anti-spiegel.ru, 5. Oktober 2023 20:28 Uhr, von Anti-Spiegel
Der russische Präsident Putin hat auf dem Valdai-Club seine jährliche Grundsatzrede zu Fragen der internationalen Politik gehalten, in der er dieses Mal seine Vorstellungen der kommenden Weltordnung erklärt hat. Den Staaten des Westens dürfte seine Rede nicht gefallen haben.
Der Valdai-Club ist die wichtigste geopolitische Denkfabrik in Russland, die einmal pro Jahr zu ihrer großen Konferenz, dem Valdai-Forum, einlädt. Der Höhepunkt ist dabei immer die Podiumsdiskussion mit dem russischen Präsidenten Putin, der zunächst eine Grundsatzrede zur internationalen politischen Lage hält und sich danach noch zwei oder drei Stunden den Fragen stellt.
Ich habe Putins Rede auch dieses Jahr wieder übersetzt. Sie unterscheidet sich auffällig von seinen Reden der letzten Jahre, denn sie war kaum mehr an den Westen gerichtet. In den früheren Jahren hat Putin den Westen zwar kritisiert, aber es war offensichtlich, dass Putin noch darauf gehofft hat, sich mit dem Westen irgendwie zu verständigen.
Das war in diesem Jahr anders, denn seine Rede war ganz klar an das Publikum und die Entscheidungsträger der nicht-westlichen Staaten gerichtet. Putin hat ihnen seine Vision einer künftigen Weltordnung vorgestellt. Wer mein Buch „Putins Plan“ gelesen hat, der weiß ungefähr, was Putin inhaltlich gesagt hat, aber es ist interessant, es hier in seinen Worten zu lesen.
Beginn der Übersetzung:
Sehr geehrte Teilnehmer der Plenarsitzung! Liebe Kollegen, meine Damen und Herren!
Ich freue mich, Sie alle in Sotschi zur zwanzigsten Jahrestagung des Internationalen Valdai Discussionsclubs begrüßen zu dürfen.
Unser, oder man kann sagen, Ihr Forum, das traditionell Politiker und Wissenschaftler, Experten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus vielen Ländern der Welt zusammenbringt, bestätigt einmal mehr seinen hohen Status als gefragte und intellektuelle Plattform. Die Valdai-Diskussionen spiegeln stets die wichtigsten Prozesse der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit und Komplexität wider. Ich bin sicher, dass das auch so sein wird – es wahrscheinlich auch in den vergangenen Tagen so war, als Sie miteinander diskutiert haben – und es wird auch in Zukunft so sein, denn wir stehen im Grunde vor der Aufgabe, eine neue Welt aufzubauen. Und in so entscheidenden Phasen ist die Rolle und die Verantwortung von Intellektuellen wie Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, außerordentlich groß.
Im Laufe der Jahre, in denen der Club tätig ist, haben sich sowohl in der Welt als auch in unserem Land, wie soeben gesagt wurde, schwerwiegende, wenn nicht gar enorme, kolossale Veränderungen vollzogen. Nach historischen Maßstäben ist der Zeitraum von zwanzig Jahren nicht so groß, aber wenn er auf die Epoche des Umbruchs der gesamten Weltordnung fällt, scheint die Zeit zu schrumpfen.
Und ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass sich in diesen zwanzig Jahren mehr ereignet hat als in anderen Zeiten in vielen, vielen Jahrzehnten, und diese Veränderungen sind qualitativ, sie erfordern grundlegende Veränderungen in den Prinzipien der internationalen Beziehungen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hofften alle, dass die Nationen und Völker die Lehren aus der kostspieligen, zerstörerischen militärisch-ideologischen Konfrontation des letzten Jahrhunderts gezogen hätten, dass sie deren Schädlichkeit erkannt hätten, dass sie die Zerbrechlichkeit und Vernetzung unseres Planeten gespürt hätten und dass sie davon überzeugt seien, dass die globalen Probleme der Menschheit gemeinsames Handeln und die Suche nach kollektiven Lösungen erfordern. Egoismus, Eitelkeit und die Vernachlässigung der wirklichen Herausforderungen werden uns unweigerlich in eine Sackgasse führen, ebenso wie der Versuch der Mächtigeren, anderen ihre eigenen Ideen und Interessen aufzuzwingen. Das hätte jedem klar sein müssen – es hätte klar sein müssen, aber es hat sich herausgestellt, dass das so nicht ist.
Als wir uns vor fast zwanzig Jahren zum ersten Mal auf einer Sitzung des Clubs trafen, befand sich unser Land in einer neuen Entwicklungsphase. Russland hatte die schwierigste Phase der Erholung nach dem Zusammenbruch der UdSSR überwunden. Mit all unserer Energie und unserem guten Willen beteiligten wir uns an den Prozessen zum Aufbau einer neuen, wie wir meinten, gerechteren Weltordnung. Unser Land ist in der Lage, einen großen Beitrag dazu zu leisten, denn wir haben unseren Freunden, Partnern und der ganzen Welt etwas zu bieten.
Leider ist unsere Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit von einigen als Unterwerfung verstanden worden, als Zustimmung dazu, dass die neue Ordnung von denen aufgebaut wird, die sich selbst zu den Siegern des Kalten Krieges erklärt haben, im Grunde wurde es als Anerkennung dafür verstanden, dass Russland bereit sei, einem fremden Weg zu folgen, bereit, sich nicht von seinen eigenen nationalen Interessen, sondern von den Interessen anderer leiten zu lassen.
In all den Jahren haben wir immer wieder davor gewarnt, dass dieser Ansatz nicht nur in eine Sackgasse führt, sondern auch die wachsende Gefahr eines militärischen Konflikts in sich birgt. Aber niemand wollte uns zuhören. Die Arroganz unserer sogenannten Partner im Westen, wissen Sie, sprengte einfach alle Grenzen.
Die USA und ihre Satelliten haben den festen Kurs zur Hegemonie eingeschlagen – militärisch, politisch, wirtschaftlich, kulturell, ja sogar moralisch und wertemäßig. Es war uns von Anfang an klar, dass der Versuch, ein Monopol zu errichten, zum Scheitern verurteilt ist. Die Welt ist zu komplex und vielfältig, um sie einem einzigen Schema unterzuordnen, auch wenn dahinter die Macht, die enorme Macht, des Westens steht, die in den Jahrhunderten der Kolonialpolitik angesammelt wurde. Schließlich bestreiten auch Ihre Kollegen nicht, viele sind hier nicht anwesend, aber sie leugnen nicht, dass der Wohlstand des Westens entscheidend durch die Ausplünderung der Kolonien über Jahrhunderte hinweg erreicht wurde. Das ist eine Tatsache.
De facto wurde dieses Niveau der Entwicklung durch das Ausrauben des gesamten Planeten erreicht. Die Geschichte des Westens ist im Grunde eine Chronik der endlosen Expansion. Der westliche Einfluss in der Welt ist eine riesige militärisch-finanzielle Pyramide, und er braucht immer neuen Treibstoff, um sich selbst zu erhalten, also Rohstoffe, technologische und menschliche Ressourcen, die anderen gehören. Deshalb kann der Westen einfach nicht aufhören und er hat auch nicht die Absicht, das zu tun. Unsere Argumente, Ermahnungen, Appelle an die Vernunft und Vorschläge wurden einfach ignoriert.
Ich habe das schon oft öffentlich erzählt, auch unseren Verbündeten und unseren Partnern: Es gab einen Moment, in dem Ihr bescheidener Diener einfach vorgeschlagen hat, dass wir vielleicht auch der NATO beitreten sollten. Aber nein, so ein Land will man in der NATO nicht. Nein. Man fragt sich, was denn noch? Wir dachten, dass wir bereits zu ihnen gehören, ein bürgerliches Land sind. Was denn noch? Es gibt keine ideologische Konfrontation mehr. Wo ist das Problem? Offensichtlich sind geopolitische Interessen und Arroganz gegenüber anderen das Problem. Das ist das Problem, die Arroganz.
Wir müssen auf den immer stärker werdenden militärischen und politischen Druck reagieren. Ich habe schon oft gesagt, dass nicht wir den sogenannten „Krieg in der Ukraine“ begonnen haben. Im Gegenteil, wir versuchen, ihn zu beenden. Nicht wir haben im Jahr 2014 den Staatsstreich in Kiew organisiert – den Staatsstreich, den blutigen, verfassungswidrigen Staatsstreich. Wo auch immer Putsche stattfanden, hörten wir immer sofort alle Medien der Welt, die natürlich in erster Linie der angelsächsischen Welt gehorchen: Das geht nicht, das ist unmöglich, das ist antidemokratisch. Aber hier ging es. Sie haben sogar die Summe genannt, die Menge an Geld, die sie für diesen Putsch ausgegeben haben. Alles ist möglich.
Damals haben wir uns für die Bewohner der Krim und Sewastopols eingesetzt. Wir haben keinen Staatsstreich organisiert, und wir haben die Bewohner der Krim und Sewastopols nicht mit ethnischen Säuberungen im Stil der Nazis eingeschüchtert. Nicht wir haben versucht, den Donbass durch Beschuss und Bombardierung zum Gehorsam zu zwingen. Nicht wir haben gedroht, diejenigen zu töten, die ihre Muttersprache sprechen wollen.
Hören Sie, wir alle hier sind informierte, gebildete Menschen. Man kann den Millionen von Menschen, die die ihre Realität aus den Medien bekommen, sehr gut, verzeihen Sie den Ausdruck, die Gehirne waschen. Aber Sie wissen, was passiert ist: Neun Jahre lang wurde bombardiert, geschossen und es wurden Panzer eingesetzt. Ein Krieg, ein echter Krieg, wurde gegen den Donbass entfesselt. Und niemand hat die toten Kinder im Donbass gezählt. Niemand in anderen Ländern, vor allem nicht im Westen, hat um die Toten geweint.
Der Krieg, den das Kiewer Regime mit aktiver, direkter Unterstützung des Westens begonnen hat, geht nun ins zehnte Jahr, und die Militäroperation zielt darauf ab, ihn zu beenden. Und sie erinnert daran, dass einseitige Schritte, egal wer sie unternimmt, unweigerlich beantwortet werden. Aktion zieht bekanntlich Gegenaktion nach sich. So handelt jeder verantwortungsvolle Staat, jedes souveräne, unabhängige und sich selbst respektierende Land.
Jedem ist klar, dass es in einem internationalen System, in dem Willkür herrscht, in dem alles von denen entschieden wird, die sich für außergewöhnlich, für frei von Sünde und für allein im Recht halten, jeden treffen kann, nur weil dem Hegemon, der sein Augenmaß und, wie ich hinzufügen möchte, seinen Sinn für die Realität verloren hat, ein Land nicht gefällt.
Leider müssen wir feststellen, dass unsere Kollegen im Westen ihren Realitätssinn verloren haben und alle möglichen Grenzen überschritten haben. Das ist ein Fehler.
Die Krise in der Ukraine ist kein Konflikt um Gebiete, das möchte ich betonen. Russland ist das größte Land der Welt. Wir haben keinerlei Interesse an der Eroberung weiterer Gebiete. Wir müssen noch Sibirien, Ostsibirien und den Fernen Osten erschließen. Hier geht es nicht um einen Konflikt um Gebiete oder auch nur um die Herstellung eines regionalen geopolitischen Gleichgewichts. Das Thema ist viel umfassender und grundlegender: Es geht um die Grundsätze, auf denen die neue Weltordnung beruhen wird.
Ein dauerhafter Frieden wird nur dann entstehen, wenn sich jeder sicher fühlt, wenn er weiß, dass seine Meinung respektiert wird und wenn es ein Gleichgewicht in der Welt gibt, wenn kein Hegemon in der Lage ist, andere zu zwingen, so zu leben und sich so zu verhalten, wie er es will, egal, ob es der Souveränität, den wahren Interessen, den Traditionen und den Prinzipien der Völker und Staaten widerspricht. In diesem Schema wird der Begriff der Souveränität einfach verleugnet, auf den Müllhaufen geworfen, verzeihen Sie den Ausdruck.
Es liegt auf der Hand, dass das Festhalten an Konzepten von Blöcken, der Wunsch, die Welt in eine Situation ständiger Konfrontation zwischen „uns und denen“ zu treiben, ein bösartiges Erbe des 20. Jahrhunderts ist. Es ist ein Produkt der westlichen politischen Kultur, zumindest ihrer aggressivsten Ausprägungen. Ich wiederhole: Der Westen – ein bestimmter Teil des Westens, die westlichen Eliten – braucht immer einen Feind. Er braucht einen Feind, mit dem er die Notwendigkeit seines energischen Vorgehens und seiner Expansion erklären kann. Aber er braucht auch einen Feind, um die Kontrolle innerhalb des Systems des Hegemons, innerhalb von Blöcken – innerhalb der NATO oder anderer militär-politischer Blöcke – aufrechtzuerhalten. Wenn es einen Feind gibt, müssen sich alle um den Chef scharen.
Es geht uns nichts an, wie andere Länder leben. Aber wir sehen, wie die herrschenden Eliten in vielen Ländern die Gesellschaften dazu zwingen, Normen und Regeln zu akzeptieren, die die Bürger selbst – zumindest eine große Anzahl von Bürgern, und in einigen Ländern kann man sicher sagen, die Mehrheit der Bürger – nicht akzeptieren wollen. Aber sie sind gezwungen, ständig Gründe zu erfinden, äußere Schuldige für die wachsenden inneren Probleme zu finden, nicht existierende Bedrohungen zu erfinden und aufzublähen.
Dabei ist Russland ein Lieblingsthema dieser Politiker. Wir sind natürlich daran gewöhnt, historisch daran gewöhnt. Aber sie versuchen, aus jedem, der nicht bereit ist, diesen westlichen Eliten blindlings zu folgen, ein Feindbild zu formen. Sie versuchen, aus jedem einen Feind zu machen: in gewissen Situationen aus China, zu einem bestimmten Zeitpunkt haben sie versucht, auch aus Indien einen Feind zu machen. Jetzt flirten sie natürlich mit Indien, wir verstehen das sehr gut, wir spüren das und wir sehen die Situation in Asien, alles ist klar. Die indische Führung, so möchte ich sagen, ist unabhängig und sehr national orientiert. Ich denke, dass diese Versuche keinen Sinn machen, aber sie gehen trotzdem weiter. Sie versuchen, sich die arabische Welt zum Feind zu machen, auch selektiv, sie versuchen, vorsichtig zu agieren. Aber im Großen und Ganzen läuft es doch darauf hinaus, dass sie sogar aus den Muslimen versuchen, ein Feindbild zu machen. Und so weiter. De facto wird jeder, der sich unabhängig verhält und seine eigenen Interessen verfolgt, für diese westlichen Eliten sofort zu einem Hindernis, das es zu beseitigen gilt.
Der Welt werden künstliche geopolitische Konstruktionen aufgezwungen, es werden geschlossene Blöcke geschaffen. Wir sehen das in Europa, wo seit Jahrzehnten auf die NATO-Erweiterung gedrängt wird, aber auch im asiatisch-pazifischen Raum und in Südasien, wo man versucht, die offene und inklusive Architektur der Zusammenarbeit zu durchbrechen. Der Ansatz der Blöcke, nennen wir die Dinge beim Namen, ist eine Einschränkung der Rechte und Freiheiten von Staaten, sich selbst zu entwickeln, ein Versuch, sie in einen bestimmten Käfig von Verpflichtungen zu sperren. Es geht bekanntlich – und das ist offensichtlich – darum, den Staaten einen Teil ihrer Souveränität zu nehmen und ihnen dann – und zwar sehr oft – Entscheidungen in anderen Bereichen als der Sicherheit, vor allem im wirtschaftlichen Bereich aufzuzwingen, wie es derzeit zwischen den USA und Europa geschieht. Ich brauche das nicht zu erläutern, wenn nötig, können wir in der Diskussion nach meinen einleitenden Bemerkungen noch ausführlicher darüber sprechen.
Dazu versuchen sie, das Völkerrecht durch eine „Ordnung“ – welche „Ordnung“? – zu ersetzen, die auf gewissen „Regeln“ basiert. Welche „Regeln“, was diese „Regeln“ sind, von wem sie erfunden wurden – das ist absolut unklar. Das ist einfach nur Verblödung, Unsinn. Aber das ist es, was sie versuchen, in den Köpfen von Millionen von Menschen zu verankern: „Wir müssen nach Regeln leben.“ Nach welchen Regeln denn?
Und überhaupt, wenn Sie erlauben, stellen unsere westlichen Kollegen, vor allem aus den USA, diese „Regeln“ nicht nur einfach willkürlich auf, sondern weisen auch an, wer sie wie befolgen soll, wer sich wie zu verhalten hat. So wird das gemacht und normalerweise wird es in einer offen frechen Form gesagt. Das ist wieder die Manifestation kolonialen Denkens. Die ganze Zeit hören wir: Ihr müsst, ihr seid verpflichtet, wir warnen euch ernsthaft….
Wer seid Ihr denn überhaupt? Welches Recht habt Ihr, jemanden zu warnen? Das ist einfach unglaublich. Vielleicht ist es an der Zeit, dass diejenigen, die das sagen, vielleicht ist es an der Zeit, dass Ihr eure Arroganz ablegt, dass Ihr aufhört, Euch so gegenüber der Weltgemeinschaft zu verhalten, die ihre Aufgaben und Interessen sehr wohl versteht, und dass Ihr dieses Denken aus der Zeit der Kolonialherrschaft wirklich ablegt? Man möchte es Ihnen so sagen: Reibt Euch die Augen, diese Ära ist längst vorbei und sie wird nie wiederkehren, nie mehr.
Ich sage noch mehr: Im Laufe der Jahrhunderte hat dieses Verhalten zur Reproduktion des immer Gleichen geführt: zu großen Kriegen, für deren Rechtfertigung verschiedene ideologische und sogar pseudomoralische Begründungen erfunden wurden. Das ist heute besonders gefährlich. Die Menschheit verfügt über Mittel, die, wie wir wissen, leicht den gesamten Planeten zerstören können, und das unglaubliche Ausmaß der Manipulation des Bewusstseins führt zum Verlust des Realitätssinns. Aus diesem Teufelskreis auszusteigen, ist sicher nötig, man muss nach einem Ausweg suchen. Ich verstehe es so, liebe Freunde und Kollegen, dass das der Grund ist, warum Sie sich auf der Valdai-Plattform versammelt haben.
In dem in diesem Jahr verabschiedeten Konzept für die russische Außenpolitik wird unser Land als ein besonderer Zivilisationsstaat bezeichnet. Diese Formulierung spiegelt genau und prägnant wider, wie wir nicht nur unsere eigene Entwicklung, sondern auch die Grundprinzipien der Weltordnung verstehen, die wir zu gewinnen hoffen.
Nach unserem Verständnis ist Zivilisation ein vielschichtiges Phänomen. Es wird natürlich unterschiedlich interpretiert. Es gab auch die offen koloniale Interpretation: Es gibt eine bestimmte „zivilisierte Welt“, die als Modell für den Rest dient, und alle müssen diesen Standards und Modellen folgen, und diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, die werden mit dem Schlagstock des „aufgeklärten“ Meisters in die „Zivilisation“ getrieben. Diese Zeiten sind, wie ich gerade sagte, vorbei, und unser Verständnis von Zivilisation ist ein ganz anderes.
Erstens gibt es viele Zivilisationen, und keine von ihnen ist besser oder schlechter als eine andere. Sie sind gleichberechtigte Ausdrucksformen der Bestrebungen ihrer Kulturen und Traditionen, ihrer Völker. Für jeden von uns ist das etwas anderes. Für mich zum Beispiel sind es die Bestrebungen unseres Volkes, meines Volkes, dem ich das Glück habe, anzugehören.
Namhafte Denker auf der ganzen Welt, die Anhänger des Ansatzes der Zivilisation, haben über den Begriff „Zivilisation“ nachgedacht und tun dies auch weiterhin. Er ist ein vielschichtiges Phänomen. Ohne in philosophische Tiefen abzutauchen – hier ist vielleicht nicht der richtige Ort und die richtige Zeit für solche Überlegungen – wollen wir versuchen, es in Bezug auf die Gegenwart zu beschreiben, und ich werde versuchen, es beispielhaft zu tun.
Die Haupteigenschaften einer staatlichen Zivilisation sind Vielfalt und Selbstgenügsamkeit. Das sind meiner Meinung nach die beiden wichtigsten Komponenten. Der modernen Welt ist jede Vereinheitlichung fremd; jeder Staat und jede Gesellschaft will ihren eigenen Weg der Entwicklung finden. Er beruht auf der Kultur und den Traditionen, die durch die Geographie, die historische Erfahrung, sowohl die alte als auch die moderne, und die Werte der Völker gestärkt werden. Es handelt sich um eine komplexe Synthese, in deren Verlauf eine unverwechselbare zivilisatorische Gemeinschaft entsteht. Ihre Heterogenität und Vielfalt ist die Garantie für Nachhaltigkeit und Entwicklung.
Im Laufe der Jahrhunderte hat sich Russland zu einem Land mit verschiedenen Kulturen, Religionen und Ethnien entwickelt. Die russische Zivilisation kann nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, aber sie kann auch nicht geteilt werden, denn sie existiert nur in ihrer Integrität, in ihrem geistigen und kulturellen Reichtum. Es ist keine leichte Aufgabe, die starke Einheit eines solchen Staates zu bewahren.
Im Laufe der Jahrhunderte sind wir mit den schwierigsten Prüfungen konfrontiert worden. Wir haben sie immer gemeistert, manchmal zu einem hohen Preis, aber wir haben immer Lehren für die Zukunft gezogen und unsere nationale Einheit und die Integrität des russischen Staates gestärkt.
Heute ist diese Erfahrung von wirklich unschätzbarem Wert. Die Welt wird immer vielfältiger. Es ist unmöglich, die Komplexität der Prozesse mit einfachen Methoden des Managements zu bewältigen, indem man sie alle über einen Kamm schert, wie wir sagen, und wie es einige Staaten zu tun gewohnt sind.
Was ist dazu noch sehr wichtig? Ein wirklich effektives und starkes Staatssystem kann nicht von außen aufgezwungen werden. Es wächst auf natürliche Weise aus den zivilisatorischen Wurzeln der Länder und Völker, und Russland ist in dieser Hinsicht ein Beispiel dafür, wie das im Leben, in der Praxis abläuft.
Eine zivilisatorische Stütze ist eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg in der modernen Welt, einer Welt, die leider ungeordnet und gefährlich ist und die Orientierung verloren hat. Immer mehr Staaten kommen zu diesem Schluss, erkennen ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen, ihre eigene Identität und den Grad ihrer Verflechtung mit der sie umgebenden Welt.
Ich bin überzeugt, dass sich die Menschheit nicht auf eine Zersplitterung in konkurrierende Segmente zubewegt, nicht auf eine neue Konfrontation der Blöcke, was auch immer ihre Motivation sein mag, nicht auf den seelenlosen Universalismus einer neuen Globalisierung, sondern im Gegenteil, dass die Welt auf dem Weg zu einer Synergie von Staaten-Zivilisationen ist, zu großen Räumen und Gemeinschaften, die sich auch als solche empfinden.
Gleichzeitig ist die Zivilisation kein universelles Konstrukt, eines für alle – so etwas gibt es nicht. Jede von ihnen unterscheidet sich von anderen, jede ist kulturell autark und bezieht ihre ideologischen und wertbezogenen Prinzipien aus ihrer eigenen Geschichte und Tradition. Der Respekt vor uns selbst ergibt sich natürlich aus dem Respekt vor den anderen, aber auch aus dem Respekt der anderen. Deshalb drängt die Zivilisation niemandem etwas auf, lässt aber auch nicht zu, dass ihr etwas aufgezwungen wird. Wenn sich alle an diese Regel halten, wird das eine harmonische Koexistenz und ein kreatives Zusammenspiel aller Teilnehmer an den internationalen Beziehungen gewährleisten.
Natürlich ist die Verteidigung der eigenen zivilisatorischen Entscheidung eine große Verantwortung. Es geht darum, auf Übergriffe von außen zu reagieren, enge und konstruktive Beziehungen zu anderen zivilisierten Gemeinschaften aufzubauen und vor allem die innere Stabilität und Harmonie zu wahren. Schließlich sehen wir alle, dass das internationale Umfeld heute, wie ich bereits gesagt habe, leider sowohl instabil als auch ziemlich aggressiv ist.
Und noch eine sehr wichtige Sache. Natürlich darf man seine eigene Zivilisation nicht verraten. Das ist auch ein Weg zum universellen Chaos, das ist, würde ich sagen, unnatürlich und ekelhaft. Wir für unseren Teil haben immer versucht, Lösungen anzubieten, die die Interessen aller berücksichtigen. Aber unsere Gesprächspartner im Westen scheinen vergessen zu haben, dass es solche Begriffe wie vernünftige Selbstbeschränkung, Kompromiss, Bereitschaft zu Zugeständnissen im Interesse eines für alle akzeptablen Ergebnisses gibt. Nein, sie sind buchstäblich nur von einem besessen: ihre Interessen hier und jetzt um jeden Preis voranzubringen. Wenn das ihre Entscheidung ist, werden wir sehen, was passiert.
Das Paradoxe ist, dass sich die Situation schon morgen ändern kann, das ist das Problem. Zum Beispiel kann es nach den nächsten Wahlen innenpolitische Verschiebungen geben. Ein Land beharrt auf etwas und setzt seine Maßnahmen mit allen Mitteln durch – und dann gibt es morgen innenpolitische Veränderungen, und mit dem gleichen Druck und der gleichen Gnadenlosigkeit wird etwas ganz anderes, manchmal das genaue Gegenteil, durchgesetzt.
Das anschaulichste Beispiel ist das iranische Atomprogramm. Eine US-Regierung hat eine Entscheidung durchgesetzt, dann kam eine andere Regierung, und alles wurde wieder rückgängig gemacht. Wie kann man unter solchen Bedingungen arbeiten? Wo sind die Leitlinien? Worauf soll man sich verlassen? Wo sind die Garantien? Sind das etwa die „Regeln“, von denen sie reden? Das ist einfach nur Blödsinn.
Warum geschieht das alles und warum stört es niemanden? Weil an die Stelle des strategischen Denkens das Verfolgen kurzfristiger Eigeninteressen getreten ist, und zwar nicht einmal von Ländern und Völkern, sondern von wechselnden Einflussgruppen. Daher das unverantwortliche Verhalten der politischen Eliten, die oft Angst und Scham vergessen haben und sich für absolut sündenfrei halten.
Der zivilisatorische Ansatz widersetzt sich solchen Tendenzen, weil er von den grundlegenden, langfristigen Interessen der Staaten und Völker ausgeht. Interessen, die nicht von der unmittelbaren ideologischen Konjunktur diktiert werden, sondern auf der gesamten historischen Erfahrung, dem Erbe der Vergangenheit, auf dem die Idee einer harmonischen Zukunft beruht.
Wenn sich alle davon leiten lassen, wird es meiner Meinung nach viel weniger Konflikte in der Welt geben, und die Methoden zu ihrer Lösung werden viel rationaler werden, weil jede Zivilisation, wie ich bereits sagte, die anderen respektiert und nicht versucht, jemanden nach ihren eigenen Vorstellungen zu verändern.
Ich habe mit Interesse, liebe Freunde, den Bericht gelesen, den der Valdai-Club für dieses Treffen vorbereitet hat. Darin heißt es, dass heute jeder versucht, das Bild der Zukunft zu verstehen und sich vorzustellen. Das ist völlig natürlich und verständlich, vor allem für ein intellektuelles Umfeld. In einer Zeit des radikalen Wandels, in der alle gewohnten Formen des Lebens zusammenbrechen, ist es sehr wichtig zu erkennen, wohin wir gehen und was wir erreichen wollen. Und natürlich wird die Zukunft schon heute gestaltet, nicht nur vor unseren Augen, sondern mit unseren Händen.
Natürlich ist es bei so gigantischen, unglaublich komplexen Prozessen schwierig oder praktisch unmöglich, das Ergebnis vorherzusagen. Ganz gleich, was wir alle tun, das Leben wird sicherlich seine eigenen Korrekturen vornehmen. Aber zumindest sollten wir uns darüber im Klaren sein, was wir anstreben und was wir erreichen wollen. Und Russland hat dieses Verständnis.
Erstens: Wir wollen in einer offenen, vernetzten Welt leben, in der niemand jemals versuchen wird, künstliche Barrieren für die Kommunikation, die kreative Verwirklichung und den Wohlstand der Menschen zu errichten. Es muss ein barrierefreies Umfeld geben, das muss man anstreben.
Zweitens: Wir wollen, dass die Vielfalt der Welt nicht nur bewahrt wird, sondern die Grundlage für eine universelle Entwicklung ist. Es muss verboten sein, irgendeinem Land oder Volk vorzuschreiben, wie es zu leben und zu fühlen hat. Nur eine echte kulturelle und zivilisatorische Vielfalt sichert das Wohl der Menschen und einen Interessenausgleich.
Drittens: Wir sind für eine maximale Repräsentativität. Niemand hat das Recht, niemand darf die Welt für andere oder im Namen anderer regieren. Die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven Entscheidungen, die auf den Ebenen getroffen werden, auf denen sie am effektivsten sind, und von den Teilnehmern, die wirklich in der Lage sind, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines bestimmten Problems zu leisten. Nicht einer entscheidet für alle, und auch nicht alle entscheiden über alles, sondern diejenigen, die von einem Problem direkt betroffen sind, einigen sich darauf, was zu tun ist und wie es getan werden soll.
Viertens: Wir sind für universelle Sicherheit und dauerhaften Frieden, der auf der Achtung der Interessen aller beruht: von den großen Staaten bis zu den kleinen Ländern. Es geht vor allem darum, die internationalen Beziehungen vom Blockdenken zu befreien, vom Erbe der Kolonialzeit und des Kalten Krieges. Seit Jahrzehnten sprechen wir von der Unteilbarkeit der Sicherheit, davon, dass es unmöglich ist, die Sicherheit der einen auf Kosten der Sicherheit der anderen zu gewährleisten. In der Tat ist Harmonie in diesem Bereich erreichbar. Wir müssen nur Hybris und Arroganz ablegen und aufhören, andere als Partner zweiter Klasse oder als Ausgestoßene oder Wilde zu betrachten.
Fünftens: Wir sind für Gerechtigkeit für alle. Die Ära der Ausbeutung von wem auch immer, ich habe das schon zweimal gesagt, ist vorbei. Die Länder und Völker sind sich ihrer Interessen und Fähigkeiten klar bewusst und bereit, auf sich selbst zu vertrauen – und das vervielfältigt ihre Kräfte. Jeder sollte Zugang zu den Vorteilen der modernen Entwicklung haben, und Versuche, das für ein Land oder ein Volk einzuschränken, sollten als ein Akt der Aggression angesehen werden, genau so.
Sechstens: Wir sind für Gleichheit, für die unterschiedlichen Potenziale der verschiedenen Länder. Das ist ein absolut objektiver Faktor. Aber nicht weniger objektiv ist die Tatsache, dass niemand bereit ist, sich zu unterwerfen, seine Interessen und Bedürfnisse von wem auch immer abhängig zu machen, und vor allem von den reicheren und stärkeren.
Das ist nicht nur der natürliche Zustand der internationalen Gemeinschaft, das ist die Quintessenz der gesamten historischen Erfahrung der Menschheit.
Das sind die Grundsätze, an die wir uns halten wollen und zu denen wir alle unsere Freunde und Kollegen auffordern, sich ihnen anzuschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Russland war, ist und wird eines der Fundamente des Weltsystems sein, bereit zur konstruktiven Zusammenarbeit mit all jenen, die Frieden und Wohlstand anstreben, bereit, sich entschlossen jenen entgegenzustellen, die sich zu den Prinzipien von Diktat und Gewalt bekennen. Wir sind zuversichtlich, dass Pragmatismus und gesunder Menschenverstand triumphieren werden und eine multipolare Welt die Oberhand gewinnen wird.
Abschließend möchte ich den Organisatoren des Forums wie immer meinen Dank für die gründliche und qualitativ hochwertige Vorbereitung aussprechen und ich möchte allen Teilnehmern des Jubiläumstreffens für Ihre Aufmerksamkeit danken.
Vielen Dank!
Ende der Übersetzung
Info: https://www.anti-spiegel.ru/2023/putins-grundsatzrede-ueber-eine-neue-weltordnung
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.