstungsmessen Produkte, die russische
Systeme überlisten können. Die sind aber nicht erprobt. In der Ukraine
werden sie dennoch eingesetzt, bloß sind das dann ein, zwei Systeme
auf einer Frontlänge von 1200 Kilometern. Es fehlt die Quantität. Und
von einer Verfügbarkeit in den eigenen Streitkräften ist da noch gar
keine Rede.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
——
2. NSN/SZ: Krieg in der Ukraine : Orbán fordert von Kiew Waffenstillstand
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/krieg-in-der-ukraine-orb%C3%A1n-fordert-von-kiew-waffenstillstand/ar-BB1phIHN
Krieg in der Ukraine : Orbán fordert von Kiew Waffenstillstand
Geschichte von Von Florian Hassel, Belgrad 2.7.2024
Orbán fordert von Kiew Waffenstillstand
Es war ein mit Spannung erwarteter Besuch, zu dem Ungarns
Ministerpräsident Viktor Orbán am Dienstag nach Kiew kam – nicht nur,
weil Orbán die ukrainische Hauptstadt seit 2012 nicht mehr besucht
hatte, sondern auch wegen dieser Frage: Welche Ziele würde Orbán,
führender Russland-Versteher, Putin-Freund unter Europas
Regierungschefs und Bremser sowohl militärischer wie finanzieller
Hilfe für die Ukraine, in Kiew verfolgen?
Die Antwort war umso wichtiger, da Ungarn am 1. Juli für ein halbes
Jahr den Ratsvorsitz der EU übernommen hat. „Das Ziel der ungarischen
Präsidentschaft ist es, dazu beizutragen, die vor der Europäischen
Union liegenden Herausforderungen zu lösen. Deshalb führt meine erste
Reise nach Kiew“, schrieb Orbán auf Facebook.
Und so sprach Orbán mit Selenskij darüber, wie im fortdauernden
russischen Angriffskrieg ein Friede zu erreichen sei. Erster Schritt
aus Sicht Orbáns: ein von der Ukraine angebotener Waffenstillstand.
„Wir schätzen die Initiativen von Herrn Selenskij für das Erzielen
eines Friedens sehr. Aber ich habe Selenskij gesagt, dass diese
Initiativen viel Zeit brauchen. (...) Ich habe Selenskij gebeten
nachzudenken, ob man es nicht anders tun sollte: erst das Feuer
einstellen, dann Friedensverhandlungen führen“, sagte Orbán in einem
Pressestatement an der Seite Selenskijs. (…)
Ein Waffenstillstand, geknüpft an eine Frist, würde eine Chance
eröffnen, Friedensgespräche zu beschleunigen. Ich habe diese
Möglichkeit mit dem Präsidenten erörtert und ich bin dankbar für seine
ehrlichen Antworten“, fügte Orbán hinzu und deutete damit an, dass
Selenskij den Vorschlag zurückgewiesen hatte.
Der ukrainische Präsident sprach seinerseits über den Weg der Ukraine
in die EU oder die Wiedereröffnung von Schulen für die
ungarischsprachige Minderheit in der Ukraine, doch er erwähnte die
Idee eines Waffenstillstands mit keinem Wort. (…)
———
3. FR: Ukraine-Krieg als „Mittel zum Zweck“:
Trauma und Anerkennung – Was will Putins Russland wirklich?
https://www.fr.de/politik/frieden-loesung-interview-ukraine-krieg-putin-russland-ziele-verhandlungen-diplomatie-93145878.html
Ukraine-Krieg als „Mittel zum Zweck“:
Trauma und Anerkennung – Was will Putins Russland wirklich?
Stand: 25.06.2024, 19:09 Uhr
Von: Florian Naumann
Gibt es einen diplomatischen Weg aus dem Ukraine-Krieg? Expertin Anne
Holper nennt einen eher überraschen Ansatzpunkt – und warnt (noch) vor
dem Wort „Frieden“.
Berlin/München – „Verhandlungen mit Putin“: Das fordern gerade die
politischen Ränder in Deutschland gern. Die Konfliktforscherin Anne
Holper sieht aktuell keine ernstzunehmenden Signale der
Gesprächsbereitschaft aus dem Kreml – warnt im Gespräch mit FR.de aber
auch: Der türöffnende Moment auf dem Schlachtfeld könnte ebenfalls
ausbleiben.
Die Konfliktforscherin der Universität Viadrina Frankfurt (Oder) sieht
aber trotzdem Wege heraus aus dem Ukraine-Krieg: Wladimir Putin und
Russland gehe es womöglich eher um „Anerkennung“ als um
Gebietseroberungen, meint Holper, die auch das Auswärtige Amt berät.
Und diese lasse sich unter Umständen gewähren: Vor allem die USA
stehen dabei im Fokus. Vor voreiligem Druck in Richtung „Frieden“
zwischen Russland und Ukraine warnt die Expertin indes. „Koexistenz“
könne das für die Befindlichkeiten der Gegner passendere Wort sein.
(…)
Putins Motive im Ukraine-Krieg: „Anerkennung gewaltsam holen“
Was denn?
Man kann zum Beispiel sehen, dass Putin in Nordkorea versucht, eine
Art von diplomatischem „Ping-Pong” aufzunehmen. Er stärkt seine
Allianzen, er geht in die diplomatische Arbeit. Das bedeutet: Man muss
jetzt schauen, was sind Kerninteressen Russlands, – auch
wirtschaftliche, innenpolitische – die man über andere Wege als nur in
direkten Verhandlungen mit der Ukraine an empfindlichen Stellen
diplomatisch anfassen kann. Über China, über die afrikanischen Länder
beispielsweise. Auch das Getreideabkommen steht nochmal im Zentrum. Da
war bisher am meisten Verhandlungsbereitschaft sichtbar. Das ist im
Verhältnis zu den großen geopolitischen Fragen eine sehr kleine
Baustelle. Aber es sind eben dennoch ganz harte Interessen Russlands,
bei denen auch wechselseitige Abhängigkeit besteht.
Die eigentliche Hoffnung ruht also auf Themen abseits des Kriegsgeschehens?
Ja, hier muss man aber erstmal die ganz grundsätzliche Frage stellen:
Wo bieten sich Ansatzpunkte in der Interessenslandschaft auf der
russischen Seite, um die Situation auf anderen Wegen als militärisch
in den Griff bekommen zu können? Ich glaube, über diese bisher noch
nicht genutzten Hebel müssen wir jetzt nachdenken. Das macht aus
meiner Sicht vor allem die große Frage auf, inwieweit es um die
Ukraine geht – und inwieweit um ein ganz grundsätzliches
Anerkennungsinteresse Russlands.
Sie meinen, es könnte Putin um Anerkennung gehen?
Meine These wäre an dieser Stelle: In jedem Fall möchte Russland als
gleichberechtigter Player neben den USA, China und so weiter in einer
multipolaren Weltordnung anerkannt sein. Dafür bräuchte es die
Eroberung der Ukraine nicht, das ließe sich, zumindest theoretisch,
auch anders erreichen. Dafür bräuchte es auch keine Einverleibung
anderer Nachbarstaaten. Die Aggression gegen die Ukraine ist – nicht
nur, aber auch – ein Mittel zum Zweck um sich diese Anerkennung
gewaltsam zu holen.
(…)
Angenommen, es ginge Putin um diese Anerkennung: Was würde das für
mögliche Strategien des Westens bedeuten?
Man müsste überlegen: In welcher Weise, in welchem Kontext, unter
welchen Bedingungen wäre es für den Westen, die USA, et cetera
denkbar, diese Anerkennung zu gewähren? Und: Was wäre der Preis? Hier
gibt es ebenfalls keine einfachen Lösungen, aber damit hätten wir
immerhin schon eine ganz andere geopolitische Problembeschreibung als
das von vielen wahrgenommene Dilemma, dass die Souveränität der
Ukraine der Preis für Frieden in Europa und auf der Welt zu sein
scheint.
Mit der Frage nach den russischen Anerkennungsinteressen könnte man
das Framing der Aushandlung also so verändern, dass man irgendwann
nicht mehr nur oder nicht isoliert über die russische Aggression gegen
die Ukraine debattiert, sondern dass man sich im Grunde fragt: „Worum
geht es eigentlich aus Sicht von Putins Russland auch und/oder
eigentlich, und unter welchen Bedingungen müsste es entsprechend
keinen Krieg gegen die Ukraine führen?“ Das heißt keineswegs, dass man
bereit wäre, diese Interessen zu erfüllen. Aber dass man nach Mitteln
Ausschau hält, über die man selbst verfügt – die Ukraine ist ja ein
souveränes Land und keine „Verfügungsmasse“ – und die einen geringeren
Preis kosten.
Das klingt noch recht abstrakt. Lassen sich diese „Mittel“ etwas näher
beschreiben?
Letztlich geht es um „einen Platz am geopolitischen Tisch“ im Sinne
von El-Mafaalanis Teilhabe-Metapher: Wenn man historisch zurückdenkt,
gab es etwa internationale Konferenzen um die Frage „Wie teilen wir
uns die Einflusssphären auf“? Bekommen wir eine kooperative Koexistenz
in der Welt hin – das war die Helsinki-Konferenz 1975 – oder regeln
wir das in einer offenen Konkurrenz um Einfluss- und Machtbereiche?
Das war Jalta 1945. Und ich glaube, dass die vielen
system-inkompatiblen De-facto-Weltmächte von heute dahin wieder eine
solche globale Augenhöhe brauchen, die authentisch frei von westlichen
Überlegenheitsannahmen ist. Erst dann wird man sich wieder auf
minimale Nichtangriffspakte einigen können.
Putin beruft sich gerne auf die Historie – und auch auf die Größe der
Sowjetunion.
(…)
Man muss sich also überlegen, ob man Russland diese Stellung, diesen
Status, in irgendeiner für uns akzeptablen Form wieder geben kann und
möchte.
Und, sollte man das?
... de facto, das muss ich als Konfliktforscherin sagen, hat Russland
diesen Status jedenfalls in der Praxis längst wieder. Das ist das
Absurde an dem Ganzen. Es kostet aber viel, diesen Status politisch
und symbolisch anzuerkennen und zu stabilisieren. Hier dürfen auch
keine faulen Kompromisse mit Blick auf die vielen völkerrechtlichen
und moralischen Verbrechen im russischen Angriffskrieg gemacht werden
– die sind explizit zu verurteilen. Aber geopolitisch, denke ich,
können wir es wagen, die konkreten Anerkennungsinteressen Russlands
genauer zu studieren. Beziehungsweise: Wir müssen das einfach tun,
weil die Welt ohnehin längst nicht mehr unipolar ist. China und dann
auch Russland haben sich so aufgestellt, dass die USA keine
Vormachtstellung mehr haben. Es muss nur noch anerkannt werden. Und es
muss gewagt werden, den Gewinn daraus für eine militärische Einhegung
Russlands zu nutzen.
Wie sähe das praktisch aus?
Die USA müssen lernen, dafür eine Art von politischer Selbsteinhegung
zu ertragen. So ein sogenannter Cross-Deal – „politische Einhegung der
USA für militärische Einhegung Russlands“ – ist allerdings das, was
dort am wenigsten gewollt und jetzt gerade möglich ist, – auch mit
Blick auf Donald Trump. Aber es steht geopolitisch jetzt an. Es gilt
also, gute innenpolitische Narrative dafür anzulegen.
Selbsteinhegung ist ein interessantes Stichwort. Wenn man es
weiterdenkt: Würde das nicht auch die Selbstbestimmung der Ukraine
untergraben, die ja in die Nato möchte – also in den Machtbereich der
USA?
Mit der „Selbsteinhegung” meine ich tatsächlich nur die USA.
Eigentlich ist jedem klar, dass die USA die Vormachtstellung nicht
mehr innehaben. Aber die Rollenklärung muss eben noch vollzogen
werden, symbolisch und auch rein technisch. Das hat auf die
Souveränität der Ukraine erstmal keinen zwingenden Einfluss. Bis zu
den Istanbul-Verhandlungen 2022 stand ja noch im Raum, ob die Ukraine
ein neutraler Staat werden könnte. Das ist aus ukrainischer Sicht
jetzt aber nicht mehr denkbar. Jetzt zurückzufallen in eine
Neutralität oder auf eine freiwillige Zusage der Bündnisfreiheit –
warum sollte die Ukraine das tun? Auf welcher Vertrauensgrundlage,
gegenüber Russland? Mit Blick auf solche Cross-Deals kann es jetzt nur
noch um die USA als Gegenspieler zu Russland, China und Iran gehen.
Zum Abschluss der Ausblick: All das Geschilderte klingt nach den
sprichwörtlichen dicken Brettern – und nach einem langen Weg bis zum
Frieden in der Ukraine.
Ja, das dauert sicherlich noch lange. Und ich würde auch nicht mit
„Frieden“ als Ambition arbeiten – sondern eher mit „Koexistenz“. Als
Begriff dafür, dass „man auf dieser einen Welt halt miteinander
auskommen muss“. Jetzt von Frieden zu sprechen, hängt die Latte zu
hoch.
Warum spielt denn just das eigentlich so positive Wort „Frieden“ so
eine polarisierende Rolle?
Das überfordert den Pragmatismus, auch den der Ukraine und Russlands,
sich auf so etwas einzulassen. Denn hinter dem notwendigen
Pragmatismus ist es eine extrem emotionale Angelegenheit. Auf beiden
Seiten fühlt sich ein kollektives Ich auf unerträgliche Weise negiert,
wenn man zu früh von Frieden redet. Weil man denkt: „Ja, ihr wollt
jetzt eure Ruhe haben da drüben, stabile wirtschaftliche Verhältnisse
– aber für uns geht es um unsere Existenz und Gerechtigkeit.“ Das
klingt paradox für uns, weil wir denken, Frieden ist doch das
Überleben. Aber viele Menschen auf beiden Seiten sehen das nicht so.
Deshalb ist es besser, die Zielambitionen abzuschwächen. Dann kommt
man dem näher, was tatsächlich möglich ist.
(Interview: Florian Naumann)
———
4. FR: „Deswegen passiert alles im Stillen“:
Beraterin gibt Einblick in Ukraine-Gespräche hinter Putin und Selenskyj
https://www.fr.de/politik/russland-ukraine-krieg-frieden-putin-selenskyj-diplomatie-verhandlungen-staaten-zr-93147858.html?utm_source=pocket-newtab-de-de
„Deswegen passiert alles im Stillen“:
Beraterin gibt Einblick in Ukraine-Gespräche hinter Putin und Selenskyj
Stand: 28.06.2024, 13:33 Uhr
Von: Florian Naumann
Sind echte Verhandlungen mit Putins Russland im Ukraine-Krieg denkbar?
Es wird wohl dauern – aber Bemühungen laufen bereits, sagt eine
Expertin IPPEN.MEDIA.
Gespräche über Frieden oder Waffenruhe scheinen insofern sehr weit
weg. Tatsächlich laufen hinter den Kulissen aber bereits Bemühungen
„vieler Akteure“: Das sagt Anne Holper im Interview mit IPPEN.MEDIA.
Die Konfliktforscherin der Uni Viadrina in Frankfurt (Oder)
beschäftigt sich seit 2014 mit dem Ukraine-Konflikt und berät auch das
Auswärtige Amt. Holper kann sich jedenfalls auf längere Sicht
Verhandlungen vorstellen – obwohl Russland aus ihrer Sicht aktuell
bestenfalls Schein-Gesprächsbereitschaft zeigt und eine
Weichenstellung auf dem Schlachtfeld hin zu Verhandlungen fraglich
scheint.
Einige „Steigbügel“ für die Diplomatie seien im Abschlusskommuniqué
des Schweizer Friedensgipfels eingebaut, sagt Holper. Etwa für eine
weitere Konferenz (in) der Schweiz, dann womöglich mit Russland oder
zumindest China am Tisch. Oder auch für Peking – das „eine Art
Ping-Pong-Spiel“ auf diplomatischer Ebene annehmen könnte. Also
Ergebnisse der Ukraine-Unterstützer aufgreifen und in einer weiteren,
eigenen Runde beantworten.
„Das würde bedeuten, dass Peking nicht gegen den Schweizer Prozess und
die dort geschmiedete Allianz arbeitet“, betont Holper, sondern „den
Ball aufnimmt“ und die fehlende Perspektive der Gegenseite ergänzt.
„In diesem Reißverschlussprinzip muss man vielleicht noch ein paar Mal
hin und her gehen, aber dann könnte irgendwann ein gemeinsamer Rahmen
gefunden werden“, meint die Konfliktforscherin. Wenn sich die
westlichen Allianzen auf respektvolle Weise mit China und den weiteren
verbündeten BRICS-Staaten – etwa Indien, Brasilien und Südafrika –
koordinieren, könne auf Sicht sogar „Russland unter für alle
akzeptablen Bedingungen an Bord“ kommen. Wenn auch erst nach „vielen
kleinen Schritten“ und „Weggabelungen“.
(…)
Ukraine, Russland und die Diplomatie im Krieg: Was jetzt schon an
Gesprächen läuft
Staaten seien ebenso wie Einzelpersonen bereits aktiv – „die sich
aber, gerade weil das so ein sensibles Geschäft ist, mit diesen
Aktivitäten nicht sichtbar hervortun“. „Stellen Sie sich zum Beispiel
vor, Deutschland würde diese Rolle übernehmen, vielleicht sogar schon
jetzt ausfüllen und es würde bekannt werden. Dann würde eine Debatte
hochkochen“, sagt Holper. „Kein Staat kann wirksam Vermittlungsarbeit
machen, wenn eine innenpolitische Rollendebatte den eigenen Rückhalt
auffrisst.“
Zeitgleich seien viele nicht-staatliche Akteure an der Arbeit, in
sogenannter Track-1.5.-Diplomatie. Das Fachwort meint Gespräche, bei
denen staatliche und nicht-staatliche Akteure zusammenarbeiten.
Organisationsnamen könne sie aber nicht nennen, sagt Holper
IPPEN.MEDIA – „einfach, um diese immens wichtigen Prozesse zu
schützen“.
Putins Russland auf der Suche nach „Anerkennung“: Gibt es eine Lösung
im Ukraine-Krieg?
Klar ist aber, worum es geht: hinter Maximalforderungen „verschanzte“
Anknüpfungspunkte ausmachen. Papiere Russlands und der Ukraine seien
zum Zeitpunkt ihrer „Zirkulationen“ aus verhandlungstaktischen Gründen
„noch sehr hart abgefasst“: „Denn die müssen beide Seiten auch
innenpolitisch verkaufen können“, erklärt Holper.
„Akteure, die zwischen den beiden Lagern ‚shuttlen‘ können, können
diese Papiere aber nebeneinander legen und – auch informell – mit
ExpertInnen aus der Ukraine und Russland gucken: Was passt denn da
jetzt eigentlich wirklich nicht zusammen, und was wird nur aus
strategischen Gründen als nicht-verhandelbar deklariert?“, erläutert
sie weiter. „Da muss man die Kompatibilität ganz sorgfältig ausloten –
das wird schon jetzt gemacht, in verschiedenen Konstellationen.
Irgendwann kann man die Dokumente dann vielleicht zusammenführen.“ (…)
——————
5. ZDF: Angriff auf AFP im Gazastreifen: Journalisten im Visier Israels?
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/journalisten-afp-angriff-israel-gaza-100.html?utm_source=pocket-newtab-de-de
Angriff auf AFP im Gazastreifen:Journalisten im Visier Israels?
von Christo Buschek, Maria Christoph, Dajana Kollig, Frederik Obermaier und Maria Retter
25.06.2024 | 06:00
Im November treffen Geschosse das Gaza-Büro der Nachrichtenagentur
AFP. Israel streitet einen gezielten Angriff ab. Recherchen von ZDF
frontal wecken daran massive Zweifel.
Der verhängnisvolle Angriff beginnt am 2. November 2023 kurz vor
Mittag. Um 11:57 Ortszeit schlägt ein Geschoss im Büro der
französischen Nachrichtenagentur Agence France Press (AFP) in
Gaza-Stadt ein. Innerhalb weniger Minuten wird mindestens vier Mal auf
das Haus geschossen. Es wird niemand getötet, jedoch klafft ein großes
Loch in der Außenwand des Gebäudes, journalistisch arbeiten kann hier
niemand mehr.
AFP kritisiert den Angriff "aufs Schärfste" und betont, dass die
Redaktion dem israelischen Militär ihren Standort mehrmals mitgeteilt
habe, um einen versehentlichen Beschuss zu verhindern. Israel weist
den Vorwurf eines gezielten Angriffs zurück. Nun aber weckt eine
internationale, von der Journalistenorganisation Forbidden Stories
koordinierten Recherche, an der neben ZDF frontal auch AFP beteiligt
war, massive Zweifel an dieser Darstellung. Im Raum steht der Vorwurf
eines Kriegsverbrechens. "Journalistische Infrastruktur ist zivile
Infrastruktur", sagt Irene Khan, UN-Sonderberichterstatterin für
Meinungsfreiheit.
Beschuss durch israelischen Panzer
Eine Analyse von Video- und Tonaufnahmen zeigt, dass das AFP-Gebäude
mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vom israelischen Militär beschossen
wurde. Mehrere unabhängige Experten bestätigen dies. Unter anderem
kommt die auf derartige Untersuchungen spezialisierte Organisation
Earshot in einem Gutachten, dass ZDF frontal mit in Auftrag gegeben
hatte, zu dem Schluss, dass der Schaden "durch ein von einem
israelischen Panzer abgefeuertes Geschoss verursacht wurde". Die
Schüsse seien aus ungefähr drei Kilometern Entfernung abgefeuert
worden. (…)
Live-Übertragung im Visier?
Unklar bleibt, warum das israelische Militär das AFP-Büro offenbar ins
Visier nahm. Wollten die Soldaten womöglich eine Live-Übertragung
stoppen? Schließlich war AFP zum Zeitpunkt des Angriffs nach eigenen
Angaben die letzte große Nachrichtenagentur, die per Livestream Tag
und Nacht aus dem Gazastreifen übertrug - die entsprechende Kamera
stand auf einem Balkon im zehnten Stock des Gebäudes.
Eine ZDF-Analyse zeigt, dass im aktuellen Konflikt mindestens fünf Mal
live sendende Journalisten oder Kameras beschossen wurden, die zu
diesem Zeitpunkt oder kurz zuvor live auf Sendung waren. Im Oktober
starb bei einem solchen Angriff an der israelisch-libanesischen Grenze
ein Journalist der Nachrichtenagentur Reuters. Experten kamen zu dem
Schluss, dass ein israelischer Panzer das Feuer eröffnet hatte.
Livestreams sind dem Militär wahrscheinlich auch deshalb ein Dorn im
Auge, weil die Hamas die Bilder auswerten könnte, um israelische
Soldaten und Panzer aufzuspüren. (…)
Konfrontiert mit den internationalen Recherchen erklärte das
israelische Militär, dass der Angriff auf das AFP-Gebäude derzeit
untersucht werde. "Es ist extrem wichtig, dass wir Antworten
bekommen", sagt AFP-Nachrichtenchef Phil Chetwynd. Sollte Israel der
Ansicht sein, dass Livestreams eine Gefahr darstellen, müssten
Journalisten dies wissen. "Das ist das Mindeste." Die Kamera im
AFP-Gebäude in Gaza-Stadt ist mittlerweile abgeschaltet - zu groß die
Gefahr, sie regelmäßig neu auszurichten.
————
6. SWP: Krieg ohne Ende? Israels Kampf gegen die Hamas und die Erfolgschancen für einen Nachkriegsplan
https://www.swp-berlin.org/publikation/krieg-ohne-ende-israels-kampf-gegen-die-hamas-und-die-erfolgschancen-fuer-einen-nachkriegsplan
Muriel Asseburg
Peter Lintl
Krieg ohne Ende? Israels Kampf gegen die Hamas und die Erfolgschancen für einen Nachkriegsplan
SWP-Podcast 2024/P 16,
26.06.2024
———
7. taz: Sawsan Chebli über den Gaza-Krieg: „Ich war eine stolze Deutsche“
https://taz.de/Sawsan-Chebli-ueber-den-Gaza-Krieg/!6017664/
taz, 29.6.2024
Sawsan Chebli über den Gaza-Krieg: „Ich war eine stolze Deutsche“
Die in Berlin aufgewachsene Autorin und SPD-Politikerin Sawsan Chebli
ist palästinensischer Herkunft. Der Gaza-Krieg hat etwas in ihr
zerbrochen. (…)
Bei ihren öffentlichen Auftritten wird Chebli seit ihrer Zeit als
Staatssekretärin in der Berliner Senatskanzlei von Sicherheitskräften
des Berliner Landeskriminalamts begleitet. Die Deutsch-Palästinenserin
wird viel von Rechten angefeindet.
(…)
Liegen die unterschiedlichen Sichtweisen auf diesen Krieg auch daran,
dass man in unterschiedlichen medialen Welten lebt?
Man muss schon sehr bewusst die Augen vor der Realität verschließen,
um nicht zu sehen, dass das, was in Gaza und in der Westbank passiert,
Verbrechen sind. Wer sehen will, der sieht das. Wer nicht sehen will,
sieht nichts.
Auch die Hamas hat schlimme Verbrechen verübt.
Die habe ich sofort klar verurteilt und deutlich gemacht, dass sie
durch nichts zu rechtfertigen sind. Wer aber heute, nach über 35.000
Toten, die meisten davon Kinder und Frauen, und all dem, was wir über
die Kriegsführung und die Politiker in der israelischen Regierung
wissen, immer noch blind Israel verteidigt und lediglich „aber Hamas“
sagt, mit dem teile ich keine gemeinsamen Werte.
(…)
Sie haben sich als Staatssekretärin des Berliner Senats gegen
Antisemitismus eingesetzt. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle
2019 haben Sie zu einer Mahnwache aufgerufen, zu der auch Angela
Merkel erschien. Trotzdem wird Ihnen Misstrauen entgegengebracht.
Dieses Misstrauen gab es auch schon vorher. Das ändert nichts daran,
dass ich mich immer gegen Antisemitismus einsetzen werde, genauso wie
gegen Rassismus. Das ist für mich eine Frage der Haltung. Aber ich
finde es sehr problematisch, wenn einem das Eintreten gegen
Antisemitismus nur dann abgenommen wird, wenn man sich von seiner
palästinensischen Identität distanziert und sich mit Kritik am
Vorgehen der israelischen Armee in Gaza zurückhält.
(…)
Was hat die deutsche Politik falsch gemacht?
Es fehlt an aufrichtigem Interesse, an Gesprächen auf Augenhöhe und
auch an Achtung von religiöser Vielfalt jenseits von Sonntagsreden. Da
ist das kollektive Wegsehen bei antimuslimischem Rassismus und die
entmenschlichende Art, wie die Politik über Migration spricht. In der
muslimischen und arabischen Community ist viel Vertrauen verloren
gegangen.
Ich habe mit jungen Leuten geredet, die politisch engagiert
waren und die jetzt sagen: Ich will mit dieser Politik nichts mehr zu
tun haben. Da wächst eine Generation heran, die sich abwendet, sich
nicht gesehen fühlt und verletzt ist. Der Umgang der Politik mit Gaza,
die Doppelmoral der deutschen Nahostpolitik und die fehlende Empathie
mit dem Leid der Palästinenser haben das Gefühl des Nichtdazugehörens
noch einmal um ein Vielfaches verstärkt. Viele sind zudem zutiefst
verunsichert und haben Angst.
——
8. FAZ: Omri Boehm: ARENDT UND PALÄSTINA : Wir sollten nicht akzeptieren, dass es zu spät geworden ist
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/omri-boehm-ueber-hannah-arendts-palaestina-buch-19819970.html
ARENDT UND PALÄSTINA :
Wir sollten nicht akzeptieren, dass es zu spät geworden ist
Von Omri Boehm
30.06.2024, 08:05
Wider die Logik der Umsiedlung:
Von Hannah Arendt gibt es einen bisher unbekannten Text zu Palästina,
in dem sie zeigt, weshalb die Lösung der Flüchtlingsfrage die
Bedingung der Sicherheit Israels ist. Ein Gastbeitrag.
Es ist noch immer nicht zu spät“: So lauten die letzten Worte von
Hannah Arendts Aufsatz „To Save the Jewish Homeland“, den sie 1948
verfasste, als Israel um sein Überleben und seine Unabhängigkeit
kämpfte und bereits Hunderttausende Palästinenser aus Städten wie
Haifa, Tiberias und Akkon vertrieben worden waren.
„Selbst wenn die Juden den Krieg gewinnen sollten“, warnte Arendt,
wäre die Errichtung eines jüdischen Nationalstaats inmitten einer
„vollkommen feindlichen“ arabisch-palästinensischen Mehrheit zum
Scheitern verurteilt.
Das jüdische Volk würde zu einem „jener Kriegerstämme verkommen“
müssen, über deren Schicksal wir seit den Tagen „Spartas“ unterrichtet
sind, und sich letztlich nicht nur von der Völkergemeinschaft, sondern
auch vom Weltjudentum isolieren.
Auf diese Weise, mahnte sie, würden mit der Gründung eines jüdischen
Nationalstaats in Palästina „die einzigartigen Chancen und
einzigartigen Errungenschaften des Zionismus in Palästina zerstört“.
(…)
——
/*#contentNachrichtenLink_327027{ display:none; } #SIMtxtBoxtext_327027:hover > #contentNachrichtenLink_327027{ display:block; }*/