
focus.de, vom 05.01.2022, 08:46, Analyse von Ulrich Reitz
Die große Aufregung der Grünen über Brüssels „grüne“ Atomkraft ist mindestens seltsam, denn: Die Grünen glauben selbst nicht mehr daran, dass sie die Europäische Kommission überhaupt noch stoppen können. Mehr noch: Sie hatten ihren Widerstand gegen die Brüsseler Entscheidung schon in den laufenden Koalitionsverhandlungen aufgegeben. Der Beweis: eine Passage im Ampel-Vertrag, die verschwand, ohne dass es jemand bemerkte.
Für den Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen ist der Fall klar: Die Einstufung der Atomenergie als nachhaltige Energieform sei ein klarer Fall von „Greenwashing“, einer, mit dem das europäische Nachhaltigkeitslabel beschädigt werde, urteilte der Klimaminister hart.
Eine Zustimmung der Ampel-Regierung zu der „Taxonomie“-Entscheidung der EU-Kommission sehe er nicht. Entsprechend äußerte sich eine ganze Reihe führender grüner Spitzenpolitiker. Sie erwecken damit den Eindruck, von den Entscheidung der Kommission überrascht worden zu sein.
Atomkraft und Gas als grüne Energie: Und plötzlich verschwand entscheidende Passage aus Ampel-Vertrag
Rückblende: Am 17. November 2021 berichtete das „Handelsblatt“ über einen Entwurf für den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Im Kapitel „Finanzmärkte“ heiße es dort unter der Überschrift „Taxonomie“: „Gegen die Aufnahme von Atomkraft und Gas als nachhaltige Technologie wird sich die Bundesregierung einsetzen“. Eine Passage, die kurz darauf mysteriös verschwindet. Was ist passiert?
Zu Beginn der Ampel-Verhandlungen hatte Sven Giegold, einer der führenden Grünen im Europäischen Parlament, eine Petition gestartet, die es inzwischen auf knapp 100.000 Unterstützer-Unterschriften gebracht hat. Darin heißt es:
„Beim letzten EU-Gipfel am 22. Oktober platzte dann die Bombe: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen kündigte an, in Kürze einen Vorschlag für das EU-Nachhaltigkeitslabel vorzulegen, der auch Atomkraft und Gas beinhaltet.“
Bisher habe sie sich stets gegen Atom und Gas in der Taxonomie ausgesprochen. Die Folge laut Giegold: Neue Atomkraftwerke und selbst Gaskraftwerke, die nicht dem modernsten Entwicklungsstand entsprechen, könnten dann auf einen Geldsegen hoffen.
Atomkraft und Gas in der EU-Taxonomie: Im Ampel-Koalitionsvertrag findet man nichts dazu
Investitionen in Atomkraft und Gas bekämen also fast das gleiche Nachhaltigkeitslabel wie der Bau von Windrädern und Solaranlagen. Giegolds eindringliche Warnung: „Ein Super-GAU für die Erneuerbaren Energien!“
178 Seiten lang ist der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. 300 Politiker haben ihn verhandelt. Es gab 22 Arbeitsgruppen. Während der Verhandlungen drang nichts nach draußen. Ein einmaliger Akt der Disziplin dieser neuen Parteien-Konstellation. Inzwischen kann man ahnen, weshalb die neuen Partner so verschwiegen agierten.
Jedenfalls: Im Koalitionsvertrag findet man zu dem brisanten Thema: nichts. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es galt, einen „Super-Gau für die Erneuerbaren Energien“ zu verhindern.
In der wohl informierten Öko-Szene führte dieses Loch im Koalitionsvertrag umgehend zu einem Aufschrei. „Enttäuscht sind wir darüber, dass Bezüge zu wichtigen europäischen Entwicklungen wie der Taxonomie fehlen und sich die kommende Bundesregierung nicht aktiv für eine wissenschaftsbasierte Taxonomie – ohne Gas und Atomkraft – einsetzen wird“, erklärte ein WWF-Vorstand in seiner Bewertung des Koalitionsvertrags.
Grüne wussten schon im Oktober, was EU-Kommission vorhat - und dass sie nichts dagegen tun können
Mit anderen Worten: Spätestens Ende Oktober stand fest, dass Ursula von der Leyen als Chefin der Europäischen Kommission Atomkraft (und Gaskraftwerke) als „grün“ einstufen würde. Anfang November startete der führende Grüne Giegold seine Petition dagegen. Schon damals – und nicht erst heute – stand aus grüner Sicht fest, dass eine Kommissionsentscheidung nicht mehr rückgängig zu machen wäre.
Sven Giegold, bestens vertraut mit den europäischen Machtverhältnissen: „Wenn die EU-Kommission ihren Vorschlag erst einmal vorgelegt hat, bräuchte es unter den EU-Mitgliedsstaaten eine sogenannte qualifizierte Mehrheit, um das Vorhaben noch zu stoppen. Das ist praktisch aussichtslos.“

Shutterstock Letztlich ist Bitcoin auch Fiatgeld Sven Giegold im Interview
Die Grünen waren also informiert über die Aussichtslosigkeit, den Brüsseler Entwurf noch zu ihren Gunsten beeinflussen zu können. Dafür gibt es im übrigen eine zweite Quelle: Angela Merkel.
Die frühere Kanzlerin, seinerzeit schon abgewählt, aber noch geschäftsführend im Amt, erklärte der Nachrichtenagentur Reuters (also nicht etwa geheim), ein Brüsseler Vorschlag könne nur abgelehnt werden, wenn 20 von 27 EU-Mitgliedern mit Nein stimmen würden. „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall.“ Ihre Schlussfolgerung schon damals: „Das Verfahren an sich kann nur schwer wieder aufgehalten werden, wenn die EU-Kommission etwas vorlegt.“
Die Woche, in der die entscheidende Passage aus dem Ampel-Vertrag verschwand - mit Zustimmung der Grünen
Bleibt noch die Frage, was in der Zeit zwischen dem 17. und dem 24. November geschah, also in der einen Woche, die ausreichte, um die atom- und gaskritische Passage aus dem Koalitionsentwurf zu tilgen. Einvernehmlich, wohl gemerkt, also mit Zustimmung der Grünen. Den Grund erhellte Giegold, einer der Hauptverhandlungsführer der Grünen, seinerzeit von der Öffentlichkeit unbemerkt.
Giegold sagte dem linken Dienst Euraktiv noch am Abend des 24. November, als der Koalitionsvertrag bekannt gegeben worden war: „Wir haben aus guten Gründen abgesehen, weil wir mit unserem wichtigsten Partner Frankreich Konflikte nicht via Koalitionsvertrag diskutieren.“
Und weiter, vertiefend: „Die deutsch-französischen Beziehungen dürfen nicht durch einen neuen Atomstreit belastet werden. Wir brauchen einen Kompromiss zu nachhaltigen Investitionen.“ Am Ende sah der Kompromiss dann so aus: Atomkraftwerke für die Franzosen, Gaskraftwerke für die Deutschen.
Der Atom-Streit: Ein Fall von Greenwashing der Grünen?
Die Grünen hatten beides verhindern wollen. Sie beugten sich dann aber außenpolitischen Erwägungen, die sie ihrer energiepolitischen Linie vorzogen. Plus dem Drängen der SPD, Gaskraftwerke gleichfalls für nachhaltig zu erklären. Zuvor hatte die deutsche Energiewirtschaft Druck auf die Sozialdemokraten gemacht, hier den Grünen nicht nachzugeben.
Die Grünen wussten also nicht nur früh, was Brüssel entscheiden würde, sondern auch, dass dies nicht mehr zu stoppen sein wird. Daher winkten sie es selbst im Koalitionsvertrag durch.
Jetzt plötzlich die große Aufregung. Da kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Handelt es sich etwa um einen Fall von „Greenwashing“ der Grünen?
Info: https://www.focus.de/politik/deutschland/analyse-von-ulrich-reitz-gruenes-greenwashing-wie-entscheidende-atom-passage-aus-ampel-vertrag-verschwand_id_34478724.html
unser Kommentar: Herr Giegold übt sich wohl schon mal als EU-Minister ein, der er ja werden will, wie er auf Einladung des Sparkassenvorstands vor rund 10 Jahren in Hannover kundtat. Bereitwillig nehmen die Grünen dessen Ratschlag entgegen, zumal er exklusiv von der EU-Ebene zum grünen Bundestagswahlkampf- und Ampelkoalitionsteam in die deutschen Tiefebenen gewechselt ist.
In Sven Giegolds Manier so den nur scheinbar geschickt, durch die Verschnürung von Gas und Atom als Verhandlungspaket, eingefädelten Kompromiss um Konflikte wichtigstem Partner Deutschlands Frankreich zu vermeiden, gibt es jetzt Atomkraftwerke für die Franzosen und Gaskraftwerke für die Deutschen. Und als devotes Zeichen des Einverständnisses ließ man dann kurzer Hand zwischen dem 17. und dem 24. November die atom- und gaskritische Passage aus dem Koalitionsentwurf einfach entfernen. "Wir konnten ja leider nichts daran ändern" wird es ab jetzt wohl landläufig heißen.
Letztendlich winken die Grünen, nicht zuletzt auch auf Anraten Sven Giegolds weil zu Gunsten der deutsch-französischen Freundschaft und der Atomlobby und im Widerspruch jahrzehntelangen Anti-AKW Proteste in Deutschland, ihre indirekte Zustimmung über den Koalitionsvertrag für die EU-Ebene Sang- und Klanglos einfach mal so durch.
Weiteres:
EU-Taxonomie: Justizminister Buschmann will Änderungen von EU-Vorschlag zu Atomkraft
zeit.de, vom 3. Januar 2022, 13:01 Uhr Quelle: ZEIT ONLINE, dpa, AFP, svj 996 Kommentare
Die EU-Pläne sorgen für Unmut in der Bundesregierung. Grünenminister kritisieren sie als gefährlich. Für Klagen sei es noch zu früh, sagt Justizminister Buschmann.
Zitat: Bundesjustizminister Marco Buschmann will sich im Streit über die neue Einstufung von Atomkraft für eine Änderung der EU-Vorschläge einsetzen. "Wir werden alles tun, um als Bundesrepublik unseren Einfluss geltend zu machen", sagte der FDP-Politiker im TV-Sender Welt.
"Und dass die Grünen sich natürlich wünschen, dass Atom- oder Kernenergie kein grünes Label bekommen, das kann ich auch nachvollziehen – das ist ja für viele in Deutschland auch kontraintuitiv."
Für den Klageweg sei es aber noch zu früh, sagte der Minister. "Noch sind wir ja in der Phase der politischen Willensbildung dazu, und ich glaube, die erste Aufgabe ist es, jetzt erst einmal auf politischem Weg eine gute Lösung zu finden. Und die weiteren Fragen stellen sich erst dann, wenn wir da ein Ergebnis haben." ( ??? )
Seine Ministerkollegen von den Grünen, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesumweltministerin Steffi Lemke, hatten zuvor empört auf den Vorschlag der EU-Kommission reagiert, Investitionen in Atomkraftanlagen als nachhaltig einzustufen. Der Vorschlag war am Silvesterabend an die EU-Mitgliedstaaten geschickt worden, die sich nun rund zwei Wochen lang dazu positionieren können. Mitte Januar will die Kommission dann eine finale Version vorstellen.
Lemke: "Geldspritzen unter falschem Label"
So kündigte Ministerin Lemke an, man werde die Vorlage "jetzt schnell prüfen und uns in der Bundesregierung abstimmen" – verband diese Ankündigung aber erneut mit Kritik an den Plänen. Atomkraft sei "alles andere als nachhaltig, sie ist eine Risikotechnologie", sagte die Grünenpolikerin der Rheinischen Post. Abgesehen davon rechne sich die Nuklearenergie aber "auch rein ökonomisch nach über sechs Jahrzehnten nicht und braucht nun offensichtlich Geldspritzen unter falschem Label". Die EU-Kommission erzeuge die große Gefahr, wirklich nachhaltige Investitionen im Energiesektor "zugunsten der gefährlichen Atomkraft zu blockieren und zu beschädigen".
Die EU-Kommission plant,
Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als
klimafreundlich einzustufen. Das geht aus dem Entwurf für einen Rechtsakt hervor, der am Neujahrstag öffentlich wurde – und für Ärger bei Umweltschützern und Kernkraftgegnern gesorgt hatte. Deutschland
hatte sich gegen die Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie ausgesprochen,
sich aber zugleich für ein grünes Label für Gas eingesetzt. Letzteres sei eine notwendige Übergangstechnologie. Für andere EU-Länder wie Frankreich hingegen ist die Atomkraft eine Schlüsseltechnologie für eine CO2-freie Wirtschaft.
Habeck: "Eine Zustimmung sehen wir nicht"
So wie Lemke hatte zuvor bereits auch Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) die EU-Pläne kritisiert. "Eine Zustimmung zu den neuen Vorschlägen der EU-Kommission sehen wir nicht", hatte der Grünenvorsitzende mitgeteilt. "Ausgerechnet Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, ist bei dieser Hochrisikotechnologie falsch." Dies verstelle den Blick auf die langfristigen Auswirkungen des Atommülls für Mensch und Umwelt. Habeck kritisierte auch die ebenfalls vorgeschlagene Aufnahme von fossilem Gas in die Taxonomie, sagte jedoch auch: "Immerhin macht die EU-Kommission hier aber sehr klar, dass Gas aus fossilen Brennstoffen nur ein Übergang ist und es durch grünen Wasserstoff ersetzt werden muss."
Die
CSU-Landesgruppe warnte die Bundesregierung davor, ein Veto
gegen die EU-Pläne einzulegen. Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte der Welt, dass sich ein europäischer Energiemix von der Energieerzeugung in
Deutschland unterscheiden können müsse. "Das müssen die Ampel-Parteien
jetzt lernen." Weiter sagte der CSU-Politiker: "Raus aus der Kernenergie,
raus aus der Kohle, weg vom Gas, das kann sicher nicht für alle EU-Länder
gleichzeitig funktionieren und übrigens auch nicht für Deutschland als
energieintensives Land, das auch Stromimporte benötigt."
Der FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler machte indes deutlich, dass eine Blockade des EU-Vorschlags aus seiner Sicht keine Option sei. "Aus
unserer Sicht wird es keine qualifizierte Mehrheit gegen den Vorschlag der
Kommission zur Atomkraft geben, deswegen ist es richtig, an diesem
Vorschlag weiterzuarbeiten," sagte er der Welt.
FDP-Vize Kubicki: "Denkverbote jeglicher Art helfen nicht weiter"
Sein Parteikollege Wolfgang Kubicki sagte der Bild: "Wir müssen jedenfalls innerhalb der Ampel einen Konsens darüber finden, wie wir den Ausgleich zwischen den Zielen der CO2-Reduktion und der stabilen Energieversorgung hinbekommen. Denkverbote jeglicher Art helfen dabei nicht weiter." Mit Blick auf die Kritik von Habeck und Lemke sagte er dem Bericht zufolge: "Man ist im Übrigen kein guter Europäer, wenn man nur Entscheidungen akzeptiert, die einem passen."
Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner äußerte sich
grundsätzlich positiv zum Vorschlag hinsichtlich moderner Gaskraftwerke. Der Süddeutschen Zeitung sagte er: "Deutschland benötigt realistischerweise moderne Gaskraftwerke als Übergangstechnologie, weil wir auf Kohle und Kernkraft verzichten." In der Perspektive der Klimaneutralität sollten die Anlagen später mit Wasserstoff genutzt werden können. Deshalb habe die Bundesregierung dafür geworben, dass die entsprechenden Investitionen effektiv möglich seien. "Ich bin dankbar dafür, dass von der Kommission offenbar Argumente aufgegriffen wurden", so der FDP-Vorsitzende. "Weitere Verbesserungen wären aus unserer Sicht denkbar." Dass die Bundesregierung zum Thema Kernenergie eine andere Auffassung vertrete als die Kommission, sei bekannt.
Info: https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/eu-taxonomie-kernenergie-atomkraft-bundesregierung-reaktion
unser Kommentar: Dass bei der angeblich so wissenschaftsbasierten Taxonomie sowohl Gas als auch Atomkraft, trotz ihrer Unterschiedlichkeit scheinbar unlösbar aneinander gekoppelt worden sind, statt Atomkraft separat bzw. diese davon auszuschließen, gehört zum Drehbuch dieses „Super-Gaus für die Erneuerbaren Energien“ , denn so geschrieben bedient es auch die Interessen der Atomlobby .