DebatteWie ein atmender Industriestrompreis einen echten Beitrag für Beschäftigung und Klimaschutz leisten kann
Die Idee eines Industriestrompreises wird durchaus zu Recht kritisiert. Doch das Konzept ließe sich so überarbeiten, dass unerwünschte Nebenwirkungen verringert werden.
Seit der Energiepreiskrise und anhaltenden Schwankungen bei den Strompreisen wird unter dem Stichwort Industriestrompreis eine staatliche Stabilisierung der Strompreise für die energieintensive Industrie und darüber hinaus diskutiert. Die Fülle an bereits bestehenden Ermäßigungen für bestimmte Unternehmen und Branchen sowie die Vielzahl an Stellschrauben und Möglichkeiten, preislich in den Strommarkt einzugreifen, macht die Debatte sehr komplex.
Eine staatliche Förderung bestimmter Industrien steht angesichts bereits bestehender Industrieprivilegien unter besonderem Rechtfertigungsdruck. In einem kürzlich im Makronom erschienenen Beitrag kritisierte Rudi Kurz die Industriestrom-Subventionierung als „ökonomisch ineffizient, unsozial und ökologisch schädlich“. Frank Werneke, der frisch wiedergewählte Chef der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, warnt vor der „sozialen Sprengkraft“, die eine reine Wirtschaftsförderung haben könnte, während Beschäftigte und Privatpersonen leer ausgingen. Umweltbewegte befürchten zudem einen Nachfrageanstieg fossil produzierten Stroms und sehen den Industriestrompreis als Transformationsbremse.
Folgend soll erläutert werden, warum und vor allem wie ein subventionierter Industriestrompreis nicht nur Produktion und Beschäftigung stabilisieren kann, sondern auch einen Beitrag zur Dekarbonisierung und damit dem Klimaschutz leisten kann.
Die Gefahr der Deindustrialisierung
Unstrittig ist, dass die energieintensive Industrie sich in einer desolaten Lage befindet. Während die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes insgesamt im 2. Quartal 2023 um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zugenommen hat und damit seit dem Corona-Einbruch mehr oder weniger stagniert, verzeichnet die Produktion der energieintensiven Branchen einen Einbruch von fast 20 Prozent seit dem Beginn des kriegsbedingten Energiepreisschocks 2022 (siehe Abbildung).
Der Ökonom Tom Krebs hat in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung die bisherigen Auswirkungen der Energiekrise auf die Industrie berechnet: Bislang seien vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes verloren gegangen. Langfristig könnten die wirtschaftlichen Verluste auch durch die sinkenden Reallöhne bis Ende 2024 auf zehn Prozent ansteigen.
Wir brauchen die Industrie – auch für die Transformation
Die Industrie beschäftigt in Deutschland seit zehn Jahren relativ konstant ein Viertel der erwerbstätigen Personen und gilt aufgrund ihrer hohen Produktivität und Wertschöpfung als Stabilitätsanker. Im europäischen Vergleich ist Deutschland überdurchschnittlich industrialisiert. Die Pariser Klimaziele sollten allerdings nicht erreicht werden, indem einfach ein paar Stahl- und Chemiewerke über die Wupper gehen.
Die Industrie in Deutschland und Europa zu halten, ist nicht nur aus beschäftigungspolitischer Perspektive richtig und wichtig, da im Industriesektor Gute Arbeit und hohe Tariflöhne noch der Standard sind. Vor allem sind auch die Produkte der energieintensiven und Grundstoffindustrien für die Transformation und den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft von großer Bedeutung. Ohne Stahl und Zement wird in der Nordsee kein einziges Windrad gebaut, und die Produktion von Aluminium und Glas ist als Grundstoff für Werften, Züge und E-Autos unverzichtbar. Diese Industrien zu halten und selektiv sogar zu vergrößern, ist also elementarer Bestandteil der Transformation. Und neben dem ökonomischen gibt es in der seriellen Produktion in großer Stückzahl auch einen ökologischen Skaleneffekt (weniger THG-Emission pro produzierter Einheit).
Vor allem aber kann ein zeitlich befristet subventionierter Industriestrompreis einen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten, da gerade in der energieintensiven Industrie eine „Elektrifizierung“ der Produktion nur mit planbaren Energiekosten langfristig betriebswirtschaftlich vorstellbar ist. Bei Strompreisschwankungen zwischen 50 und 400 Prozent zu Spitzenzeiten wird kein energieintensives Unternehmen langfristige Investitionsentscheidungen für den nächsten Zyklus jetzt und vor allem nicht hier fällen.
Vorschlag für einen atmenden Industriestrompreis
Und gerade in der Elektrifizierung bestimmter Sektoren liegt der Schlüssel zur Erreichung der Klimaziele. Bei der Umstellung der Stahlproduktion beispielsweise von Kohle auf Direktreduktionsverfahren könnten mit einer Tonne aus grünem Strom hergestellten Wasserstoff 28 Tonnen CO2 eingespart werden. Ähnlich hohe Einspareffekte hätte die Elektrifizierung und Reduzierung des Erdgasverbrauchs in der Chemieindustrie. Wir werden also in Zukunft mehr Strom brauchen. Er muss klimafreundlich produziert werden und preisstabil sein. Damit eine staatliche Förderung des Strompreises den Ausbau und Verbrauch erneuerbarer Energien gegenüber fossiler Energie fördert und gleichzeitig Planungssicherheit und Preisstabilität garantiert, schlagen wir einen atmenden Industriestrompreis vor. Dieser besteht aus drei Komponenten:
1.
Ein Industriestrompreiskorridor zwischen vier und sechs Cent/kWh. Der Börsenstrompreis wird für energieintensive Unternehmen auf bis zu sechs Cent/kWh runtersubventioniert. Unternehmen zahlen maximal sechs und mindestens vier Cent pro Kilowattstunde Strom.
2.
Ein Stabilitätszuschlag in Höhe der Differenz des Börsenpreises bis zu vier Cent/kWh. Bewegt sich der Börsenstrompreis unter vier Cent/kWh, müssen die geförderten Unternehmen trotzdem vier Cent/kWh zahlen. Die Differenz wird zur Finanzierung des stabilisierenden Strompreises genutzt. So wird das Förderinstrument für den Fiskus günstiger und es entsteht kein Anreiz für eine Dauersubvention. Die Gefahr, dass der Industriestrompreis so zu einem Dauerinstrument wird, sinkt mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien.
3.
Eine Flexibilitätsprämie für den Verbrauch von erneuerbarem Strom von bis zu zwei Cent/kWh. Unternehmen erhalten eine Flexibilitätsprämie von 0,1 Cent/kWh für jeden Cent, den der Börsenstrompreis in einer festgelegten Schwankungsbreite sinkt. Der Börsenstrompreis sinkt in der Regel, wenn die Einspeisung von erneuerbaren Energien hochläuft und nach dem Merit-Order-System die teuren preissetzenden Gaskraftwerke abgeschaltet werden können. Da energieintensive Industrien besonders preissensibel reagieren, kann schon eine geringe flexible Preiskomponente zu einem systemdienlichen Verbrauch führen und somit klimafreundliche flexiblere Produktion belohnt werden.
Anstatt eines Festpreises an 8.760 Stunden im Jahr, wie es die meisten Vorschläge für einen Industriestrompreis vorschlagen, könnte eine Flexibilitätsprämie von 0,1 Cent für jeden Cent Börsenpreissenkung den Verbrauch erneuerbarer Energie erhöhen und so Anreize für eine klimagünstige Produktion setzen, da so die regionale und zeitliche Verfügbarkeit von erneuerbarem Strom finanziell berücksichtigt wird (siehe Abbildung).
Eine zusätzliche Absenkung der Stromsteuer für alle auf ein europäisches Mindestmaß von 0,1 Cent/kWh und damit das Überflüssigmachen des Spitzenausgleichs würde eine Entlastung in der Breite bringen und damit auch Privatpersonen und Kleinen- und Mittelständischen Unternehmen helfen. Es wäre außerdem eine Verbesserung des Level-Playing-Fields, da viele KMUs durch den Spitzenausgleich aktuell benachteiligt sind. Allerdings würde die Abschaffung der Stromsteuer mit jährlichen Mindereinnahmen von 6,7 Milliarden Euro die Kosten für einen Industriestrompreis von jährlich etwa fünf Milliarden Euro noch übersteigen.
Wird ein so ausgestalteter Industriestrompreis zusätzlich an Bedingungen wie Tariftreue, Standortgarantien und Transformationsvereinbarungen geknüpft, kann er ein echter Beitrag für Beschäftigung und Klimaschutz sein.
Zu den Autoren:
Ralph Lenkert ist Sprecher für Umwelt-, Klima- und Energiepolitik der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.
Tilman von Berlepsch ist Referent für Wirtschaftspolitik der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.