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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0638 .......... 26. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich der Hinweise auf
1.) neue IMI-Analysen zum Putsch im Niger;
2.) der Hinweis auf die neue IMI-Studie „Zeitenwende heißt Sozialabbau!“;
3.) ein Artikel über Grenzen als Sortiermaschinen als Vorgeschmack auf die
bald erscheinende Ausdruck-Ausgabe mit diesem Schwerpunkt.
1.) Putsch im Niger
Mittlerweile sind eine ganze Reihe Artikel zum Putsch im Niger auf der
IMI-Homepage erschienen:
IMI-Standpunkt 2023/031 - in: junge welt, 21.8.2023
Verzweiflung im Land, Selbstschutz im Palast
Im Niger weckt der Machtwechsel Hoffnung auf neue Ansätze im Kampf mit den
Dschihadisten. Ambitiöse Generäle nutzen das aus.
https://www.imi-online.de/2023/08/22/verzweiflung-im-land-selbstschutz-im-palast/
Pablo Flock (22. August 2023)
IMI-Standpunkt 2023/030 - in: junge welt, 21.8.2023
Beliebte Putschisten. Eine postkoloniale Dialektik
https://www.imi-online.de/2023/08/22/beliebte-putschisten-eine-postkoloniale-dialektik/
Pablo Flock (22. August 2023)
IMI-Analyse 2023/38
Kommt nun der Showdown im Sahel?
ECOWAS droht mit Intervention im Niger. Frankreich und die EU evakuieren
Bürger. Doch Nachbarländer zeigen sich solidarisch.
https://www.imi-online.de/2023/08/04/vorbereitung-eines-angriffkriegs/
Pablo Flock (4. August 2023)
IMI-Standpunkt 2023/028
Erste Einschätzungen zum Putsch in Niamey
https://www.imi-online.de/2023/07/27/erste-einschaetzungen-zum-putsch-in-niamey/
Christoph Marischka (27. Juli 2023)
Siehe auch zur langen Vorgeschichte unsere Seite zur Sahel-Region:
https://www.imi-online.de/category/regionen/afrika/nordafrika/sahel/
2.) IMI-Studie: Zeitenwende heißt Sozialabbau!
IMI-Studie 2023/2
Zeitenwende heißt Sozialabbau!
Die Auseinandersetzungen über Sozialkürzungen zugunsten von Militärausgaben
und 2%-Ziel sind eröffnet
https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau/
Jürgen Wagner (28. August 2023)
Einleitung
Im September 2023 beginnt auf Basis des Anfang Juli von Finanzminister
Christian Lindner vorgelegten und vom Kabinett beschlossenen
Regierungsentwurfs[1] die parlamentarische Debatte um den Haushalt 2024. Wie
sich schon länger abzeichnete, sollen nahezu alle Ministerien Einbußen
hinnehmen, verschont bleibt aber unter anderem das Verteidigungsministerium
(BMVg), das sogar zusätzliche Gelder erhält. Erstmals sollen im kommenden
Jahr Militärausgaben von 2% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erreicht werden
– gleichzeitig wurde auch die Finanzplanung bis 2027 vorgelegt, die vor
allem eines zeigt: Die Zeitenwende bedeutet Sozialabbau!
Ganze Studie hier:
https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau/
INHALTSVERZEICHNIS
Ein Sondervermögen für die chronisch kaputtgesparte Truppe?
Nebelkerzen und die Haushaltsplanung 2024
Schwarzes Rüstungsloch
Pistorius: Rüstung im Deutschland-Tempo
Vermeintliche Sachzwänge
Zeitenwende heißt Sozialabbau
Debatte eröffnet
Ganze Studie hier:
https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau/
Dazu passend auch der Hinweis auf die Initiative „Sagt Nein!
Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“, die auch
von der IMI unterzeichnet wurde:
https://www.imi-online.de/2023/08/10/sagt-nein/
3.) IMI-Analyse: Grenzen: High-Tech-Sortiermaschinen?
In Kürze erscheint die September-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK. Als
diesmaligen Schwerpunkt haben wir das Thema „Grenzen“ gewählt. Der
nachfolgende Beitrag ist einer der Artikel, der in diesem Schwerpunkt
erscheinen wird und den wir als Vorgeschmack bereits jetzt veröffentlichen:
IMI-Analyse 2023/39
Grenzen: High-Tech-Sortiermaschinen?
Rezension zweier Publikationen
https://www.imi-online.de/2023/08/17/grenzen-high-tech-sortiermaschinen/
Christoph Marischka (17. August 2023)
Mau: „Sortiermaschinen“
Steffen Mau, der zu den bekannteren zeitgenössischen, deutschen Soziologen
zählt, hat 2021 im Verlag C.H.Beck ein “kurzes Buch” veröffentlicht, welches
– so der Untertitel – “Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert” unter
dem Titel “Sortiermaschinen” beschreibt.
Dass Grenzen “Sortiermaschinen” sind, ist erst einmal keine so neue
Feststellung. Jenseits ihrer geopolitischen und völkerrechtlichen Funktion
zur Abgrenzung eines Territoriums erscheinen sie v.a. im westeuropäischen
Denken den Individuen primär als Ort einer binären, manchmal lebenswichtigen
Entscheidung: des Zugangs oder der Zurückweisung. Dass der Ort dieser
Entscheidung nicht (mehr) nur der ikonische, ebenfalls westeuropäisch
geprägte Schlagbaum ist, scheint auch keine besonders neue Erkenntnis.
Vieles, das im Buch dargestellt wird, ist im Grunde der regelmäßigen
Zeitungsleserin bekannt: Die Externalisierung der Kontrolle in Drittstaaten
und an private Akteure, der zunehmende Einsatz biometrischer Daten, der Bau
von Mauern und Zäunen und das Sterben im Mittelmeer. Letzteres steht bei Mau
nicht im Mittelpunkt, sondern wird eher sachlich am gebotenen Ort erwähnt.
Es handelt sich dabei schließlich nur um eine Zuspitzung der Kernaussage,
wonach Grenzen als Filter über Lebenschancen entscheiden und diese anhand
ziemlich banaler Kriterien wie Geburtsort bzw. Staatsbürgerschaft
reproduzieren: “Die Grenze als Sortiermaschine ist ein
Ungleichheitsgenerator”.
Etwas ausführlicher als die (ebenfalls irgendwie ikonisierten)
Bootsflüchtlinge werden z.B. jene beschrieben, die sich Kraft Vermögen,
teilweise unterstützt von entsprechenden Agenturen, für viel Geld Pässe
anderer Staaten und damit Visafreiheit in ganzen Weltregionen einkaufen
können. Hier könnte sich noch die diplomatische Klasse jener ergänzen
lassen, die mit entsprechenden Pässen oder aufgrund ihrer Funktion in der
UNO, anderen Internationalen Organisationen oder den Parlamenten mächtiger
Staaten ebenfalls eine weitgehende globale Bewegungsfreiheit genießen. Dem
stellt Mau die Hürden gegenüber, die sich für Angehörige ärmerer Staaten
ergeben, wenn sie ein Visum z.B. für den Schengen-Raum beantragen wollen.
Alleine diese sind für viele abschreckend oder aber gleich unüberwindbar. So
werden Ausschlüsse bereits weit jenseits des Ziellandes produziert. Wer ohne
Visum reisen will, stößt ebenfalls bereits weit jenseits des Ziellandes auf
vielfältige Hindernisse und Barrieren, wobei private Dienstleister und
Behörden von Drittstaaten in die Abwehrstrategien der reichen Staaten
eingebunden werden. Auch diese im Grunde bekannte Externalisierung
beschreibt Mau nüchtern und anschaulich, u.a. am Beispiel der von Europa an
den Niger delegierten Abwehr von Migrant:innen: “Ganze Länder oder
Landstriche können somit zur Grenzzone anderer zum Teil räumlich weit
entfernter Länder umfunktioniert werden”. Hierin erkennt Mau auch den
“Wunsch vor allem liberaler Staaten, sich ihrer eigenen, normativen
Selbstbindung zu entledigen”, denn: „Exterritorialisierung führt dazu, dass
Kontrolle und der Zugang zu Rechten auseinanderfallen“. Dabei verweist Mau
auf den französischen Philosophen Étienne Balibar, der dafür plädiere, den
analytischen Blick „von der Bewegung von mobilen Menschen über die Grenze
hinweg auf die Bewegung von Grenzen auf mobile Menschen zu“ zu verlagern.
Das ist zugleich ein Beispiel dafür, wie es dem Autor an verschiedenen
Stellen gelingt, abstraktere und aktuelle wissenschaftliche Debatten
unprätentiös mit einer ansonsten sehr anschaulichen Gesamtdarstellung der
Funktionsweise von Grenzen zu verweben. Wenn es z.B. an anderer Stelle
heißt, „[p]ortable Kontrollgrenzen zielen darauf, 'Unwillkommene' am
Abreisen, Durchreisen oder Anreisen' zu hindern“, ist dies einerseits
offensichtlich - und zugleich eine recht konkrete Anwendung von Balibars
Forderung.
Die im besten Sinne populärwissenschaftliche Aufbereitung des Themas zeigt
sich auch daran, dass Mau an mindestens drei Stellen Forschungsprojekte aus
seinem Umfeld kurz vorstellt. Das gilt z.B. für ein Projekt, das die
Fortifizierung von Grenzen zum Gegenstand hatte. Damit ist der Bau von
Mauern und Zäunen gemeint, der seit den 1990er Jahren deutlich zugenommen
habe. Die Beschreibung dieser „Grenzinfrastrukturen“ als „Bollwerke der
Globalisierung“ erfolgt an einer frühen und zentralen Stelle im Buch und
soll eine weitere Kernaussage unterstreichen, die sich gegen das von ihm
zunächst ausgebreitete „Entgrenzungsnarrativ“ wendet: Der „Abgesang auf die
Grenze, wie wir ihn bei den Hohepriestern der Globalisierung immer wieder
hören konnten, war eine Illusion zu Lasten Dritter, die die Globalisierung
nicht als ent-, sondern viel eher als Ausgrenzung erleben durften“. Die
Öffnungsglobalisierung sei systematisch verbunden mit einer zugleich
stattfindenden Schließungsglobalisierung, wobei die „Freizügigkeitsgewinne
für die Einen mit Begrenzungen von Mobilitätsoptionen für die Anderen
erkauft werden“. Das geht damit einher, dass für erstere die Grenze
zunehmend unsichtbar werde. Die Hochmobilen, die „Sozialfigur des Trusted
Travellers“ überfliegt Zäune und Mauern. Sie sind mittlerweile an die
„Walk-Through-Grenze“, den Grenzübertritt als kurze
„Mensch-Maschine-Interaktion“ gewöhnt. Für sie erscheinen Stacheldraht und
Befragung an der Grenze tatsächlich als Anachronismus. Ganz am Anfang, wo er
das „Entgrenzungsnarrativ“ nachzeichnet, nimmt er dabei auch seine eigene
Zunft auf's Korn und spekuliert über eine „déformation professionelle der
Konferenztouristen“. Die Grenze als „Ort legitimer staatlicher Kontrolle
auch ohne Verdacht“, als „Situation der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins“
und des Tauschs „umfassender Eingriffs- und Kontrollrechte staatlicher
Behörden gegen individuelle Eintritts- und Mobilitätsmöglichkeiten“ ist
„keine Jedermann- oder Jederfraugrenze“, sondern eine „individualisierte
Grenze“. Die flexibilisierte und deterritorialisierte Grenze als
Sortiermaschine hingegen zielt darauf ab, die Trusted Travellers zu
isolieren, während sie ganze Bevölkerungsgruppen nach Risikofaktoren
bewertet, als Sicherheitsbedrohung einstuft und weit jenseits der
territorialen Grenze aufzuhalten oder an dieser herauszugreifen und
besonders zu durchleuchten sucht.
Hierbei spielen natürlich auch neue Technologien und sog. „Smart Borders“
eine Rolle. Die „Informationelle und biometrische Kontrolle“ beschreibt Mau
in einem weiteren zentralen Kapitel. Neben den verschiedenen
„Identitätsspeichern“, die gegenwärtig im Zuge des Grenzmanagements
aufgebaut werden und sich zunehmend nicht auf Dokumente, sondern auf
biometrische Identifikation („face passport“) beziehen, spricht Mau den
Einsatz von KI und Algorithmen anhand weniger konkreter Beispiele an.
Besonders wichtig scheint ihm dabei zu sein, dass in diesen Datenbanken
„zuvor separierte gesellschaftliche Bereiche miteinander“ gekoppelt und
„Informationen aus einem ganz anderen Kontext für die Einreise in ein
anderes Land entscheidungsrelevant“ werden. Vor dem Hintergrund der
Pandemie, in der das Buch offenbar geschrieben wurde, spielen hier u.a.
Gesundheitsindikatoren eine Rolle, was – der Autor räumt das ein – nicht
gänzlich neu ist. Mit wenigen anschaulichen Beispielen legt er jedoch nahe,
dass zunehmend auch das Konsumverhalten und die Bonität in entsprechende
Entscheidungssysteme einfließen und damit auch der private Sektor
eingebunden wird, der solche Indikatoren erhebt.
An dieser Stelle wirkt das Buch appellativ und gewissermaßen mobilisierend.
Es scheint dem Autor ein persönliches Anliegen, eine breitere Öffentlichkeit
auf entsprechende Tendenzen und mögliche Folgen aufmerksam zu machen und
zumindest zwischen den Zeilen auch zu warnen. Ansonsten ist das Buch, auch
wenn es die hier wiedergegebenen Zitate vielleicht anders erscheinen lassen,
nicht in dem Sinne politisch oder moralisierend, wie es beim Thema Grenzen
ansonsten – und oft durchaus zu Recht – der Fall ist. Somit ist es nicht nur
für ein Fachpublikum mit kritischer Haltung zu Grenzen als dichte und
stimmige Zusammenfassung weitgehend bekannter Fakten empfehlenswert, sondern
auch als Geschenk an Verwandte oder Kolleg*innen, denen es bislang an
Empathie für diejenigen fehlt, denen die „Globalisierung“ vor allem als
Ausschluss entgegentritt.
CILIP 131
Die „Sortiermaschinen“ von Steffen Mau bilden einen hervorragenden
Hintergrund für die Lektüre der 131. Ausgabe der Zeitschrift „Bürgerrechte
und Polizei“ (Cilip) vom März 2023 mit dem Titelthema „Mit Technologien
gegen Migration“. Der Schwerpunkt besteht aus sieben Einzelbeiträgen zu
verschiedenen Aspekten. Unter dem Titel „Migrationsabwehr als angewandte
Wissenschaft“ stellt Norbert Pütter, thematisch geordnet, Projekte der
deutschen und EUropäischen Forschungsprogramme für die „zivile Sicherheit“
vor, die einen expliziten Bezug zum EUropäischen Grenzregime aufweisen. Im
Themenfeld Detektion geht es dabei um verschiedene Technologien, mit denen
Menschen in Fahrzeugen oder Containern aufgespürt werden sollen. Hierzu
werde u.a. mit dem Einsatz von Wärmebild- und Terahertzkameras
experimentiert, die versteckte Personen auch im fließenden Verkehr
identifizieren können. Ein weiteres Projekt habe demnach auch den Einsatz
von Röntgenaufnahmen und anderen radiologische Untersuchungsmethoden
untersucht, sei aber primär auf die Erkennung von Drogen oder Sprengstoff
ausgerichtet. Zunächst eher skurril, aber womöglich durchaus anwendungsnah
sollte auch ein „tragbares Meßsystem“ erforscht werden, mit dem Luft aus
geschlossenen Fahrzeugen oder Containern abgesogen und auf
„charakteristische Merkmale von menschlichen Ausdünstungen wie Atemluft oder
Schweiß“ untersucht werden könne. Beispielhaft für den Bereich
Grenzüberwachung wird das Projekt FOLDOUT vorgestellt, bei dem
Satellitenaufnahmen mit der „Echtzeit-Überwachung durch Luftschiffe“,
anlassbezogenen Flügen bemannter und unbemannter Systeme und einer Vielzahl
von Sensoren am Boden verknüpft werden sollen. Vergleichbare Projekte werden
auch im Themenfeld der Seegrenzen dargestellt. Unter der Überschrift
„Identitätsprüfung an der Grenze und im Inland“ werden Forschungsprojekte
genannt, welche u.a. durch Auslesen der Smartphones Geflüchteter
Rückschlüsse auf deren Herkunft und die verwendeten Routen ermöglichen
sollten. Weitere Projekte verfolgten das Ziel der Ermittlung des
Herkunftslandes durch „Sprach- und Dialektanalyse“ oder der standardisierten
Altersermittlung „mit den Mitteln Künstlicher Intelligenz“. Was Püttners
kurzen Beitrag gegenüber anderen teilweise ausführlicheren Darstellungen der
entsprechenden Programme auszeichnet, ist, dass in wenigen Sätzen auch die
Dynamik der Forschungsförderung und die Verantwortung der Forschenden
angesprochen wird. Letztere müssten „in ihren Anträgen erfolgreich
bestehende Überwachungs- und Kontrolldefizite behaupten, die sie zu
schließen versprechen“. Mit dem „technischen Fokus“ verbunden sei, dass „die
Forschenden die Abschottungslogik als unhinterfragte Basis ihres Tuns (und
Geldverdienens) bekräftigen und die Migrant*innen als zu polizierende
Objekte behandeln“. Gut, das das mal in dieser Klarheit formuliert wurde.
Zugleich würden viele der erforschten Technologien „das Potential zu einer
totalitären Überwachung der gesamten Gesellschaft“ bergen.
Auf diesen Aspekt geht bereits die Redaktionsmitteilung ganz am Anfang des
Heftes ein, in der auf Michel Foucaults Bild des „kolonialen Bumerangs“
verwiesen wird: „Bis heute sind die rassifizierten 'Fremden' das primäre
Testfeld für neue Kontrolltechnologien“, die mit einiger Wahrscheinlichkeit
früher oder später auf weitere Teile der Gesellschaft Anwendung finden
würden. Viele der Autor*innen des Schwerpunkts greifen diese Argumentation
auf, darunter Petra Molnar, die in der Vergangenheit viel zum Einsatz von KI
im Migrationsmanagement geforscht hat. In ihrem Beitrag „Digitale Festungen
und Roboterhunde – Technologische Gewalt an den Grenzen der EU und USA“
stellt sie fest: „Die Regulierungslücken im Hinblick auf Grenztechnologie
sind beabsichtigt, um technologische Experimente zu ermöglichen, die
andernorts nicht erlaubt wären“. Das „Andernorts“ ist dabei vermutlich nicht
vorrangig räumlich zu verstehen, denn auch sie spricht – bezugnehmend auf
Ayelet Schahar und deren Buch „Shifting Borders“ – davon, dass Grenzen
„elastisch geworden“ und „nicht mehr an einen physischen Ort gebunden“,
sondern „zu einer beweglichen Barriere, zu einem losgelösten rechtlichen
Konstrukt“ geworden sind. Besonders stark hebt den Aspekt „Migrant*innen als
Versuchssubjekte“ und die „Migrationssteuerung der EU als Versuchslabor für
neuartige Technologien“ Lise Endregat Hemat in ihrem Beitrag „Wirklich nur
Forschung?“ hervor: „Migration wird als eine Gefahr geframed […], wobei sich
die Grenzen dessen, was als akzeptabel erachtet wird, verschieben. Solche
Prozesse können die Entwicklung außergewöhnlicher Technologie befördern“.
Eine weitere Argumentation zieht sich durch einen Großteil der Beiträge,
nämlich die Vorstellung eines gewinnträchtigen und profitorientierten
„grenzindustriellen Komplex“ (Molnar) bzw. des „Geschäftsfelds
Migrationskontrolle“. Verschiedene Beiträge nennen zwei- bis dreistellige
Millionenbeträge für bestimmte Projekte, welche eine Zweck-Mittel-Relation
jenseits der Förderung dieser Industrie kaum erkennen lassen. Auch jenseits
der Fusion beider Gedanken liegt es durchaus in der
juristisch-aktivistischen Tradition der „Cilip“, die aktive Verteidigung der
Rechte insbesondere jener in den Mittelpunkt zu stellen, für die der Zugang
besonders erschwert ist. So macht der Beitrag von Clemens Arzt durchaus
Sinn, in dem er verschiedenste Rechtsquellen, von der Europäischen
Menschenrechtskonvention über das Grundgesetz bis hin zum deutschen
Strahlenschutzgesetz (was es nicht alles gibt…) nach Möglichkeiten
durchforstet, entsprechende Praxen zur „Detektion von Flüchtenden in
Fahrzeugen“ anzufechten. Auch der Beitrag von Lucie Audibert, „Warnungen aus
Großbritannien“, beschreibt juristische Auseinandersetzungen um verschiedene
Maßnahmen des britischen Innenministeriums, mit denen Handys von
Asylsuchenden ausgelesen oder diese mit GPS-Tracking überwacht werden. Die
so erhobenen Daten können in die Entscheidung über Aufenthaltsperspektive
oder Abschiebung einfließen und damit natürlich „das Recht auf Privatsphäre,
aber auch auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit verletzen“.
Es gelingt der Autorin dabei sehr gut, die „weitverbreite Rechtswidrigkeit“,
Regelverstöße und Regulierungslücken als bewusste Strategie des britischen
Innenministeriums und die von Betroffenen und Menschenrechtsgruppen
angestoßenen Verfahren als Gegenstrategie zu rekonstruieren.
Neben den Interessen der entsprechenden Industrie und einem scheinbar sich
verselbstständigen Framing von Migration als Bedrohung sprechen die
Autor*innen des ersten Beitrags (der den Charakter eines erweiterten
Editorials hat) auch den technologischen Solutionismus als ideologische
Grundlage dessen an, was beschrieben wird. Damit ist die Vorstellung bzw.
Tendenz gemeint, für soziale Phänomene, die als „Problem“ definiert werden,
technologische „Lösungen“ zu suchen und zu verfolgen. So heißt es dort u.a.:
„Egal ob innenpolitisch oder wenn es um Migration auf EU-Ebene geht,
reagiert der neoliberale Staat auf Krisen schnell mit autoritären Mitteln,
die er nicht zuletzt technisch umgesetzt sieht. Dann bestimmt sich der
Diskurs durch Diskussionen über technisch Machbares und nicht über politisch
Umkämpftes“. Schön gesagt auch hier: „Ausgehend von der Idee des
Krisenhaften, das mit Migrationsbewegungen einhergeht, verbindet sich vor
allem mit vorausschauenden und vorhersagenden Technologien, samt ihrer
mathematischen wie physikalischen Verfahren, das Versprechen einer
berechenbaren Kontrolle über menschliche Verhaltensweisen“. Lise Endregat
Hemat formuliert einen Gedanken, der daran sehr gut anknüpft: Sie fragt sich
eher am Rande, was die „Datensammelsysteme“ und „enormen Datenmengen“ denn
dazu beitragen (können), „um die strukturellen Probleme zu beheben, die
Migration verursachen“. (Im Gesamtkontext ist dabei klar, das Hemat hier auf
Fluchtursachen und globale Ungleichheit abzielt und nicht Migration per se
als Problem kategorisiert)
Vergleich
Während es sich bei Maus „Sortiermaschinen“ und der Cilip 131 um
grundverschiedene Publikationen handelt, weisen sie verschiedene
Gemeinsamkeiten auf. Sowohl die Monographie des etablierten Soziologen Mau
wie auch die (fast) aktuelle Ausgabe einer Zeitschrift aus dem
aktivistischen Umfeld kritischer Jurist*innen (Cilip ist ein Verein, den man
durch Mitgliedschaft unterstützen kann) kommen zu ähnlichen
Schlussfolgerungen und ergänzen sich, vermutlich unfreiwillig. Beide werfen
eher implizit die Frage auf, ob die technologische „Neuerfindung der
Grenzen“ auch eine Neuerfindung der Staatlichkeit und ihrer Souveränität
ist. Molnar schreibt in der Cilip etwa, dass „die Macht, Innovationen zu
entwickeln und zum Einsatz zu bringen“, „die Kluft zwischen Nord und Süd“
vergrößert. Das ist hier sehr verkürzt wiedergegeben, aber ein Satz, den es
sich evtl. lohnt, zweimal zu lesen. Der Blickwinkel der Monographie ist
globaler, die Cilip nimmt eher die EU in den Blick und geht hier in
interessante Details. Beide liefern spannende Referenzen zu postkolonialen
Ansätzen, ohne dass sie selbst diesen zugeordnet werden könnten. Inspiriert
durch diese Ansätze gab sich bis vor etwa zehn Jahren die Theorie der
(relativen) Autonomie der Migration, die in beiden Publikationen keine
offenkundige Erwähnung findet. Zugespitzt besagte sie, dass staatliche
Interventionen das Migrationsgeschehen nur begrenzt beeinflussen könnten und
die Migrant*innen diese kontinuierlich herausfordern, mitgestalten und
unterlaufen würden. Ihre Darstellung als „Versuchssubjekte“ wäre damals
womöglich vehement kritisiert worden – die Argumente dafür waren und sind
gut. Die „Sortiermaschinen“ waren da bereits Thema, deren Konkretisierung in
den beiden behandelten Publikationen könnte jedoch auch Anreiz oder
Provokation für ein Update sein zur „Autonomie der Migration“.
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