Frankreich: Keine wirklichen Veränderungen in Sicht
_RT DE 25.6.2024
_*Neuwahlen in Frankreich: Keine wirklichen Veränderungen in Sicht
*Von Pierre Lévy
Der französische Präsident Emmanuel Macron versuchte mit seiner
überraschenden Ankündigung von vorgezogenen Parlamentswahlen seine
politischen Gegner zu überrumpeln – doch das hat nicht funktioniert.
Aber auch ein Sieg des Rassemblement National (RN) würde nicht viel ändern.
Die Franzosen werden in wenigen Tagen, am 30. Juni und 7. Juli, an die
Urnen gerufen, um ihre Abgeordneten neu wählen. Dies als Folge der
Auflösung der Nationalversammlung, einer Überraschungsentscheidung, die
der Präsident der Republik eine Stunde nach Abschluss der Europawahlen
vom 9. Juni bekannt gegeben hatte.
Diese hatten in Frankreich ein regelrechtes Debakel für das Lager von
Emmanuel Macron bedeutet. Die Liste der Rassemblement National (RN), die
als rechtsextrem eingestuft wird, eine Bezeichnung, die die Partei
selbst bestreitet, erreichte 31,4 Prozent der Stimmen, mehr als doppelt
so viele wie das Lager des Präsidenten (14,6 Prozent). Der Herr des
Élysée-Palasts hatte diesen Sieg zum Vorwand genommen, um seine
Entscheidung zu rechtfertigen: Die braune Pest stehe vor der Tür. In
Wirklichkeit hoffte er, die Karten neu mischen zu können, indem er auf
eine kurze Frist setzte, um seine Gegner zu überrumpeln.
Da hat er sich verkalkuliert: Die Linke war zwar sehr gespalten, konnte
aber dennoch ein Wahlabkommen unterzeichnen, das auf einem
Minimalprogramm und der Aufstellung eines einzigen Kandidaten in jedem
Wahlkreis basiert. Die RN ihrerseits triumphierte und rechnet damit, am
30. Juni von der drei Wochen zuvor entstandenen Dynamik profitieren zu
können. Die "klassische" Rechte (Les Républicains, LR) schließlich
explodierte zwischen einem Bündnis mit der RN, das von ihrem
Vorsitzenden beschlossen worden ist, und der großen Mehrheit ihrer
anderen Führer, die sich dafür entschieden, eigenständig zu kandidieren.
In der Koalition, die bislang Emmanuel Macron unterstützte, herrscht
nunmehr eine Mischung aus großem Durcheinander und "rette sich, wer
kann". Während die Amtszeit des Präsidenten theoretisch bis 2027 läuft,
sagen viele Persönlichkeiten, wie der ehemalige Premierminister Édouard
Philippe, bereits "das Ende der Macronie" voraus.
Zwar hat Frankreich in der Vergangenheit bereits mehrere Auflösungen der
Nationalversammlung erlebt, aber die dadurch im Land entstandene
politische Situation mit drei rivalisierenden Blöcken, die vorgeben,
antagonistisch zu sein, ist buchstäblich beispiellos. Dies, in
Verbindung mit dem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen, macht
Prognosen gänzlich unsicher.
Das Erreichen einer absoluten Mehrheit durch das präsidiale Lager (das
der liberalen europäischen Familie angehört), das ursprüngliche Ziel des
Élysée-Palasts, erscheint als die unwahrscheinlichste aller Hypothesen.
Der Staatschef ist so unpopulär, dass seine eigenen politischen Freunde
ihn anflehen, zu schweigen, da jede weitere Äußerung die Chancen seiner
Kandidaten zu schmälern scheint …
Ein Sieg der "Linken", die unter dem Label "Neue Volksfront"
zusammengeflickt wurde, ist nicht völlig ausgeschlossen, erscheint aber
wenig wahrscheinlich. Wenn man die Stimmen der einzelnen Parteien
zusammenzählt, kommt sie nicht über 30 Prozent der Stimmen hinaus, was
ein historischer Tiefstand ist. Ihre Regierungszeiten – zuletzt während
der fünfjährigen Amtszeit des sozialistischen Präsidenten François
Hollande (2012 bis 2017) – haben in der Arbeiterklasse sehr schlechte
Erinnerungen hinterlassen.
Öffnet dies der RN, die ihren jungen Vorsitzenden Jordan Bardella schon
als Premierminister sieht, einen triumphalen Weg, mit der Aussicht, dass
Marine Le Pen bald in den Élysée-Palast gewählt wird? Einige
Kommentatoren – oftmals, um sich selbst Angst einzujagen – sprechen von
der "Chronik eines angekündigten Sieges". Das Problem mit angekündigten
Siegen ist, dass oftmals nichts so eintritt, wie es geplant war.
Ein erstes Handicap für die RN ist das Ausmaß und die Gewalt der
Kampagnen, die ihren Machtantritt als Vorboten des Faschismus
darstellen. Es gibt immer mehr Aufrufe, sie zu blockieren, von den
großen Medien über Gewerkschaften, Künstler oder Sportler bis zu … der
Vogelschutzliga. In der Wirklichkeit würde ein Wahlsieg dieser Partei
wahrscheinlich eher eine Politik à la Meloni – eine Anpassung an die
herrschende Ideologie auf sozialer, wirtschaftlicher und internationaler
Ebene – als eine Flut von Braunhemden auslösen.
Zumal die Partei seit Jahren versucht, sich zu "entdämonisieren", d. h.
sich für die Eliten salonfähig zu machen. Die Idee ist, gemäßigte Wähler
zu verführen. Dieser Trend hat sich seit dem 9. Juni beschleunigt. Es
vergeht kaum ein Tag, an dem Herr Bardella nicht eine Zusage aufgibt
oder ein Versprechen aus seinem Programm aufschiebt. Der emblematischste
Fall ist das Aufheben der Rentenreform, die im vergangenen Jahr von
Macron und seiner Regierung durchgesetzt wurde. Diese aufzuheben sei
nicht mehr so dringend …
Aber da die Führer der RN so sehr darauf bedacht sind, "verantwortlich"
zu erscheinen, könnten sie am Ende die Volksschichten abschrecken, die
den Erfolg der RN ausgemacht haben.
Unter all diesen Umständen ist es am unwahrscheinlichsten, dass keine
der drei Allianzen eine absolute Mehrheit erringt – und dass eine
Nationalversammlung ohne Mehrheit gewählt wird, die also noch
entscheidungsunfähiger ist als die vorherige. Denn vorerst schließt
jeder der drei Blöcke ein Bündnis mit einem der beiden anderen Blöcke
absolut aus.
In dieser Konstellation würden die großen Manöver beginnen, um einen
"zentralen Block" zu bilden, der die Macronisten, Abgeordnete aus dem
linken Lager (vor allem Sozialisten) und andere aus dem rechten Lager
(LR) vereinen würde. Zur großen Zufriedenheit der herrschenden Eliten –
und Brüssels.
Es ist natürlich noch zu früh, um in diese Richtung zu spekulieren.
Hingegen kann man auf mindestens zwei Bereiche hinweisen, in denen sich
die drei Blöcke trotz ihrer offen zur Schau gestellten Konfrontationen
in einigen absichtlich "vergessenen" Bereichen treffen.
Der erste Bereich ist eben Europa und die von ihm auferlegten Zwänge,
insbesondere die finanziellen. Auch wenn sie noch so minimal und ungenau
sind, belaufen sich die Programme der einen und der anderen Seite auf
zig Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Ausgaben. Dies gilt
sowohl für die RN als auch für die Linke.
Paradoxerweise gilt dies auch für das Lager des Präsidenten, wenn auch
in geringerem Umfang. Eine seltsame Haltung für diejenigen – die von
Gabriel Attal geführte Regierung – die gerade eine erste Kürzung der
Haushaltsausgaben um 20 Milliarden Euro angekündigt hatten und nicht
verhehlten, dass sie demnächst noch weiter auf dem Weg der Austerität
gehen wollten … denn Brüssel wacht.
Am 12. Juni hat sich übrigens die Europäische Kommission in den
Wahlkampf eingemischt und vorgeschlagen, gegen sieben Länder, darunter
Frankreich, ein Verfahren wegen übermäßiger Defizite einzuleiten (der
Europäische Rat wird dieses Verfahren Mitte Juli bestätigen). Wenn die
politischen Parteien also konsequent wären, müssten sie klarstellen, ob
ihre Versprechen nur für die Zeit der Wahlen gelten oder ob sie mit der
Europäischen Union brechen wollen.
Letzteres schließt das macronistische Lager natürlich aus, wird aber
auch sowohl von der RN als auch von der Linken abgelehnt. Zwar spricht
die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Partei La France insoumise (LFI,
die Mitglied der linken Koalition ist) von der Möglichkeit, "Brüssel
nicht zu gehorchen", aber nicht davon, diesen Klub und seine Regeln zu
verlassen. Dieses Schweigen stellt eine rechtlich und politisch
unhaltbare Zweideutigkeit dar.
Was die RN betrifft, so hat sie sich schon vor langer Zeit der
europäischen Integration angeschlossen (mit der Begründung, sie hoffe,
die EU von innen heraus verändern zu können). Das hindert sie jedoch
nicht daran, Maßnahmen vorzuschlagen, die mit dem europäischen Rahmen
unvereinbar sind, und zwar nicht nur haushaltspolitischer Art. Dies gilt
beispielsweise für Vorschläge zur Einwanderung oder zu Grenzkontrollen.
Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass sowohl die einen wie
die anderen sehr zurückhaltend sind, sobald es darum geht, die
europäische Integration in die Debatte einzubringen.
Was den zweiten Bereich, den Krieg in der Ukraine, betrifft, so herrscht
zwischen den drei Blöcken Konsens. Es gibt natürlich Nuancen, aber alle
befürworten die Fortsetzung der aktiven Unterstützung Kiews,
einschließlich der militärischen.
Für den macronistischen Block versteht sich das natürlich von selbst:
Der französische Präsident ist einer der kriegslüsternsten westlichen
Politiker, und er hat nicht vor, diese Haltung zu ändern. Was die RN
betrifft, so hält sie angesichts der Anschuldigungen ihrer Gegner, sie
sei ein traditioneller Verbündeter Moskaus, immer wieder "beruhigende"
Worte bereit. Auch hier schließt sie sich aus Gründen der Salonfähigkeit
und unter Einhaltung bestimmter "roter Linien" dem atlantischen Lager
an, indem sie darauf verzichtet, aus dem integrierten NATO-Kommando
auszusteigen, wie sie es einst versprochen hatte.
Die "neue Volksfront" plant auch keinen Bruch mit der westlichen
Solidarität (ihr Programm will "die Souveränität und Freiheit des
ukrainischen Volkes (…) durch die Lieferung der notwendigen Waffen
unerschütterlich verteidigen"). Natürlich hatte niemand erwartet, dass
die Linke den russischen Standpunkt übernehmen würde. Aber hätte sie
sich dem westlichen "Narrativ" eines russischen "Angriffskriegs" gegen
die Ukraine anschließen müssen, als ob die Geschichte mit dem Einmarsch
russischer Truppen im Nachbarland im Jahr 2022 begonnen hätte? Als ob
die EU und die NATO nicht schon seit 2004 (und sogar noch früher)
versucht hätten, die Ukraine in ihren Schoß zu holen?
Es wäre für die Linke (oder zumindest einige ihrer
Mitgliederorganisationen) nicht unwürdig gewesen, die
Verantwortlichkeiten zu differenzieren; und vor allem an ihre alten
pazifistischen Traditionen anzuknüpfen, die sich kaum mit der
Finanzierung von Flugzeugen und Kanonen für Kiew vereinbaren lassen.
Europa? Krieg? Solche Debatten scheinen nicht auf der Tagesordnung zu
stehen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Wahlen in Frankreich zu
wirklichen Veränderungen führen werden. Für den Moment.